Homo ex machina - Bernd Kleine-Gunk - E-Book

Homo ex machina E-Book

Bernd Kleine-Gunk

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Beschreibung

Herzschrittmacher, Prothesen zum Laufen, Stammzellenforschung, lebensverlängernde Medizin: Was sich für uns normal anhört, sind tatsächlich Errungenschaften, die unter dem Begriff Transhumanismus zusammengefasst werden. Dieser geht davon aus, dass die nächste Evolutionsstufe der Menschheit durch die die Nutzung moderner Technologie und Forschung erreicht wird. Doch für viele stellt das ein gefährliches Unterfangen dar, das Ängste vor einer Entmenschlichung, der Cyborgisierung des Menschen, ethisch fragwürdigen Genversuchen und staatlicher Eugenik schürt. Besonders in Deutschland sind die transhumanistischen Visionen umstritten. Gleichzeitig nutzen wir schon viele dieser Entwicklungen. Der Mediziner Prof. Bernd Kleine-Gunk und der Ethiker Prof. Stefan Lorenz Sorgner möchten endlich aufklären. Sie stellen die gesellschaftlich relevanten Thesen und Disziplinen der transhumanistischen Bewegung vor, gehen auf ihre Geschichte ein und diskutieren kritisch ihre Chancen und Risiken. So erklären sie beispielsweise, warum es unrealistisch ist, dass wir in 20 Jahren unsere Persönlichkeit digitalisieren können, und die modernen Technologien nicht die Grenze des natürlichen Menschseins überschreiten, sondern vielmehr auf persönlichen Wunsch die Lebensqualität verbessern können. Nicht zuletzt heben sie die Verantwortung von Politik und Gesellschaft hervor und plädieren dafür, den transhumanistischen Fortschritt weder zu verteufeln, noch ihn unreflektiert einfach zu bejahen.

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Seitenzahl: 546

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Die Autoren

Bernd Kleine-Gunk ist Medizinprofessor und gilt als Deutschlands führender Anti-Aging-Experte. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Anti-Aging-Medizin (GSAAM) und hat zu diesem Thema zahlreiche wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Artikel und Bücher veröffentlicht, darunter »Auf der Suche nach Unsterblichkeit« (2010), »15 Jahre länger leben« (2017) und »Jung bleiben ist Kopfsache« (2022). Professor Kleine-Gunk hält weltweit Vorträge zum Thema Anti-Aging und arbeitet in diesem Bereich für zahlreiche Firmen und Institutionen als Consultant.

Stefan Lorenz Sorgner ist Philosophieprofessor an der John Cabot University in Rom, Direktor und Mitbegründer des Beyond Humanism Network, Visiting Fellow am Ethikzentrum der FSU Jena, Research Fellow am Ewha Institute for the Humanities der Ewha Womans Universität in Seoul und Fellow am Institute for Ethics and Emerging Technologies. Er ist einer der weltweit führenden Philosophen des Post- und Transhumanismus und hat zahlreiche Sammelbände und Monographien veröffentlicht, darunter »Transhumanismus« (2016), »Schöner neuer Mensch« (2018), »Übermensch« (2019), »We have always been Cyborgs« (2022) und »Philosophy of Posthuman Art« (2022). Er ist ein international gefragter Vortragender und ein regelmäßiger Ansprechpartner nationaler sowie internationaler Medien. Online findet man ihn unter: sorgner.de & mousike.de

BERND KLEINE-GUNK & STEFAN LORENZ SORGNER

HOMO EX MACHINA

DER MENSCH VON MORGEN

CHANCE UND RISIKEN DES TRANSHUMANISMUS

Alle Angaben in diesem Buch wurden von den Autoren und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung der Autoren beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe Juni 2023

Copyright © 2023 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

ein Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © 2023 by Bernd Kleine-Gunk & Stefan Lorenz Sorgner

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,

unter Verwendung einer Illustration von © FinePic®

Redaktion: Eckard Schuster

MP · Herstellung: CF

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28981-2V001

www.goldmann-verlag.de

Inhalt

Ein Buch – zwei Autoren

Vorwort

1. Das Who is Who des Transhumanismus

Transhumanismus – Wie alles anfing

Dialog: Transhumanismus – Wie alles anfing

Der Prophet: Ray Kurzweil

Der Pate: Peter Thiel

Die Pionierin: Natasha Vita-More

Der Lebensverlängerer: Aubrey de Grey

Der Macher: Elon Musk

Der Transhumanismus wird politisch – Ein weites Feld

Dialog: Der Transhumanismus wird politisch – Ein weites Feld

2. Langlebigkeit als oberste Zielsetzung

Radikale Lebensverlängerung – Für immer jung?

Dialog: Radikale Lebensverlängerung – Für immer jung?

Kryonik – Longevity on Ice

Dialog: Kryonik – Longevity on Ice

3. Enhancement und mehr

Neuro-Enhancement – Viagra fürs Gehirn?

Dialog: Neuro-Enhancement – Viagra fürs Gehirn?

Nanotechnologie – The Next Small Thing

Dialog: Nanotechnologien – The Next Small Thing

Genetisches Enhancement – Tuning für die DNA

Dialog: Genetisches Enhancement – Tuning für die DNA

Künstliche Intelligenz – Von den Anfängen bis heute

Dialog: Künstliche Intelligenz – Von den Anfängen bis heute

Mind-Uploading – Völlig losgelöst

Dialog: Mind-Uploading – Völlig losgelöst

Singularität – Das transhumanistische Jenseits

Dialog: Singularität – Das transhumanistische Jenseits

4. Transhumanistische Argumente und Betrachtungen

Vorurteile über den Transhumanismus

Gentechniken – Das Buch des Lebens lässt sich umschreiben

Mensch-Maschine – Auf dem Weg zum Cyborg

Dialog: Mensch-Maschine – Auf dem Weg zum Cyborg

Künstliche Intelligenz – Die Alternative zur natürlichen Dummheit

Massenaussterben, Klimawandel, Kolonisierung des Weltraums – Die Erde ist nicht genug

Dialog: Massenaussterben, Klimawandel, Kolonisierung des Weltraums – Die Erde ist nicht genug

Exkurs: Geburt von Techno-Künsten

Kunst und Medien – Transhumanismus auf allen Kanälen

Dialog: Kunst und Medien – Transhumanismus auf allen Kanälen

Anmerkungen

Literatur

Register

Bildteil

Bildnachweis

Ein Buch – zwei Autoren

Dieses Buch wurde von zwei Autoren geschrieben. Das ist nicht ganz unproblematisch. Auch wenn beide im Grundsätzlichen übereinstimmen, so kann die Einstellung des einen Autors zu einzelnen Aspekten des Themas doch deutlich von derjenigen des anderen abweichen. Gleiches gilt für den Schreibstil. Wenn sich dann auch noch der berufliche Hintergrund unterscheidet, dann ist es naheliegend, dass sich auch unterschiedliche Einschätzungen ergeben können.

Das zeigt sich auch in diesem Buch. Es macht aber auch seinen besonderen Reiz aus. Und es ist wahrscheinlich genau die richtige Art und Weise, sich einem solch komplexen und kontroversen Thema wie dem Transhumanismus zu nähern. Denn worum handelt es sich dabei? Ist es eine philosophische Denkrichtung? Ja – aber eine, die im Wesentlichen auf Fortschritten der Technik und der Naturwissenschaften beruht. Ist es eine Technikutopie? In vielen Fällen ja – aber eine, die fundamentale philosophische Fragen aufwirft. Und dann gibt es natürlich nicht wenige Kritiker, die den Transhumanismus nicht als Zukunftsvision, sondern eher als eine existenzielle Bedrohung ansehen.

Vor diesem Hintergrund ergibt es durchaus Sinn, das Thema von zwei unterschiedlichen Autoren behandeln zu lassen. Da haben wir auf der einen Seite einen Geisteswissenschaftler mit philosophischem Hintergrund, der sich selbst als überzeugten Transhumanisten sieht. Auf der anderen Seite steht ein Mediziner mit naturwissenschaftlicher Ausbildung, der sich als skeptischen Transhumanisten betrachtet.

Stefan Lorenz Sorgner ist studierter Philosoph und setzt sich seit über zwanzig Jahren mit dem Transhumanismus auseinander. Als ausgewiesener Nietzsche-Kenner führte ihn dessen Konzept des Übermenschen zur transhumanistischen Ideenwelt. Seit 2016 hat er an der John Cabot University in Rom eine Philosophieprofessur inne und ist intensiv daran beteiligt, die akademische Auseinandersetzung mit dem Transhumanismus zu fördern. Von einem deutschen Journalisten wurde er deshalb auch als »Bad Boy der Philosophie« bezeichnet.

Bernd Kleine-Gunk ist Arzt, sein besonderes Interesse gilt seit über zwanzig Jahren der Anti-Aging-Medizin. Er hat zu diesem Thema eine ganze Reihe fach- wie auch populärwissenschaftlicher Bücher geschrieben, ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Anti-Aging Medizin (GSAAM – German Society of Anti-Aging Medicine) und mit diesem Thema ebenfalls weltweit unterwegs.

Persönlich kennengelernt haben sich die beiden erstmals nicht in einer der weltweiten Hightech-Metropolen, sondern auf einem Symposium im eher beschaulichen fränkischen Fürth. Dort fand im Oktober 2019 in der Stadthalle ein Symposium mit dem Titel »Bessere Menschen? Technische und ethische Fragen in der transhumanistischen Zukunft« statt. Sorgner plädierte engagiert für ein Umdenken im Umgang mit persönlichen digitalen Daten, da diese dazu beitragen können, eine gesunde Lebensführung zu ermöglichen. Bei der Mehrzahl der Zuhörer führte dies zu erwartbarer Empörung. In der Konferenzpause kamen Sorgner und Kleine-Gunk jedoch ins Gespräch, fanden viele Übereinstimmungen und begannen eine Zusammenarbeit, die nun zu dem vorliegenden Buch geführt hat. Schnell waren auch weitere Gemeinsamkeiten gefunden: die Nietzsche-Begeisterung, das Interesse an innovativen Technologien, die Überzeugung, dass es vor allem das wissenschaftliche Denken ist, das Fortschritt ermöglicht.

Was den Transhumanismus angeht, war die gemeinsame Schnittmenge zunächst das Konzept der radikalen Lebensverlängerung, das für die Anti-Aging-Medizin essentiell ist und für Transhumanisten eines der wichtigsten Anliegen. Verbindend wirkte sich sicherlich auch die Erfahrung aus, sich frühzeitig für ein Themenfeld engagiert zu haben, dessen Anfänge sich durchaus holprig gestalteten. Der Transhumanismus war vor zwanzig Jahren noch eine Bewegung, die von einer kleinen Gruppe von Intellektuellen getragen wurde, aber weder im akademischen Bereich noch in der breiten Öffentlichkeit große Resonanz fand. Heute ist es die vorherrschende Denkrichtung im Silicon Valley, der Transhumanismus wird in Dan Browns Bestsellern und in Hollywood-Filmen thematisiert, und internationale Celebrities wie Elon Musk verstehen sich als Transhumanisten.

Die Anti-Aging-Medizin startete vor 25 Jahren ebenfalls als eher belächelte Außenseiterdisziplin. Altern galt als unabwendbares Schicksal und nicht als gestaltbarer Prozess. Über die biologischen Prozesse des Alterns war so gut wie nichts bekannt. Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass Altern durchaus beeinflussbar ist, die wissenschaftliche Spitzenforschung widmet sich intensiv diesem neuen Gebiet, und nicht zuletzt – auch hier hat das Silicon Valley wieder einmal die Nase vorn – gilt die Longevity Industry als eine der vielversprechendsten Zukunftsbranchen überhaupt.

Bei allen Gemeinsamkeiten bleiben dennoch Differenzen. Während Sorgner nach eigenen Angaben im Transhumanismus seine »geistige Heimat« gefunden hat, betrachtet Kleine-Gunk die Entwicklung weiterhin aus einer eher kritischen Distanz. Die Positionen können dabei durchaus erheblich voneinander abweichen, etwa wenn es um die Einschätzung der ersten genetisch veränderten Neugeborenen in China geht. Daher haben es die Autoren vorgezogen, zu einzelnen Themen jeweils eigene Kapitel zu schreiben, wobei bei denjenigen von Kleine-Gunk der Fokus auf der Beschreibung der Techniken liegt und bei den von Sorgner verfassten auf der transhumanistischen Bewertung. Durchaus kontrovers geht es auch in den Dialogen zu, die den jeweiligen Kapiteln angehängt sind. Hier zeigt sich einmal mehr am Beispiel einer neuen philosophischen Strömung, dass man mit einer alten – spätestens seit Sokrates – kultivierten philosophischen Technik immer noch den größten Erkenntnisgewinn erzielt: mit der kritischen Gegenrede.

Abschließend noch ein Punkt, bei dem beide Autoren relativ schnell Einigkeit erzielten. Wir haben auf ein konsequentes Gendern verzichtet, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Eine gute Gelegenheit also, das Prinzip der Mehrstimmigkeit gleich an diesem praktischen Beispiel zu erproben. Hier die unterschiedlichen Motive:

Stefan Lorenz Sorgner: »An einem sachlich treffenden Sprachgebrauch ist mir gelegen. Der Gender-Doppelpunkt (Student:innen), das Gendersternchen (Mediziner*innen) und auch das Binnen-I (JuristInnen) entsprechen jedoch nicht meinem persönlichen Sprachstil. Eine Weiterentwicklung von sprachlichen Konzepten zur Vermeidung von diskriminierenden Strukturen erachte ich durchaus für eine angemessene Vorgehensweise, um auf gesellschaftliche Herausforderungen zu reagieren.«

Bernd Kleine-Gunk: »Inzwischen dürfte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass bei der Nennung unbestimmter Personen immer beide Geschlechter gemeint sind, Männer und Frauen, einschließlich derer, die sich irgendwo dazwischen oder jenseits davon einordnen. Um das zu betonen, muss man unsere Sprache – die Sprache Goethes, Heines und Nietzsches – nicht systematisch verhässlichen.«

Womit wir dann auch bereits beim eigentlichen Thema wären. Und gleich im ersten Kapitel werden wir feststellen: Die neue Denkrichtung Transhumanismus hat eine erstaunlich weit zurückreichende Geschichte.

Vorwort

Wir gehen herrlichen Zeiten entgegen. Das zumindest prophezeien die Anhänger des Transhumanismus, jener Mischung aus Philosophie und Technikutopie, die sich anschickt, zu einer der wichtigsten geistigen Strömungen des 21. Jahrhunderts zu werden.

Die Visionen des Transhumanismus sind durchaus vielseitig. Ganz oben auf der Agenda steht zunächst einmal die radikale Lebensverlängerung. Der Begriff »radikal« ist dabei durchaus wörtlich zu nehmen. Es geht nämlich nicht darum, 10 oder 15 Jahre älter zu werden. Angestrebt wird vielmehr eine Lebenserwartung von 250, 500 Jahren und mehr. Der bekannte britische Biogerontologe Aubrey de Grey sagt voraus: Der erste Mensch, der 1000 Jahre alt wird, ist bereits geboren. Und das Ganze soll natürlich bei guter Gesundheit erfolgen. Die Tausendjährigen werden sich nicht mit dem Rollator über die Straße schieben, sondern am Strand surfen.

Die Methoden dafür werden bereits entwickelt. Unter anderem soll uns dabei die Nanomedizin helfen. Die verspricht, dass in Zukunft sogenannte Nanobots unser Immunsystem unterstützen. Zusätzlich zu den weißen Blutzellen werden diese in unserem Gefäßsystem patrouillieren und dabei Bakterien, Viren, aber auch Krebszellen gezielt aufspüren und eliminieren.

Aber wir werden nicht nur bei guter Gesundheit steinalt. Wir optimieren auch unsere bisherigen biologischen Fähigkeiten. Das fängt zunächst einmal bei der Genetik an. Lange Zeit galt die genetische Ausstattung des Menschen als unveränderbar. Das ist inzwischen Geschichte. Die Transhumanisten sehen auch hier viel Spielraum für Verbesserungen. Sie wollen nicht länger auf zufällige Mutationen warten, die ja auch nur in den wenigsten Fällen mit einem evolutionären Fortschritt einhergehen, sondern meistens nur zu einem sehr geringen Prozentsatz einen Fortschritt bringen. Sie haben sich vorgenommen, die genetische Weiterentwicklung selbst in die Hand zu nehmen. Das bedeutet zum einen, dass wir schädliche Gene aus unserem Erbgut eliminieren. Zum anderen aber auch, dass wir unsere DNA optimieren und dadurch Fähigkeiten erlangen, die bisher außerhalb unseres Vorstellungsvermögens lagen.

Mit der Genetik hört die Optimierung noch lange nicht auf. Der Mensch zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er von allen lebenden Wesen auf der Erde dasjenige ist, das am besten denken kann. Der Transhumanismus sieht da allerdings noch viel Luft nach oben. Eine neue Generation von Pharmaka könnte wie eine Art »Viagra fürs Gehirn« wirken und uns so besser, effektiver und konzentrierter denken lassen. Noch größeres Potenzial bieten die vielfältigen Möglichkeiten, Schnittstellen zwischen dem Computer und dem Gehirn zu schaffen. Die künstliche Intelligenz (KI) hat in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte gemacht, indem sie zunehmend das menschliche Gehirn nachahmt (Deep Learning). Umgekehrt könnte aber auch unser Gehirn davon profitieren, wenn wir die künstliche Intelligenz direkt mit unserem Zentralnervensystem verbinden. Die Verschmelzung von biologischer und künstlicher Intelligenz würde völlig neue Möglichkeiten an kognitiven Fähigkeiten eröffnen. Neuroprothesen werden uns zunehmend zu Cyborgs machen.

Damit noch nicht genug: Vielleicht ist es ja auch möglich, sich vollständig von seinem biologischen Körper zu trennen. Das sogenannte »Mind-Uploading« ist eine der ganz großen Visionen des Transhumanismus. Dabei wird das menschliche Bewusstsein aus dem Gehirn auf ein Speichermedium übertragen. Das ermöglicht eine Art »Sicherheitskopie« unseres Bewusstseins. Es ermöglicht aber auch eventuell das folgende Szenario: Völlig losgelöst von etwas so Störanfälligem wie einem biologischen Körper wird unser Bewusstsein in eine Cloud hochgeladen, wo es sich dann mit anderen Bewusstseinen vernetzen kann. Wir verlassen unsere kohlenstoffbasierte Biologie und verwandeln uns in eine neue, siliziumbasierte Existenzform.

Klingt alles wie schlechte Science-Fiction? Oder wie die Fantasien von Computer-Nerds, die nachts zu viele Netflix-Serien gesehen haben? Vieles von diesen Visionen ist bereits heute Wirklichkeit. Zumindest in Ansätzen. Die Lebenserwartung hat sich in den letzten 150 Jahren verdoppelt. Forscher in der ganzen Welt arbeiten intensiv an Anti-Aging-Strategien, die auch die maximale Lebenserwartung deutlich weiter steigen lassen.

Die genetische Diagnostik ist in den letzten zwanzig Jahren bereits zur Routine geworden. Dauerte die vollständige Entzifferung des menschlichen Genoms im Rahmen des Human Genome Project noch fast ein Jahrzehnt und verschlang dabei drei Milliarden Dollar, so analysiert Ihnen heute ein gutes genetisches Labor Ihr vollständiges Genom an einem Vormittag, und das für weniger als 1000 Euro. Mit der CRISPR/Cas-Methode steht darüber hinaus inzwischen auch ein Werkzeug zur Verfügung, das genetische Therapien mit geradezu chirurgischer Präzision ermöglicht.

Bereits heute nehmen an US-amerikanischen Universitäten 10 bis 20 Prozent aller Studenten Medikamente, von denen sie sich versprechen, dass sie ihre Konzentrationsfähigkeit bei Prüfungen erhöhen. Und auch die Hirncomputerschnittstellen gibt es bereits. Sogenannte Cochlea-Implantate sind Neuroprothesen, die es Menschen mit Innenohrschäden ermöglichen, wieder zu hören. An sogenannten Retinaprothesen, die es Blinden wieder möglich machen zu sehen, wird intensiv gearbeitet. Aber warum sollte man es bei diesen Prothesen belassen? Ist die Technik einmal etabliert, lassen sich zum Beispiel auch Memory-Chips mit dem Gehirn verbinden. Niemand wird sich dann noch Quizshows ansehen, weil jeder sowieso alles weiß.

Und auch wenn das Mind-Uploading noch in ferner Zukunft liegt: Digitale Kopien von verstorbenen Menschen gibt es heute bereits. Avatare geistern durch das Internet. Und die virtuelle Reanimation von Verstorbenen ist inzwischen so realistisch, dass längst verblichene Rockstars auf Musikveranstaltungen digital reanimiert werden und mit ihren lebenden Kollegen ein Duett singen.

Nicht nur transhumanistische Ideen breiten sich aus. Auch ihre menschlichen Vertreter werden immer präsenter. Elon Musk, der inzwischen als der reichste Mann der Welt gilt, ist bekennender Transhumanist. Er beschränkt sich längst nicht mehr darauf, elektrische Autos zu bauen. In seiner Firma »Neuralink« arbeitet er an genau jenen Gehirn-Computer-Schnittstellen, welche die Grundlage für die Cyborg-Technologien darstellen. Erste Erfolge hat er bereits vermeldet.

Technischer Direktor von Google, dem größten und einflussreichsten Internetkonzern der Welt, ist Ray Kurzweil. Er zählt zu den Pionieren und Vordenkern der internationalen transhumanistischen Bewegung. Das Silicon Valley insgesamt entwickelt sich zu einem Hotspot transhumanistischer Ideen. Gleiches gilt auch für Technologiezentren in anderen Teilen der Welt, wie zum Beispiel das chinesische Shenzhen. Auch dort träumt man vom neuen Menschen – dank neuer Technik.

Doch nicht alle glauben, dass wir durch die konsequente Nutzung neuer Technologien herrlichen Zeiten entgegengehen. Es gibt auch heftige Kritik. Die kommt von den unterschiedlichsten Seiten. Konservative Denker wie der amerikanische Politologe Francis Fukuyama sehen das klassische Menschenbild durch transhumanistische Ideen massiv gefährdet. Fukuyama selber spricht von »der gefährlichsten Idee der Welt«. Eher linke Kritiker befürchten, dass sich durch transhumanistische Techniken eine neue Zweiklassengesellschaft bilden wird: Da gibt es dann auf der einen Seite die »Optimierten«, die ihre Fähigkeiten durch technische Möglichkeiten erweitern. Auf der anderen Seite finden sich dann diejenigen, denen diese Technologien – auch aus finanziellen Gründen – nicht zur Verfügung stehen und die dann zu den Abgehängten dieser Erde werden. Quer durch alle politischen Lager gibt es Bedenken, das »genetische Enhancement-Projekt« der Transhumanisten wecke doch gewisse Erinnerungen an das Eugenikprogramm der Nationalsozialisten. Die Diskussion über diese Fragen gestaltet sich durchaus temperamentvoll.

Wir werden Ihnen in diesem Buch sowohl die entscheidenden transhumanistischen Projekte als auch die wichtigsten transhumanistischen Denker vorstellen. Und immer wieder werden wir uns dabei die Frage stellen: Was ist der Mensch, und was bleibt von ihm im Zeitalter seiner technischen Optimierung? Letztlich stellt sich damit natürlich auch die Frage: Wie human ist der Transhumanismus?

Folgen Sie uns auf unserem Streifzug durch das wahrscheinlich aufregendste philosophisch-naturwissenschaftliche Projekt unseres Jahrhunderts.

Wir garantieren Ihnen: Es wird eine Abenteuerreise.

Bernd Kleine-Gunk

Stefan Lorenz Sorgner

1. Das Who is Who des Transhumanismus

Transhumanismus – Wie alles anfing

Bernd Kleine-Gunk

Ohne Zweifel ist der Transhumanismus eine relativ neue Bewegung. Dennoch gibt es intensive Diskussionen darüber, wann seine Geschichte beginnt und wer an ihrem Anfang steht. Ist der Transhumanismus eine Erfindung amerikanischer Computer-Nerds und Science-Fiction-Fans der 1980er-Jahre? Reichen seine philosophischen Wurzeln sehr viel weiter zurück? Oder ist das Ganze vielleicht nur eine aktuelle Marketing-Strategie von Silicon-Valley-Firmen, um völlig neue Geschäftsfelder zu erschließen?

Einigkeit besteht zumindest darüber, wer den Begriff – in seiner heutigen Bedeutung – geprägt hat. Im Juli 1951 veröffentlichte Julian Huxley (1887–1975) einen Text mit dem Titel »Knowledge, Morality and Destiny«, der 1957 noch einmal in überarbeiteter Form in der Anthologie New Bottles for New Wine erschien. Darin heißt es: »Die menschliche Rasse kann, wenn sie es will, sich selber transzendieren – nicht nur sporadisch, ein Individuum hier auf die eine Art, ein Individuum dort auf die andere Art, sondern in ihrer Gesamtheit als Menschheit. Wir brauchen einen Namen für diesen neuen Glauben. Vielleicht könnte Transhumanismus dazu dienen: Der Mensch bleibt Mensch, aber er transzendiert sich, indem er die neuen Möglichkeiten der menschlichen Natur realisiert.«1

Julian Huxley war ein führender Evolutionsbiologe und Verhaltensforscher der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als Autor beschäftigte er sich intensiv mit ethischen und philosophischen Fragen. Dieses Engagement trug mit dazu bei, dass Julian Huxley zum ersten UNESCO-Generaldirektor gewählt wurde und maßgeblich an der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« beteiligt war.

Nicht zuletzt war er auch der Bruder des bekannten Schriftstellers Aldous Huxley (1894–1963), der vor allem für sein Werk Brave New World (Schöne neue Welt) berühmt ist. Pikanterweise gilt dieser Zukunftsroman inzwischen als die klassische Horrorvision einer transhumanistischen Gesellschaft. Der Roman spielt im Jahr 2540 nach Christus und beschreibt eine Gesellschaft, in der Krankheit und Altern weitgehend besiegt sind. Alle Menschen sind nicht nur gesund und leistungsfähig, sondern bleiben – auch die Kosmetik hat Fortschritte gemacht – ihr Leben lang auch äußerlich attraktiv.

Allerdings gibt es in dieser schönen neuen Welt durchaus Unterschiede. Die Menschen werden industriell produziert und schon im Embryonenalter auf ihre spätere Rolle in der Gesellschaft hin geprägt, sodass sie diese perfekt ausfüllen können. Das Ergebnis ist eine Art Kastensystem, das die Menschheit in fünf Kategorien aufteilt – von Alpha bis Ypsilon. Damit in der unteren Kaste keine Ressentiments aufkommen, wird eine Glücksdroge namens Soma großzügig eingesetzt. Eine zufriedene Gesellschaft dank Psychopharmaka. Neben George Orwells 1984 gilt Aldous Huxleys Brave New World heute als die Zukunftsdystopie schlechthin.

Es entbehrt dabei sicher nicht einer gewissen Ironie, dass auf der einen Seite Julian Huxley den Begriff »Transhumanismus« prägte und damit große Hoffnungen verband, während sein eigener Bruder fast zeitgleich einen Roman schrieb, der die wohl beklemmendste Version davon schuf, wie es werden könnte, wenn das Projekt Transhumanismus schiefläuft.

Bezüglich des Namensgebers besteht also schon einmal Einigkeit. Doch obwohl er den Begriff prägte, hat Julian Huxley das Konzept des Transhumanismus inhaltlich nicht sehr viel weiter ausgearbeitet. Das übernahm sein britischer Landsmann, der Physiker und Molekularbiologe John D. Bernal (1901–1971) ohne den Begriff »Transhumanismus« dezidiert zu benutzen. Bernal kann man mit Fug und Recht als schillernde Persönlichkeit bezeichnen. An der englischen Eliteuniversität Cambridge leistete er als Forscher Pionierarbeiten im Rahmen der damals noch jungen Wissenschaft der Röntgenkristallografie. Er beschäftigte sich aber auch zeitlebens mit militärischen Fragestellungen. So half er unter anderem dabei, die Operation »Overlord«, die Landung der Alliierten 1944 in der Normandie, wissenschaftlich vorzubereiten. Bekanntlich führte diese dann zum endgültigen Sieg über die Nazi-Herrschaft.

Nicht zuletzt war Bernal aber auch zeit seines Lebens glühender Kommunist. Eine Tatsache, die ihm in den folgenden Jahren des Kalten Krieges das Leben nicht unbedingt leichter machte. Die Zukunft der Menschheit sah Bernal aber nicht nur bestimmt durch ein siegreiches Proletariat, das eine klassenlose Gesellschaft errichten würde. Auch von den Naturwissenschaften erwartete er sich große Dinge. In seinem Buch The World, the Flesh and the Devil: An Enquiry into the Future of the Three Enemies of the Rational Soul von 1929 sagte er voraus, dass viele der technischen Errungenschaften, welche die Wissenschaft gerade erst ermöglicht hatte, von der Menschheit nicht nur genutzt, sondern in den menschlichen Körper integriert werden würden. Bernals Vorschläge für den Menschen der Zukunft würden selbst Superman vor Neid erblassen lassen, auch wenn der als Comicfigur erst knapp zehn Jahre später entstand.

John D. Bernal beschreibt jedenfalls einen optimierten Menschen, der dank künstlicher Prothesen Radiowellen mit seinen Sinnen entdecken kann, dessen Augen so hochgerüstet sind, dass sie auch im Infrarotbereich sehen können, und dessen Ohren Ultraschallwellen wahrnehmen. Darüber hinaus verfügt dieser zukünftige Mensch auch über die Fähigkeit, sich in eine Art »Larvenstadium« zu versetzen, um nötigenfalls ein paar Jahrzehnte zu überdauern, in denen es gerade einmal nicht so spannend ist. Revitalisiert nimmt er dann wieder in alter Frische am Alltagsleben der nächsten oder übernächsten Generation teil. Nicht minder erstaunlich: Jahrzehnte vor der ersten Mondlandung, die in ihrer Folge ein kollektives Weltraumfieber auslöste, entwarf Bernal bereits in den 1920er-Jahren sehr detaillierte Pläne, wie man nicht nur andere Himmelskörper kurzfristig besuchen, sondern den Kosmos dauerhaft mit Weltraumstationen kolonisieren kann.2 Der Mensch als Cyborg, die Kryonik als Überbrückungshilfe in künftige Zeitalter, und als letzter Schritt die Besiedlung des gesamten Weltalls – das liest sich auch nach knapp 100 Jahren wie ein aktuelles transhumanistisches Programm. John D. Bernal gehört zweifellos zu den großen, wenn auch selten gewürdigten Pionieren der Bewegung.

Obwohl sich die Namensgebung und die ersten dezidiert transhumanistischen Veröffentlichungen auf den Beginn des 20. Jahrhunderts datieren lassen, stellt sich auch hier die Frage: Gibt es einen »Transhumanismus avant la lettre«? Darauf deutet zumindest einiges hin. Das Verlangen des Menschen, seine gegebenen Grenzen zu überschreiten und sich »übermenschliche Fähigkeiten« anzueignen, reicht offensichtlich bereits sehr weit zurück. Die Mythen aller Völker und aller Zeiten sind voll von entsprechenden Geschichten. In denen erhält man übernatürliche Fähigkeiten zumeist nicht durch die Verschmelzung mit einer Maschine, sondern üblicherweise durch die – zumeist sexuelle – Verbindung mit einem Gott oder einer Göttin. In der griechischen Mythologie etwa wimmelt es von Halbgöttern, deren göttliches Erbe ihnen außergewöhnliche Fähigkeiten verleiht. Dazu gehören ungewöhnliche Körperkräfte ebenso wie heldenhafter Mut oder eine überragende Intelligenz. Herakles (auch Herkules genannt) ist wohl der bekannteste dieser Halbgötter. Sein Name ist auch heute noch ein Synonym für all diejenigen, die übermenschliche Aufgaben bewältigen.

Der Zeit entsprechend waren vor allem kriegerische Qualitäten gefragt. Unverwundbar zu sein war so etwas wie das antike Versprechen von Unsterblichkeit. Genutzt wurden dazu die zur Verfügung stehenden mythologischen Technologien. Achilles etwa wurde von seiner Amme, der Nymphe Thetis, in den Fluss Styx getaucht, der die Unterwelt von der Oberwelt trennt. Der germanische Held Siegfried badete im Blut des zuvor von ihm erschlagenen Drachen. Beides sollte dazu führen, dass die Haut für Waffen jeglicher Art undurchdringbar wird. Geringfügige Nachlässigkeiten, die dann letztlich aber tödlich endeten, unterliefen in beiden Fällen. Bei Achilles war es die Ferse, bei Siegfried das Schulterblatt, die nicht komplett bedeckt wurden.

Tödlich ging auch eine andere antike Geschichte aus, die Teil des kollektiven Gedächtnisses geworden ist. Der junge Ikaros wurde zusammen mit seinem Vater Daidalos vom König Minos auf dessen Insel Kreta gefangen gehalten. Flucht erschien unmöglich, dazu war die Insel zu abgelegen. Doch Daidalos – offensichtlich ein Anhänger fortschrittlicher Technologien – erfand Flügel für sich und seinen Sohn. Die Federn darauf befestigte er mit Wachs an einem Gestänge. Unmittelbar vor der Flucht schärfte er seinem Sohn ein, nicht zu hoch zu fliegen, da sonst die Hitze der Sonne das Wachs zum Schmelzen bringen würde. Typisch Teenager wird dieser jedoch angesichts der neu erworbenen Fähigkeiten zunehmend übermütig und tut genau dieses: Er fliegt immer höher. Es kommt, wie es kommen muss und wie von Daidalos vorhergesagt: Die Sonne lässt das Wachs schmelzen, die Federn lösen sich, Ikaros stürzt ab und stirbt. Die Tatsache, dass nach seiner Absturzstelle eine Insel – Ikaria – benannt wurde, ist da allenfalls ein geringer Trost. Zugegeben, die Geschichte wird weniger von Transhumanisten selbst als eher von ihren Gegnern zitiert. Denn die Moral ist im wahrsten Sinne des Wortes sonnenklar: Wer es mit der Hybris übertreibt und neue Techniken nicht richtig beherrscht, dem droht der Totalabsturz.

Eine weitere mythische Figur, die es vor allem in der deutschen Literatur zu Ruhm gebracht hat, lässt sich ebenfalls als eine frühe Verkörperung transhumanistischer Ambitionen interpretieren: Doktor Faust. Der leidet schwer darunter, dass ihm die eigene Gelehrsamkeit und das Wissen seiner Zeit letztlich doch keine tiefere Erkenntnis ermöglichen. Von der Verzweiflung darüber fast in den Selbstmord getrieben, verkauft er schließlich seine Seele dem Teufel, um endlich jene Fähigkeiten zu erlangen, die es ihm ermöglichen »zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält«. Dass er diese neu gewonnenen Fähigkeiten zunächst einmal dazu benutzt, ein junges Mädel zu verführen und ins Unglück zu stürzen – nun ja, das steht auf einem anderen Blatt. »Faustischen Charakteren« werden wir in diesem Buch jedenfalls noch vielen begegnen.

Von den mythischen und literarischen Figuren zu den realen Philosophen und Wissenschaftlern: Da wird von den Transhumanisten gern der italienische Philosoph Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) als Urahn angeführt, dessen vielseitige Begabungen und außergewöhnliche Schönheit ihn zu einer Art Wunderkind der frühen Renaissance machten. In seiner 1486 veröffentlichten programmatischen Abhandlung De hominis dignitate (Über die Würde des Menschen) preist Pico della Mirandola die Sonderstellung des Menschen:

»Alle übrigen Geschöpfe sind von Natur aus mit Eigenschaften ausgestattet, die ihr mögliches Verhalten auf einen bestimmten Rahmen begrenzen, demgemäß sind ihnen feste Wohnsitze zugewiesen. Der Mensch hingegen ist frei in die Mitte der Welt gestellt, damit er sich dort umschauen, alles Vorhandene erkunden und dann seine Wahl treffen kann. Damit wird er zu einem eigenen Gestalter, der nach seinem freien Willen selbst entscheidet, wie und wo er sein will. Hierin liegt das Wunderbare seiner Natur und seiner besonderen Würde, und insofern ist er Abbild Gottes. Er ist weder himmlisch noch irdisch, demnach kann er nach seiner Entscheidung zum Tier entarten oder pflanzenartig vegetieren oder auch seine Vernunftanlage so entwickeln, dass er engelartig wird.«3

Der Mensch als sein autonomer Gestalter, der die Grenzen seiner eigenen Natur überschreitet. Auch wenn die wenigsten Transhumanisten den dann erreichten Zustand heute als »engelartig« beschreiben würden, so ist das doch genau das, was sie anstreben. Kein Wunder also, dass Pico della Mirandola in der Ahnengalerie der Prototranshumanisten einen Ehrenplatz einnimmt. Kein Wunder auch, dass der glänzende Philosoph zu seiner Zeit rasch unter Häresieverdacht geriet und unter dubiosen Umständen verstarb. Die Exhumierung seiner Gebeine im Jahre 2007 bestätigte eine Arsenvergiftung.

Als ein weiterer Vorläufer des Transhumanismus wird immer wieder Francis Bacon (1561–1626) genannt. Der englische Philosoph, Jurist und Staatsmann gilt als der Begründer der naturwissenschaftlichen Methode. An die Stelle des Glaubens und des Studiums der »Autoritäten«, wie sie die Scholastiker praktizierten, setzte er die Erkenntnis durch Experimente und wissenschaftliche Forschung.

Beflügelt durch die neuen Möglichkeiten, die das aufziehende Zeitalter der Wissenschaften den Menschen eröffnet, verfasste Bacon gleich auch noch einen utopischen Roman namens Nova Atlantis (Neu-Atlantis), der fragmentarisch blieb und ein Jahr nach seinem Tod erschien. Gemäß seinem wohl bekanntesten Motto »Wissen ist Macht« beschreibt Bacon darin eine Zukunft, in der Forscher die Gesetze der Natur nicht nur begreifen, sondern diese auch verändern – nämlich zum Wohle des Menschen. Hier ein kleiner Auszug von dem, was uns in Neu-Atlantis erwartet: »Das Leben verlängern, die Jugend bis zu einem gewissen Grad zurückbringen. Das Altern verlangsamen. Krankheiten heilen, die als unheilbar gelten. Den Schmerz abschaffen. Den Körper verändern. Das Gehirn verbessern. Völlig neue Geschöpfe schaffen.« Sehr viel anders ist das im transhumanistischen Manifest von 2009 auch nicht formuliert. Und den »Vater der modernen Wissenschaft« zählt man natürlich ganz gern zu den eigenen geistigen Gründervätern.

Etwas problematischer wird es schon, wenn es um Friedrich Nietzsche (1844–1900) geht. Dessen Konzept des »Übermenschen« lässt sich natürlich als eine frühe transhumanistische Vision betrachten. Erstmals vorgestellt hatte er es in seinem Werk Also sprach Zarathustra mit den Worten: »Ich lehre Euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, was überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden?« Nach Nietzsche jedenfalls viel zu wenig. Für ihn ist der Übermensch das eigentliche Ziel der Geschichte, für den es gilt, die Bahn frei zu machen. Der jetzige Mensch ist lediglich eine Zwischenstufe, »ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch«. So sehen das die meisten Transhumanisten heute auch. Insbesondere im deutschsprachigen Raum wird Nietzsche daher gern als Gründer eines neuen, transhumanen Zeitalters gesehen.

Im angloamerikanischen Raum ist man davon weniger begeistert. Zu dunkel und politisch unkorrekt erscheint Friedrich Nietzsche dort vielen. Insbesondere die Tatsache, dass ihn die Nationalsozialisten posthum zu einem ihrer Haus- und Hofphilosophen erklärten, wird immer noch als Makel empfunden. Die Grenze vom »Übermenschen« zum »Herrenmenschen« erscheint vielen nicht klar genug gezogen. Auch einige Äußerungen Nietzsches zur Eugenik und zur »Menschenzüchtung« werden als problematisch empfunden. Transhumanisten wie der in Oxford lebende Schwede Nick Bostrom lehnen die Rolle Nietzsches als die eines transhumanistischen Ideengebers daher kategorisch ab. Für sie ist der Transhumanismus eher eine Fortführung der Aufklärung.

Diese geistig soziale Bewegung des 18. Jahrhunderts setzte bekanntlich stark auf rationales und wissenschaftliches Denken und stellte beides ganz bewusst in den Dienst des menschlichen Fortschritts. Den größten Einfluss auf die Aufklärung hatten zweifellos die Franzosen. Und es sind auch zwei prominente französische Aufklärer, auf die sich die Transhumanisten hauptsächlich berufen. Der eine ist Denis Diderot (1743–1794), der Herausgeber der Encyclopédie, eines der zentralen Projekte der französischen Aufklärung. Der andere ist der Marquis de Condorcet.

So schrieb etwa Diderot im Jahre 1769 drei fantastische Essays, die als D’Alemberts Traum bekannt sind. In diesen imaginären Dialogen mit seinem Freund D’Alembert spekuliert Diderot zum Beispiel über das Bewusstsein. Streng materialistisch sieht er es als alleiniges Produkt der Hirnsubstanz. Dies wiederum bietet die Möglichkeit, diese zu zerlegen und wieder neu zusammenzufügen – eine frühe Vision des Mind-Uploading. Auch Tiere und Menschen können nach Diderot in einer absehbaren Zukunft zu intelligenten Geschöpfen umgeformt werden. Die Menschheit selbst werde durch eigene Anstrengungen eine große Typenvielfalt hervorbringen, was sich sowohl auf das Bewusstsein als auch auf den Körperbau bezieht.

Der wahrscheinlich radikalste Materialist der französischen Aufklärung ist dabei Julien Offray de la Mettrie. Sein Konzept des »L’Homme Machine« (Die Mensch-Maschine) beeinflusst noch heute reduktionistische Neurowissenschaftler und Molekularbiologen wie den Medizin-Nobelpreisträger Francis Crick (»Sie sind nichts weiter als ein Haufen Neurone«).4

Ein weiterer einflussreicher Vertreter der Aufklärung war der französische Philosoph und Mathematiker Marquis de Condorcet (1743–1794). Sein Entwurf eines historischen Gemäldes der Fortschritte des menschlichen Geistes (1795) ist die wahrscheinlich einflussreichste Formulierung der wissenschaftlichen Fortschrittsidee, die jemals geschrieben wurde. Unter anderem formuliert Condorcet darin bereits die Idee, dass die wissenschaftliche Medizin die menschliche Lebensspanne deutlich verlängern wird. Die Medizin der Zukunft wird danach nicht nur alle Krankheiten besiegen, sondern auch das Alter selbst behandeln. Die Menschen künftiger Zeitalter werden demnach also nur noch durch Unfall, Mord oder Selbstmord zu Tode kommen. Eine Idee, die derart konsequent erst wieder die Vertreter der Radical Life Extension zweihundert Jahre später formulieren werden.

Fassen wir zusammen: Vorläufer des transhumanistischen Denkens finden sich in den unterschiedlichsten Kulturen und Zeitaltern. Trotzdem bleibt die Frage: Wann beginnt der Transhumanismus zu einer eigenständigen Bewegung mit entsprechenden organisatorischen Strukturen, Institutionen und Medien zu werden? Diesen Beginn müssen wir tatsächlich im Kalifornien der frühen 1980er-Jahre verorten.

Die fünfzehn Jahre zuvor hatten einen beispiellosen politischen und kulturellen Umbruch gebracht. Hauptsächlich ausgelöst durch den Vietnam-Krieg trugen Studenten und junge Menschen ab der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre in vielen Ländern weltweit ihre Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen auf die Straße. In den USA verbanden sie sich mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, in Frankreich suchten die Studenten den Schulterschluss mit der organisierten Arbeiterschaft, in Deutschland schlossen sie sich als »außerparlamentarische Opposition« (APO) zusammen. Ob in Berkeley, Paris oder Berlin – an den Universitäten brodelte es. Der Marxismus wurde zur neuen Heilslehre. Auch wenn es über den richtigen Weg zum angestrebten Sozialismus erbitterte ideologische Grabenkämpfe gab – links war damals so ziemlich jeder, den die Geschehnisse seiner Zeit nicht kaltließen.

Doch die politische Aufbruchstimmung verflog schnell. Allzu ernüchternd erschien die Entwicklung in all jenen Ländern, in denen die so heiß ersehnte sozialistische Gesellschaft bereits real existierte. Die Sowjetunion und ihre Vasallenstaaten verkörperten einen rigiden und repressiven Funktionärssozialismus, der wenig mit den anarchischen Freiheitsträumen der revoltierenden Studenten zu tun hatte. Aus China, dessen politischer Führer Mao Zedong vielen in den Anfangsjahren noch ein leuchtendes Vorbild war, drangen zunehmend Nachrichten über massive Menschenrechtsverletzungen und Massentötungen ins öffentliche Bewusstsein. Innerhalb der Protestbewegung selbst radikalisierten sich immer mehr Gruppen. Manche wurden zu politischen Sektierern, einige wenige schlugen den blutigen Weg in den Terrorismus ein. Vom »Summer of Love« des Jahres 1967 bis zum »Deutschen Herbst« von 1977 verging gerade einmal ein Jahrzehnt.

Enttäuscht von dem ausgebliebenen politischen Umbruch setzte in den 1980er-Jahren eine Art Rückzug in die Innerlichkeit ein. Wenn sich die Gesellschaft schon nicht verändern ließ, dann konnte man sich ja vielleicht selber ändern. Wenn die politischen Verhältnisse nicht besser wurden, dann ließ sich ja vielleicht ein persönliches Optimierungspotenzial entdecken. Experimentiert wurde dabei in die unterschiedlichsten Richtungen. Indische Weisheitslehren erlebten ebenso einen Boom wie psychedelische Drogen. Unübersehbar war auch eine Tendenz zur Flucht aufs Land und ein zunehmendes Interesse für die Umwelt. Die ökologische Bewegung nahm langsam Fahrt auf, daraus entstand im Jahr 1980 in Deutschland die Partei »Die Grünen«, die 1983 erstmals in den Bundestag einzogen. »Alternativ« wurde zu einem neuen Schlüsselbegriff.

Eine besondere Art von Alternativkultur entstand in Kalifornien. Dort experimentierte eine Gruppe namens »Human Potential Movement« schon seit einigen Jahren mit unterschiedlichen Psychotechniken, um das menschliche Bewusstsein auf eine neue, höhere Stufe zu heben. Nun kam ein weiterer Faktor hinzu: die Technik. Beides verschmolz zunächst unter dem Begriff »New Age«. Wissenschaft und Spiritualität wuchsen zusammen. Technischer Fortschritt und persönliche Entwicklung gingen nun Hand in Hand.

Der Zeitpunkt hätte nicht besser gewählt sein können: Mondlandung und Raumfahrt hatten eine landesweite Begeisterung für Zukunftsthemen ausgelöst. Die Science-Fiction-Literatur boomte. Die Computertechnologie begeisterte immer größere Kreise vor allem junger Leute. Es entstand der Typus des Computer-Nerds. Viele von denen, die sich nächtelang Programmieranleitungen ausdachten und in der Garage ihrer Väter entsprechende Apparaturen zusammenbastelten, wurden später zu schwerreichen Unternehmern im benachbarten Silicon Valley. Es war diese neue Generation von »Tech-Geeks«, die den Transhumanismus zu einer eigenständigen Bewegung machte. Das Politische verlor zunehmend an Bedeutung, die Technik wurde immer wichtiger. »Nicht rechts, nicht links, sondern aufwärts« lautete der neue Slogan.

Dazu beigetragen hatte eine Reihe von Publikationen, die völlig neue Perspektiven eröffneten und die heute noch für den Transhumanismus Schlüsselwerke darstellen. Der amerikanische Hochschullehrer Robert Ettinger (1918–2011) etwa hatte 1964 ein Buch mit dem etwas reißerischen Titel: The Prospect of Immortality (»Die Aussicht auf Unsterblichkeit«) veröffentlicht. Darin postulierte er zum ersten Mal, dass Menschen bei tiefen Temperaturen eingefroren und auf unbestimmte Zeit konserviert werden könnten. Zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt ließen sie sich dann wieder auftauen, um in einer künftigen Zeit weitgehend unbeschädigt weiterzuleben.5 Das war eine Idee so ganz nach dem Geschmack der Technikfreaks und Science-Fiction-Fans der kalifornischen Alternativszene. Ettinger gilt heute unbestritten als »Vater der Kryonik«, die – wie wir noch sehen werden – den Transhumanisten ein zentrales Anliegen ist.

Obwohl die Computertechnologie noch in den Kinderschuhen steckte, gab es auch damals schon Wissenschaftler, die der neuen Technologie eine alles überragende Zukunft prophezeiten. Der aus Österreich stammende kanadische Wissenschaftler Hans Moravec (geb. 1948) war einer der ersten Experten auf dem Gebiet der Robotik. In seinem Buch Mind Children entwarf er bereits 1988 ein Szenario, in dem »intelligente Maschinen« den Menschen schon in naher Zukunft in vielen Bereichen überlegen sein werden.6 Eine durchaus kühne These zu einer Zeit, in der die ersten Heimcomputer den Markt eroberten und dabei gerade einmal über einen Arbeitsspeicher von 64 KB (Commodore 64) verfügten. Aber es war auch eine These, die genau in das Weltbild all jener Computer-Nerds passte, die sich sicher waren, dass das, was damals viele nur für simple Videospiele nutzten, sich zu einer die Welt beherrschenden Schlüsseltechnologie entwickeln wird. Intelligente Maschinen, Brain-Computer-Interfaces – das alles gehörte von Anfang an zur transhumanistischen Agenda.

Etwa zur gleichen Zeit erschien ein Werk, das die Grundlage legte für eine Wissenschaft, die das Potenzial hat, die übernächste Schlüsseltechnologie zu werden. 1986 veröffentlichte der US-amerikanische Ingenieur Eric Drexler sein Werk Engines of Creation, in dem er die Möglichkeit beschreibt, sogenannte »Nanomaschinen« zu konstruieren.7 Nanomaschinen sind computerisierte Roboter von der Größe eines Virus, die in der Lage sind, Dinge auf einer molekularen beziehungsweise atomaren Ebene zu konstruieren oder zu verändern. Drexlers Buch war die Geburtsstunde der Nanotechnologie. Auch die stellt heute einen der großen Hoffnungsträger dar, vor allem auch wenn es um die Entwicklung von Quantencomputern geht. Für die Transhumanisten war die Nanotechnologie von Beginn an ein Lieblingsprojekt – »The next small thing« sozusagen.

Damit war der Rahmen abgesteckt: eine Subkultur von Weltverbesserern, die statt auf politische Utopien auf technologische Innovationen setzte. Eine Reihe von Publikationen aus der Hand von Experten, die zwar hochspekulativ zu Werke gingen, aber trotzdem über die entsprechenden wissenschaftlichen Grundlagen verfügten. Die wichtigsten Themen waren formuliert: Unsterblichkeit, künstliche Intelligenz, Nanotechnologie, Kryonik. Nun fehlte nur noch jemand, der aus dieser Gemengelage eine gesellschaftliche Bewegung machte.

Einer der Ersten, der diese Aufgabe anging, war der 1930 in Brüssel geborene iranisch-amerikanische Autor und Philosoph Fereidoun M. Esfandiary. Er begeisterte sich früh für futuristische Themen und arbeitete sowohl publizistisch als auch organisatorisch daran, der noch jungen Bewegung den Weg zu ebnen. Sein 1989 erschienenes Werk Are You a Transhuman? Monitoring and Stimulating Your Personal Rate of Growth in a Rapidly Changing World8 gilt neben Max Mores 1990 erstmals publiziertem Transhumanism: Towards a Futurist Philosophy9 als einer der Gründungstexte des Transhumanismus. Um seine neue transhumanistische Identität zu betonen, änderte Esfandiary seinen Namen in FM-2030. Die Zahl bezieht sich auf das Jahr 2030, in dem er seinen hundertsten Geburtstag feiern wollte und von dem er erhoffte, dass dann bereits viele seiner Visionen Realität geworden sind.

Die hochfliegenden Pläne wurden dann leider von einem Pankreastumor durchkreuzt, an dem FM-2030 im Jahr 2000 starb. Als guter Transhumanist hatte er aber natürlich vorgesorgt. Sein Körper liegt heute in einem der Kryoniktanks der Firma Alcor und wartet auf seine Wiederbelebung. FM-2030 ist nicht nur vor der Zeit gestorben, er hat auch vor der Zeit gelebt. Ein Umstand, den er einmal in den schönen Satz gefasst hat: »Ich bin eine Person des 21. Jahrhunderts, die durch unglückliche Umstände in das 20. Jahrhundert geboren wurde. In mir lebt eine tiefe Nostalgie für die Zukunft.«

Eine weitere Vorreiterrolle übernahm ein junger Mann, der ebenfalls nicht in Kalifornien, sondern 1964 in Großbritannien geboren wurde. Max O’Connor machte zunächst einen Abschluss in Philosophie und politischen Wissenschaften an der englischen Eliteuniversität Oxford, übersiedelte dann allerdings rasch in Amerikas »Golden State«, wo er ein sehr viel passenderes Umfeld für seine futuristischen Ideen fand. Zusammen mit einigen Freunden gründete er dort 1992 das Extropy Institute. Der Name ist ein Kunstbegriff, der sich von dem Terminus »Entropy« absetzen soll. Mit Letzterem bezeichnet man in der Thermodynamik die Tatsache, dass in geschlossenen Systemen das Maß an Unordnung stetig zunimmt, solange nicht künstlich Energie von außen zugeführt wird. Hat die Entropie einen Maximalwert erreicht, befindet sich das System im thermodynamischen Gleichgewicht, und es herrscht Stillstand. Ein Würfel Zucker wird sich in einer Tasse Tee auflösen, bis alle Zuckermoleküle gleich unordentlich darin verteilt sind. Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass es aufgrund der Entropie, die immer nach einem Maximalwert strebt, unmöglich ist, dass sich die Zuckermoleküle im Tee auf natürliche Weise wieder zu einem Würfel vereinigen.

Der von Max O’Connor geprägte Begriff »Extropy« soll dagegen verdeutlichen, dass eine kontinuierliche Verbesserung des menschlichen Zustands durchaus möglich ist. In seinen Principles of Extropy fasst O’Connor die wesentlichen Punkte dieses Denkens zusammen: kontinuierlicher Fortschritt, rationales Denken, Selbsttransformation, intelligente Technologien und eine offene Gesellschaft. Diese fundamentalen Prinzipien arbeitete er dann 1990 in einem Essay mit dem Titel Transhumanism: Towards a Futurist Philosophy weiter aus. Viele sehen in diesem Text das eigentliche Geburtsdokument des Transhumanismus.10

Zur Selbsttransformation gehört nicht zuletzt auch die Freiheit, seinen Namen zu ändern, wenn dieser nicht mehr als passend empfunden wird. In dem gleichen Jahr 1990, in dem sein fundamentaler Artikel über den Transhumanismus erschien, änderte auch Max O’Connor offiziell seinen Namen in Max More. Zwischen FM-2030 und Max More gibt es ein weibliches Bindeglied. Natasha Vita-More unterhielt beziehungsweise unterhält zu beiden Pionieren sowohl eine persönliche als auch eine enge Arbeitsbeziehung. Das macht sie ihrerseits zu einer der wichtigsten Gründungsfiguren der Bewegung. Im Kapitel »Die Pionierin: Natasha Vita-More« stellen wir sie ausführlich vor.

Neben dem Extropy Institute wurde auch das gleichnamige Magazin gegründet. Der Transhumanismus wurde nicht nur theoretisch ausformuliert, er nahm auch organisatorisch Gestalt an. Der Siegeszug des Internets zu Beginn der 1990er-Jahre war dabei durchaus hilfreich. Umständliche »Mailing Lists«, in denen alle Interessenten und Sympathisanten verzeichnet werden mussten, konnten nun ersetzt werden durch die direkte Vernetzung aller, die an diesem Thema interessiert waren.

Nun wäre es definitiv zu kurz gegriffen, wenn man die Ursprünge des modernen Transhumanismus lediglich in Kalifornien verorten würde. Auch in Europa, insbesondere in England, gab es Pioniere, die wesentlich dazu beigetragen haben, den Transhumanismus sowohl als geistige Strömung als auch als organisierte Bewegung zu etablieren. Als Erster ist da sicherlich Nick Bostrom zu nennen. Der schwedische Philosoph lehrt an der University of Oxford und hat sich vor allem auf die Disziplinen Bioethik und Technikfolgenabschätzung spezialisiert. 1998 gründete er zusammen mit David Pearce die WTA (World Transhumanist Association). Ziel der Organisation war es, transhumanistische Ideen und Ideale weltweit bekannt zu machen. Die Tatsache, dass ein Dozent mit der wissenschaftlichen Reputation Nick Bostroms sich offen zum Transhumanismus bekannte, hat sicherlich viel dazu beigetragen, der noch jungen Bewegung einen Platz in der akademischen Welt zu sichern.

Auch wenn der Transhumanismus sich keiner politischen Bewegung zuordnen lässt, kam es innerhalb der WTA doch zu den offensichtlich unvermeidlichen ideologischen Streitereien. Als Sieger aus der Auseinandersetzung ging der eher linksliberale Flügel hervor, der seitdem auch die Richtung bestimmt. Im Jahr 2008 änderte die WTA ihren Namen in »Humanity+« und gab erstmals auch ihre Zeitschrift H+ Magazine heraus. Bis heute ist sie eines der wichtigsten publizistischen Organe des Transhumanismus.

Trotz der vielfältigen Aktivitäten diesseits und jenseits des Atlantiks: Der Transhumanismus wäre wahrscheinlich doch nur eine Sektierergruppe oder zumindest eine philosophische Randerscheinung geblieben, wenn mit dem Beginn der 2000er-Jahre nicht eine entscheidende Entwicklung dazugekommen wäre: Das Silicon Valley entdeckte seine Liebe zu transhumanistischen Ideen.

Die Region im Süden von San Francisco hatte sich zu Beginn des neuen Jahrtausends als das weltweite Zentrum für Informations- und Computertechnologie etabliert. Firmen wie Google, Apple, Facebook und Amazon (GAFA) waren nicht nur zu weltweit führenden Tech-Unternehmen geworden. Sie verfügten auch über eine nahezu unbegrenzte Kapitalkraft. Hinzu kam eine Vielzahl von ambitionierten Start-up-Unternehmen, die das Silicon Valley zum wohl kreativsten Ort der Welt machten.

Viele der Tech-Milliardäre des Silicon Valley wiesen dabei einen recht ähnlichen Lebenslauf auf. In ihrer Jugend waren sie Computer-Nerds, die jahrelang kaum jemand ernst nahm. Danach gelang es ihnen mit Fleiß, Geschick und nicht selten auch hartem unternehmerischem Kalkül, aus ihren oft futuristischen Ideen begehrte Produkte zu machen und so die Grundlage für ihre Firmenimperien und ihr märchenhaftes Vermögen zu legen.

Den IT-Milliardären des Silicon Valley musste also niemand erklären, dass die verlachten Ideen von gestern häufig die Erfolgsmodelle von morgen sind. Sie hatten gelernt, dass es vor allem der technologische Fortschritt ist, der neue revolutionäre Perspektiven eröffnet. Ihr Wahlspruch lautete: »The Sky is the Limit.« Kein Wunder also, dass sie sich für eine philosophisch-technologische Bewegung begeisterten, deren erklärtes Ziel es ist, so ziemlich alle Grenzen zu überwinden.

Einer der ersten und profiliertesten Transhumanisten des Silicon Valley ist sicherlich Ray Kurzweil. Wir werden ihm noch in den unterschiedlichsten Zusammenhängen begegnen. Als Computerspezialist, Erfinder, Futurist und erfolgreicher Buchautor hat er in den letzten zwanzig Jahren wie kaum ein anderer dazu beigetragen, transhumanistische Ideen zu verbreiten. Vor allem aber ist Kurzweil auch Leiter der technischen Entwicklung (Director of Engineering) bei Google. Und als solcher sorgt er dafür, dass der weltgrößte und einflussreichste IT-Konzern die Bewegung nicht nur wohlwollend, sondern auch logistisch und finanziell großzügig unterstützt.

Eine weitere Silicon-Valley-Legende ist der deutschstämmige Peter Thiel. Er hat sein Vermögen vor allem mit dem Online-Bezahldienst Paypal gemacht, den er mit gegründet hat. Heute betätigt er sich hauptsächlich als Risikokapitalgeber. Bevorzugt fördert er dabei Firmen, die transhumanistische Projekte auf der Agenda haben. Auch theoretisch beschäftigt sich Thiel viel mit dem Transhumanismus und vertritt dabei teilweise dezidiert libertäre bis antidemokratische Ansichten, die ihn auch in der Bewegung selbst umstritten machen. Auch auf ihn werden wir noch näher zu sprechen kommen.

Nicht zuletzt muss an dieser Stelle auch Elon Musk erwähnt werden. Er hat es in den letzten Jahren geschafft, zum reichsten Mann der Welt aufzusteigen. Durch seine Medienpräsenz ist er darüber hinaus zu einer Art Superstar unter den Unternehmern geworden. Sein Geld verdient er dabei bekanntermaßen nicht nur mit Elektroautos. Elon Musk investiert auch massiv in seine Raumfahrtaktivitäten sowie in seine Firma Neuralink, die an Brain-Computer-Interfaces arbeitet. Wo andere über Transhumanismus philosophieren, setzt Musk das transhumanistische Programm – Kolonisierung des Weltalls, Cyborgisierung des Menschen – in konkrete Unternehmenspolitik um. Und er ist damit unglaublich erfolgreich. Mehr dazu im Kapitel »Der Macher: Elon Musk«.

Die Affinität des Silicon Valley zur transhumanistischen Bewegung hat unterschiedliche Gründe. Das bisherige Geschäftsmodell des Valley – die Informations- und Computertechnologie – ist zwar auch weiterhin erfolgreich. Dennoch elektrisiert die dort ansässigen Unternehmen keine Frage so sehr wie: »What’s the Next Big Thing?« Und da kristallisiert sich seit einigen Jahren eine klare Tendenz heraus. Die Möglichkeit einer deutlichen Lebensverlängerung zeichnet sich ab und verspricht ungeahnte Gewinne. Mehrere Jahrzehnte länger bei guter Gesundheit zu leben wird für immer mehr Menschen erstrebenswerter, als noch mehr Speicherplatz auf ihrem Smartphone zu haben. Nach Infotech kommt nun also Biotech. Das haben die großen Firmen erkannt. Das belegt nicht zuletzt die ständig wachsende Zahl von Biotech-Start-ups im Silicon Valley selbst.

Besonders effektiv wird es offensichtlich dann, wenn man Infotech und Biotech miteinander verbindet. Die neue Langlebigkeitsmedizin wird eine Unmenge an Daten generieren. Die sogenannten »-omik«-Wissenschaften boomen. In naher Zukunft wird eine große Zahl von Menschen umfangreiche Daten über das haben, was die individuelle biologische Existenz ausmacht. Dazu gehört die Genomik (die Gesamtheit aller Gene), die Epigenomik (die Gesamtheit aller die Gene steuernden Faktoren), die Proteonomik (die Gesamtheit aller Eiweiße im Körper), die Mikrobiomik (die Gesamtheit aller Bakterien in und auf unserem Körper), die Metabolomik (die Gesamtheit aller Stoffwechselprodukte) etc. Dabei werden riesige Datenmengen anfallen, die nicht nur erfasst und gespeichert, sondern auch zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen. Wer könnte das besser als die IT-Giganten des Silicon Valley, die schon heute enorme Datenmengen verwalten und immer neue Algorithmen entwerfen, um diese optimal auszuwerten?

Und natürlich ist auch die Verschmelzung von biologischer und technischer Intelligenz ein Thema, das wie geschaffen ist für das Silicon Valley. Die Neurowissenschaften helfen uns ja nicht nur dabei, das Gehirn – die wahrscheinlich komplexeste Materie des Universums – besser zu verstehen. Sie helfen auch der Computertechnologie, ihre Geräte immer effektiver zu gestalten. »Deep Learning«, die derzeit erfolgreichste Technologie im Bereich selbstlernender Programme, wäre nicht möglich ohne ein verbessertes Verständnis der Funktionen unseres Gehirns.

Eher kapitalismuskritische Vertreter der Bewegung mögen das vielleicht nicht unbedingt gern hören. Dennoch lässt es sich nicht bestreiten: Der weltweite Siegeszug des Transhumanismus verdankt sich weniger den akademischen und intellektuellen Bemühungen ihrer Vordenker, sondern vor allem den Tech-Milliardären des Silicon Valley, ihrem Geld und ihrer medialen Präsenz.

Dialog: Transhumanismus – Wie alles anfing

BKG: Fangen wir gleich einmal bei unserem gemeinsamen philosophischen Hausgott an. Ist Friedrich Nietzsche tatsächlich der geistige Ahnherr des Transhumanismus? Verkörpert sein Konzept des »Übermenschen« im 19. Jahrhundert bereits das, was die Silicon-Valley-Elite jetzt im 21. Jahrhundert durchsetzen will? Du hast ja sogar ein Buch mit einem »Plädoyer für den Nietzscheanischen Transhumanismus« geschrieben.

SLS: Über die Frage, ob Nietzsche der Vater des Transhumanismus ist, wird heftig gestritten. Diese Debatte wurde durch einen Vortrag von mir ausgelöst, der auf einer Veranstaltung, auf der auch Nick Bostrom und Julian Savulescu zugegen waren, gehalten wurde und sehr kontroverse Diskussionen hervorgerufen hat, nachdem er unter dem Titel »Nietzsche, the Overhuman, and Transhumanism« 2009 publiziert wurde. Mittlerweile ist dieser Vortrag einer der meistzitierten Artikel zu Nietzsche überhaupt. Darauf haben Transhumanisten sehr unterschiedlich reagiert. Auf der einen Seite ist da zum Beispiel Max More, der meine These unterstrichen hat, dass Nietzsche eine wesentliche Vorläuferrolle zukommt. Er selbst wurde stark durch Nietzsche beeinflusst. Dem gegenüber stehen die Aussagen von Nick Bostrom, der die Ahnherrschaft von Nietzsche bestreitet. Ich vermute allerdings, dass in diesem Zusammenhang eher politische Interessen eine gewisse Rolle spielen. Man will nicht mit den ganzen Konnotationen, die mit Nietzsches Denken einhergehen, identifiziert werden. Bostrom versucht sozusagen, den Transhumanismus vor den gefährlichen Ressentiments zu retten, die mit dem Namen Nietzsche verbunden sind.

BKG: Sicherlich gibt es immer noch diese Vorbehalte gegen Nietzsche, weil er ja sozusagen posthum von den Nazis für ihre Vorstellungen vereinnahmt wurde. Obwohl es sicherlich keinen deutschen Philosophen gibt, der sich derart dezidiert von dumpfem Nationalismus und Antisemitismus abgegrenzt hat. Ich würde aber gern noch einen anderen Aspekt diskutieren. Transhumanisten ist ja vor allen Dingen die Weiterentwicklung des Menschen durch Technik wichtig. Und da fällt auf: Nietzsche hat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschrieben. Das war ja in Deutschland die Hoch-Zeit der Industriellen Revolution. Nietzsche hat sich aber für den technologischen Fortschritt in Deutschland bemerkenswert wenig interessiert. Da standen ihm die griechischen Vorsokratiker doch viel näher als die deutschen Industriebarone.

SLS: Da muss ich dir natürlich recht geben. Aber die Frage ist, wie weit man den Technikbegriff fasst. Die entscheidende Frage ist: Ist Erziehung nicht auch schon eine Technik? Man könnte ja genauso von Folgendem ausgehen: Im Prinzip sind die neuesten Möglichkeiten der gentechnischen Veränderung des eigenen Nachwuchses nur eine Erweiterung des traditionellen Erziehungsbegriffs. Ursprünglich haben Eltern ihren Nachwuchs über Erziehung ausgeformt. Diese Möglichkeit der Gestaltung des Nachwuchses und der Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, dass der Nachwuchs ein gutes Leben führt, wird nun durch die Möglichkeiten der Gentechnik erweitert. Das ist durchaus eine Überlegung, die innerhalb der Debatten zur Gentechnik eine Rolle spielt. Dass Erziehung also eine gewisse Anthropotechnik darstellt, ist durchaus naheliegend. Und Erziehung war bei Nietzsche ein wichtiger Vorgang, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass der Übermensch entstehen kann.

BKG: Aber das beginnt doch nicht erst bei Nietzsche. Das ist ja eigentlich das klassische humanistische Menschenideal: die Weiterentwicklung des Menschen durch Erziehung und Bildung. Dazu brauchen wir doch nicht unbedingt den Transhumanismus.

SLS: Die Frage ist sozusagen: Was ist die zugrunde liegende Vorstellung vom Menschen? Dem Humanismus liegt da vor allem die Vorstellung zugrunde: Der Mensch besteht letztendlich aus diesem göttlichen Funken und seinem weniger bedeutsamen Körper. Nietzsche hingegen – im Unterschied zu den ganzen traditionellen Humanisten – ist als einer der wenigen Philosophen davon ausgegangen, dass die Seele nur ein Teil des Körpers ist. Damit hat er radikal mit der traditionellen humanistischen Tradition gebrochen. Das ist dann schon ein entscheidender Unterschied zur humanistischen Gedankenwelt. Die Frage ist ja: Was ist der Mensch? Besteht der Mensch aus dem göttlichen Funken und dem Körper? Oder ist das, was Vernunft etc. ausmacht, letztendlich ein Teil des Körpers? Das ist etwas, was Nietzsche als einer der wenigen Philosophen seiner Zeit vertrat, weswegen ich ihn so spannend und anregend finde. Er hat mit dieser langen dualistischen Tradition von Platon über Descartes bis zu Kant gebrochen und als einer der wenigen einen naturalistischen Ansatz ernst genommen.

BKG: Nun gut, damit hätten wir Nietzsche schon einmal erfolgreich in die Ahnenhalle des Transhumanismus eingegliedert. Aber die Gründungsmythen gehen ja noch sehr viel weiter zurück.

SLS: Richtig, die reichen weit über das 19. Jahrhundert, die Renaissance und das Mittelalter zurück. Eigentlich müssten wir in der griechischen Antike anfangen. Für den Transhumanismus ist der Prometheus-Mythos besonders wichtig. Bei Prometheus spielen eigentlich zwei Motive eine zentrale Rolle: Im ersten hat er den Menschen das Feuer gebracht. Das Feuer, das mit dem Intellekt oder mit der Vernunft identifiziert wird. Die Vernunft gilt traditionell als etwas Jenseitiges. Seit Darwin ist die Vernunft jedoch zu etwas Diesseitigem geworden, etwas, das vielleicht evolutionär mit dem Körper entstanden ist. Das zweite Motiv, das sich bei Prometheus finden lässt und das auch in Goethes »Prometheus«-Gedicht eine zentrale Rolle spielt, ist die Idee, dass Prometheus sozusagen derjenige ist, der als Mensch andere Menschen erschafft. Die Vorstellung, Leben zu erschaffen, Menschen zu erschaffen, neue Geschöpfe zu realisieren. Das ist schon revolutionär. Und bei den neuesten Technologien sehen wir ganz aktuell, dass diese Aufgabe von Menschen selbst in die Hand genommen wird. Das ist ein Beispiel für die heutige Realisierung eines prometheischen Strebens.

BKG: Machen wir mal einen Sprung vom Geschichtlichen zum Geografischen. Wir haben uns in unserer Darstellung im Wesentlichen auf Europa und Amerika konzentriert. Es gibt aber zum Beispiel auch eine russische Tradition. Schon im 19. Jahrhundert gab es dort Nikolai Fjodorow. Den bezeichnet man heute zumeist als Begründer des Kosmismus. Viele seiner Ideen decken sich aber mit denen des Transhumanismus. Auch in der frühen Sowjetunion herrschte eine große Begeisterung für Dinge wie Lebensverlängerung oder sogar Wiederauferstehung. Der neue sozialistische Mensch sollte eben auch ein fundamental verbesserter Mensch sein. Wir konnten dies aufgrund des begrenzten Umfangs unseres Buches nicht sehr ausführlich darstellen. Aber es ist schon interessant zu sehen, wie in unterschiedlichen Sphären der Welt solche Ideen auf unterschiedliche Weise formuliert wurden.

SLS: Absolut richtig. Es ist unglaublich beeindruckend, was gerade im Russland des 20. Jahrhunderts für Ideen vorhanden waren, die sozusagen als Vorläufer des Transhumanismus oder als seine Inspiration angesehen werden müssen. Die russischen Kosmisten, die ganze Science-Fiction-Literatur, die in Russland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand, ist unglaublich beeindruckend. Sowohl was die Fragen nach Privatheit angeht in dem dystopischen Roman Wir von Jewgeni Samjatin, der ja auch als Inspiration von George Orwells 1984 gilt. Auch im Science-Fiction-Roman Der Amphibienmensch von Alexander Beljajew werden transhumanistische Visionen thematisiert. Hier verändert ein Wissenschaftler seinen Sohn, sodass dieser unter Wasser und auf der Erde leben kann. Man könnte eine komplette Einführung zum Transhumanismus bestreiten, indem man sich mit der russischen Science-Fiction-Literatur und den Filmen auseinandersetzt, die im 20. Jahrhundert in Russland entstanden sind. Dieser Umstand liegt wahrscheinlich auch darin begründet, dass man dort von einem materialistischen Weltbild ausging und die Hoffnung, durch Technik die Lebensqualität zu verbessern, in der frühen Sowjetunion eine große Rolle spielte.

BKG: Eine höchst interessante Figur ist ja auch Isaac Asimov, der russisch-amerikanische Autor. Der hat nicht nur überaus spannende Science-Fiction-Romane geschrieben, sondern sich auch ganz konkret mit moralphilosophischen Fragen auseinandergesetzt. Er hat zum Beispiel schon vor über fünfzig Jahren »ethische Regeln für Roboter« diskutiert. Das sind Themen, worüber man jetzt sehr intensiv nachdenkt. Aber auch in anderen Ländern sind zahlreiche Autoren zu finden, wie etwa Stanislaw Lem aus Polen, der auch eine Art früher Ideengeber des Transhumanismus war. Nicht zuletzt gibt es auch in der Gegenwart schillernde Zeitgenossen: Dmitri Izkow ist ja fast eine Art Parallelfigur zu den Transhumanismus-Gurus im Silicon Valley. Auch er ist durch die Internettechnologie zum Multimilliardär geworden. Auch er interessiert sich für die Unsterblichkeit, transhumanistische Ideen, die Konstruktion von Avataren, die uns dann demnächst in virtuellen Welten ersetzen sollen. Im Prinzip ist er eine russische Version von Ray Kurzweil. Auf der anderen Seite muss man konstatieren: Sosehr es eine russische und osteuropäische Tradition des Transhumanismus gibt, so erstaunlich ist doch, dass in Asien transhumanistische Ideen nur wenig verbreitet sind. Und das, obwohl in asiatischen Ländern, nehmen wir zum Beispiel einmal China, Japan oder Südkorea, ja eine große Begeisterung für neue technische Entwicklungen, künstliche Intelligenz etc. herrscht. Der Transhumanismus als intellektuelle Bewegung ist aber in Asien kein großes Thema.

SLS: Das ist in der Tat so. Der Transhumanismus als kulturelle Bewegung und organisierte Strömung ist dort nicht stark vertreten. Es gibt allerdings eine wissenschaftliche Zeitschrift zum Thema, die in Seoul entstanden ist, das Journal of Posthuman Studies. Ihre Zielsetzung ist es, das Thema zu fördern und es einer breiten Öffentlichkeit als kulturelle Strömung nahezubringen. Entscheidend ist jedoch, dass im Unterschied zur westlichen Welt der Transhumanismus in den ostasiatischen Ländern sehr viel stärker gelebt wird. Man sieht das zum Beispiel auch daran, dass Südkorea einer der weltweiten Hotspots für plastische Chirurgie ist. Es ist dort gang und gäbe, dass sich schon Teenager in der Mittagspause eine neue Nase oder Augenoperationen gönnen. Die »morphologische Freiheit« wird dort sehr viel stärker gelebt. Auch Projekte wie etwa das Klonen eines Mammuts werden von koreanischen Forschern vorangetrieben. Ich würde hier also von einem gelebten Transhumanismus sprechen. Das sieht man nicht zuletzt auch daran, in welchem Ausmaß die entsprechenden Themen in koreanischen Filmen, Serien etc. eine ganz wichtige Rolle spielen.

BKG: Transhumanistische Ideen werden ohne Zweifel weltweit populärer. Für den Transhumanismus als organisierte Bewegung gilt das aber nicht unbedingt. Wenn man sich die Mitgliederzahlen von transhumanistischen Organisationen anschaut oder auch die Teilnehmerzahlen an transhumanistischen Kongressen, so sind die ja nicht unbedingt beeindruckend. Ist das ein Manko, oder reicht es, wenn sich die Ideen durchsetzen?

SLS: Der Begriff »Transhumanismus« wird teilweise ja selbst unter Transhumanisten kritisch gesehen. Es war kein Zufall, dass die »World Transhumanist Society«, sich letztendlich in »Humanity+« umbenannt hat. Also selbst die Hauptorganisation des Transhumanismus sagt: Wir merken, dass Menschen in der Öffentlichkeit irgendwie Angst vor dem Begriff »Transhumanismus« haben. Er scheint irgendwelche Befürchtungen hervorzurufen, mit denen man nicht identifiziert werden möchte. »Humanity+« klingt hingegen nach: Wir wollen uns alle steigern, verbessern und leistungsfähiger werden. Das scheint auf eine sehr viel höhere Akzeptanz zu stoßen. Andererseits sieht man aber, dass transhumanistisch geprägte Ideen sich unwahrscheinlich schnell verbreiten. Das gilt für öffentliche Diskussionen, Romane, Kinofilme und Netflix-Serien. Die Phänomene werden also immer stärker angenommen, auch wenn mit dem Begriff offensichtlich viele Probleme haben.

BKG: Anders ausgedrückt: Am Wording und Framing wird noch gefeilt. Aber die Ideen setzen ihren Siegeszug fort.

Der Prophet: Ray Kurzweil

Bernd Kleine-Gunk

Unter den vielen Vordenkern des Transhumanismus ist er wahrscheinlich der bekannteste. Auf jeden Fall ist er mit seinen Themen in den Medien präsent wie sonst niemand. Ray Kurzweil hat 2005 mit The Singularity is Near (deutscher Titel: Menschheit 2.0 – Die Singularität naht) das wohl wichtigste Buch zum Transhumanismus der letzten Jahrzehnte geschrieben, das umgehend Kultstatus erlangte. Als Leiter der technischen Entwicklung bei Google hat er darüber hinaus die Möglichkeiten, viele seiner Visionen auch in die Tat umzusetzen. Mit der Singularity University – keine klassische Universität, sondern Gründerzentrum und Agentur für Innovationsberatung – schuf er eine Art transhumanistische Kaderschmiede. Und auf seiner Internetseite www.kurzweilai.net sowie den diversen Social-Media-Kanälen versorgt er eine ständig wachsende Gemeinde nahezu täglich mit neuen Erfolgsmeldungen aus der transhumanistischen Welt.

Entsprechend überschwänglich fallen auch die Etikettierungen aus. Das Forbes Magazine nannte ihn »The ultimate thinking machine«, das Wall Street Journal »A restless genius«. US-Präsident Bill Clinton verlieh ihm 1999 die National Medal of Technology, die höchste Technologieauszeichnung der USA. Die Zahl seiner Ehrendoktortitel beläuft sich auf mittlerweile mehr als zwanzig.

Natürlich gibt es auch Kritiker, die ihm »New-Age-Geschwurbel« vorwerfen oder ihm unterstellen, er wolle einen »Cyber-Totalitarismus« etablieren. Andere stoßen sich an seinem ausgeprägten Sendungsbewusstsein. Die intellektuelle Brillanz spricht Ray Kurzweil allerdings niemand ab.

Dabei war seine Karriere als Transhumanist, Futurologe und Technikpionier keineswegs vorgezeichnet. Kurzweil wurde 1948 als Sohn einer jüdischen Familie im New Yorker Stadtteil Queens geboren. Den Eltern war es 1939 noch kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gelungen, vor den Nazis aus Wien zu fliehen. Der Vater arbeitete als Musikprofessor, Dirigent und Komponist, die Mutter als Klavierlehrerin. Für den kleinen Ray war eigentlich eine Karriere als Pianist vorgesehen. Der interessierte sich aber eher für Computer als für Klaviere und wusste nach eigenen Angaben bereits im zarten Alter von fünf, dass er einmal Erfinder werden wollte.