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Seitenzahl: 110
Max Frisch
Homo Faber
Lektüreschlüssel XL für Schülerinnen und Schüler
Von Theodor Pelster
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:
Max Frisch: Homo faber. Ein Bericht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 842016. (st. 354.)
Lektüreschlüssel XL | Nr. 15477
2018 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2018
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961356-7
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015477-9
www.reclam.de
Eine der bekanntesten griechischen Das ThemaSagen berichtet von König Ödipus, der die Stadt Theben von der Sphinx befreite, selbst Herrscher wurde und am Ende unschuldig schuldig geworden ins Unglück stürzte. Die Sphinx, ein Ungeheuer mit Löwenleib und Menschenkopf, hatte sich Thebens bemächtigt und tötete herankommende Herausforderer, sofern sie nicht ein von ihr gestelltes Rätsel lösen konnten. Ihre Frage lautete: »Welches Wesen läuft am Morgen auf allen Vieren, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei Beinen?« Ödipus besann sich und antwortete: »Der Mensch: Als kleines Kind bewegt er sich auf dem Boden; erwachsen steht er aufrecht; im Alter braucht er eine Gehstütze.«1 Die Sphinx gab sich geschlagen und tötete sich selbst.
Der Mensch – lateinisch: homo – behauptet sich kraft seines Verstandes gegen Herausforderungen aller Art. In der Kindheit und im Alter ist er allerdings auf Hilfe angewiesen. Doch auf dem Höhepunkt seines Lebens erreicht er eine Größe, die ihn unter Umständen dazu verleitet, sich zu überschätzen.
»Was ist der Mensch?«, so lautet auch weiterhin die Frage. Unter welchen Bedingungen lebt er? Welche Möglichkeiten hat er? Welche Grenzen sind ihm gesetzt?
Das Wort »Mensch« gebraucht man einerseits als Allgemeinbegriff und fasst damit alle Lebewesen gleich welcher Hautfarbe, welcher Nation, welcher Kultur- und Sprachgemeinschaft zusammen, die über »Verstand« verfügen und sich dadurch von anderen Lebewesen unterscheiden.
Der Mensch ist zugleich Einzelwesen und Gesellschaftswesen, gehört also einer Gruppe an, einer Familie, einer Sprach- und Kulturgemeinschaft, möglicherweise auch einer Religionsgemeinschaft. In all diesen Gruppen spielt er eine ihn charakterisierende Rolle. Er mag Künstler oder Wissenschaftler, Lehrer oder Schüler, Mutter, Vater oder Tochter sein. Für all diese Rollen gibt es typische Verhaltensweisen. Der Hauptfigur des vorliegenden Romans geht der Ruf voraus, ein typischer ›faber‹ – also ein typischer Handwerker oder Techniker zu sein, abgeleitet von ›Homo faber‹ (schaffender Mensch).
Ein zweiter Blick in die sagenhafte Vergangenheit: Als Aufschrift auf dem Apollotempel in Delphi soll die auf die »Sieben Weisen« Griechenlands zurückgehende Aufforderung gestanden haben: »»Erkenne dich selbst!«Erkenne dich selbst!«.2 An Aktualität hat auch dieser Imperativ nichts verloren.
Aufschluss über sich selbst gewinnt das fragende Ich durch Selbsterforschung. In einer einfachen Bestandsaufnahme sind Grunddaten wie Name, Alter, Geburts- und Wohnort leicht zusammenzutragen. Etwas schwieriger ist es, herauszufinden, über welche Fähigkeiten und Interessen das Ich verfügt, welche Lebens- und Weltanschauungen prägend waren oder sind. Einer besonderen Anstrengung bedarf es, sich selbst als ein einmaliges Individuum zu erfassen, zu beschreiben, zu erkennen. Trotzdem behält der Imperativ seine Gültigkeit: »Erkenne dich selbst!«. Leitfragen solcher Erkundungen sind: »Wer bin ich? Wie wurde ich? Wie möchte ich sein?«
Max Frischs Roman Homo faber ist ein Modellfall, an dem abgelesen und erörtert werden kann, wie sich ein Mensch dieser Forderung stellt, welche Schwierigkeiten sich bei der Selbsterforschung ergeben und wie es grundsätzlich um die Möglichkeiten bestellt ist, sich selbst zu erkennen.
Max Frisch hat sich der Frage nach dem eigenen Max Frisch und die Frage nach dem IchIch früh gestellt und ist ihr nie ausgewichen. Zu seinen ersten Veröffentlichungen zählen zwei Skizzen aus dem Jahr 1932, die beide mit Was bin ich? betitelt sind. Später bevorzugt er die Form des Tagebuchs: Eine erste Tagebuchveröffentlichung brachte 1950 hohen literarischen Ruhm, ein weiteres erschien 1972. Im Nachlass fand man dann ein nahezu vollendetes Typoskript, das 2010 unter dem Titel Entwürfe zu einem dritten Tagebuch veröffentlicht wurde. Dabei zeigte sich früh, dass die scheinbar so einfache Frage nicht zufriedenstellend zu beantworten ist. »Weiß ich es denn selbst, wer ich bin?«3, lässt er später eine seiner Romanfiguren sagen und er fügt hinzu: »Jeder Mensch […] erfindet seine Geschichten […] – anders bekommen wir unsere Erlebnismuster, unsere Ich-Erfahrung, nicht zu Gesicht.«4 Damit ist der Anspruch auf wahre Erkenntnis weitgehend aufgegeben.
Der Homo faber und die ParallelromaneRoman Homo faber, erschienen 1957, stellt den Prozess einer solchen Ich-Erfahrung dar. Es ist das mittlere von drei großen epischen Werken, die das gleiche Thema umkreisen: Die Hauptfigur in dem 1954 publizierten Roman Stiller ist ein Schweizer Bürger, der lange im Ausland war, bei seiner Rückkehr verhaftet wird und nun um seine Identität kämpft; die Hauptfigur in Mein Name sei Gantenbein (1964) tut so, als sei sie blind, und prüft, wie die Mitmenschen auf ihr Spiel reagieren.
Dass es in Homo faber um die Frage geht »Was ist der Mensch?«, wird überdeutlich im Titel ausgesprochen; denn das lateinische homo (›Mensch‹) ist das Grundwort der Überschrift, dem das lateinische faber (›Schmied, Handwerker‹) als Bestimmungswort beigegeben ist. Mit ›Homo faber‹ wird ein Typus bezeichnet, ein ›Macher‹. An vergleichbaren Typisierungen sind – außer der übergeordneten Gruppe ›Homo sapiens‹ (verständiger Mensch) – etwa ›Homo ludens‹ (spielender Mensch), ›Homo politicus‹ (politischer Mensch) und ›Homo oeconomicus‹ (ökonomischer Mensch) im Gebrauch.
Mit ›Homo faber‹ ist ein Klassifikationsversuch gemacht, den man als Behauptung verstehen kann, für den die Begründungen folgen werden, den man aber auch als Aufforderung nehmen kann, die Typisierung in Bezug zu der Figurendarstellung zu setzen und sich der zugrundeliegenden Problemfrage zu stellen: Ist der Mensch hinreichend bestimmt, wenn man ihn als Schmied, Handwerker, Techniker, generell als einen »Macher« auffasst, oder führt der Denkprozess, der mit dem Imperativ »Erkenne dich selbst!« beginnt, zu einem anderen Ergebnis?
Das Mensch und TechnikThema »Mensch – Welt – Technik« ist von uneinholbarer Brisanz. Die Frage »Was ist der Mensch, was soll, was kann, was darf er?« ist noch nicht beantwortet, ist wahrscheinlich nie endgültig zu beantworten. Sobald neue Methoden, aber auch neue Problemfelder wie »Klonen, pränatale Vernichtung und gentechnische Manipulation«5 auftreten, stellen sich uralte Fragen von neuem.
Homo faber liefert ein überschaubares Modell dafür, wie Menschheitsfragen gestellt, erörtert und letzten Endes nie endgültig und für alle Zeiten beantwortet werden können. Was eignete sich besser zur diskursiv angelegten Schullektüre?
Der Hinweis für den LeserEinstieg in die Lektüre wird erleichtert, wenn sich der Leser zunächst einen Überblick über die Anlage des mit Homo faber betitelten und auf zwei Stationen aufgeteilten Berichts verschafft, ehe er zum zügigen Lesen ansetzt. Der »Bericht« (S. 170) wird zeitlich versetzt an zwei verschiedenen Stationen unter unterschiedlichen Bedingungen erstellt und bezieht sich einerseits auf die unmittelbar zurückliegende und andererseits auf die weit zurückliegende Vergangenheit des Menschen Walter Faber.
Fabers SchreibanlassWalter Faber, gebürtiger Schweizer, Ingenieur und als Entwicklungshelfer im Auftrag der UNESCO vor allem in Südamerika tätig, begegnet in seinem fünfzigsten Lebensjahr seiner ihm bisher unbekannten Tochter, erlebt ihren Unfalltod und muss sich fragen, inwieweit er an diesem unglücklichen Geschehen beteiligt ist. Er versucht, sich Rechenschaft in einem groß angelegten »Bericht« (S. 170) zu geben, den er in zwei Stationen, an zwei verschiedenen Orten abfasst.
Caracas ist für ihn der Der erste Teil des Berichtserste Haltepunkt. Hier entsteht in der Zeit vom »21. Juni bis 8. Juli« (S. 160) jener Teil des Berichts, den er mit »Erste Station« (S. 7) überschreibt. Der Bericht setzt ein mit dem Start eines Flugzeugs, das ihn, Faber, von New York nach Mexico-City bringen soll. Ein Defekt an der Maschine zwingt zur Notlandung in der »Wüste von Tamaulipas« (S. 22). Während man vier Tage und fünf Nächte festsitzt, kommt im Gespräch heraus, dass der Mit-passagier Herbert Hencke ein Bruder jenes Joachim Hencke ist, mit dem Faber während seiner Studienzeit in Zürich befreundet war. Faber erfährt weiter, dass Joachim Hencke mit Hanna Landsberg, einer Halbjüdin, verheiratet war, dass diese Ehe aber sehr bald geschieden wurde. Mit Hanna war Faber »damals, 1933 bis 1935« (S. 33), befreundet. Er hatte sie 1936 verlassen, als sie ein Kind von ihm erwartete, er aber eine erste Stelle als Ingenieur in Bagdad angeboten bekam. Zu einer Heirat war Hanna in dieser Situation nicht bereit.
Herbert Begegnung mit Herbert HenckeHencke ist nun, im Jahr 1957, auf dem Weg zu seinem Bruder, der in Guatemala im Auftrag der Hencke-Bosch AG, Standort Düsseldorf, eine Tabakplantage leitet, der seit einiger Zeit jedoch nichts von sich hat hören lassen. Faber entschließt sich, Herbert Hencke zu begleiten. Von Mexico-City fliegen sie nach Campeche, ein Zug bringt sie nach Palenque, mit dem Landrover geht es dann in das Sumpf- und Dschungelgebiet. Als sie endlich die Plantage erreichen, finden sie Joachim erhängt in seiner Wellblech-Baracke.
Faber verlässt Hencke, fliegt weiter nach Venezuela, wo er ein Projekt zu betreuen hat, dann zurück nach New York. Einen längeren Aufenthalt in New York möchte er vermeiden, um Ivy, seiner Freundin, von der er sich endgültig trennen möchte, aus dem Weg zu gehen. Daher entschließt er sich, für die Schiffsreise nach Europa mit Elisabeth Überfahrt nach Europa zu einem Kongress in Paris eine Schiffsreise zu buchen, statt zu fliegen. Während der Reise lernt er Elisabeth Piper, das »Mädchen mit dem blonden Roßschwanz« (S. 69), kennen, das er bald mit Sabeth anredet und von der er rückblickend erklärt: »Sie gefiel mir, aber ich flirtete in keiner Weise« (S. 74). Allerdings macht er ihr in der Nacht vor der Ankunft in Le Havre, an seinem fünfzigsten Geburtstag, einen Heiratsantrag, zu dem sie jedoch nicht Stellung nimmt.
Die gemeinsame Reise von Faber und SabethIn Paris treffen sich Faber und Sabeth wieder. Sie gehen gemeinsam in die Oper und Faber bietet Sabeth an, mit ihr durch Frankreich und Italien bis zu ihrer Mutter nach Griechenland zu fahren – angeblich, um sie davor zu bewahren, per Autostop reisen zu müssen. In Avignon erleben sie die »Nacht (13. V.) mit der Mondfinsternis« (S. 124), die einen Wendepunkt in der Beziehung bedeutet. Faber rechtfertigt sich: »Jedenfalls war es das Mädchen, das in jener Nacht […] in mein Zimmer kam –« (S. 125). In einem Gespräch, das Faber und Sabeth bei einer Besichtigungspause am Rand der Via Appia vor den Toren Roms führen, erfährt Faber dann, dass Sabeth die Tochter von Hanna, geborene Landsberg, geschiedene Hencke, geschiedene Piper ist. Noch kann er sich nicht eingestehen, dass sie seine eigene Tochter ist, mit der Hanna schwanger war, als er sie verließ, und von deren Existenz er nichts ahnen konnte. Er nahm an, Hanna habe die Schwangerschaft abgebrochen, wie es mit dem Mediziner Joachim Hencke abgesprochen war.
Kurz vor dem Ende der Reise, in der Nähe von Korinth, geschieht ein Der Tod SabethsUnglück: Sabeth wird, während Faber im Meer badet, von einer Schlange gebissen. Als sie Faber herbeirufen will, stürzt sie von einer Böschung – »keine zwei Meter, eine Mannshöhe« (S. 158) – und bleibt ohnmächtig liegen. Faber setzt alles daran, sie möglichst schnell in ein Athener Krankenhaus zu bringen, damit sie rechtzeitig mit dem entsprechenden Serum versorgt werde. Doch Sabeth stirbt im Krankenhaus – nicht an dem Schlangenbiss, sondern an einer unentdeckten Schädelfraktur.
Im Krankenhaus treffen Fabers Wiederbegegnung mit HannaHanna – jetzt Dr. Hanna Piper – und Walter Faber zusammen. Hanna war im Krieg nach der Scheidung von Joachim zuerst nach Paris gegangen, dann nach England und arbeitet nun in Athen am archäologischen Institut. Beide begegnen sich nun erstmals nach »einundzwanzig Jahre[n], genau gerechnet« (S. 132). Nicht nur der Tod Sabeths veranlasst sie, ihren Lebensweg und ihre Lebenskonzeption zu überdenken. Es kommt zur ersten Aussprache.
Faber in CaracasBerufliche Verpflichtungen führen Faber erneut nach New York, dann nach Caracas in Venezuela, wo endlich das Projekt abgeschlossen werden soll, für das Faber verantwortlich ist. Doch überfallen ihn in Caracas derartige Magenschmerzen, dass die Arbeiten ohne seine Aufsicht durchgeführt werden müssen und er zwei Wochen im Hotel bleibt. In dieser Zeit schreibt er den vorliegenden Bericht der »Erste[n] Station« (S. 7), »ohne denselben zu adressieren« (S. 170).
DerZweiter Teil des Berichts zweite Teil des Berichts, die »Zweite Station« (S. 161), entsteht vom 19. Juli an im Krankenhaus in Athen. Faber wartet darauf, operiert zu werden. Es hat sich bestätigt, was sich durch Symptome längst ankündigte; Faber leidet an Magenkrebs. Im Krankenhaus führt er Tagebuch – handschriftlich, deshalb kursiv gedruckt –, trifft letzte Verfügungen und trägt auf seiner Hermes-Schreibmaschine nach, wie sein Leben in den Wochen nach Sabeths Tod weiterging: