Honor Harrington: Aller Ehre Anfang - David Weber - E-Book
SONDERANGEBOT

Honor Harrington: Aller Ehre Anfang E-Book

David Weber

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Diese Anthologie wirft ein Licht auf die Anfänge des Sternenkönigreichs von Manticore und seiner einzigartigen Heldin Honor Harrington. Die Mission: zu erfahren, wie sich Honors Eltern kennenlernten. Dabei sein, wenn Honor vom Baumkater Nimitz adoptiert wird. In eine Zeit zurückkehren, als das Sternenkönigreich von Manticore noch nichts von einem Wurmlochknoten in seinem Hoheitsgebiet wusste ... Meisterhaft erzählen David Weber und seine Kollegen Geschichten von Heldenmut und Ehre.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 809

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Charles E. Gannon: Immer schön nach Handbuch

Timothy Zahn: Im Namen der Ehre

Prolog

I

II

III

IV

Epilog

David Weber: Die Schöne und das Tier

David Weber: Der beste Plan

Joelle Presby: Zu dienen verpflichtet

ALLER EHRE ANFANG

Aus dem Amerikanischen vonBeke Ritgen

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:Copyright © 2013 by Words of Weber, Inc.

Titel der amerikanischen Originalausgabe:»Beginnings, Worlds of Honor #6«»By the Book« Copyright © 2013 by Charles E. Gannon»A Call to Arms« Copyright © 2013 by Timothy Zahn»Beauty and the Beast« Copyright © 2013 by Words of Weber, Inc. »Best Laid Plans« Copyright © 2013 by Words of Weber, Inc. »Obligated Service« Copyright © 2013 by Joelle Presby

Originalverlag: Baen Books, Published by Arrangement withBaen Books, Wake Forest, NC, USA

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische AgenturThomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Dr. Ulf Ritgen, BonnTitelillustration: Arndt Drechsler, RegensburgUmschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-4977-1

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Charles E. GannonImmer schön nach Handbuch

Vier Tage vor Hygeia, 12. August 2352 (250 P.D.)

Brian Lewis, von allen Gasten an Bord der jüngste, seufzte so schwer, dass sein Visor innen kurz beschlug. »Das war’s also, Skipper. Wir sind ausgesperrt.«

Lieutenant Lee Strong starrte auf die äußerst unkooperative Luftschleuse vor ihnen.

Der andere Gast, Roderigo Burns, ein Veteran mit drei Jahren Erfahrung, fragte: »Warum bringen wir nicht einfach ein paar Ladungen an und sprengen uns den Weg ins Schiffsinnere frei?«

Jan Finder, Lees dienstältester Unteroffizier und EVA-Spezialist, knurrte ihm die Antwort zu: »Weil wir, Jungspund, nicht wissen können, wer an Bord am Leben bleibt, wenn wir jetzt ein Loch in diese Blechdose sprengen.«

»Aber die Innentür der Schleuse …«

»Gut zugehört jetzt, Rekrut! Wir können die Luftschleuse nicht einsehen, und deshalb wissen wir auch nicht, ob die Innentür der Schleuse geschlossen ist. Man geht von nichts aus, das sich im Vorfeld nicht überprüfen ließ. Obwohl unsere Lötnaht hier noch nicht trocken hinter den Ohren ist, weiß er das ganz genau – und vieles andere obendrein.«

Es war ein zweifelhaftes Kompliment, aber nichts anderes hatte Lee mittlerweile von Finder zu erwarten gelernt. Sehr genau hatte er beobachtet, wie die meisten Unteroffiziere mit neuen Lieutenants umsprangen: Konnten sie den Neuen nicht ausstehen, legten sie ihm gegenüber tadellose, respektvolle Förmlichkeit an den Tag, sägten aber hinter seinem Rücken dezent und äußerst effizient an seinem Stuhl. Mochten sie den Neuen, wurde zunächst einmal gefrotzelt – so wie gerade eben. Dabei jedoch fiel die Frotzelei immer so aus, dass jeglichen Gasten eines absolut klar war: Ihr neuer Vorgesetzter mochte ja ein Neuling sein, aber er war auf jeden Fall ein intelligenter Neuling, und so täten sie gut daran, sowohl dessen Intelligenz als auch dessen Rang angemessenen Respekt entgegenzubringen.

Burns klang beinahe schon aufsässig. »Ja, aber mal davon ausgegangen, die Innenluke steht wirklich offen, wenn wir die Außenluke sprengen: Bemerken dann nicht die Sensoren der Lebenserhaltungssysteme das Vakuum sofort und versiegeln automatisch die Notschotten.«

»Sofern die Sensoren noch funktionieren, Roderigo«, gab Lee ruhig zurück. »Und weil wir wissen, dass das Schiff gekapert wurde, sollten wir besser davon ausgehen, dass die Systeme an Bord samt und sonders beeinträchtigt sind.«

»Öhm … na ja … jou, Sir, stimmt.«

Hinter Finders bestätigendem Grunzen war das Grinsen zu spüren, dass er sich vor den anderen nicht erlaubte. Aber Lee war sich sicher: Innerlich grinste Finder. Lee blickte zu seinem entschieden zu alten Kompaniefeldwebel hinüber, dessen untersetzte, kräftige Gestalt sich schwarz vor den Sternen abzeichnete. »Ihre Meinung, Sergeant?«

Der Schattenriss bewegte sich keinen Deut. »Wir könnten uns den Weg freischneiden.« Ein Schulterzucken folgte. »Das ist auf jeden Fall sicherer. Aber es dauert. Also wird man bemerken, dass wir kommen. Keine gute Idee.«

»Klingt, als würden Sie aus Erfahrung sprechen, Sergeant Finder.«

»Jou. Ich war noch ein grüner Rekrut, da hat ein Offizier das in einer ganz ähnlichen Situation schon mal ausprobiert.«

»Und die Piraten haben Sie kommen hören und die Geiseln umgebracht?«

»Schlimmer, Lieutenant. Sie haben uns an Bord kommen lassen, direkt vor unseren Augen ein junges Mädchen umgebracht und gedroht, noch mehr Geiseln umzubringen, wenn wir näher kämen. Also haben sich unsere Offiziere darauf eingelassen, mit denen zu verhandeln. Unterdessen wurden wir über die Luftschächte von der Mehrzahl der Piraten umgangen. Sie sind hinter uns in Stellung gegangen und haben das halbe Team niedergemäht.«

»Und ich wette, keine der Geiseln wurde gerettet.«

»Die Wette würden Sie gewinnen, L.T. – wenn Sie jemanden fänden, der dämlich genug wäre, dagegenzuhalten. Andererseits ist unser Burns hier nicht allzu helle, und es heißt, Wetten wären genau sein Ding, also …«

»He …!«, muckte Roderigo auf.

»Das reicht jetzt«, ging Lee dazwischen. »Sprengladungen scheiden aus, und Schneidbrenner auch.«

»Also sitzen wir hier draußen fest«, fasste Lewis ruhig zusammen, dem Tonfall nach sich rechtfertigend. »Wir sind erledigt.«

»Nein, Lewis, sind wir nicht«, widersprach ihm Lee. »Es gibt noch eine Möglichkeit.« Er blickte am Rumpf des Langstrecken-Passagierschiffs entlang. Hinter den Quartier- und Kommandosektionen bugwärts, vor der sie gerade schwebten, lagen mittschiffs die wurstförmigen Treibstofftanks. Dahinter kam ein langer, schmaler Ausleger, stabilisiert durch vier Stützstreben, und an dessen Ende befanden sich die achterlichen Maschinendecks. Dorthin deutete Lee und sprach die zeitlosen zwei Worte aus, derer sich Subalternoffiziere schon seit Jahrtausenden befleißigten: »Mir nach.«

Er stieß sich vom Rumpf der Blütenduft ab, des Passagierschiffs, das vor zwei Wochen aus einem marsianischen Raumhafen ausgelaufen war. Von den Düsen seines Raumanzugs ließ er sich achteraus treiben, geradewegs auf die Maschinendecks zu.

Sie starrten zu dem gewaltigen schwarzen Loch ›hinauf‹, das mitten im Hauptschubmodul des Passagierschiffs klaffte.

»Das können Sie doch nicht ernst meinen!«, hauchte Roderigo Burns.

»Man könnte sogar behaupten, der Lieutenant meinte das todernst«, versetzte Finder.

»Das war jetzt nicht sonderlich hilfreich, Sergeant«, bemerkte Lee.

»Verzeihen Sie, Sir, aber Ihr Vorhaben ist doch ein wenig ungewöhnlich.«

»Ein wenig ungewöhnlich?«, krächzte Brian Lewis. »Sir, das ist ein eklatanter Verstoß gegen die Vorschriften. Laut Handbuch haben wir es hier mit einem Strahlungsrisiko der Kategorie eins zu tun, und wenn …«

»Lewis …«, unterbrach ihn Finger rau. Offenkundig bewahrte er in seiner Kehle stets eine Schaufel Kies auf, nur für den Notfall. »Klappe! Bei Raumnotrettungseinsätzen geht nichts nach Handbuch, da sind Vorschriften und Dienstanweisungen ausdrücklich außer Kraft gesetzt. Und nennen Sie mich niemals wieder ›Sir‹! Ich bin kein Offizier, ich muss für meinen Sold richtig arbeiten! So, und wenn Sie jetzt nicht Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit dem L.T. widmen, sorge ich dafür, dass Ihr Hintern die ungeteilte Aufmerksamkeit meines Stiefels erfährt!«

In der Zwischenzeit hatte Lee den Rand des gähnenden schwarzen Lochs begutachtet. »Sieht nicht nach Verschleiß in jüngster Zeit aus. Wahrscheinlich ist das Ding seit dem Testlauf nach Fertigstellung nicht mehr benutzt worden.«

»Na prächtig«, murmelte Lewis und erschauerte.

»Beruhigen Sie sich, Brian«, sagte Lee. »So ein Testlauf wird mit einem Inertkern durchgeführt, nur um sicherzustellen, dass das Auswurfsystem funktioniert. Sergeant, geben Sie mir einen Rem-Wert.«

Finder brummte zustimmend.

Sogar noch durch die lichtempfindliche Tönung seines Visiers hindurch wirkte Roderigo Burns skeptisch, und er blickte sich mit großen Augen um. »Aber Sir, ich dachte, durch diese Öffnungen würde radioaktiver Abfall entsorgt.«

Lee widerstand der Versuchung, in einem flammenden Vortrag die Panikmache anzuprangern, die von der Erd-Union als Wahrheit verkündet wurde. »Nein, Burns. Der Ausstoßschacht eines Nuklearantriebs hat nur eine einzige Funktion: Er gestattet im Falle einer Fehlfunktion den Abwurf einer aktiven Reaktoreinheit.« Als automatisiertes Protokoll war das schon an sich recht dämlich. Aber so war die Erd-Union nun einmal: Seit vor beinahe zwei Jahrhunderten Technologiefeinde und Ökofanatiker, die sich als Partei mit mehr oder weniger Anrecht Neo-Ludditen und Grüne nannten, an die Macht gekommen waren, hatte das Wort ›Atomkraft‹ die gleiche Bedeutung wie ›Teufelswerk‹. Die Vorstellung, einen Menschen in Kontakt mit gleich welcher Art von Strahlung kommen zu lassen, war als Angstvorstellung regelrecht zu einem Fetisch geworden. Manche der besonders extremen Neo-Ludditen verweigerten sogar die Anwendung medizinischer Diagnostik, bei der Röntgenstrahlung genutzt wurde. Ja, sogar die Kernspintomografie wurde von manchen abgelehnt, trotz aller Versicherungen, dort kämen keinerlei radioaktive Isotope zum Einsatz. Entsprechend lag in ein und derselben Gemeinde die Lebenserwartung dieser ganz besonders Gesundheitsbewussten im Schnitt rund zehn Jahre unterhalb der anderer, weniger fanatischer Gemeindemitglieder.

Finder verstaute gerade wieder sein handtellergroßes Messgerät, eine Kombination aus Geigerzähler und Strahlungssensor. »Das Gerät meldet kontinuierlich achtzehn Rem pro Stunde. Oder ganz nach Handbuch: hundertachtzig Millisievert.«

Lee wandte sich den Gasten zu. »Innerhalb der nächsten zehn Minuten sind wir nicht nur drin, sondern auch schon wieder raus aus dem kontaminierten Bereich. Damit setzen wir uns einer Gesamtdosis von maximal drei Rem aus – oder, ganz nach Handbuch, dreißig Millisievert. Dreißig Millisievert sind unterhalb der schädlichen Dosis.«

Burns und Lewis gaben sich redlich Mühe, beruhigt zu wirken … und scheiterten auf ganzer Linie: Jahrelange Indoktrination ließ sich nun einmal nicht in einer Minute aus ihren Köpfen verbannen.

Finder näherte sich dem Zielgebiet. »Okay, L.T.: Wir gehen also durch den Heißluftschacht. Und dann? Am anderen Ende gibt’s bestimmt keine Luftschleuse.«

»Nein, Sergeant, aber es gibt dort Wartungsklappen. Also, mir nach.«

Das Trägersignal veränderte sich, unaufdringlich, aber unverkennbar: Ein kaum hörbares Zischen war plötzlich über den Allgemeinen Taktischen Kanal zu vernehmen. »Sir«, sagte Finder über den Zweitkanal, der nur für die Kommunikation zwischen Unteroffizier und Offizier vorgesehen war. »Ich bin der EVA-Experte und außerdem bloß ein dummer Sergeant. Also gehe ich voran, okay?«

In Lee rangen zwei Reaktionen miteinander: einerseits die sehr weise Bereitschaft, den respektvoll vorgebrachten Rat seines erfahrenen Sergeants anzunehmen, andererseits das beinahe übermächtige Bedürfnis, seinen Männern – durch entsprechende Taten – zu zeigen, dass er ihnen niemals etwas abverlangen würde, was er nicht auch selbst zu tun bereit wäre, und dass von seinem Befehl in diesem Falle keinerlei Gefahr ausging. Nun, zumindest nicht in Form von Strahlung.

Doch es gelang Lee, jenem zweiten Impuls zu widerstehen, so stark er auch war. Er räusperte sich und schloss mit dem Kinn den privaten Kanal. Seine nächsten Worte richtete er an das gesamte Team. »Sergeant Finder, wenn ich’s mir recht überlege, gehen Sie besser mit dem Sensor voran. Sollte es doch noch heißer werden als im Moment, sollten wir das so früh wie möglich erfahren.«

»Damit wir abhauen können?«, erkundigte sich Burns besorgt.

»Nein, damit wir unser Zielgebiet im Laufschritt ansteuern können.« Lee zog seine beachtlich große Zehn-Millimeter-Handfeuerwaffe aus dem Holster.

Der Ausstoßschacht zeigte keinerlei Gebrauchsspuren – aber auch keinerlei sichtbaren Hinweise auf regelmäßige Wartung. Ganz offenkundig hatten die furchterregenden Legenden über die Atomkraftdrachen, die am anderen Ende jener von Menschen geschaffenen Höhle hausten, Besucher abgehalten – selbst jene, zu deren Pflicht die regelmäßige Kontrolle des Schachtes auf Funktionstüchtigkeit gehört hätte. Das war ein weiteres Beispiel dafür, welche Gefahr von exzessiv geschürter Angst ausging, die (Neo-)Grüne und Neo-Ludditen gleichermaßen der Öffentlichkeit einbläuten. Verwandelte sich die Furcht vor der Technik in eine Urangst, wurden aus Wartungsroutinen Ansammlungen gefürchteter, aber offenkundig unerlässlicher Rituale des Schreckens. Von wissenschaftlichem oder technologiebewusstem Vorgehen konnte dann keine Rede mehr sein.

Hätten die Ökofanatiker andere Mittel und Wege gekannt, kostengünstig und mit brauchbarer Geschwindigkeit in die Weiten jenseits des Mondes vorzustoßen, hätten sie das gewiss getan, davon war Lee überzeugt. Doch da die Machthaber weder willens waren, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf technische Fortschritte zu lenken, noch entsprechende Gelder dafür freizugeben, hatten sie sich, allerdings nur zögerlich, bereiterklärt, den Einsatz thermonuklearer Raketen jenseits des Mondes zu billigen. Bedauerlicherweise ging diese Billigung mit so viel Betonung der Gefahren einher, die von jener Technik ausgehe, dass nur die wenigsten auf der Erde Geborenen das Interesse entwickelten – oder auch nur den Mut aufbrachten –, sich auf diesem Feld umzutun. So blieb diese Arbeit – ebenso wie viele andere als unerfreulich empfundene Tätigkeiten auch – jenen vorbehalten, die sich selbst Upsider nannten: der kleinen Bevölkerungsgruppe, die auf Mond oder Mars lebte oder in Habitaten in deren Umlaufbahn. Sie waren es, die Wartungsarbeiten an den Satelliten durchführten oder im Asteroidengürtel nach Rohstoffen schürften, und sie bauten auch die unterlichtschnellen Interstellarschiffe, die glücklose oder unerwünschte, weil aufsässige Vertreter der menschlichen Spezies in andere Sonnensysteme verfrachteten, um dort neue Kolonien zu gründen.

Dennoch war die Zahl der Schiffe mit Nuklearantrieb gering: Selbst jetzt noch befanden sich im gesamten System unter Einbeziehung aller Ziel- und Aufgabengebiete höchstens vier Dutzend im Einsatz. Frachtgüter ließen sich auch unter VASIMIR-Antrieb von einem Ende des Systems zum anderen bringen, und Kurzstrecken konnte man genauso gut mit den etwas leistungsstärkeren Magnetoplasmadynamik-Schubdüsen zurücklegen. Transporter aber für Flüge im offenen All mussten unweigerlich mit Thermonuklearraketen ausgestattet sein. Anderenfalls würde sich eine Reise, die derzeit nur wenige Wochen dauerte, über mehrere Monate hinziehen, möglicherweise sogar über Jahre.

Doch da die Erdenlenker in Nuklearraketen Teufelszeug sahen, hatte man sich nie an den Umgang damit gewöhnt. Dass man nicht auf sie verzichten konnte, war ein Stachel im Fleisch von Ökofanatikern und Neo-Ludditen gleichermaßen, und jeder, der damit zu tun hatte, besaß in der Gesellschaft nur geringes Ansehen.

Lee Strong, der die Nachhut der vierköpfigen Entermannschaft bildete, sah Burns und Lewis, seine ansonsten technisch wirklich versierten Gasten, abergläubisch (und darin geradezu hysterisch) davor zurückschrecken, in Kontakt mit der Wandung des Schachtes zu geraten. Lee rechnete halb damit, einer von ihnen würde eine segnende oder vorgeblich Unglück abwehrende Geste in Richtung des Kernspaltungsreaktors machen.

Am Ende des Schachtes angekommen, ließ Finder die Düsen seines Raumanzugs Gegenschub geben, bis er genau über einer großen Luke mit beachtlich großen Bolzen schwebte. Über den abgesicherten Kanal zu seinem Offizier sagte er: »Die Sensoren melden jetzt dreiundzwanzig Rem pro Stunde. Was jetzt, L.T.? Einen Schraubenschlüssel für Riesendinger wie die da habe ich nicht.«

»Brauchen wir auch nicht. Da gehen wir nicht rein.«

»Nicht?«

»Nö. Schauen Sie mal nach links. Sehen Sie das Paneel da? Das da, das genau in die Wand eingelassen ist?«

»Jou. Okay. Senkkopfbolzen. Aber das sieht mir ganz so aus, als bräuchten wir einen besonderen Schlüssel, um die manuell zu entriegeln, und ich habe …«

»Sie haben nicht das richtige Bit-Profil dabei«, beendete Lee den Satz für Finder, während er zwischen Burns und Lewis hindurch auf den Sergeant zuschwebte. »Aber ich.« Er öffnete eine kleine Klettverschlusstasche an seinem Handgelenk und zog vorsichtig den entsprechenden Schrauber hervor, der mit einer dünnen Sicherungsleine an der Tasche befestigt war.

»Hmm.« Der Sergeant war wieder auf den abgesicherten Kanal zurückgekehrt. »Deswegen sind Sie Offizier, und ich nur Sergeant.« Selbst durch die halb getönte Visorscheibe seines Helms war noch zu erkennen, dass Finder in einem Lächeln die Zähne aufblitzen ließ.

»Stimmt in diesem Fall, jou. Mit Informationen über den Zugang zu Nuklearnutzungsanlagen gehen die Bonzen in Genf nicht gerade hausieren. Vor allem nicht, wenn es sich um ein Hintertürchen wie das hier handelt.«

»Also vertrauen Sie das Ganze lieber einem Lieutenant an, der vor seiner Abreise von Luna in seinem Leben noch keinen Haufen Nuklearschrott gesehen hat. Nehmen Sie das nicht persönlich, Sir, aber viele von denen, die wie Sie von der Erde kommen … na ja, also, die sprühen jetzt nicht gerade vor gesundem Menschenverstand. Anwesende ausgenommen, klar.«

»Klar. Aber Sie haben völlig recht, Sarge, leider auch in diesem Fall.«

Das war nicht einfach nur ein höfliches kleines Geplänkel zwischen ihnen gewesen. Es war eine Notwendigkeit, wenn man im ersten Dienstjahr als Offizier von seinem Unteroffizier Unterstützung statt Verweigerung wollte, und damit standen oder fielen alle Einsätze. Der Sergeant war Upsider. Er hatte all die Vorurteile, Leuten von der Erde gegenüber, die Upsider nun einmal hatten, und hier traf er beklagenswerterweise ins Schwarze. Von klein auf bekam man auf der Erde zu hören, welche Gefahren von jeglicher Form von Technik ausgingen, vom Weltraum allgemein und ganz besonders von der Kernkraft. Daher hatte die Abteilung für Weltraumaktivitäten der Erd-Union große Schwierigkeiten, genug fähige junge Männer für den Offiziersdienst zu finden. Zum Schutz vor kosmischer Strahlung, die elektromagnetisch Raubbau an den Eizellen in den weiblichen Eierstöcken treiben könnte, waren Frauen jegliche Tätigkeiten beim Zoll oder in anderen Abteilungen der Erd-Union, für die Raumfahrt unerlässlich war, kategorisch untersagt. Bei den Männern, die dort Dienst taten, zeigte die Mehrheit – Lee konnte nicht umhin, das einzuräumen – deutlich weniger Technikaffinität als vielmehr Karrierebewusstsein. Sie ersetzten mangelhaftes Grundverständnis für die tatsächlichen Gegebenheiten im All durch den festen Glauben, sie allein wären die Wärter der Interessen ihrer Heimat, was es zur Selbstverständlichkeit werden ließ, dass bei Einheiten, in denen vornehmlich jenseits der Erde geborene Upsider Dienst taten, ausschließlich auf Terra geborene, wahre Kinder von Mutter Erde die goldenen Tressen eines Offiziers trugen. Eben diese Offiziere hatten sicherzustellen, dass wer von niederer Geburt war – weil im All zur Welt gekommen und folglich zuständig für die Dreckarbeit – niemals lange genug unbeaufsichtigt bliebe, um in Erwägung zu ziehen, sich gegen ihre Herren und Meister auf der Erde aufzulehnen.

Mit seinem Schraubwerkzeug hatte Lee die Bolzenabdeckungen gelöst. »Die sollten sich mit einfachem Handwerkzeug gut lösen lassen, Sarge.«

Obwohl er schon den gesicherten Kanal zu seinem Vorgesetzten nutzte, senkte Burns die Stimme noch weiter. »L.T., wenn die Meuterer … oder Entführer, Piraten oder was auch immer, die die Blütenduft übernommen haben … Wenn die uns hier hinten hören, könnten die dann … also, könnten die uns mit radioaktivem Gas hier aus dem Schacht herausblasen?«

Lee musste gegen den Impuls ankämpfen, angesichts des immensen Ausmaßes an Unwissenheit, das diese Frage zur Schau stellte, resignierend den Kopf zu schütteln. Zugleich schaltete er sein Mikro wieder auf den allgemeinen Kanal um. »Nein, Roderigo, so funktionieren diese Maschinen nicht. Jeder Nuklearantrieb mit Partikelausschüttung ist so konstruiert, dass radioaktives Material immer innerhalb eines eigens abgeschirmten Bauteilverbunds vollständig versiegelt ist. Bei Bedarf, also im Notfall, kann der Reaktorkern durch diesen Schacht ausgestoßen werden, aber so etwas ist nur sehr, sehr selten nötig. Das wäre also ein sehr spezieller Sonderfall. Nur eine Hand voll Besatzungsmitglieder ist in die dafür erforderlichen Befehlskombinationen und Codes eingewiesen. Außerdem bezweifle ich, dass sich von den Kriminellen, die das Schiff geentert haben, in diesem Moment jemand hier in der Maschinensektion aufhält.«

»Okay, aber wenn doch … da gibt’s doch sicher so was wie eine manuelle Auslösung, oder, Skipper?«

Es war durchaus beruhigend, von einem deutlich diensterfahreneren Besatzungsmitglied nach kaum mehr als zwei Monaten des ersten Jahres im offenen All Skipper genannt zu werden. »Na ja, für den Fall, dass sich dieser Bauteilverbund aus irgendeinem Grund nicht von der Stelle bewegt, können entsprechend eingewiesene Techniker den Abwurf auch manuell bewirken. Aber das wäre angesichts der dort herrschenden Strahlung ein Himmelfahrtskommando.«

Mittlerweile hatte Finder die Bolzen gelöst und schob das halbmondförmige Wartungspaneel auf der Schachtinnenwand beiseite. Der Blick auf einen schmalen Wartungsgang wurde frei, der schmaler, als die jetzt gelöste Abdeckung desselben hatte vermuten lassen, mit rechtwinkligen Wänden ins Schiffsinnere führte. Nach einem halben Dutzend Metern machte der Gang einen Knick nach rechts.

Roderigo Burns spähte über Lees Schulter hinweg. »Liegt die Luftschleuse hinter dem Knick?«

Lee schüttelte den Kopf. »Nö, keine Luftschleuse, noch lange nicht. Hinter dem Knick kommt erst ein weiteres Zugangspaneel, von dem aus man in den Lüftungs- und Wartungsschacht gelangt, der einmal um das ganze Antriebssystem herumläuft. Dann gibt es noch zwei weitere Zugänge zu Wartungsschächten, beides Doppelpaneele, ehe man ins eigentliche Schiffsinnere gelangt. Besser, wir legen jetzt los – es sei denn, Sie möchten Ihre Expositionszeit künstlich in die Länge ziehen.«

Burns riss die Augen auf, stieß sich eiligst an der Schachtwandung ab und sauste geradewegs in den nun frei zugänglichen Gang hinein.

»Ein guter Offizier weiß seine Männer stets angemessen zu motivieren«, meinte Finder in dem übertrieben belehrenden Tonfall, den man beim Zitieren von Binsenweisheiten aus dem Handbuch anschlug. »Nach Ihnen, Lieutenant.«

Lee und seine Männer folgten dem Gang bis zur Biegung. Wie erwartet fand sich dort das Wartungspaneel, leicht an seiner eindeutigen Markierung zu erkennen: Die sechs orangefarbenen Bolzen, die das Paneel hielten, waren von gelb und schwarz schraffierten Warnfeldern eingerahmt.

Lewis bedachte das Paneel mit einem bärbeißigen Blick. »Wenn man durchs Paneel zurück ins Schiff will, soll man diese sechs Explosivbolzen auslösen, echt jetzt? Damit man die Metallplatte genau vor den Kopf bekommt, oder was?«

Lee schüttelte den Kopf. »Das sind keine Spreng-, sondern Sollbruchbolzen. Wir können sie, einem nach dem anderen, auch von außen jederzeit auslösen. So lässt sich das Ablösen des Paneels steuern, und die Inertgase können auf der anderen Seite gefahrlos entweichen. Der Druck treibt uns also nicht den halben Ausstoßschacht zurück.«

Burns bedachte seinen Lieutenant mit einem langen, respektvollen Blick. »Sagen Sie mal, Skipper, woher wissen Sie das alles?« In seiner Stimme schwang sogar ein Hauch Erleichterung mit.

»Weil ich vor weniger als einer Stunde die technischen Spezifikationen gelesen habe.«

»Und«, setzte Finder mit reichlich bühnenreifem Pathos hinzu, »weil er handverlesener Offizier und Mitglied unserer allseits beliebten Zollpatrouille ist, der Eliteeinheit der Menschheit, wo sich Außenseiter, politisch Unerwünschte und Problemkinder zusammenfinden. Ein Hoch auf die Zollpatrouille!«

»Hoch!«, antworteten Burns und Lewis mit derselben Begeisterung, die sie sich ansonsten für den Latrinendienst aufhoben.

»Das ist die richtige Einstellung!« Lee grinste Finder an. »Dann mal los, Männer!«

Das Paneel des Zugangsterminals zum eigentlichen Maschinenraum funktionierte noch und reagierte daher auf die üblichen Befehle. Lewis schloss den Tastenwahlblock kurz und ließ einen Großteil der Atmosphäre entweichen, während Lee den Rest des Teams für einen Sturmangriff postierte. »Ich übernehme die Führung«, sagte er und warf Finder einen Blick zu, der sein Ziel nicht verfehlte: Da der Blick verriet, eine Diskussion wäre unangebracht, kam auch kein Widerspruch von Seiten des Sergeants. »Der Sergeant gibt Ihnen Feuerschutz, während Sie mir folgen, Burns. Wir schweben in Bodennähe rein, auf die Raummitte zu. Rings um das Kraftwerk gibt es reichlich Deckung.«

Burns nickte nervös. Vermutlich beunruhigte ihn die Vorstellung, sich einem Kernreaktor zu nähern, deutlich mehr als die Tatsache, es mit bewaffneten Gegnern aufnehmen zu müssen. »Lewis, auf drei! Eins, zwo …«

Auf drei löste Lewis die Sprengbolzen des Paneels aus. Sofort schwang es ihnen entgegen. Lee duckte sich unter dem wegfierenden Paneel durch den noch schmalen Spalt und stieß sich kräftig ab. Fast drei Meter weit sauste er über Deck, erreichte das Reaktorgehäuse und kauerte sich hinter ein Steuerpult. Einen Augenblick später traf Burns ein und quetschte sich noch dazu. »Okay, Roderigo«, raunte Lee. »Sie decken zwölf Uhr, ich sechs Uhr.«

Sie spähten an Rohrleitungen und Steuerpulten und der Abschirmung des Nuklearantriebs vorbei. Nirgends eine Bewegung. Mit dem Kinn aktivierte Lee seine Verbindung zu Finder. »Sarge, Meldung bitte.«

»Wenn’s was zu melden gäbe, hätt ich’s schon gemacht, L.T. Alles ruhig.«

»Okay. Lewis und Sie kommen jetzt rein und schließen das Paneel hinter sich. Dann sichern Sie den Raum von der gegenüberliegenden Seite. Bei Bedarf geben Burns und ich Ihnen Feuerschutz.«

»Aye, Skipper.«

Zwanzig Sekunden später war der Maschinenraum gesichert, und Finder meldete eine Strahlungsbelastung von schwindelerregenden drei Millirem pro Stunde.

»Also keine Lecks«, seufzte Lewis dankbar.

»Und keine Leichen«, setzte Finder hinzu. »Was jetzt, L.T.?«

Lees Blick wanderte zur Luke hinüber. Sie ging zum nächstgelegenen Gang hinaus, der parallel zum Kiel des Schiffes bis hinauf zu den Quartiermodulen führte. »Wir gehen bugwärts. Geradewegs diesen verdammten Fünfzig-Meter-Schießstand lang.«

»Also gut«, übernahm Finder rasch die Initiative. »Genau zugehört, Gasten: Der L.T. sagt, wir arbeiten uns zum Bug vor. Burns, Sie tauschen mit Lewis die Waffe: Ich möchte, dass Sie für diesen Einsatz zusammen mit mir die Vorhut übernehmen. Lewis, Sie geben uns Feuerschutz mit dem Kurzgewehr. Dann folgen Sie der Vorhut im Abstand von zehn Metern. Bleiben Sie dicht an der Außenwand des Gangs. Feinsäuberlich aufstellen wie Kegel sollten wir uns schließlich nicht, nicht wahr, L.T.?«

Lee nickte, während er über Sinn und Zweck von Finders Befehlen nachgrübelte. Was hatte der Sarge nur vor? Okay, Lee hatte das nächste Ziel ausgewählt, und für die taktische Positionierung der Männer war vor allem sein Sergeant zuständig, aber gerade war Finder entschieden zu schnell aktiv geworden: als wollte er unbedingt, dass mit seiner und keiner anderen Truppenpositionierung gearbeitet würde. Außerdem, ging es Lee durch den Kopf, während er mit dem Kinn sein Mikrofon auf die gesicherte Leitung umstellte, konnte nicht Lewis, sondern Burns am besten mit dem Kurzschaftkarabiner umgehen. »Sarge«, setzte er an …

Finders Antwort über den gesicherten Kanal fiel sehr knapp aus. »Vertrauen Sie mir, L.T.! Ich weiß, dass Lewis nicht der bessere Schütze ist, aber darum geht es nicht.«

»Und worum d …?«

»Vertrauen Sie mir, L.T., okay?«

»Na gut, Sergeant – unter der Bedingung, das wir eine ausführliche Nachbesprechung führen.«

Finder nickte. »Sie sind der Boss.« Finder schaltete wieder auf den allgemeinen Kanal um. »Okay, Lewis, da Sie von jetzt an für den Feuerschutz zuständig sind, übernehmen Sie die Vorhut beim Vorstoß in den Gang. Sobald der Eingang gesichert ist, halten Sie sich rechts. Der L.T. geht als Letzter rein und hält sich links. Sir, auf Ihr Zeichen legen wir los.«

Lee nickte. »Lewis, auf drei. Eins, zwo …«

Bei ›drei‹ aktivierte Burns die Entriegelung, und Lewis schwebte in den Gang hinein. Im selben Augenblick berührte etwas Lees linke Hand und lenkte seinen Blick dorthin. Finder hatte ihm gerade eine äußerst sonderbar geformte Pistole in die Hand gedrückt. Sie sah aus wie eine lange, auffallend dünne Röhre, an deren Ende ein Magazin befestigt war. Alles in allem wirkte dieses magersüchtige Gegenstück einer Handfeuerwaffe wie selbstgebastelt.

»Was zum …?«

Über den gesicherten Kanal zischte Finder ihm eine rasche Antwort zu: »Acht Schuss. Gyrojet-Munition. Rückstoßfrei, für den Einsatz in der Schwerelosigkeit. Verwenden Sie nicht Ihre Zehn-Millimeter. Bleiben Sie am Leben!« Dann folgte Finder auch schon Burns, sauste durch die Öffnung und bellte Befehle. Lee war so überrascht, dass er beinahe vergessen hätte, seinem Sergeant zu folgen.

Als er sich schließlich doch in Bewegung setzte, stellte er fest, dass der Rest seines Teams bereits auf den zugewiesenen Positionen war, allesamt schön geduckt, um ein möglichst kleines Ziel abzugeben. Lee tat es ihnen gleich und machte sich unmittelbar links neben der Luke so klein wie möglich.

»Alles klar, L.T.«, meldete Finder. »Seltsam ruhig für eine Schiffsentführung.«

Lee spähte den Gang hinab, der sich bis in unendliche Ferne zu erstrecken schien. »Ja und nein. Ich hatte nicht damit gerechnet, gleich hier auf böse Jungs zu treffen. Ich dachte aber, wir stießen auf Leichen der Besatzung. Tja, die könnten durchaus auch noch da drüben sein.« Lee wies in die entsprechende Richtung.

Burns kniff die Augen zusammen und nickte. »Jou. Sieht aus, als würde da wirklich jemand schweben. Fast ganz am Ende des Gangs.«

»Distanz dreiundzwanzig Meter«, meldete Lewis, mit halbem Blick auf den Laser-Entfernungsmesser des Karabiners.

»Aktive Sensoren abschalten, Lewis«, fauchte Lee. »Die haben ja vielleicht keine Patrouillen in diesem Teil des Schiffes, aber möglicherweise überall automatisierte Sonden! Ab jetzt läuft’s hier ganz altmodisch: kein Com, nur Handzeichen.«

»Aber L.T ….«, setzte Burns an.

Lee fuhr sich mit Zeige- und Mittelfinger der Linken quer über den Kehlkopf. Burns verstand die Geste und verstummte sofort.

Finder nickte und deutete mit der Rechten nacheinander auf Lee und Lewis. Dann folgte eine eindeutige Stopp-Geste mit derselben Hand, bevor er beide Hände hob und alle zehn Finger spreizte. Schließlich reckte er ihnen einen aufrechten Daumen entgegen und wartete.

Das war eindeutig. Finder hatte lediglich noch einmal den letzten Einsatzbefehl wiederholt: Lee und Lewis sollten im Abstand von zehn Metern folgen. Lee reckte seinerseits den Daumen, das Zeichen dafür, dass er verstanden habe.

Finder nickte, tippte Burns gegen die Schulter und stieß sich in flachem Winkel kräftig von Deck ab, was ihn die rechte Gangwand entlanggleiten ließ. Burns tat es ihm gleich, allerdings wählte er die linke Seite. Lee wartete, bis beide Männer etwa acht Meter weit entfernt waren, dann nickte er Lewis zu und schickte sich an, sich wie vor ihm Finder abzustoßen.

Lee war der einzige Planetenhocker des Teams und hatte den Zielpunkt bei Weitem nicht so präzise angesteuert wie die anderen. Kurz bevor er die Stelle erreichte, an der das tote Besatzungsmitglied schwebte, musste er sich noch einmal von der Wand abstoßen. Finder hatte Burns bereits vorausgeschickt, um die Zugänge zu den Quartierbereichen zu sichern, und nun wies er auf die Verletzungen der Leiche. Mit zusammengekniffenen Augen spähte Lee durch eine kleine Wolke feiner roter Tröpfchen. Ein kleiner Armbrustbolzen hatte den Mann knapp oberhalb der Hüfte getroffen: Diese Verletzung war nicht tödlich gewesen. Todesursache waren offenkundig die beiden Stichwunden links und rechts vom Brustbein und die durchschnittene Kehle.

Lee schwebte noch näher heran und musterte die Schulterklappen des Toten. Ein Ingenieur. Vermutlich hatte er gerade Wache am Reaktor geschoben, als das Schiff gekapert wurde. Entweder hatte er Hilferufe gehört und war auf dem Weg zum Bug gewesen, oder die Piraten hatten ihn auf andere Weise aus dem Reaktorraum gelockt. Letztlich war es einerlei: Man hatte ihn überrascht und mit dem Armbrustbolzen kampfunfähig gemacht. Dann hatten die Piraten die Sache ganz aus der Nähe erledigt. Dass sie in der Schwerelosigkeit ein Messer verwendet hatten, war ein eindeutiger Hinweis: Es handelte sich um keine Erdgeborenen. Der Nahkampf in Schwerelosigkeit erforderte viel Geschick, und das entwickelte man nur mit genügend Erfahrung, also wenn man gewohnt war, unter drastisch verminderter Schwerkraft oder sogar in der Schwerelosigkeit zu leben und zu arbeiten.

Finder beugte sich vor, bis sein Visor Lees berührte. Dank des Glases hörte er die Stimme des Sergeants, tonlos und gedämpft. »Das waren Upsider, keine Frage.«

»Ja. Zumindest bei diesem Mord hier. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass es sich bei allen Entführern um Upsider handelt.«

Finder hob eine Augenbraue, dann nickte er. »Stimmt, L.T. Und jetzt lassen wir Lewis ein Stück weiter hinter uns zurückfallen, okay?«

»Noch mehr Gesprächsstoff für später.«

Finder zuckte mit den Schultern, lächelte und wandte sich Lewis zu. Er wiederholte die fortstoßende Geste und zeigte erst zehn, dann noch einmal fünf Finger. Schließlich tippte er Lee gegen die Schulter und bereitete sich auf den nächsten Sprung vor. Sobald Lee die gleiche Position eingenommen hatte, nickte Finder, und sie stießen sich zeitgleich ab. Etwa auf Hüfthöhe schwebten sie das letzte Stück des Gangs hinab.

Dieses Mal fiel Lees Sprung besser aus, teilweise deshalb, weil er sich nicht mehr eng an der Wand zu halten hatte. Angesichts der Beweislage, die sich ihnen hier nach und nach bot, bezweifelte er, dass die Piraten es für nötig hielten, durch diesen Teil des Schiffes zu patrouillieren. Mehr noch: Vermutlich hielten sie sich von dieser Sektion fern, weil sie sich sicher wähnten, den Aufenthaltsort sämtlicher Passagiere und Besatzungsmitglieder zu kennen. Das wiederum zeichnete ein klares Bild von der taktischen Lage.

Erstens: Die Piraten waren offenkundig bereit und willens, die Besatzungsmitglieder auch ohne Grund zu töten. Nichts sprach dafür, dass der tote Ingenieur eine Waffe bei sich gehabt hatte. Oder dass er versucht hatte, den anderen Besatzungsmitgliedern oder den Passagieren zu Hilfe zu kommen. Oder dass er die Absicht gehabt hatte, sich im Maschinenleitstand zu verschanzen, von dem aus er die Angreifer mit lokal deaktivierten Lebenserhaltungssystemen oder mit unvermittelt verriegelten Schotts hätte piesacken können. Richtig, vom Maschinenraum aus hätte er dafür sorgen können, das Kapern des Schiffes ungleich gefährlicher für die Piraten ausfallen zu lassen. Vielleicht hätte er es sogar vereiteln können. Lee hielt es allerdings für wahrscheinlicher, dass der Angriff so rasch und brutal geführt worden war, dass keines der Besatzungsmitglieder den Kameraden im Maschinenraum noch hatte warnen können. Die bis auf das Bolzenloch makellos sitzende Kleidung des Toten, sein sauber gekämmtes Haar: Der Mann musste von jemandem angegriffen worden sein, dem er hinreichend vertraut hatte, um ihn nahe an sich heranzulassen.

Das wiederum stützte die Vermutung, Besatzungsmitglieder könnten gemeutert haben, waren entweder die Rädelsführer des Angriffs oder zumindest Komplizen von Angreifern, die sich als Passagiere ausgegeben hatten. Da es keinerlei Anzeichen dafür gab, beim Kapern des Schiffes wäre etwas nicht nach Plan verlaufen, kam Lee zu einer letzten, sehr düsteren Schlussfolgerung: An Geiseln waren die Entführer überhaupt nicht interessiert. Sie hatten keinerlei Forderungen gestellt, es ging ihnen nicht um Lösegeld oder Zugeständnisse, für deren Gewährung sie im Gegenzug Geiseln freiließen. Nein, die Piraten hatten die Obrigkeit nicht kontaktiert. Lees Kenntnisstand nach gab es nur einen einzigen Grund, weswegen der Einsatz seiner Männer befohlen worden war: Der Kommandant der Blütenduft hatte im Vorfeld mit dem Verwaltungschef für Tiefenraumaktivitäten von Callisto, einem engen Freund, verabredet, sich zu melden, und es nicht getan. Somit schien Lee unwahrscheinlich, dass es noch Passagiere oder Besatzungsmitglieder an Bord gäbe, die seine Männer und er hätten retten können.

Als er den Zugang zu den Quartiermodulen erreichte, stoppte er seinen Schwebeflug.

Finder bedeutete allen, sich kurz zu besprechen, und so lehnten sie, soweit möglich, ihre Visoren gegeneinander.

»Okay«, sagte er, »was als Nächstes, L.T.?«

»Viel Auswahl gibt’s nicht, Sergeant: Wir müssen jeden Raum einzeln durchsuchen – und das flott. Wahrscheinlich hat man sich nicht die Mühe gemacht, Wachen aufzustellen, außer in der Bugsektion. Die Piraten werden sicher die Brücke bemannt haben und unser Schiff im Auge behalten. Außerdem warten sie darauf, abgeholt zu werden.«

»Hä?«, entfuhr es Burns.

»Die warten darauf, abgeholt zu werden«, wiederholte Lee. »Wenn es denen darum ginge, sich das Schiff unter den Nagel zu reißen, ließen sie es jetzt nicht einfach nur im All treiben. Wie wir jetzt wissen, haben sie das Schiff im Griff, denn sie haben uns den Zugang zu den Luftschleusen verwehrt. Wir wissen auch, dass der Antrieb funktionstüchtig ist. Wenn es also Teil ihres Plans wäre, mit dem Schiff zu verschwinden, wären sie schon längst aufgebrochen. Das kann nur bedeuten, dass sie auf jemanden warten.«

Lewis und Burns blickten einander an, die Augen weit aufgerissen. Finder lächelte nur. »Ich sehe schon: Wir hatten Glück mit unserem neuen Boss. Ausnahmsweise mal. Was sonst noch, Sir?«

»Dass man keinen Kontakt mit uns aufnimmt, und vor allem, dass man uns nicht loszuwerden versucht, indem man das Leben von ein paar Geiseln bedroht, bedeutet wahrscheinlich, dass es keine Geiseln mehr gibt. Im Prinzip dürften wir also freies Schussfeld haben. Aber sicher sein können wir uns eben nicht, und außerdem wollen wir diese Dreckskerle auf jeden Fall lebend erwischen, und das gleich aus zwei Gründen: Das Handbuch verlangt es so, und wir wollen die Kerle schließlich auch unbedingt verhören. Unbedingt!«

»Ach, und wieso das?«, fragte Lewis.

»Verglichen mit den wenigen anderen dokumentierten Fällen von Schiffsentführungen im offenen All ist dieser Fall sehr ungewöhnlich. Man ist weder an Geiseln noch am Schiff selbst interessiert. Also geht es um was ganz anderes – und was das ist, erfahren wir nur von den Piraten selbst. Bereiten Sie das Vorrücken vor, Sergeant.«

»Jawohl, Sir! Burns, Sie gehen vor, wenn wir jetzt die Kabinen und Kajüten stürmen. Nehmen Sie die Spritzpistole, klar?«

Roderigo, der gleich eine ganze Auswahl an Waffen über der Schulter trug, griff sofort nach einer Art Granatwerfer mit abgesägtem Lauf und bemerkenswert breiter Mündung.

»Gehen Sie auf maximale Dispersion und laden Sie schwere Betäubungsgeschosse.«

»Öhm, Sarge, die Spezialisten für chemische Kampfstoffe sagen immer, bei kleinen oder verwundeten Zielpersonen oder Personen mit einer Erkrankungen der Herzkranzgef …«

Der Blick, mit dem Finder Burns bedachte, hatte etwas von einem Hai. »Wenn Dreckskerle draufgehen, gehen sie eben drauf! Wir treffen unsere Vorsichtsmaßnahmen. Stellen Sie maximale Dispersion ein, dann ist mit Mehrfachtreffern nicht mehr zu rechnen. Je eine Gelkapsel pro Zielperson sollte ausreichen. Wir mixen heute die letzte Runde Cocktails vor dem Schlafgehen doppelt so stark.«

»Verstanden, Sarge.«

»Der L.T. und ich sichern die Gänge mit Letalmunition. Wir rücken im überschlagenden Einsatz vor.«

Lewis runzelte die Stirn. »Und was ist mit mir?«

»Sie halten den Karabiner griffbereit, Lewis. Sie sind unser Ass im Ärmel und bereit, sollte die Sprühpistole Ladehemmung haben oder ein oder mehrere Gegner uns in den Rücken fallen können. Im Bedarfsfall melden wir uns bei Ihnen, nehmen den Feind in die Zange oder nutzen Ihre Feuerkraft zur Unterstützung.«

»Ich bleib also hier hinten, richtig?«

»Richtig. Dann sind Sie in der Lage, uns, falls hier alles den Bach runtergeht und wir die Biege machen müssen, den Fluchtweg offen zu halten.«

Lewis zuckte mit den Schultern. »Jawohl, Sarge.«

»Gut. Lieutenant, sagen Sie Bescheid, wenn Sie so weit sind.«

Lee nickte. »Bescheid.«

Der Einsatz lief ziemlich genau so, wie Lee erwartet hatte. Sie erreichten ungehindert die Decks im Bug, lautlos beobachtet von neu ausgerichteten Videosensoren und anklagenden Blicken in der Schwerelosigkeit treibender Leichen.

Die Entführer hatten tatsächlich Besatzungsmitglieder ebenso wie Passagiere umgebracht. Einer davon, der widernatürlich schlanke Körperbau ließ einen Lunie vermuten, konnte kaum älter als vierzehn Jahre gewesen sein … vielleicht sogar noch jünger. Lees Kiefer mahlten, während er sich einen Weg durch diese Saragossasee aus langsam strudelnden Leichen und Blutstropfen suchte.

Verschlossene Kabinentüren markierten sie mit winzigen Öffnungsalarmen. Auf diese Weise würden sie augenblicklich informiert, sollte durch eine dieser Türen jemand hinter sie gelangen. Dann stießen sie sich wieder ab und sausten auf die Brücke zu …

… bis auf halbe Strecke jedenfalls. Dort wurden sie von zwei schlecht rasierten Bösewichtern abgefangen, die den unerwünschten Besuch offenkundig über neu ausgerichteten Überwachungskameras beobachtet hatten. Die gute Nachricht: Die Gegner waren nicht gerade schwer bewaffnet. Einer der beiden hielt eine Zehn-Millimeter-Pistole in Standardausführung in der Hand, der andere etwas, das aussah wie eine aus Ersatzteilen zusammengebastelte Pressluft-Harpune. Die schlechte Nachricht: Die Männer trugen Raumanzüge. Roderigos Sprühpistole war nutzlos – es sei denn, er träfe die Männer genau ins Gesicht.

Verdammt noch mal!, dachte Lee, während er gleichzeitig brüllte: »Burns, auf Letalmun wechseln. Feuer frei!«

Wie bei den meisten Feuergefechten verfehlte die überwiegende Mehrheit aller Schüsse ihr Ziel. Wie bei den meisten Gefechten in Schwerelosigkeit geschah das auch hier und jetzt in ungleich größerem Ausmaß. Burns hatte die Waffe noch nicht gewechselt, als ihn eine eigenwillige Kreuzung aus Speer und Armbrustbolzen an der linken Schulter traf. Das Grunzen, das Burns ausstieß, ließ nicht erkennen, ob das Projektil seinen Raumanzug durchschlagen oder ihm einfach nur einen kräftigen Stoß versetzt hatte. Bis er sein Trudeln rückwärts wieder abgefangen hätte, war er jedenfalls ausgeschaltet.

Finder sauste immer noch auf die Angreifer zu, doch drehte er sich dabei so zur Seite, dass er ihnen nur Gesicht und Schulter zuwandte. Lee ahmte die Bewegung sofort nach. Im Feld, unter Schwerkraftbedingungen und mit fester Position, hätte man die mögliche Angriffsfläche durch Bauchlage und Liegendanschlag minimiert und dann sicher schießen können. Der Effekt der ›schwebenden Bauchlage‹ war vergleichbar, was Lee sehr zu schätzen wusste: Er war jetzt schwerer zu treffen und konnte den Rückstoß seiner Waffe besser abfangen. Ins Taumeln oder Trudeln geriete er so jedenfalls nicht.

Zumindest Finders Treffsicherheit erhöhte sich sofort. Während die Zehn-Millimeter-Projektile des Gegners wild umherspritzten und funkenschlagend von Schotts und Decks abprallten, feuerte der Sergeant zweimal kurz hintereinander, ein drittes Mal mit etwas größerem zeitlichem Abstand. Den pistolenschwenkenden Piraten erwischte es, er trudelte rückwärts, während er die Waffe neu auszurichten versuchte. Mit einem vierten Schuss vereitelte Finder das.

Ob mit endgültigem Erfolg, vermochte Lee, mit einem Mal selbst sehr beschäftigt, nicht mehr herauszufinden. Er hatte mit der einfachen Zielvorrichtung seiner Waffe auf den Mann mit der Harpune angelegt und feuerte jetzt. Einen Rückstoß besaß seine Waffe nicht, doch Lee spürte, wie sich um das Handgelenk herum kurz Druck auf seinen Handschuh auf- und wieder abbaute: der umgelenkte Rückstoß der Ladung, die das Projektil aus dem Lauf beförderte, was dem Gesetz von Kraft und Gegenkraft Genüge tat. Einen Augenblick später glühte das hintere Ende des Projektils auf wie ein Leuchtspurgeschoss, während die Gyrojets zum Leben erwachten und es mit einem Satz vorwärts schießen ließen …

… geradewegs in das Schott unmittelbar hinter dem Armbrustschützen hinein. Jetzt verstand Lee, warum Finder nach zwei Schüssen eine kurze Pause eingelegt hatte: Er hatte die Flugbahn seiner Geschosse mit der dreidimensionalen Drift seines Zieles abgeglichen. Doch da hob Lees Gegner auch schon die nachgeladene Harpune. Lee feuerte zweimal in kurzem Abstand.

Den Harpunenschützen schleuderte es nach rechts, als Lees erstes Geschoss den Schussarm traf. Der zweite Schuss ging völlig fehl und erstickte im Keim, was an Triumphgefühl in dem jungen Lieutenant gerade hatte aufsteigen wollen. Lee zielte vorsichtig und bereitete sich darauf vor, eine vierte Patrone auf dieses Ziel zu verwenden …

… da bellte hinter ihm eine Zehn-Millimeter-Automatik, dreimal. Mindestens eine der Kugeln traf den verwundeten Harpunenschützen genau in sein Massenzentrum. Blut quoll in einer raschen Folge als Regen aus kleinen, bläschenförmigen Tropfen aus ihm heraus. Unwillkürlich musste Lee an das Seifenblasenspielzeug für Kinder denken. Der tödlich Getroffene krampfte und zuckte.

Lee drehte sich um, um Burns zu danken, der sich offenkundig mit einer Pistole bewaffnet hatte. Der Gast jedoch war gerade zu beschäftigt für alles andere, als sich zu stabilisieren, und streckte dafür verzweifelt die Hand nach einem Schott aus, um die Taumelbewegung, in die ihn die rasche Abfolge von Schüssen versetzt hatte, abzubremsen. Lee wollte ihm gerade helfen …

»Zügig und rasch vorrücken, Lieutenant, das wollten Sie, richtig?« Finder klang respektvoll und barsch zugleich.

Lee hielt inne, nickte, drehte sich wieder in Richtung Brücke. Ruckartig riss er beide Arme nach oben, während er die Beine kraftvoll nach unten stieß. Sobald seine Stiefel das Deck berührten, stieß er sich ab.

Er sauste am Sergeant vorbei, und ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht, als er über den abgesicherten Kanal Finders Bemerkung hörte: »Gar nicht schlecht … für einen Neuling!«

Die Brücke einzunehmen erwies sich als bemerkenswert banal. Die beiden letzten Meuterer waren zwar mit Zehn-Millimeter-Pistolen bewaffnet, hatten aber nichts Besseres zu tun, als nach Leibeskräften auf den einzelnen Handschuh zu ballern, den Finder träge durch die offen stehende Luke in Richtung Brücke hatte treiben lassen. Drei Schuss der Gegner genügten dem Sergeant. Mit der Unerschütterlichkeit eines Piranhas schwamm er über die Schottkante hinweg, ohne die unkontrolliert trudelnden Halunken aus dem Blick zu lassen. Sorgfältig zielte er.

Mit dem Kinn schaltete Lee auf den abgesicherten Kanal. »Wenn die hilflos genug sind, könnten wir sie gefang …«

»Negativ, L.T. Schauen Sie doch, die orientieren sich schon wieder. Das sind entweder Upsider, oder die haben lange genug geübt, um sich so rasch wieder in der Griff zu bekommen. In drei Sekunden war’s das mit unserem Vorteil.«

Lee seufzte: »Feuer frei.«

Beide schossen sie, und mit je zwei Schuss von jedem von ihnen war das Problem endgültig gelöst.

Genau da schrillte hinter ihnen einer der Türöffneralarme. In einer Einhundertachtzig-Grad-Drehung wirbelten Lee und Finder herum, stießen sich ab und sausten hinaus in den Gang, der sie zur Brücke geführt hatte.

Als sie wieder dort anlangten, wo ihr erstes Feuergefecht an Bord stattgefunden hatte, sahen sie Burns Deckung in einer Luke suchen. Das charakteristische Bellen einer Zehn-Millimeter-Waffe brachte ihn dazu, sich besonders klein zusammenzukauern. Fast gleichzeitig waren ein Stück weit den Gang entlang deutlich schärfere Knalle zu hören: Hochgeschwindigkeitsgeschosse.

»Alles gesichert«, meldete Lewis über den offenen Kanal. »Das war nur einer. Hat wahrscheinlich geschlafen, als wir bei ihm vorbeigekommen sind. Ich hab ihn erwischt. Sarge, ich hab gleich dreimal getroffen, obwohl mich der Rückstoß…«

»Großartig, Lewis, ganz großartig.« Finder wandte sich an Lee. »So viel zu Ihrer Gelegenheit, einen Gefangenen zu verhören, L.T.«

Lee schüttelte den Kopf. »Pech, Sarge, wirklich Pech.«

Finder hatte wieder auf den abgesicherten Kanal umgeschaltet. »Vorausgesetzt, der Tod dieses letzten Halunken war wirklich Zufall und keine Absicht, Sir.« Der Blick, den Finder zu Lewis hinüberwarf, war sehr düster.

Ganz genau, dachte Lee. Tja, der Sergeant und er würden sich später sogar ausgiebigst unterhalten müssen.

Auf der Brücke seines Zollkreuzers angekommen, löste Lee den diensttuenden Eins-O, Bernardo de los Reyes, offiziell ab. Sie salutierten beide nachlässig.

»Ich hatte schon angefangen, mir Sorgen um Sie zu machen, Skipper«, meinte de los Reyes.

Während Lee den zweiten Handschuh seines Raumanzugs abstreifte, erklärte er: »Wir mussten Funkstille halten, bevor wir vor ungefähr zwei Stunden die Gegner ausgeschaltet haben. Fünf waren an Bord.«

»Ah, und warum dann die Schüchternheit während der letzten beiden Stunden?«, bohrte de los Reyes beinahe schon gelangweilt nach. Er führte dieses Schauspiel allein für die Brückengasten auf. Bernie wusste ganz genau, was ausgedehnte Funkstille zu bedeuten hatte: Etwas Ungewöhnliches ging vor sich, vermutlich sogar etwas Gefährliches.

»Darüber zu plaudern, fehlt mir im Augenblick die Zeit, Bernie. Es gibt Dringlicheres zu erledigen.«

Jetzt trudelte auch Finder auf der Brücke ein. Er trug immer noch seinen Raumanzug. »Unser Lieutenant Strong hier geht einem ziemlich interessanten Verdacht nach, Bernie.«

»Was Sie nicht sagen!«, brummte der deutlich jüngere de los Reyes. Die beiden kannten einander schon seit Ewigkeiten. Nach allen Regeln der Seniorität hätte Finder, nicht Bernie, diensttuender Eins-O des Kreuzers, der Verehrten Gaia, sein müssen. Doch Finder hatte einen Sinn für äußerst bissigen Humor, und gelegentlich schoss er unüberlegt übers Ziel hinaus. Viele der Planetenhocker-Offiziere, unter denen er gedient hatte, hatten in seiner Personalakte ausreichend Tadel und Verweise hinterlassen, um sicherzustellen, dass er niemals mehr etwas anderes werden würde als das, was er derzeit war: First Sergeant und als Leiter des EVA-Teams bei allen Außeneinsätzen dabei.

Lee schwebte quer über die Brücke, bis er hinter der Schulter des Navigationsgastes in der Luft stand. »Navigator?«

»Jawohl, Lieutenant?«

»Berechnen Sie mir einen Kurs, bitte: Flugbahn der Blütenduft im Laufe der kommenden drei Wochen.«

»Aber, Sir, sie treibt im All. Die hat keinen erkennbaren Kurs angelegt, und ihre Antriebe …«

»Ich weiß, Navigator. Tun Sie mir den Gefallen.«

»Jawohl, Sir.«

Während sich der Erste Navigator an die Arbeit machte, schwebten Bernie und Finder zu ihm hinüber und schauten ihm über die Schulter.

Der Computer schaltete zwischen verschiedenen Subroutinen hin und her, dann zeigte das Display einen Kurs, der einen rot markierten Kreis schnitt: ein mögliches Zusammentreffen mit einem kartografisch erfassten Objekt.

»Geben Sie das auf den Hauptplot, Navigator«, verlangte Lee und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Computerbildschirm.

Darauf war zu erkennen, dass die Flugbahn der Blütenduft sie über die Jupiterseite des Asteroidengürtels hinausführte und das Schiff dabei einem der dort gelegenen Planetoiden sehr nahe brächte: Die rote Markierung galt (216)Kleopatra.

Lee wandte sich an seine beiden ranghöchsten Untergebenen. »Die Enterer oder Meuterer lassen das Schiff nicht einfach nur treiben. Wäre dem so, befände es sich nach wie vor mehr auf Kurs nach Callisto – tut die Blütenduft aber nicht. Das bedeutet, dass man erst das Schiff geentert und dann mit den Schubdüsen den anliegenden Kurs korrigiert hat. Der neue Kurs führt sie geradewegs auf diese Ansammlung von Gesteinsbrocken«, erklärte er und deutete auf (216) Kleopatra.

»Warum ausgerechnet dahin?«, fragte der Erste Navigator, mehr sich selbst als die anderen Anwesenden.

»Weil«, schlug Lee vor, »dort Freunde unserer Piraten auf sie warten.«

Nur Bernie und Finder begleiteten Lee in den geradezu klaustrophobisch engen Bereitschaftsraum des Kommandanten. Gleich nach ihrem Eintreten griff Bernie unter den Leuchttisch, der bereits die Kursberechnung nach (216)Kleopatra zeigte, und legte einen Schalter um. Augenblicklich erfüllte ein tonloses Summen den Raum, das mehr zu fühlen denn zu hören war: Ein Generator erzeugte weißes Rauschen.

Lee blickte zu Bernie hinüber. »Na, heute scheint ja der Tag für vorschriftswidrige Überraschungen zu sein.«

Bernie grinste verlegen und zuckte mit den Schultern. »Scheint so, Sir. Wie lange, bis wir (216)Kleopatra erreichen?«

»Zwo Stunden und acht Minuten«, antwortete Lee. »Das heißt, mir bleibt nicht die Zeit, Sie auf den neuesten Stand über das zu bringen, was wir an Bord der Blütenduft vorgefunden haben. Verdammt, uns bleibt nicht einmal mehr die Zeit, von den Lamettahengsten auf dem Mars Anweisungen einzuholen oder den weiteren Einsatzplan absegnen zu lassen.«

Bernie nickte. Der Mars war etwas mehr als zwanzig Lichtminuten entfernt, also würde sich die Signalverzögerung auf mindestens eine Stunde belaufen.

»Die könnten sowieso nichts Nützliches beitragen, bis wir uns auf einen Plan geeinigt haben«, meinte er. »Wir können entweder einen Alleingang hinlegen – das heißt, wenn was schiefläuft, dürfen wir’s ausbaden, weil wir keine entsprechende Bestätigung abgewartet haben. Oder man schickt uns trotz unvollständiger Daten einfach los. Wenn dann etwas schiefläuft, kann man die Schuld darauf abwälzen, dass wir nur einen unvollständigen Bericht eingereicht und außerdem in der Umsetzung geschlampt hätten. Ungefähr das hatten Sie sich doch gedacht, Skipper, stimmt’s?«

»Etwas in der Art«, bestätigte Lee.

»Damit haben wir auf jeden Fall die Probleme allein an der Backe«, knurrte Finder.

»Ich, Gentlemen, ich und sonst niemand«, seufzte Lee. »Ich wäre hocherfreut, wenn ich die Schuld, die man unweigerlich auf mir abladen wird, an Sie beide weiterreichen könnte, aber ich habe hier das Kommando. Damit geht es hier um meine Entscheidung – und ich bin dann auch derjenige, der sich vor einem Kriegsgericht zu verantworten hat.«

Bernie blickte Finder an und seufzte theatralisch: »Was ich Sie schon die ganze Zeit über fragen wollte: Haben wir eigentlich immer noch Schwierigkeiten mit dem Signallaser?«

Kurz blickte Finder ins Leere, dann nickte er betrübt. »Oh. Tja, genau. Ich krieg einfach nicht raus, was mit dem Ding los ist.«

»Sie haben es schon gestern als ›nicht funktionstüchtig‹ vermerkt, sobald wir die Fehlfunktion entdeckt hatten, stimmt doch, oder?«

»Könnte mir durchgegangen sein. Muss noch mal in den Unterlagen nachschauen. Vielleicht muss ich das rückwirkend korrigieren.« Finder strahlte jetzt regelrecht vor boshafter Schadenfreude.

»Ich sollte Sie beide melden«, meinte Lee und brachte das Kunststück fertig, nicht zu lächeln.

»Ja, das sollten Sie, Skipper«, bestätigte Bernie und nickte ernst. »Das sollten Sie wirklich.«

Lee grinste. »Also gut, der Signallaser wird wohl wieder funktionstüchtig sein, wenn wir von (216)Kleopatra zurückkehren. Das ist zu spät, um noch rechtzeitig einen Lagebericht zum Mars zu senden oder Anweisungen von dort einzuholen, aber immerhin rechtzeitig, um Meldung über die Lage hier wie dort zu machen. Klar, per Funk können wir keine Meldung absetzen. Schließlich dürfen wir nicht riskieren, eine aktive EM-Signatur abzustrahlen, solange sich in unserem Einsatzgebiet möglicherweise feindliche Schiffe aufhalten.«

»Aye, aye, Sir«, pflichtete ihm Bernie bei. »Immer schön nach Handbuch, dem wir stets folgen.«

»Ist mir nicht entgangen.«

Finder blickte auf. »Sie waren von Anfang an misstrauisch, was die Entführung der Blütenduft anging, L.T. Wieso eigentlich?«

Lee zuckte mit den Schultern. »Bei einem voll funktionstüchtigen Antrieb wäre das einzig Logische gewesen, dass die Piraten so rasch wie möglich das nächstbeste Versteck angesteuert hätten. Ebenso logisch wäre gewesen, dass wir ihre Antriebssignatur auffangen – oder die Resttemperatur, nachdem sie keinen Schub mehr gegeben und wir sie geortet hätten. In jedem Fall hätten unsere Sensoren aufleuchten müssen wie eine Leuchtreklame, sobald wir in ihre Nähe gekommen wären. Aber man hat gezielt dafür gesorgt, dass das nicht passiert.«

Bernie runzelte die Stirn. »Wollen Sie damit sagen, die hätten gewusst, dass wir hier sein würden? Aber wie?«

»Das ist das, was mich misstrauisch macht. Bei Schleichfahrt und mit deaktivierten Sensoren könnten die Halunken in diesem bühnenreifen Stück das eigentlich nur wissen, wenn sie Zugang zu vertraulichem Material hatten. Genau genommen: zum Kurs unserer Patrouillenfahrt.«

»Verdammt«, meinte Finder und stieß alle Atemluft auf einen Schlag aus, »da kommt man nicht so leicht dran.«

»Ganz genau, aber genau danach sieht es aus. Man wusste nicht nur, dass wir uns in dieser Gegend aufhalten würden, man war sogar auf jedes konventionelle Entermanöver vorbereitet.«

Bernie legte die Stirn in noch tiefere Falten. »Was soll das denn heißen?«

Finder zuckte mit den Schultern. »Nachdem wir die Piraten ausgeschaltet und das Schiff gesichert hatten, haben wir herausgefunden, dass sämtliche logischen Zugangswege mit Sprengladungen präpariert waren – außer dem Zugangsweg, den sie nicht auf dem Schirm hatten.«

»Die Kernausstoßröhre, meinen Sie?« Bernie schüttelte den Kopf. »Tja, die Brüder werden sich vermutlich gedacht haben, niemand könnte so verrückt sein, das zu versuchen.«

Lee lächelte. »Sie meinen, die sind davon ausgegangen, dass niemand seine aus dem Aberglauben geborenen Ängste überwinden und sich auf reine Physik konzentrieren könnte?«

»Jou.« Bernie kratzte sich hinter dem Ohr. »Womit wir beim Thema wären, L.T. … Dem Sarge und mir ist nicht entgangen, dass Sie anders sind … na ja, anders als die anderen Offiziere, die man von der Erde bisher zu uns geschickt hat.«

»Drücken wir’s platt aus: Sie versuchen herauszufinden, warum ich kein arroganter Arsch bin.«

Finder prustete los.

Bernie grinste breit. »Öhm, tja … so in der Art.«

»Ist eine lange Geschichte. Sagen wir einfach: Meine Familie steht daheim nicht gerade hoch in der Gunst der globalen Politikos.«

»Und wo ist daheim für Sie?«

»Ursprünglich Tacoma, dann Vancouver, dann Amherst.«

Finder und Bernie warfen einander vielsagende Blicke zu. »Schon wieder ein Unruhestifter aus der Neuen Welt, was?«, meinte Bernie.

Lee schüttelte den Kopf. »Ich nicht, aber meine Eltern. Leider gehören sie einer aussterbenden Spezies an.«

Bernie zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, unabhängiges Denken wird es in den sogenannten Kolonien noch ’ne ganze Weile geben.«

»Tja, vielleicht, vielleicht auch nicht.« Lee versuchte sich an einem echten Lächeln, scheiterte aber. »Früher oder später stirbt es eben doch aus.« Sein tief empfundenes Bedauern darüber war unverkennbar. »Echten Freidenkern versucht man mit allen Mitteln Herr zu werden, und ist man erst einmal als Wiederholungstäter gespeichert, dauert es außergewöhnlich lange, bis man in den Genuss von Sozialleistungen kommt.«

Bernie und Finder wechselten einen langen Blick. »Jou, wissen wir«, sagte der Sergeant schließlich.

Lee lehnte sich in seinem Sessel zurück. Ihn beschlich mehr und mehr das Gefühl, dass bei der ausgiebigen Unterhaltung, die er mit Finder hatte führen wollen, auch Bernie anwesend sein sollte. »Sie beide haben mich ziemlich genau im Blick behalten, was?«

Finder schmunzelte, während er sich Kaffee in eine Quetschflasche füllte. »Das merken Sie erst jetzt? Jemand, der so schlau ist wie Sie … Sir?«

»Nein, mir wird erst jetzt bewusst, wie methodisch Sie beide vorgegangen sind. Und wie viel ich noch zu lernen habe.«

Bernie schüttelte den Kopf. »Lieutenant, Lieutenant, Sie haben ja keine Ahnung!«

»Stimmt sicher – aber das wird warten müssen.« Lee warf einen Blick auf die Uhr. »In etwa zwei Stunden passieren wir (216)Kleopatra, und vorher gibt es jede Menge zu tun.«

»Was denn so?«, erkundigte sich Bernie. »Wir könnten uns doch einfach von der Blütenduft zurückziehen, ohne deren Kurs zu ändern. Danach passen wir unseren Kurs ihrem an und halten den Ball schön flach, bis das Schiff eintrifft, das die Piraten abholt. Wenn sie mit dem Personentransfer beschäftigt sind, schlagen wir zu und …«

Lee schüttelte den Kopf. »Sie gehen davon aus, dass die Meuterer sich bei ihrem Eintreffen bei (216)Kleopatra für ein ausgiebiges Rendezvous bereit machen, sie also an Bord der Blütenduft bleiben und darauf warten, abgeholt zu werden. Aber vielleicht gehen sie schon im Vorfeld von Bord und werden bei dieser EVA von einem ferngesteuerten kleinen Boot abgeholt. Auf diese Weise könnte das feindliche Schiff die ganze Zeit über im Schatten von (216)Kleopatra bleiben.«

Wieder tauschten Bernie und Finder Blicke. Schließlich war es Finder, der als Erster den Kopf schüttelte und einräumte: »Da könnte er glatt recht haben.«

»Könnte er, ja«, brummte Bernie. »Das muss man sich mal vorstellen: Da erhält man von einem Planetenhocker Nachhilfe in Raumeinsätzen! Das wird mir meine Ma auf dem Mars nie verzeihen!«

»Dann erzählen Sie nichts davon«, schlug Lee vor. »Aber es gibt etwas anderes, was mir mehr Kopfzerbrechen bereitet als ein EVA-Abholungsmanöver.«

»Ach?« Finder beugte sich vor; der Kaffee schien vergessen.

»Ja, und zwar dass die Entführer weder Interesse an Geiseln noch am Schiff hatten. Sie verfolgen andere Ziele – Ziele, die wir bislang noch nicht kennen.«

Bernie zuckte mit den Schultern. »Okay, aber was ändert das?«

»Alles sogar! Wenn die wirklich Zugriff auf unsere Patrouillenpläne haben und wissen, welchen Kurs wir setzen, ist das Kapern der Blütenduft nur der besonders unschöne Teil einer deutlich größer angelegten Operation gewesen. Einer Operation, die man zu verbergen versucht oder die sich plausibel abstreiten lässt. Das bedeutet, sie muss sehr, sehr sauber durchgeplant sein.« Er schwieg einen Moment, ehe er fortfuhr: »Was heißt: Das Operationsbesteck, das zum Einsatz kommt, muss feinsäuberlich steril gehalten werden. Mit allen erforderlichen Mitteln.«

»Verdammt«, keuchte Finder, »der Kleine … ich meine, der Lieutenant hat schon wieder recht! Möglich, dass das Rendezvous bei (216)Kleopatra nur dazu dient, Informationen über den Erfolg des Einsatzes zu sammeln. Wenn das Extraktionsteam erst einmal hat, was es braucht, könnte der nächste Schritt sehr gut darin bestehen, die Entführer selbst aus dem Weg zu räumen.«

»Jou«, pflichtete Bernie bei und nickte. »Das passt.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Okay, Skipper, wie also sieht unser Plan aus?«

»Sind unsere fernsteuerbaren Schlepper einsatzbereit?«

»Einsatzbereitschaft einhundert Prozent, Sir.«

»Ausgezeichnet. Und wie viele fernsteuerbare Passivsensoren haben wir auf Lager?«

»Sechs, Sir. Verschiedene Modelle.«

Lee nickte, dann beugte er sich über den Leuchttisch. »Okay. Dann machen wir das folgendermaßen …«

Beinahe zwei Stunden später war die gesamte Besatzung der Verehrten Gaia in Gefechtsbereitschaft versetzt, und allesamt fragten sich, warum zum Teufel Lieutenant Strong nicht mehr Dampf gab. Doch der Kreuzer, den seine Besatzung insgeheim schon vor langer Zeit in Versehrter Geier umbenannt hatte, folgte nach wie vor der träge durchs All treibenden Blütenduft. Er blieb immer schön längsseits in deren Schatten.

Aufgelassenes Frachtgut in Sofagröße trieb um die beiden einträchtig driftenden Schiffe im All. Es stammte aus dem Frachtraum der Blütenduft. Der Abstand zwischen Treibgut und Schiffen wuchs stetig.

An Bord der Geier herrschte beinahe dieselbe Stille wie im All, das sie durchquerte. Das Summen der Computer und die gedämpften Vibrationen, die auf die nach wie vor aktive Energieversorgung zurückzuführen waren, ließen sich in Ermangelung zwangloser Gespräche an Bord ungewöhnlich klar wahrnehmen. Die Aussicht, vor einer Konfrontation mit unbekannten Gegnern zu stehen, sorgte für Anspannung und diese Anspannung wiederum dafür, dass sich die Gesamtlage unwirklich anfühlte. Schließlich waren Gefechte im All mehr als selten. Dass niemand wusste, zu was der mögliche Gegner fähig wäre, sorgte dafür, dass alle Besatzungsmitglieder unablässig ihre Bildschirme anstarrten. Alle warteten nur auf den Befehl, irgendetwas zu unternehmen.

Die Brückenbesatzung starrte etwas anderes an. Auf dem Hauptschirm dort wurde (216)Kleopatra größer und größer: ein Objekt von zweihundertsiebzehn Kilometern Länge, annähernd geformt wie ein Hundeknochen, der an seiner breitesten Stelle vierundneunzig Kilometer maß. Alle fünf Stunden rotierte er um seine Querachse und war damit im Vergleich zu vielen anderen Asteroiden recht aktiv. In nicht allzu großer Entfernung wurde er von zwei kleinen Monden mit einem Durchmesser von drei beziehungsweise fünf Kilometern begleitet. Zudem folgte ihm vereinzelt Gestein von Probebohrungen und Abraum aus Erzabbau, manches davon so groß wie ein Handball, anderes von der Größe eines Hauses. Also wäre das feindliche Schiff – vorausgesetzt, es wäre wirklich nur ein einzelnes Schiff – in der Lage, sich je nach Schiffsgröße gleich hinter mehreren Dutzend Gesteinsbrocken zu verstecken … oder auch hinter dem vergleichsweise gewaltigen Asteroiden (216)Kleopatra selbst.

»Kleopatra befindet sich nun in Maximalreichweite unserer Raketen, Skipper«, krächzte der Erste Bordschütze. Offenkundig war sein Mund so trocken, dass er die Worte kaum über die Lippen brachte.

»Ortung? Lagebericht!«, forderte Lee, ohne den zuständigen Gasten anzublicken.

»Keine Veränderung, Sir. Natürlich würden wir bessere Daten erhalten, wenn wir die aktiven Sensoren einschalten …«

»Denken Sie nicht einmal daran«, fiel ihm Lee leise, aber scharf ins Wort. »Wir bleiben auf Schleichfahrt, bis ich etwas anderes anordne.«

»Jawohl, Sir, aber …«

»Mir ist durchaus bewusst, dass wir mit passiven Sensoren nicht die volle Ortungskapazität ausschöpfen, von der Zielerfassung ganz zu schweigen. Vorerst bleiben Sie einfach nur in Signallaserverbindung zu unseren Passivsensoren und halten mich auf dem Laufenden.«

»Jawohl, Sir.«

Bernie trieb näher an seinen Vorgesetzten heran. »Lieutenant, gut möglich, dass hier niemand auf die Entführer wartet. Vielleicht haben sie einfach im Vorfeld ein kleineres Fahrzeug in einer Felsspalte versteckt, wo man es nicht entdeckt, wenn man nicht weiß, wo es ist, und in das wollen sie umsteigen.«

»Möglich«, räumte Lee ein.

»Aber Sie halten das für unwahrscheinlich«, sagte Bernie.

»Stimmt. Nach all der Mühe, die die Entführer in die Vorbereitungen gesteckt haben …«

»Lieutenant …!« Der angespannte Ausruf war die direkte Folge des unvermittelt aufflammenden Orangerots am schiffsabgewandten Rand von (216)Kleopatra: die Fehlfarbenüberlagerung einer neuen Thermosignatur.

»Ich sehe es, Ortung. Triangulieren Sie die wahrscheinlichste Punktquelle.«

»Das geht nicht, Sir – nicht mit den Fernsonden, mit denen wir derzeit arbeiten.«

Bernie kaute auf der Unterlippe herum und betrachtete das orangerote Leuchten. »Wenn wir das über diese Entfernung hinweg mit den ferngesteuerten Passivsensoren orten, müssen die ordentlich Saft haben. Was meinen Sie wohl …?«

»Nuklearantrieb«, antwortete Lee tonlos.

»Das klingt, als hätten Sie das erwartet«, bemerkte Finder vom hinteren Teil der Brücke aus.

Lee wirbelte herum. »Sergeant«, bellte er, »unter Gefechtsbedingungen befindet sich Ihr Posten im Hilfskontrollraum. Sollte die Brücke zerstört werden …«

Rings um Lee wurden die Gesichter schlagartig bleicher. Ruckartig nahm Finder Haltung an und salutierte. »Bin schon weg, Sir.«

Bernie lächelte – bis sich Lee zu ihm umdrehte. »Mr. de los Reyes, Sie sind der Einzige auf der Brücke, der sich nicht auf einer Andruckliege angeschnallt hat. Mangel abstellen!«

Bernie schluckte, nickte, setzte sich hin und zog die Haltegurte fest.

Der marsianisch-überschlanke Gast an der Ortungsstation klang, als werde er gerade erwürgt. »Die Halo heizt sich weiter auf, Sir. Die Daten lassen auf Hochenergiepartikel schließen, die …«