Hörst du, wie es schneit - Jennifer Ruhland - E-Book

Hörst du, wie es schneit E-Book

Jennifer Ruhland

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Beschreibung

1908 kommt die junge Engländerin Virginia Hill nach Wien, um Gesang zu studieren. Dort begegnet sie dem gerüchteumwobenen Komponisten András Zolano, der sie sofort in seinen Bann zieht. Bald erfährt sie von einer düsteren Wiener Tragödie, der Geschichte des «Dunklen Engels«, der mit seinem wundervollen Gesang vielen Menschen den Tod gebracht haben soll. Doch welches Geheimnis verbindet Virginia mit dem «Dunklen Engel«? Sie gerät auf eine Spurensuche, die sie in große Gefahr bringt ...

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Für Marius

„Unsere größten Ängste sind die Drachen, die unsere tiefsten Schätze bewahren.“

Rainer Maria Rilke

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

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Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Epilog

Prolog

Das Grab war namenlos.

Tiefe Traurigkeit schien sich auf die Erde zu senken und umfing die hohe Linde über dem Grabhügel, der über viele Jahre mit dem Garten verwachsen war.

Die kleine, alte Frau, die lange Zeit am Fuße des Grabes verharrt hatte, tastete sacht über die Erde. Ihr schwarzes Kleid wölbte sich um sie. Den Blick gesenkt, ließ sie ihre Hände schließlich auf dem Grab ruhen und schloss die Lider.

Dann begann sie schweigend mit ihrer Arbeit. Mit geübten Fingern entfernte sie das hartnäckige Unkraut, lockerte die Erde und bepflanzte das Grab, das so lange ungeschmückt gewesen, mit Blumen.

Eine leise Melodie entschlüpfte ihren Lippen.

Nach einer Weile blickte sie hinauf in den blassblauen Himmel. Von nun an würde sie jeden Tag kommen.

Das schuldete sie ihr.

1. Kapitel

Wien, 1908

Virginia Hill stolperte ins Badezimmer und verriegelte die Tür. Benommen blickte sie in den Spiegel. Wie sah sie aus! Mitten auf der Stirn ein hässlicher Bluterguss, und die jungen Frauen hatten ihre Schadenfreude hierüber nicht einmal verhehlen können. Dabei war der Abend ohnehin schon schwer genug gewesen. Virginia fehlte die passende Garderobe für solch einen Anlass, zu den Gesprächen über Kunst und Musik konnte sie nichts beitragen - was wusste sie schon von der Wiener Moderne? Um ihre Meinung gebeten hatte sie ein paar Sätze gestammelt, mit denen sie nur spöttische Blicke erntete, und zu allem Überfluss war ihr auch noch der Korken einer Champagnerflasche an die Stirn geknallt. Nach der Entschuldigung des bestürzten Obers war Virginia ins Badezimmer geflohen, doch am liebsten hätte sie sich in Luft aufgelöst.

Erloschen sank sie auf einen Hocker und hielt sich die Stirn. Wie hatte sie sich auf Wien gefreut, auf ein neues, aufregendes Leben voll rauschender Feste, interessanter Menschen und vor allem voller Musik! Alles, was sie im freudlosen Haus ihrer Tante in Chew Stoke so entbehrt hatte. Doch nun saß sie hier im feudalen Badezimmer der von Reger zu Regerthuns, einer der reichsten Wiener Industriellenfamilien, und vergoss Tränen, weil sie so unglücklich war. Durch die Tür drangen Salonmusik, munteres Stimmengewirr und das alles übertönende Lachen der schönen Wienerinnen in ihren edlen Gewändern. Virginia beneidete sie. Sie kam sich so fehl am Platze vor wie noch nie in ihrem Leben.

Erst seit drei Wochen lebte sie in Wien. Ihre Großmutter Tilla Bergström, einst eine berühmte Opernsängerin, hatte Virginia an ihrem 21. Geburtstag zu sich nach Wien geholt, da sie hier am Konservatorium für Musik Gesang studieren wollte.

Endlich konnte sie ihre freudlose Kindheit bei ihrem Onkel Johannes, Tillas jüngerem Bruder, und seiner strengen Frau Winifred hinter sich lassen. Dort war sie aufgewachsen, da ihre Mutter nach der Geburt gestorben und ihr Vater unbekannt war. Ein gutbürgerliches Leben in der Nähe von Bristol bei der deutschsprachigen Verwandtschaft schien nach Ansicht der Familie das Beste für das Kind zu sein.

Virginia war kaum in Wien angekommen, als Tilla sie auch schon in die Gesellschaft einführte. „Du musst unter Leute“, hatte sie gesagt, „du kannst nicht nur bei deiner alten Großmutter herumsitzen!“ Doch die Wiener mit ihrer Offenheit und ihrem selbstbewussten, vornehmen Auftreten verunsicherten sie. In Chew Stoke hatte sie viele gute Freunde gehabt, allen voran ihre beste Freundin Mary, die sie schmerzlich vermisste. Aber auf solch feinen Gesellschaften wie hier war sie in England nie gewesen. Ihr Großonkel Johannes und ihre Tante Winifred hatten ein sehr zurückgezogenes Leben geführt.

In Wien sprach es sich schnell herum, dass Tillas Enkelin ihrer Großmutter nacheiferte und den Beruf der Sängerin anstrebte. Doch gerade weil Tilla Bergström eine gefeierte Sängerin gewesen war, hörte Virginia nicht selten die Frage, ob das nicht etwas zu große Schuhe seien, in die sie da schlüpfen wolle. Damit war sie unfreiwillig in den Fokus der Wiener Gesellschaft gerückt. In ihrem englischen Zuhause hatte die Musik keine Rolle gespielt, oder besser gesagt: spielen dürfen. Ihre Großtante Winifred ertrug sie nicht, vor allem keinen Gesang. Virginia hatte nie verstanden, warum sie nicht bei ihrer Großmutter in Wien hatte aufwachsen dürfen, in einer Welt voller Musik. Wie viel besser wäre das für sie gewesen als in dem freudlosen Haus einer schwermütigen Großtante! Winifred hatte Virginia eher geduldet, als ihr ein liebevolles Zuhause zu bieten. Zudem hatte sie Virginias Musikalität nicht nur unterbunden, sondern ihr sogar striktes Singverbot erteilt. Leider war ihr Großonkel, Tillas Bruder Johannes, beruflich viel auf Reisen gewesen. Ihn hatte sie immer gemocht und er war es schließlich auch, der ihrem drängenden Wunsch zu singen nachgegeben und ihr erlaubt hatte, nach Wien zu gehen.

Virginia griff nach einem Handtuch und bemühte sich, die verwischte Schminke zu entfernen. Dann löste sie den Haarknoten und schüttelte ihr kastanienbraunes Haar, das in dicken Wellen bis zur Taille herabfiel. Sie legte eine Locke über ihre Verletzung auf der Stirn und hoffte, so schnell wie möglich Tilla zu finden, um nach Hause zu fahren.

*

„Ich prophezeie euch, wenn ihr nicht mit der Zeit geht, dann geht ihr verdammt noch mal unter! Eine neue Garde Künstler reift heran, und die ist es wert, dass man ihr Beachtung schenkt!“ Alfred Bonné, der bekannteste Kulturkritiker Wiens, lehnte sich lässig auf dem Sofa zurück. Mit seinen beringten Fingern griff er nach einem Canapé, das ihm von einem Diener angeboten wurde, und schlang es hinunter. Der Kritiker gehörte zum festen Bestandteil der Wiener Hautevolee, und wenn er nicht gerade in einem der zahlreichen Theater saß, um am nächsten Tag seine Häme über Künstler und Regie auszugießen, fehlte er bei keiner Gesellschaft.

Virginia hatte sich auf der Suche nach Tilla erfolgreich an zahlreichen Gästen vorbeigestohlen und schließlich zu dieser Gesprächsrunde in den Gartensalon verirrt. Giselle van der Lohe, einst eine berühmte Burgschauspielerin, fächelte sich Luft zu. „Ich widerspreche dir ja gar nicht, Alfred“, sagte sie besänftigend, „nur tu ich mich halt ein bisserl schwer mit diesen neumodischen Dingen.“ Einige Anwesende nickten zustimmend, andere schüttelten den Kopf.

„Ich sage Ihnen ... nicht die Künstler werden immer dümmer, sondern das Publikum!“, rief ein junger Herr. „Die Leut’ erkennen doch die Kaiserhymne nur noch daran, dass sich alles von den Stühlen erhebt! Wer schleicht denn dort hinten herum?“

Virginia erstarrte. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, hier zu stehen und ein Gespräch zu belauschen? Langsam trat sie hinter einer exotischen Palme hervor. Interessiert richteten sich alle Augen auf sie. „Mit wem haben wir bitteschön das Vergnügen?“ Giselle van der Lohe schien von Virginias Versteckspiel wenig zu halten.

„Ich ...“, stotterte Virginia, „... meine Name ist...“

„Sie ist Tilla Bergströms Enkelin“, übernahm eine schwarzhaarige junge Frau in einem figurbetonten, roten Seidenkleid. Sie war die schönste Frau, die Virginia je gesehen hatte. „Und sie kommt aus England“, erklärte die Schöne weiter. „Richtig, Schätzchen?“ Irgendetwas an ihr alarmierte Virginia. „Ich habe gehört, Sie möchten Sängerin werden?“

„Ja, das ... das ist richtig. Ich möchte es jedenfalls versuchen.“

„Das wollen viele.“ Die Frau lachte. „Mit Versuchen kommt man nicht weit.“

Dazu wusste Virginia augenblicklich nichts zu entgegnen.

Alfred Bonné erhob sich plötzlich. „Eine Sängerin aus England?“ Er betrachtete sie aufmerksam. „Für mich sieht sie eher aus wie jemand, der mit dem Kopf durch die Wand wollte!“

Alle lachten, am lautesten die schwarzhaarige Frau. Virginia schloss die Augen. Instinktiv betastete sie ihre schmerzende Beule. Sie hatte das Gefühl, heute Abend nicht tiefer sinken zu können.

„Alfred!“ Alle blickten sich um und starrten auf die vornehme, alte Dame mit dem schneeweißen Haar, die plötzlich in der Tür stand, und deren Augen zornig funkelten. „Wahre gefälligst die Contenance! Das ist meine Enkeltochter, mit der du da sprichst.“

Der für einen Moment perplex wirkende Bonné hob ergeben die Hände und ließ sich wieder auf das Sofa fallen.

„Bitte verzeihen Sie, aber ich muss Ihnen meine Enkelin entführen“, rief Tilla mit ihrer klangvollen Stimme in den Raum und winkte Virginia zu sich. „Komm, Liebes!“

„Wie siehst du denn aus?“, flüsterte sie, als sie ein wenig außer Hörweite waren.

„Ach, Großmama, können wir bitte sofort nach Hause fahren?“

Tilla hakte sich bei ihrer Enkelin ein, während sie den Korridor zum Buffetzimmer zurückgingen. „Du hast recht! Diese Gesellschaft ist der reinste Albtraum! Und was hast du mit Bonné zu schaffen?“

„Gar nichts. Ich habe dich gesucht und bin zufällig bei dieser Runde gelandet. Er hat mich beleidigt. Eigentlich haben mich heute Abend alle beleidigt.“

„Halte dich in Gottes Namen fern von Bonné, er ist ein äußerst unangenehmer Zeitgenosse. Und hör auf, dir selber leid zu tun! Du wirst dich an die Wiener schon noch gewöhnen.“

Das bezweifelte Virginia zwar im Augenblick, aber sie sagte es nicht. „Vor dir scheint dieser Bonné aber Respekt zu haben, Großmama.“

„Respekt? Bonné? Glaub mir, mein Kind, Bonné hat vor niemandem Respekt.“

„Tilla, liebe Tilla!“ Eine große, grauhaarige Dame kam auf sie zugestürmt. Es war Adelheid von Reger zu Regerthun, die Gastgeberin.

„Leider müssen wir jetzt den Heimweg antreten, Adelheid“, erwiderte Tilla trocken.

„Was, schon? Nein, ihr dürft noch nicht gehen! Wir haben für später doch noch eine großartige Lesung geplant.“ Tilla kam nicht mehr zu Wort. Adelheid redete ununterbrochen. Sie schwärmte von der Novelle, lobte den Vortragenden über den grünen Klee und sprach von der ganz großen Karriere, die dieser noch vor sich habe. Virginia betete gerade, dass ihre Großmutter nicht nachgeben würde, als Adelheid unvermittelt das Wort an sie richtete. „Wie ich sehen konnte, liebes Fräulein Virginia, haben Sie sich schon gut bei uns eingelebt, nicht wahr? Mein Sohn Matthias hat sich doch sicher vorbildlich um Sie gekümmert? Ich habe ihn extra darum gebeten. Es ist ja so schwer, wenn man niemanden kennt.“

Virginia starrte Adelheid wortlos an. Matthias, Matthias ... Wer von diesen Herren hatte nur Matthias geheißen ...? Sie war keinem begegnet. Offenbar hatte Matthias es vorgezogen, sich lieber um eine andere Dame zu kümmern. Doch sie antwortete höflich: „Ja natürlich. Er hat sich sehr bemüht.“

„Schön! Dann darf ich Ihnen mitteilen, dass wir Sie sehr herzlich zu unserem nächsten Salon am ersten Freitag im kommenden Monat einladen. Diesmal planen wir etwas Musikalisches, es werden hochkarätige Künstler anwesend sein!“ Sie rechnete nicht im Geringsten mit einer Absage. „Unser Matthias wird auf das Äußerste beglückt sein, Sie wiederzusehen.“ Sie zwinkerte Virginia verschwörerisch zu.

„Bedaure, meine liebe Adelheid, aber das ist nicht möglich“, griff Tilla ein. „Für diesen Tag haben wir leider schon eine andere Einladung angenommen.“ Sie küsste Adelheid rechts und links auf die Wange und besiegelte damit den Abschied. „Es war schön, dich wiederzusehen. Bitte richte deinem Gemahl meine herzlichsten Grüße aus!“

Adelheids Gesichtsausdruck hätte nicht konsternierter sein können. Fast schämte sich Virginia für die rigorose Art, mit der Tilla die Frau abgespeist hatte. Doch ihre Erleichterung, nächsten Monat nicht schon wieder eine Gesellschaft bei den Regerthuns besuchen zu müssen, überwog. Eine Frage konnte sich Adelheid jedoch nicht verkneifen. „Um welche Veranstaltung handelt es sich, wenn ich so frei sein darf zu fragen?“ Die Neugier stand ihr ins Gesicht geschrieben.

„Ein Konzert im Kursalon“, antwortete Tilla.

Adelheid verzog den Mund zu einem verkrampften Lächeln. „O ja, das Konzert von András Zolano. Die ganze Stadt spricht ja von nichts anderem mehr. Nun, mir sagt diese neue Art der Musik ja überhaupt nichts, aber bitte ... dann also ein andermal?“ Plötzlich richtete sie ihren Blick ungeniert auf Virginias Stirn. „Und bitte verzeihen Sie das Missgeschick, es wurde mir natürlich sofort zugetragen.“ Sie lachte. „Ein Champagnerkorken mitten ins Gesicht ... na, wer weiß, Fräulein Virginia? Vielleicht bringt das ja sogar Glück?“

Virginia blieb nichts anderes übrig, als tapfer zu lächeln.

Es dauerte noch eine geschlagene halbe Stunde, in der viele Hände geschüttelt, Einladungen ausgeschlagen, angenommen und Entschuldigungen gemurmelt wurden, warum man nun leider gehen müsse, bis Tilla und Virginia endlich in ihrem Fiaker Platz nehmen und den Weg nach Hause antreten konnten.

2. Kapitel

Auf der Heimfahrt vom Hause der Familie Reger zu Regerthun fühlte Virginia sich erschöpft und von schlechtem Gewissen geplagt. Sie wusste, dass Tilla vor allem ihr zuliebe ausging. Gedankenverloren blickte sie aus dem Fenster.

„Du darfst dir das Gerede nicht zu sehr zu Herzen nehmen“, unterbrach Tilla das Schweigen. „Weißt du, die Leute hier wirken manchmal arrogant, aber im Grunde sind sie neugierig auf dich.“

„Das Gefühl hatte ich nicht, Großmama. Sie möchten überhaupt nichts von mir wissen. Es interessiert sie nur, ob ich mir wirklich zutraue, Gesang zu studieren.“ Sie seufzte. „Vielleicht nimmt mich die Akademie ja nicht einmal an.“

„Paperlapapp!“ Tilla glättete ihr Seidenkleid.

„Im Gartensaal war eine sehr schöne, junge Dame heute Abend, Großmama. Kanntest du sie?“

„Wien hat eine Menge schöner Damen, Liebes.“

„Sie war schwarzhaarig und saß in der Runde mit diesem Kunstkritiker.“

„Ach, du meinst Beatrice von Comuth?“ Tilla verdrehte die Augen. „Sie ist eine Schlange. Und ihre Mutter ist unerträglich, sie prahlt bei jeder Gelegenheit damit, dass die Familie von Comuth beim Kaiser verkehrt.“

Virginia bemühte sich, sich nicht beeindruckt zu zeigen.

„Beatrice von Comuth studiert Gesang an der Akademie musst du wissen.“

„Sie studiert Gesang?“

„Ihre Eltern halten sie für die neue Adelina Patti.“ Tilla zuckte mit den Schultern. „Lachhaft.“

In Virginia machten sich alte Zweifel breit. Alles, was sie besaß, war eine schöne Stimme. Sie hatte keine Technik, kannte viel zu wenig Repertoire und konnte nicht Klavier spielen. Dennoch war es ihr größter Wunsch zu singen. Auch, oder vielleicht gerade weil dieses Bedürfnis seitens ihrer Tante so lange unterdrückt worden war. Als Kind hatte sie immer gesungen, sobald Winifred das Haus verließ. Erst als Erwachsene hatte sie sich nicht mehr einschränken lassen und gesungen, wann es ihr passte. Die Greenleys waren Nachbarn in der Somerset Street gewesen. Sie besaßen eine Schellackplattensammlung mit vielen Lieder- und Arienalben. Diese Stücke konnte Virginia in- und auswendig singen. Doch die Platten der Greenleys waren alles, was Virginia kannte. Sie wusste, um als Sängerin an einer Musikakademie angenommen zu werden, musste sie sich sehr gut vorbereiten und ihr Repertoire erheblich erweitern. Sie hatte daher ihren Onkel bekniet, zu ihrer Großmutter nach Wien ziehen und sich in die Welt der Musik begeben zu dürfen. Jetzt kam ihr dies Vorhaben waghalsig, ja beinahe vermessen vor. Mit einer Beatrice von Comuth, einer gebürtigen Wienerin, die wahrscheinlich von klein an jedwede Förderung von ihren Eltern erhalten hatte, konnte sie nicht mithalten. Den Namen Adelida Patti hatte sie noch nie gehört.

Tilla war inzwischen eingeschlafen. Ihr Kopf lehnte entspannt an der ledernen Rückwand des Wagens, und sie sah sehr friedlich aus. Liebevoll breitete Virginia ihren Mantel über sie und betrachtete die feinen Gesichtszüge. Sie waren ihr schon so vertraut, obwohl sie einander erst vor einem Monat begegnet waren. In dieser kurzen Zeit hatte sie von Tilla mehr Liebe und Zuwendung erfahren als von ihrer Tante Winifred in ihrem ganzen Leben.

Doch sie spürte, dass Tilla Geheimnisse verbarg. Manchmal hatte sie sogar das Gefühl, dass ihre Großmutter von tiefer Melancholie ergriffen war. Dann sprach sie mit niemandem und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück. Virginia ahnte, dass die Ursache für diesen tiefen Kummer der Tod ihrer Tochter, Virginias Mutter Alicia, war. Ihr ganzes Leben bis zu ihrem Tod hatte Alicia bei Tilla in Wien gelebt.

Durch ein angeborenes Herzleiden blieb sie zeitlebens an Zuhause gefesselt, bis sie ihm nach Virginias Geburt viel zu früh erlegen war. Über ihren Vater erfuhr Virginia nichts. Tilla beteuerte, nicht zu wissen, wer er war. Ein ganz und gar freudloses Leben, dachte Virginia, konnte ihre Mutter jedoch nicht geführt haben, wenn sie irgendwann einen Mann kennengelernt hatte, mit dem sie ein Kind zeugte. Eigentlich ein ungeheuerlicher Skandal, wenn man bedachte, dass ihre Mutter nicht verheiratet gewesen war.

Für Virginia blieb das Leben ihrer Mutter voller Rätsel.

Im Haus ihres Onkels war so gut wie nie über Alicia gesprochen worden. Die Fragen nach ihrer Mutter wurden mit oberflächlichen Floskeln abgetan oder gar nicht beantwortet. Irgendwann hatte Virginia es schließlich aufgegeben, mehr über ihre Mutter zu erfahren. Doch die Ungewissheit blieb und sie war schmerzhaft. Das einzige, das Virginia von ihrer Mutter besaß, war eine Fotografie. Schon als kleines Mädchen hatte sie die Frau mit den großen Augen und dem dichten, dunklen Haar außergewöhnlich schön gefunden; sie bedauerte, ihrer Mutter nicht ähnlicher zu sehen. Ihre Haare waren von hellerer Farbe und ihre Augen eher mandelförmig. Aber sie hatte die gleichen vollen Lippen wie ihre Mutter. Daher war ihr Mund das einzige, das Virginia an sich selbst wirklich gefiel.

Ihre Hoffnung in Wien endlich Antworten auf die vielen Fragen zu erhalten, die ihr so sehr auf der Seele brannten, wurde enttäuscht. Tilla beantwortete zwar stets geduldig, was sie über ihre Mutter Alicia wissen wollte, schilderte ihr bezauberndes Wesen, ihre beispiellose Schönheit und ihre fragile Gesundheit. Wenn Virginia aber Tiefergehendes wissen wollte, reagierte sie stets abweisend. Bisher hatte jedes Gespräch an eben diesem Punkt geendet; und in Virginia verstärkte sich das ungute Gefühl, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte, und Tilla etwas vor ihr verbarg. Ein Geheimnis, das auch Johannes und Winifred kannten und weshalb Tilla sie nach England gebracht hatte.

Ein heftiger Ruck riss Virginia aus ihren Gedanken. „Da samma!“ Die laute Stimme des Kutschers hallte in der ganzen Straße wider. „Katharinenstraße 8.“

Schon eilte Alois, Tillas treu ergebener Kammerdiener, herbei. Er bezahlte den Kutscher, half den beiden Damen aus dem Wagen und führte sie durch den Innenhof ins Haus.

Tillas Heim nahe der Wiener Altstadt war ein Kleinod des Jugendstils. Mit seiner stuckverzierten Fassade und den floralen Ornamenten wirkte es wie ein kleines Jagdschlösschen inmitten der Stadt. Es bestand aus zwei Stockwerken und einer gläsernen Dachgaube mit einem vortrefflichen Blick über die Altstadt. Die vielen Erker auf jeder Etage boten genug Raum für Tillas überladenen Einrichtungsstil. Einen Fahrstuhl besaß das Haus leider nicht, und die Stufen wurden für Tilla zunehmend mühsam.

Alois begleitete die alte Dame die Treppe hinauf. Er kümmerte sich seit beinahe zwanzig Jahren um sie, dabei erschien er Virginia selbst schon wie ein alter Greis. Doch Tilla verkündete stets: „Eher wird ein Ungar Kaiser, als dass der Alois mich verlässt, bevor ich tot bin!“

Alois, von aller Welt nur bei seinem Vornamen genannt, trug den kunstvollsten Schnurrbart, den Virginia je gesehen hatte. Auch wenn sie anfangs Mühe gehabt hatte, Alois, einen waschechten Wiener, zu verstehen, so hatte sie ihn auf Anhieb sympathisch gefunden. Und wenn er nicht gerade seinen freien Tag hatte, an welchem er grundsätzlich nicht wusste, was er anfangen sollte, war er stets guter Laune. Er erledigte Tillas Korrespondenz, machte diverse Botengänge und überwachte in akribischer Genauigkeit die anderen Hausangestellten: Frau Absolonová, die tschechische Köchin, die größten Wert darauf legte, dass man sie siezte, und Lisa, ein junges Mädchen aus Wien, das stolz darauf war, Hausmädchen in vierter Generation zu sein. Zu Alois’ Verdruss war sie mitunter etwas schlampig und pflegte in ihrer Freizeit offenbar einen beachtlichen Männerverkehr, aber das störte Tilla nicht, solange sie ihr jeden Morgen pünktlich das Frühstück ans Bett brachte.

Nachdem die Mäntel abgenommen, ein paar Schilderungen über den Abend getan und Tilla ihre heiße Milch getrunken hatte, waren alle müde und gingen zu Bett. Nur Virginia konnte noch nicht schlafen. Im Nachthemd ging sie hinauf in den Wintergarten und setzte sich mit einer Decke auf das breite Fenstersims. Diese gläserne Dachgaube hatte sie zu ihrem Lieblingsplatz im Haus erkoren.

Sie blickte über die Dächer von Wien. Die Uhr schlug eins, doch es war immer noch etwas los auf den Straßen; diese Stadt schien nie zu schlafen!

Virginia dachte nach. Hatte Tilla recht? Tat sie sich selber leid? Sie hatte nicht damit gerechnet, in Wien so schnell Freundschaften zu schließen, aber ausgelacht zu werden, darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Traurig befühlte sie die Beule auf ihrer Stirn.

„Ich brauche ein dickeres Fell“, sagte sie zu sich selbst. Dann stand sie seufzend auf und löschte das Licht.

Für die vielen Fragen, die sie auf dem Herzen hatte, würde die Zeit kommen, wenn Tilla und sie einander besser kannten, entschied sie. Was auch geschehen war, es konnte nicht so schlimm sein, dass man sie über das Leben ihrer Mutter ewig im Dunkeln ließ.

3. Kapitel

Die Donaumetropole mit ihren herrschaftlichen Straßen, langgestreckten Pappelalleen, Springbrunnen und steinernen Kriegern bezauberte Virginia. Hinter all den Prunkfronten befanden sich geschmückte Innenhöfe, verspielte Treppenhäuser und stuckverzierte Räume.

Alois entpuppte sich als hervorragender Fremdenführer. Mehrfach unternahm er mit Virginia Spazierfahrten und zeigte ihr stolz die Sehenswürdigkeiten seiner Heimatstadt. Er erklärte unter anderem, dass Wien als Kulturhauptstadt Europas nicht nur die Stadt Mozarts, Beethovens, Strauß‘ und anderer großer Genies war, sondern zu dieser Zeit vor allem die Stadt eines Sigmund Freud, Gustav Klimt, Arthur Schnitzler und Gustav Mahler, die Weltruhm erreicht und mit ihren Bildern, Schriften und ihrer Musik neue Wege beschritten hatten - den Weg in die Wiener Moderne.

Doch Alois verschwieg Virginia nicht, dass Wien neben all seiner Pracht, seinen berühmten Künstlern und dem großen wirtschaftlichen Erfolg auch tiefe Risse erfahren hätte. Nach Meinung vieler befände sich der Vielvölkerstaat bei weitem nicht mehr in der Blüte. Bei verschiedenen Gelegenheiten hatte Virginia bereits die Leute darüber sprechen hören; zwar hinter vorgehaltener Hand und in privaten Kreisen, doch ein großer Teil der Menschen sorgte sich um die Zukunft des großen k.u.k.-Reichs. Das Konfliktpotenzial unter all den Völkerstämmen, die hier in Wien auf engem Raum zusammenlebten, war groß, und in vielen Stadtvierteln herrschte oft große Armut. Schwere Krankheiten und Seuchen rafften dort die Bewohner dahin.

Aber in Wien hatte Virginia zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein. Ihre musikalische Ausbildung und Zukunft als Sängerin standen für sie an erster Stelle.

Dass sie sich noch ganz anderen Herausforderungen würde stellen müssen, konnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.

*

„Warum fragst du sie nicht einfach?“ Georgine Belltrami, die neben Virginia auf einem Stuhl in der Sonne saß, biss in ihr Nusshörnchen. „Ich bin sicher, sie wird dir diese Bitte nicht abschlagen.“

Doch Virginia hörte nicht zu. Gedankenverloren blickte sie zu den Musikanten hinüber, die an der Ecke des Platzes standen und voller Inbrunst Schuberts Ave Maria zum Besten gaben. Sie legten ihre ganze Seele in die Musik. Auf dem Naschmarkt war an diesem Morgen noch nicht viel los, und die beiden jungen Frauen hatten ein Tischchen vor einem Stand mit köstlich duftendem Zuckergebäck ergattert.

„Wie bitte?“ Virginia drehte den Kopf.

„Ich sagte, du könntest Tilla doch einfach fragen. Wieso sollte sie dir diese Bitte abschlagen?“

„Ich weiß nicht, ich möchte mich nicht aufdrängen. Außerdem hat sie gleich zu Beginn klargestellt, ich solle mich erst einmal in Wien eingewöhnen, bevor wir mit dem Gesangsunterricht beginnen. Sie hat darauf bestanden, dass ich Klavierunterricht nehme, damit ich eine Ahnung von Harmonien bekomme. Aber allmählich werde ich nervös. Die Aufnahmeprüfung für die Akademie ist schon in zwei Monaten.“

Tilla hatte Virginia bisher noch keine Unterrichtsstunde angeboten, aber ihr stattdessen einen Klavierlehrer zur Seite gestellt, der Virginia nun zweimal die Woche besuchte und sich redlich bemühte, ihr zumindest die Grundlagen des Klavierspiels beizubringen. Doch der Tag der Aufnahmeprüfung am Wiener Konservatorium rückte näher, und Virginia fühlte sich nicht im Mindesten auf ihre Gesangsprüfung vorbereitet.

Georgine kannte Tilla. Ihre Eltern waren mit Tilla schon lange befreundet. Vor drei Jahren hatten sie ihre Tochter bei ihr zum Gesangsunterricht angemeldet, doch Tilla hatte nicht das geringste Talent feststellen können und dies Georgines Eltern auch offen mitgeteilt. Als Georgine von Tillas Enkelin und deren Ankunft in Wien erfuhr, hatte sie Virginia gleich besucht. Die zwei Jahre jüngere Georgine redete wie ein Buch und war nie um eine Antwort verlegen. Optisch war sie das genaue Gegenteil von Virginia: klein, mit schwarzem, glattem Haar, das sie meist aufgetürmt trug, um größer zu wirken. Virginia wollte sich gerne mit ihr anfreunden. Temperamentvoll erzählte Georgine ihr allerlei Anekdoten über die Wiener, denen Virginia bei Abendveranstaltungen begegnet war, und gemeinsam amüsierten sie sich über die teils pikanten Geschichten.

Georgines Eltern gehörten zum gehobenen Bürgertum. Ihre Vorfahren waren als einfache Möbelbauer vor zwei Generationen aus Italien nach Wien gekommen. Georgines Vater, Giorgio Belltrami, hatte es in nur wenigen Jahren geschafft, sein Möbelgeschäft zu einer großen Manufaktur umzugestalten, welche europaweit lieferte. Das Geschäft blühte.

„Vielleicht hast du recht, Georgine, die Zeit läuft mir davon. Wenn ich mich bei der Aufnahmeprüfung am Konservatorium nicht vollends blamieren möchte, muss ich wohl energischer werden.“

„Du lieber Himmel!“ Georgine verdrehte die Augen. „Und so möchtest du Opernsängerin werden? Na, du hast ja vielleicht Nerven. Tilla wartet sicher nur darauf, dass du sie bittest, dich zu unterrichten. Weißt du, sie ist nicht gerade die Sorte Mensch, die dir die Schokoladentorte vor die Nase stellt und die Kuchengabel in die Hand drückt. Wenn du etwas willst, musst du es sagen. Mehr noch, du musst darum kämpfen und ihr damit zeigen, dass du es wirklich willst!“ Georgine griff nach ihrem Täschchen. „So, ich muss los. Ich habe Auftrag, heute noch im Geschäft vorbeizusehen. Soll ich dich in meinem Wagen mitnehmen?“

„Nein danke, ich gehe lieber zu Fuß. Ich bewege mich hier ohnehin viel zu wenig. Mir fehlt das Reiten.“

„Kopf hoch, Virginia, meine Mutter sagt immer: Die Raupe dachte schon, sie müsste sterben, und dann wurde sie ein wunderschöner Schmetterling!“

Virginia sah Georgine verständnislos an. „Was soll denn das bedeuten?“

„Dass du dich endlich von deinem Kokon befreien sollst“, erwiderte Georgine strahlend. „Ich sehe dich dann heute Abend?“

„Heute Abend?“

„Na, bei der Uraufführung im Kursalon. András Zolano ...“

„Du meine Güte! Das habe ich ja ganz vergessen“, unterbrach sie Virginia. Sie hatte eigentlich nicht die leiseste Lust auf das Konzert. Nach ihren ersten Wochen in Wien verspürte sie zum ersten Mal so etwas wie Müdigkeit. Aber sie hatte Tilla nun einmal versprochen, sie zu begleiten. Das heutige Konzert war seit Wochen Stadtgespräch, und alles, was Rang und Namen hatte, würde anwesend sein. Die Wiener liebten Uraufführungen. Man konnte so offen und vermeintlich kompetent seine Meinung kundtun, da die Zeit noch keine Gelegenheit gehabt hatte, das Schicksal des Werkes zu besiegeln. Wenigstens würde Georgine auch da sein, tröstete sie sich.

„Ja“, sagte sie, „wir sehen uns heute Abend.“ Sie umarmten sich zum Abschied, und Virginia wartete, bis Georgine in ihrem Fiaker mit der Aufschrift Belltrami und Brüder – Kunst und Möbel verschwunden war.

Über den Naschmarkt schlendernd beobachtete sie gedankenverloren die Marktfrauen, die in nicht nachlassender

Intensität ihre Waren anboten. Die Stände auf dem großen Platz standen so dicht, dass sich der Geruch von frischen Schnittblumen, exotischen Gewürzen und Gartenkräutern mit dem von Fisch und geräucherten Würsten abwechselte. Überall standen Leute, besonders Köchinnen und Dienstmädchen mit vollen Körben in der Hand und verhandelten mit den Standbesitzern über Waren und Preise.

Eigentlich gehörte es sich nicht für eine Dame, ihren Vormittag auf dem Naschmarkt zu verbringen. Aber das war Virginia egal. Sie fand es eine herrliche Abwechslung zu den vielen Gesellschaften, die sie besuchen musste, und genoss es, einmal derart ungezwungen herumzuschlendern. Gerade wollte sie sich aus dem Gedränge befreien, als sie mit einem kleinen, alten Marktweiblein zusammenstieß. Dabei erschrak sie über den finsteren Blick der Frau. Doch plötzlich lächelte die Alte sie aus einem zahnlosen Mund an und hielt ihr einen Bund Rosmarin unter die Nase. Die winzige Frau trug an diesem ungewöhnlich warmen Märztag ein dickes, schwarzes Kleid mit einer auffallend hübschen Stickerei. Virginia wunderte sich über ihr seltsames Erscheinungsbild. Das Kleid, das sicher einmal sehr edel gewesen war, und das alte, zahnlose Gesicht schienen überhaupt nicht zueinander zu passen. Virginia lächelte etwas verlegen, nahm den Bund und drückte der Frau zwei Heller in die Hand. Schnell verließ sie das farbenfrohe Gedränge in Richtung Innenstadt, ohne zu bemerken, dass der Blick der Frau ihr noch lange folgte.

Zuhause angekommen, schrieb Virginia Briefe in ihre englische Heimat und kleidete sich für den Abend um. Alois hatte Tilla und Virginia vor dem Konzert im Kursalon noch einen kleinen Imbiss im Wintergarten herrichten lassen.

„Großmama ... ich möchte mich nicht aufdrängen, aber ...“

„Aber was?“ Tilla, die wieder einmal kaum einen Bissen angerührt hatte, sah ihre Enkelin aufmerksam an. In diesem Augenblick beschloss Virginia, jedwede Zurückhaltung sein zu lassen. „Großmama, ich kann nicht länger warten. Meine Prüfung ist in zwei Monaten. Ich bin überhaupt nicht vorbereitet. Die einzige, die mir helfen kann, bist du. Ich brauche deine Hilfe!“

In Tillas Augen blitzte es. „Und ich dachte schon, du willst es gar nicht wirklich.“

Virginia starrte sie verständnislos an. „Aber ich habe doch schon mehrmals gefragt, Du hast immer nur gesagt, ich solle Klavier ...“

„Deine halbherzigen Anfragen zählen für mich nicht“, erwiderte Tilla trocken.

„Halbherzige Anfragen?“

„Virginia! Ich habe dich hierher nach Wien geholt. Das war, was ich tun konnte, um dir das nötige Umfeld für deine Begabung zu schaffen. Der Rest muss von dir kommen.“

Virginia konnte ihre Verwunderung kaum verbergen. „Ich dachte, du weißt, wie sehr ich es will, Großmama.“

„Du scheinst nicht zu verstehen, Virginia. Das Feuer muss von innen brennen! Von außen lässt es sich nicht entfachen.“ Energisch spießte sie ein Stückchen Fleisch auf. „Ein wahrer Künstler aber brennt nicht nur von innen. Ein wahrer Künstler, mein Kind ... brennt an beiden Enden, und genau das wollte ich bei dir sehen.“ Dann lächelte sie und Virginia empfand dieses Lächeln wie eine Befreiung. „Es sind noch zwei Monate bis zu deiner Aufnahmeprüfung. Das ist nicht viel, aber wenn du durchhältst, können wir in dieser Zeit wenigstens ein paar Grundlagen schaffen. Nach der Singerei, die ich durch deine Tür vernehme, wird es höchste Zeit.“

„Wie? Du hast ...?“

„Morgen um zehn Uhr fangen wir an!“ Damit war die Diskussion beendet.

4. Kapitel

Der Kursalon erstrahlte in hellem Licht. Aus prächtigen Kutschen stiegen noch prächtiger gekleidete Herrschaften, die ihren Weg über den ausgerollten Teppich nahmen, der rechts und links von buntem Blumenschmuck gesäumt war. Die Damen trugen mondäne Roben und riesige Hüte. In der Hand hielten sie Fächer, mit denen sie sich munter Luft zufächelten. Überall sprach man von dem jungen Komponisten, der heute Abend drei seiner Werke zur Uraufführung bringen sollte.

„Kind“, sagte Tilla, als sie ihre Kutsche verließen, „morgen kaufen wir dir neue Kleider, was du da anhast, ist nicht mehr zeitgemäß.“

„Dieses Kleid war in Chew Stoke hochmodern.“

„Papperlapapp!“

Im Foyer begegneten sie Georgine und ihren Eltern. Virginia staunte wieder einmal über die Kondition ihrer Großmutter und wie involviert sie im Wiener Gesellschaftsleben war. Wo immer sie auftauchte, kannte man sie und sprach ihr Anerkennung für ihr einstiges künstlerisches Schaffen aus. Gleichzeitig erklärte man, die Zeiten hätten sich so geändert. Die heutige Sängergeneration wäre bei weitem nicht mehr das, was sie früher einmal war. Was hatte es doch für wunderbare Aufführungen gegeben! Es dauerte noch eine Weile, bis die Glocke erklang und die Leute sich auf ihre Plätze begaben. Den Wienern schien die Einstimmung so wichtig wie das Konzert selbst. Aus diesem Grund plante man grundsätzlich ausreichend Zeit bis zum Beginn einer Abendveranstaltung ein. Waren die edlen Roben genug bestaunt, die aktuellen Geschehnisse besprochen und das eigene Kunstverständnis ausreichend dargebracht, konnte man beruhigt Platz nehmen; schließlich gab es ja auch noch eine Pause.

Virginia war von dem Konzert herb enttäuscht. Es handelte sich um eines jener Musikstücke, die inzwischen ihren sicheren Einzug in die Konzerthäuser genommen hatten und auf Melodik und klaren Aufbau fast gänzlich verzichteten. Das aus etwa hundert Musikern bestehende Orchester kämpfte sich mit hochkonzentrierter Professionalität durch das verworrene Stück und man konnte ihren Mienen die Anstrengung ansehen. Vergeblich versuchte Virginia, in diesem symphonischen Klangwerk einen roten Faden zu erkennen, irgendetwas, das zumindest eine Orientierung bot. Sie staunte daher nicht schlecht, als das Publikum im voll besetzten Saal nach Ende des ersten Stückes frenetisch applaudierte. Verwundert blickte sie um sich und hatte plötzlich das Bedürfnis nach frischer Luft. Wie lange würde es wohl noch bis zur Pause dauern?

Sie bedeutete der besorgt dreinschauenden Tilla, sie müsse einen Moment vor die Tür. Dann stahl sie sich durch die enge Stuhlreihe aus dem Saal und lief mit rauschenden Röcken die Treppen hinunter ins Foyer. Außer ihr war weit und breit niemand zu sehen. Sie öffnete die mittlere der großen Terrassentüren und trat erleichtert auf die breite Veranda. Die Abendluft war wunderbar klar und bei weitem angenehmer als die verbrauchte Luft im Konzertsaal. Befreit atmete sie durch und fragte sich, wem eine solche Komposition einfiele? Alfred Bonné mochte diese Musik bestimmt, so viel hatte sie seinen Worten bei der Kunstdiskussion jedenfalls entnehmen können. Sicher würde er eine fulminante Kritik schreiben.

Plötzlich vernahm sie hinter sich ein Geräusch. Es war dunkel, nur vom Innenraum des Foyers flackerte ein dumpfer Lichtschein nach draußen. Ihr Herz setzte einen Moment aus: In der linken, hinteren Ecke der Veranda lehnte lässig ein Mann an der Wand, in seiner rechten Hand hielt er ein Glas. Virginia fragte sich, wie lange er hier schon gestanden haben mochte.

„Ich hatte nicht vor, Sie zu erschrecken, Fräulein“, sagte der Mann unerwartet.

Viel mehr, als dass er groß war und dunkles Haar hatte, konnte sie nicht erkennen. „Wie lange stehen Sie schon dort?“, fragte sie.

Der Mann antwortete nicht gleich. Ruhig nahm er einen Schluck aus seinem Glas. Plötzlich wurde es Virginia unwohl hier draußen mit einem Fremden, noch dazu im Dunkeln.

„Jedenfalls lange genug, um zu erkennen, dass Sie die Veranda dem Konzertsaal vorziehen“, antwortete er gelassen. „Hat Ihnen die Musik nicht gefallen?“

Virginia überlegte, ob sie diese Frage unbeantwortet lassen und sich lieber entfernen sollte. Doch so oder so musste sie an dem Mann vorbeigehen, und nach allem, was sie erkennen konnte, sah er zumindest nicht wie ein Schwerverbrecher aus. Daher antwortete sie: „Da haben Sie recht. Sie hat mir nicht gefallen.“

„So. Darf ich fragen, warum nicht?“ Seine Stimme klang tief.

„Ich kann so etwas nicht Musik nennen, davon bekomme ich Kopfschmerzen!“, platzte es aus ihr heraus. Sie sah keinen Grund, sich mit ihrer Meinung zurückzuhalten, schließlich übte sich der Fremde auch nicht gerade in Höflichkeit.

„Anscheinend war das Publikum anderer Meinung. Der Applaus nach dem ersten Stück war jedenfalls sehr enthusiastisch.“

„Ja, aber ich glaube nicht, dass eine so minderwertige Musik den Leuten wirklich gefällt. Wenn Sie mich fragen, traut sich das da drinnen nur niemand zu sagen.“ Es fühlte sich befreiend an, einmal auszusprechen, was sie dachte. Zu den vielen illustren Themen, die Wien offenbar bewegten, hatte sie bisher nie etwas beitragen können, ja, meist hatte sie nicht einmal verstanden, worum es überhaupt ging. Aber, dass ihr das, was sie heute gehörte hatte, nicht gefiel, das wusste sie. Sie kannte diesen Mann nicht und würde ihm auch nie wieder begegnen. Daher war es ihr egal, was er von ihr hielt. „Wissen Sie, alle jubeln mit der Masse, weil sie fürchten, als rückständig zu gelten, wenn sie sagen, was sie wirklich denken“, ereiferte sie sich weiter.

Der Mann hatte sich bisher nicht von der Stelle bewegt. Immer noch lehnte er an der Wand und schien auch nicht die Absicht zu haben, eine andere Haltung einzunehmen, wie es sich in Gegenwart einer Dame eigentlich gehört hätte. „Und was genau, Fräulein, ist es, dass es Ihnen erlaubt, so frei zu sprechen und nicht mit der Masse zu jubeln?“ Seine Stimme ließ eine gewisse Belustigung über ihren Standpunkt erkennen.

„Ich bin jung und daher auch nicht rückständig. Außerdem habe ich in meinem Leben genug Musik gehört, um gut von schlecht unterscheiden zu können.“

„Ich verstehe.“

Lächelte er etwa?

„Sie haben schon genug Musik gehört“, wiederholte er. Virginia fand, es klang sehr arrogant. Er verschränkte die Arme vor der Brust, das Glas immer noch in der Hand. „Sie sind ein typisches Beispiel für den besonderen Kunstkenner, der glaubt, alles müsse beim Alten bleiben und der Neuem gegenüber unaufgeschlossen ist. Wenn es mehr von Ihrer Sorte gäbe, Fräulein, würde die Welt stehenbleiben, eine Weiterentwicklung wäre schlicht unmöglich!“

„Das stimmt nicht. Es ist ganz und gar nicht so, dass ich Neuem gegenüber unaufgeschlossen bin. Aber Dinge ohne Qualität muss ich nicht mögen.“ Inzwischen hatte sie sich an die spärliche Beleuchtung gewöhnt und konnte ein wenig mehr von ihrem Gegenüber erkennen. Sie musste zugeben, der Mann war zweifellos attraktiv, obwohl sein dunkles Haar ein wenig zu lang war. Über einer eleganten schwarzen Hose trug er ebenso elegante, schwarze Stiefel. Wer war dieser Mann? Über das Konzert schien er Bescheid zu wissen, jedoch besuchte er es nicht. Vielleicht war er wie Virginia geflohen, doch dann würde er sich gewiss nicht für das Stück aussprechen. Sie ärgerte sich, dass sie ihn einen Moment länger angestarrt hatte als beabsichtigt und fühlte sich sofort ertappt. Schnell wandte sie den Blick ab.

„Ein beträchtlicher Teil der guten Musik, wie Sie es ausdrücken, Fräulein, hätte nicht überlebt, wenn es nach dem Publikumsgeschmack der jeweiligen Zeit gegangen wäre. Viele Komponisten haben es schwer gehabt. Zu Lebzeiten blieben sie oft verkannt.“

„Das weiß ich.“ Er sagte ihr tatsächlich nichts Neues. „Aber ich finde, Musik sollte in erster Linie immer noch anrühren. Vielleicht ist sie traurig, oder aufwühlend ... vielleicht zornig, oder verwunschen ... Musik kann so vieles sein. Aber ich möchte, dass sie mich bewegt und nicht, dass sie mich verwirrt. Sonst ist es Mathematik in Noten, und ich konnte Mathematik noch nie ausstehen.“ Sie hatte sich in Rage geredet und es ärgerte sie, sich nicht besser im Griff zu haben.

Der Mann musterte sie eine Weile, dann sagte er ruhig: „Laut Schumann braucht es für ein gelungenes Musikstück vor allem eine besondere Idee, eine gelungene Form und den nötigen Geist. Wobei er den Geist über alles gestellt hat. Aber ich finde, das schöne Geschlecht schwach zu machen, ist immer noch der stolzeste Triumph, den ein Komponist erzielen kann. Sonst war die ganze Mühe umsonst!“ Mit einem amüsierten Blick auf Virginia, die plötzlich ein warmer Schauer erfasste, fügte er hinzu: „Schade, dass dies dem heutigen Komponisten offenbar nicht gelungen ist.“

Virginia räusperte sich verlegen und versuchte, ihre Regung zu überspielen. „In der Tat, es ist ihm leider nicht gelungen.“

„Nun, womöglich ist diese Musik auch gar nicht für Sie geschrieben, sondern für eine spätere Zeit“, entgegnete er ernst.

„Heißt das, Sie glauben, man kann die Qualität und Überlebensdauer von Musik in der Zeit, in der sie entstanden ist, nicht beurteilen?“

„Richtig. Wir Menschen können das nicht. Auch Sie nicht, Fräulein. Nur die Zeit kann das. Und sie wird es eines Tages auch tun. Wenn Sie mich fragen ...“

„Ich habe Sie aber nicht gefragt!“ Irgendwie wurde Virginia das Gespräch unheimlich. Etwas Bedrohliches lag im Blick des Mannes. Sie wandte sich ab.

„Wollen Sie schon gehen?“

Er schien auf einmal ehrlich betrübt.

„Ganz recht. Ich werde erwartet. Außerdem weiß ich nicht, ob diese Unterhaltung zu irgendetwas führt.“

„Solange Sie so stur bleiben, haben Sie damit sicher recht.“

„Offenbar können Sie es nicht ertragen, wenn jemand eine andere Meinung hat als Sie“, gab Virginia erbost zurück.

„Nur, wenn diese Meinung auf wenig Substanz beruht. Aber es ist trotzdem erfrischend, mit jemandem wie Ihnen zu sprechen, der ... wie soll ich sagen, einen so unverbrauchten Zugang zu der ganzen Sache hat.“

„Wollen Sie damit sagen, Sie finden die Unterhaltung mit mir erfrischend, aber uninteressant?“

„Ich habe mit keinem Wort gesagt, das Gespräch mit Ihnen sei uninteressant.“

„Aber Sie finden, ich habe nicht das Recht, über Musik zu urteilen.“

„Das Recht hat jeder. Schauen Sie ... es betreiben auch Tausende das Handwerk der Liebe, obwohl die Liebe sich ihnen nie offenbart.“ Virginia errötete bei seinen Worten. „Und mit der Musik ist es nichts anderes. Tausende treiben den Verkehr mit ihr und haben ihre Offenbarung nicht.“

Virginias Herz begann zu rasen. „Welche Laus Ihnen auch immer heute Abend über die Leber gelaufen ist, mein Herr, an mir kann es nicht gelegen haben. Aber nachdem Sie nun Ihre Bosheiten losgeworden sind, hoffe ich, Sie fühlen sich besser!“ Damit rauschte sie an ihm vorbei auf die Flügeltüren der Terrasse zu.

„Einen Moment noch, Fräulein“, sagte er, diesmal klang es ungewohnt sanft. „Verraten Sie mir noch, woher Sie kommen?“

Virginia stutzte. Ihr Deutsch war perfekt, sie war zweisprachig aufgewachsen, ihr Onkel hatte mit ihr ausschließlich deutsch gesprochen. Sie liebte diese Sprache und hatte schon seit ihrer Jugend begeistert deutsche Bücher verschlungen. Bisher hatte sie in Wien noch niemand auf einen Akzent angesprochen. Im Gegenteil, die Leute hatten sie alle für ihr akzentloses Deutsch gelobt. „Ich denke, dass das hier weder von Belang ist, wo ich herkomme, noch dass es Sie irgendetwas angeht. Wenn Sie mich also jetzt entschuldigen, auf Wiedersehen!“

Sie öffnete die Flügeltür, als sie hinter sich erneut seine raue Stimme vernahm. „Ich würde Sie gerne wiedersehen ... kleine Engländerin.“ Sein Lächeln konnte sie beinahe hören. Dunkelrot lief sie an und betete innerlich, dass er es nicht bemerkt hatte, während sie erhobenen Hauptes davon stolzierte.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass dieser Mensch nicht einmal die Höflichkeit besessen hatte, sich vorzustellen.

*

Just in diesem Moment klingelte es zur Pause. Die Menschen drängten durch die geöffneten Saaltüren und strömten in das Pausenfoyer. Während sich die Herren in die langen Schlangen der Champagner- und Canapéstände einreihten, fanden sich die Damen in Grüppchen zusammen und beschwatzten all das, wozu ihnen vorher keine Zeit geblieben war.

„Virginia, Liebes, ist alles in Ordnung?“ Tilla steuerte im Gedränge besorgt auf ihre Enkelin zu.

„Ja, ich brauchte nur ein wenig frische Luft.“

Gemeinsam gingen sie zu einem Tisch, auf dem schon der Champagner bereitstand. Zu bekannten Gesichtern gesellten sich neue, die Tilla ihr der Reihe nach vorstellte. Einige äußerten sich geradezu euphorisch über die Uraufführung und bescheinigten dem eben gehörten Opus einen festen Platz in der Galerie der bedeutenden Werke. Virginia jedoch hörte gar nicht richtig hin. Stattdessen wagte sie immer wieder einen kurzen Blick zur Veranda und spähte durch die Scheibe. Aber es war nichts zu sehen.

„Virginia?“

„Wie bitte?“

„Der Herr Bezirkshauptmann hat dich etwas gefragt!“, hörte sie Tilla sagen.

„So? Oh, bitte verzeihen Sie!“ Wo war nur Georgine?

„Ja, Fräulein Hill, András Zolano ist augenblicklich einer unserer größten musikalischen Hoffnungsträger. Ein faszinierender Künstler und zweifellos ein höchsttalentierter junger Bursche!“ Mit seiner Bemerkung heimste er in der Runde heftiges Kopfnicken ein. „Gefällt Ihnen diese Art von Musik? Spielt man so etwas in England auch?“

Virginia musterte die erwartungsfreudigen, kleinen Äuglein des Herrn Bezirkshauptmanns, der so gespannt war, ihre Meinung zu hören. Obgleich sie schon an seinem Gesichtsausdruck erkennen konnte, dass er nicht mit einer Kritik rechnete. Doch zu ihrer Erleichterung musste sie nicht mehr antworten. Es klingelte zur zweiten Hälfte.

Das Orchesterstück des zweiten Teils gefiel Virginia besser. Sie musste sogar zugeben, dass sie der Musik mit höchster Spannung folgte. Es war melodischer als das Eingangsstück, einige Stellen empfand sie sogar als schön. Die Orchestrierung wirkte manchmal beinahe kammermusikalisch, und der schaurig-schöne Klang übte auf Virginia einen starken Sog aus, dem sie sich tatsächlich nur schwer entziehen konnte. Das letzte Stück des Abends schien, kaum dass es begonnen hatte, schon wieder zu Ende zu sein, so kurzweilig war es. Ein gelungener Rausschmeißer, pfiffig und mit fulminantem Schluss, der am

Ende ein Raunen im Publikum auslöste. Erneut brach tosender Beifall aus. Dirigent und Musiker verbeugten sich unzählige Male, und schließlich wurde der Komponist auf die Bühne gebeten.

Obgleich der zweite Teil des Abends um einiges gelungener war als der erste, war Virginia froh, nun endlich nach Hause zu können. Sie war müde. Und angesichts der bevorstehenden ersten Gesangsstunde mit Tilla morgen früh wollte sie möglichst schnell ins Bett. Daher achtete sie auch nicht weiter darauf, was sich unten auf der Bühne abspielte. Als die Leute sich von ihren Stühlen erhoben, um dem Komponisten Beifall zu zollen, konnte sie nichts mehr erkennen. Während sie etwas lustlos applaudierte, erhob sie sich ebenfalls und sah unbeteiligt auf die Bühne.

Sie erstarrte.

Entgeistert blickte sie auf den Mann, der dort unten stand und sich routiniert verbeugte. Das konnte doch nicht wahr sein ... verwirrt starrte sie auf das Programmheft in ihren Händen mit dem fettgedruckten Titel „András Zolano - Die Welt in Nacht und Traum“ auf der Vorderseite und blickte wieder zurück auf die Bühne. Tatsächlich ... er war es! Sie hatte sich auf der Veranda mit András Zolano, dem Komponisten der heutigen Uraufführung, unterhalten, und es nicht gewusst. Soeben wurde ihm ein großer Blumenstrauß in leuchtenden Farben überreicht. Virginia wäre am liebsten in einem Erdloch versunken. Hastig verabschiedete sie sich von Tilla. Sie wollte nur noch fort.

„Willst du denn nicht mehr mit ins Sacher kommen? Ich habe Anna Sacher versprochen, dich heute mitzubringen. Sie ist so gespannt, dich endlich kennenzulernen.“

„Nein, ich bin müde, ich gehe lieber ins Bett“, antwortete Virginia fahrig.

„Na so was, die Jugend von heute hat keine Kondition mehr“, sagte Tilla lachend zu der Dame neben sich, aber da war Virginia schon aus dem Saal verschwunden.

Vor dem Kursalon rief sie nach einem Fiaker, doch alle vorbeifahrenden Kutschen waren bereits besetzt. Also entschloss sie sich, einige Schritte zu Fuß zu gehen, um einen kühleren Kopf zu bekommen. Dieser Mann, für den Manieren ein Fremdwort zu sein schienen, hatte ihr geschickt die Meinung über sein Stück entlockt, sein Stück! Und ihr verschwiegen, dass es aus seiner Feder stammte. Wenn sie das gewusst hätte, sie hätte ja nie ... oder doch?

Ich habe in meinem Leben schon viel Musik gehört, äffte sie sich selber nach. Und das sagte sie einem Komponisten! O wie sehr hatte sie sich blamiert! Sie schämte sich unendlich. Dabei konnte es ihr doch vollkommen egal sein, was András Zolano von ihr dachte.

Aber aus einem ihr unerfindlichen Grund war es das nicht, und das löste beinahe den größten Ärger in ihr aus.

5. Kapitel

Wien war eine laute Stadt.

In Tillas zentral gelegenem Wohnviertel hörte man durchdringendes Rufen von Händlern, Hundegebell und das Dauergeschnatter der Leute auf den Straßen. Immer wieder kamen große Pferdewagen vor den Eingangstüren der Häuser laut quietschend zum Stehen. Man lud Lebensmittel ab, rollte Bierfässer und Weinkisten herbei, brachte frische Blumen und versorgte die Leute mit Stoffen und Garderoben. Alle zwanzig Minuten rasselte eine laut bimmelnde Straßenbahn heran, während das Hupen der Automobile, Knattern der Dampfbahnen und Fluchen der Fiakerfahrer fast permanent zu vernehmen waren. An das Hufgeklapper der Fiaker war Virginia inzwischen gewöhnt.

Verschlafen rollte sie sich an diesem Morgen aus dem Bett und zog die schweren Vorhänge auf. Es war erst acht Uhr früh. Ihr blieb also noch Zeit für ein ausgiebiges Frühstück bis zu ihrer ersten Gesangsstunde. Im Speisezimmer servierte Lisa ein weichgekochtes Ei, eine köstliche Auswahl an Gebäck, Honig, Butter, Marmelade und eine Kanne duftenden Kaffee. Virginia hatte sich inzwischen sogar daran gewöhnt, Kaffee zu trinken. In Wien verstand man vom Teekochen nichts.

„Guten Morgen, gnädiges Fräulein. Haben Sie die Morgenzeitung schon gelesen?“ Alois stand in der Tür, machte eine kleine Verbeugung und legte ihr die Zeitung auf den Tisch. Wie immer war er akkurat gekleidet. Virginia hatte ihn noch nie in etwas anderem als seinem Frack gesehen. „In der Zeitung ist eine Kritik über das gestrige Konzert, das Sie mit Ihrer werten Frau Großmama besucht haben. Ich dachte, es interessiert Sie vielleicht.“

Virginia bedankte sich und las sofort die Kritik. András Zolano wurde über alle Maßen gelobt. Man bescheinigte ihm eine große internationale Karriere, berichtete stolz, dass er aus Wien stamme und seine Musik unverwechselbar und tief sei. Vor allem das erste Stück des gestrigen Abends fand lobende Erwähnung. Der Name, der unter der Kritik stand, überraschte Virginia wenig: Alfred Bonné. Sie faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite. Nachdenklich blickte sie aus dem Fenster in die helle Frühlingssonne.

Schließlich verließ sie das Esszimmer, wanderte durch die Wohnung und betrachtete zum wiederholten Male die vielen Fotos, die sich überall verteilt an Wänden und auf Regalen befanden. Die meisten zeigten Tilla in Opernrollen. Tillas richtiger Name war Dorothea Hill. Während der Glanzzeit skandinavischer Sängerdiven hatte sie sich kurzerhand in Tilla Bergström umbenannt. Sie war Koloratursopranistin und Virginia erkannte sie auf den Bildern als Königin der Nacht in Die Zauberflöte, als Lucia in Lucia di Lammermoor, als Konstanze in Die Entführung aus dem Serail und als Olympia in Hoffmanns Erzählungen. Virginia fand ihre Großmutter auf den meisten Bildern einfach umwerfend.

Neben all den Theaterfotos erregten auch andere Fotografien Virginias Aufmerksamkeit. Verschiedene ihr unbekannte Gesichter und immer wieder Bilder ihrer Mutter Alicia. Virginia entdeckte sie als Baby in Tillas Arm, als Neugeborenes im Taufkleidchen, als hübsch herausgeputztes Kleinkind mit Hütchen, als Mädchen, als heranwachsende Persönlichkeit, als junge Frau.

Warum hatte sie so früh sterben müssen?

„Sie war wunderschön, nicht wahr?“

Virginia hatte Tilla nicht kommen hören. Unwillkürlich zuckte sie zusammen. „O ja“, antwortete sie leise. „Die ganze Zeit hatte ich nur ein einziges Bild von meiner Mutter, und hier hängen so viele.“ Sie hoffte, Tilla würde ihr vielleicht etwas mehr über Alicia erzählen, doch sie schwieg. Da nahm Virginia all ihren Mut zusammen und sagte: „Es ist schwer für mich, so wenig über sie zu wissen. Ich meine, wirklich zu wissen, was für ein Mensch sie gewesen ist.“

„Ich habe dir doch schon oft von ihr erzählt.“ Tillas Worte klangen abschließend. So als sei das Thema damit für sie erledigt.

„Ich will nicht wissen, ob sie nett, lieb oder schön war! Ich möchte wissen, was sie dachte und fühlte, möchte die genauen Umstände ihres Todes kennen und warum sie überhaupt sterben musste.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. All ihre angestaute Enttäuschung darüber, dass sie seit ihrer Ankunft in Wien immer noch nicht viel mehr wusste als während ihrer ganzen Kinder- und Jugendzeit, platzte auf einmal aus ihr heraus.

„Was hältst du davon, wenn wir heute Nachmittag der Schönen Wienerin einen Besuch abstatten?“, fragte Tilla, das Thema wechselnd.

„Was ist die Schöne Wienerin?“ Virginias Antwort klang missgestimmter, als sie beabsichtigt hatte. Tilla bemühte sich offensichtlich, sie aufzuheitern.

„Eines der besten Bekleidungsgeschäfte in Wien. Du kannst dringend eine neue Garderobe gebrauchen, Liebes. Aber jetzt machen wir uns erstmal an die Arbeit!“

*

„Damit wir uns gleich richtig verstehen“, verkündete Tilla, als sie das Musikzimmer betraten, „ich werde nicht deine Gesangslehrerin. Dazu gehst du an die Akademie, genauer gesagt: das Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde. Es ist ein hervorragendes Haus mit langer Tradition und höchstem Ansehen. Antonio Salieri hat dort vor hundert Jahren die erste Gesangsklasse für Jungen und Mädchen gegründet. Sie haben vortreffliche Gesangslehrer und du erhältst eine umfassende musikalische Ausbildung. Das wichtigste ist die Wahl des richtigen Lehrers. Eine falsche Gesangstechnik ruiniert die Stimme!“ Tilla nahm am Flügel Platz. „Du musst wissen: Den durch und durch perfekten Gesangslehrer gibt es nicht, den müsste man sich backen. Aber als sensibler und musikalischer Schüler spürt man schnell, was einem gut tut und was nicht. Man muss lernen, sich das herauszugreifen, was einen voranbringt. Dies zu spüren, macht einen guten Schüler aus.“ Sie lächelte. „Es gibt nicht nur schlechte Lehrer, es gibt auch schlechte Schüler, weißt du?“

„Aber warum kannst du mich nicht trotzdem unterrichten?“

„Davon halte ich nichts. Zu viele Köche verderben den Brei! Selbstverständlich kannst du stets auf mich zukommen, wenn du etwas auf dem Herzen hast. Ich werde immer versuchen, dir zu helfen. Es gibt zwar Beispiele für erfolgreichen Unterricht zwischen Familienmitgliedern, aber es sagt sich leichter Du Idiotals Sie Idiot! Verstehst du?“ Damit war die Sache abgeschmettert. Virginia hielt dies jedoch nicht für den einzigen Grund, weshalb Tilla sie nicht unterrichten wollte, aber das behielt sie für sich.

„Also, was möchtest du singen, Virginia? Ich möchte mir noch einmal einen aktuellen Eindruck deiner Stimme machen.“

In diesem Augenblick erinnerte Virginia sich an ihre erste Begegnung mit Tilla vor einigen Wochen in England. Sie hatte immer gewusst, dass sie eine Großmutter in Wien hatte. Doch es hieß stets, Tilla sei zu krank und schwach, um zu reisen und wünsche auch keinen Besuch. Virginia hatte daher sehr gestaunt, als sie ihrer Großmutter vor acht Wochen im Haus ihres Onkels gegenüberstand. Ohne Virginias Wissen wurde Tilla von ihrem Bruder nach Bristol eingeladen. Anlass war das jährliche Festkonzert in der Bristol Cathedral, bei welchem Virginia die Soloarie sang. Ihre Freunde hatten sie überredet an dem Vorsingen hierfür teilzunehmen. Inzwischen volljährig kümmerte sie ohnehin nicht mehr, ob ihre Tante damit einverstanden war oder nicht. Nach dem Konzert, das für Virginia ein großer Erfolg war, fand sie sich einer äußerst zarten, älteren Dame gegenüber, die jedoch alles andere als krank und schwach schien. Im Gegenteil! Sie unterzog Virginia einer ausgiebigen Betrachtung und erklärte: „Die angesehenste Musikakademie der Welt befindet sich in Wien. Ich wohne dort seit über fünfzig Jahren, und ich werde dich dorthin mitnehmen. Du wirst die Aufnahmeprüfung am Wiener Konservatorium versuchen. Ich werde dich höchstpersönlich darauf vorbereiten.“

Virginia war vor Erstaunen aus allen Wolken gefallen. Singen dürfen! Dem traurigen Zuhause ihrer elegischen und krankhaft abergläubischen Tante entfliehen! Alle außer Winifred hatten sich für sie gefreut. Doch obwohl Onkel Johannes dies alles für seine Nichte selbst so eingefädelt hatte, schien er besorgt um sie. „Wien ist nicht Bristol“, hatte er gesagt, „aber du bist ein starkes Mädchen. Vergiss das nicht, hörst du? Versprich es mir. Ich kann von nun an nicht mehr auf dich aufpassen. Doch ich sehe, ich kann dich hier nicht länger festhalten. Mit deinem Talent gehörst du in Tillas Obhut. Aber in Wien wirst du womöglich Dinge erfahren, die deine Seele altern lassen“, klangen seine Worte noch immer in ihr nach. „Du hast so schön gesungen, wirklich, Virginia, deine Stimme, sie erinnerte mich so an ... ich dachte ich höre ...“ In diesem Moment hatte Tilla ihren Bruder energisch unterbrochen, und er war sofort verstummt. „Hörst wen?“, hatte Virginia wissen wollen, aber Onkel Johannes hatte abgewunken und war trotz ihrer Bitten nicht wieder darauf zurückgekommen.

Nun stand sie hier in Wien in Tillas Wohnung. Was, wenn Tilla ihren Gesang nun doch nicht mochte? Wenn sie sich damals in Chew Stoke in ihr getäuscht hatte? Virginia wusste, sie würde eine solch niederschmetternde Absage nicht so einfach wegstecken können wie ihre Freundin Georgine seinerzeit. Sie wollte unbedingt singen! „Die Lotosblume von Schumann“, antwortete sie schließlich. Dieses Lied war auch ihr Vorsingstück für das Festkonzert in der Bristol Cathedral gewesen und überhaupt eines der wenigen Stücke, die sie beherrschte.

„Gut. Fangen wir an.“

Tilla begann, den kurzen Takt der Einleitung auf dem Flügel zu spielen. Dabei legte sie ein so geschwindes Tempo vor, dass Virginia kaum mitkam und eine gewisse Kurzatmigkeit spürte. Glücklicherweise waren die einzelnen Passagen nicht lang, sie konnte oft genug atmen. Doch das Lied war viel zu schnell beendet, und besonders zufrieden war Virginia mit ihrer Leistung nicht. Sie hatte das Gefühl, nicht wirklich gezeigt zu haben, was sie konnte.

Aber als sie ihre Großmutter ansah, erschrak sie. Tillas Blick hatte etwas Verhangenes. Ihre sonst so lebhafte Miene schien wie versteinert. „Großmama, fühlst du dich nicht wohl?“

Einige Sekunden starrten sich Großmutter und Enkelin wortlos an. Dann ging ein Ruck durch Tillas Körper, und sie lächelte plötzlich, als sei nichts gewesen. Ohne auf Virginias Frage einzugehen, begann sie bestimmt: „Also gut, kommen wir gleich zur Sache, schließlich haben wir bis zu deiner Prüfung keine Zeit zu verlieren. Bekanntlich soll man zuerst loben.“ Der Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. „Dein Material ist wunderbar ... jedenfalls das, was ich so durch die Zeilen erahnen kann. Aber dir fehlt es an Technik, Kind. Vor allem an der so immens wichtigen Atemtechnik.“ Sie bedeutete Virginia geradezustehen. „Außerdem tremolierst du zu stark. Wahrscheinlich möchtest du künstlich einen bestimmten Klang erzeugen, der nicht dein eigener ist. Das werden wir herausfinden.“

Hatte Virginia überhaupt irgendetwas richtig gemacht? Ihr Material ließ sich erahnen ... das klang nicht sonderlich aufbauend. Als hätte Tilla ihre Gedanken erraten, klopfte sie ihr ermutigend auf die Schulter. „Keine Sorge, Liebes, das bekommen wir schon hin! Immerhin verfügst du über einen beinahe richtigen Stimmsitz, das ist schon mal ausgezeichnet!“

Wenigstens etwas, dachte Virginia, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wovon ihre Großmutter da überhaupt sprach.

„Glücklicherweise hast du bisher keinen Gesangsunterricht gehabt. So bist du zumindest noch nicht mit einer falschen Technik verdorben. Eine falsche Technik ist das Schlimmste, weil sie nur schwer zu korrigieren ist. Du, meine liebe Virginia, hast überhaupt keine!“

„Das ist alles?“, hauchte Virginia, „Ich habe nichts, außer einem richtigen Stimmsatz ...?“

„Sitz.“

„Wie?“

„Stimmsitz!“

„Also, außer einem richtigen Stimmsitz ist dir gar nichts Positives aufgefallen?“

„Komplimente bringen dich jetzt nicht weiter. Immerhin, wie ich bereits sagte, du hast ein wundervolles Material, und das ist doch schließlich das Entscheidende. Würde das nämlich fehlen, könnten wir uns die ganze Mühe sparen.“

Die Gesangsstunde verlief so, dass Virginia die meiste Zeit liegend auf dem Boden verbrachte, um zuerst ihren Körper, dann ihren Atem, anschließend ihren Atem im Körper und zum Schluss ihren Körper, wenn sie atmete, zu spüren. Nach einer knappen Stunde erklärte Tilla die Gesangsstunde für beendet.

„Aber ich habe ja noch keinen einzigen Ton gesungen!“

„Natürlich nicht! Mit solch einer Schnappatmung empfiehlt es sich auch nicht zu singen. Wir müssen deine Stimme von Grund auf aufbauen, und das fängt nun einmal mit dem richtigen Atem an. Du musst lernen zu spüren, wo der Atem hin soll, und wie sich Beckenboden, Rücken und Bauch dehnen, um der Luft Platz zu machen und sie so lange wie möglich dort zu speichern. Der Atem ist das Geheimnis des Singens“, fuhr Tilla mit ihrer prägnanten Stimme fort. „Er muss wie eine Säule stehen, damit der Ton auf ihm zum Klingen kommen kann. Singen findet nicht in der Kehle statt, Kind. Du benötigst deinen ganzen Körper dafür. Ein Sänger, der nicht weiß, seinen Atem zu beherrschen, drückt auf die Kehle, und es dauert nicht lange, bis er heiser wird.“

Beherzt griff sie nach Virginias Händen und legte sie sich auf Bauch und Rücken. „Sieh mal hier ...“, sie holte tief Luft. „Merkst du, wo der Atem hin soll?“ Sie wiederholte den Vorgang noch zwei Mal, und tatsächlich, Virginia staunte, wie weit sich der Oberkörper ihrer sonst so zarten Großmutter in alle Richtungen, bis tief in den Rücken hinein zu dehnen vermochte.

Virginia hatte sich ihre erste Gesangsstunde anders vorgestellt. Doch Tilla ergriff energisch Virginias Kinn, hob es in die Höhe und sagte lächelnd und als könne sie kein Wässerchen trüben: „Don’t worry ... we’ll get there!“

6. Kapitel

„Es sind Blumen für Sie gekommen, gnädiges Fräulein!“, verkündete Alois, als Tilla und Virginia von der Schönen Wienerin heimkehrten. „Blumen? Für mich?“

„Und jede Menge Post. Ich habe Sie auf ihren Schreibtisch gelegt. Lisa wird die Blumen auf Ihr Zimmer bringen.“

Virginia zog rasch Hut und Mantel aus und lief zu ihrem Schreibtisch. Welche Freude, ein Brief von Mary! Etwas aus der Heimat zu hören, tat ihr gut. Auch Onkel Johannes hatte geschrieben. Er berichtete von seiner letzten großen Reise nach Cayman Islands. Zum Schluss bat er sie, in ihren nächsten Briefen doch bitte Winifred in ihre Grüße einzubeziehen, sie fühle sich sonst gekränkt. Kopfschüttelnd legte Virginia den Brief zur Seite, als Lisa eine Vase mit einem herrlichen Blumenstrauß auf den Schreibtisch stellte. „Na, möcht’ wissen, wer der Verehrer ist, gnädiges Fräulein.“ Sie zwinkerte und verließ das Zimmer. Virginia überlegte, sie hatte keinen Verehrer, es gab niemanden hier, der sich für sie interessierte. Auf einmal hielt sie inne. So absurd es schien, der Strauß kam ihr irgendwie bekannt vor. Plötzlich war sie sich sicher, wo sie eben diesen Strauß schon einmal gesehen hatte! Langsam erhob sie sich. Das konnte doch nicht ... ihr Herz pochte. Und da sah sie den Umschlag zwischen den Blumen. Es waren nur vier Zeilen, die auf dem Kärtchen geschrieben standen:

Für Musik von solch „minderwertiger Qualität“

habe ich diese Blumen nicht verdient.

Mögen sie Ihnen Freude bereiten,

kleine Engländerin!

A.Z.

Virginia starrte auf das Papier in ihrer Hand, das Blut stieg ihr in die Wangen. Zweifellos machte sich dieser Zolano über ihre Kritik lustig und schickte als Zeichen seiner Ironie diese Blumen. Ärger ergriff sie - vor allem über sich selbst! Oft hatte sie sich ertappt, an András Zolano zu denken. Und immer noch schämte sie sich für ihre mangelnde Souveränität. In ihren Gedanken hatte sie das Gespräch mit ihm noch etliche Male geführt, und war immer souverän und sachlich gewesen. Nachdenklich sank sie aufs Bett. Woher wusste er eigentlich, wer sie war und wo sie wohnte? Sie hatte sich ihm doch gar nicht vorgestellt ...