Hört auf zu arbeiten! - Anja Förster - E-Book

Hört auf zu arbeiten! E-Book

Anja Förster

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  • Herausgeber: Pantheon
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Ich arbeite, also bin ich? - Ein Plädoyer für einen neuen Umgang mit unserer Arbeit.

Hegel sah die berufliche Tätigkeit des Menschen als wesentlichen Aspekt seiner Identität und Freiheit, während Adam Smith den Beruf als einen modernen Tauschhandel sah: Der Mensch verkauft seine Arbeitskraft an das beste Angebot. Dieser Arbeitsbegriff prägt unser Verhältnis zur Arbeit bis heute, und deswegen glauben wir im tiefsten Inneren noch immer an das Versprechen der Fabrik: Wenn ich funktioniere, effizienter und erfolgreicher werde, dann werde ich durch Sicherheit belohnt. Aber kein Arbeitsplatz ist heute mehr sicher. Und was uns darüber zudem verloren ging, ist die Überzeugung, das Richtige zu tun – die Liebe zu unserer Arbeit.

»Hört auf zu arbeiten!« fordern Anja Förster und Peter Kreuz und meinen damit nicht, dass wir uns alle ab sofort in die Hängematte legen sollen, sondern dass wir uns unsere Arbeit zurückerobern als Teil unserer Identität. Erst wenn wir wieder lieben, was wir tun, und aus Überzeugung arbeiten, erst wenn wir nicht mehr auf Kosten anderer Erfolg haben, werden wir das tun, was wirklich zählt.

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Seitenzahl: 304

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ANJA FÖRSTERPETER KREUZ

Hört auf zu arbeiten!

Eine Anstiftung,

das zu tun,

was wirklich zählt

Pantheon

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der VerlagsgruppeRandom House GmbH

Erste AuflageMärz 2013

Copyright © 2013 by Pantheon Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Jorge Schmidt, MünchenSatz: Ditta Ahmadi, BerlinISBN 978-3-641-08742-5V002

www.pantheon-verlag.de

Inhalt

Als Frank Gehry aufhörte zu arbeiten

TEIL I ENDE

Kapitel 1

Das leere Versprechen der Fabrik

Ausnahmeerscheinungsweise

Räder rollen routiniert

Manches Leid folgt der Sparsamkeit

Haben Sie etwas anderes erwartet?

Das Versprechen

Der geplatzte Deal

Das alles und noch viel mehr

Kapitel 2

Leerpläne

Hochgradig kreativ

Zurück in die Zukunft

Höre auf deine Ohren!

Probleme über Probleme

Die wahren Schulfächer

Auf der Verliererstraße

Kapitel 3

Betriebswirtschaftsleere

Manageable

Sieben Grundsätze für den Erfolg von gestern

Das Ende der Kreidezeit

Bruchstelle

Neustart

Kapitel 4

Leere Fragen

Eine Frage der Sichtweise

Frage Nummer eins: Kannst du es messen?

Frage Nummer zwei: Was kostet es?

Frage Nummer drei: Wie lange dauert es?

Frage Nummer vier: Wie lautet die Best Practice?

Frage Nummer fünf: Was erwarten sie von mir?

Kein Happy End

TEIL II SUCHE

Kapitel 5

Kapitulieren?

An der Grenze der Wohlfühlzone

Kapitel 6

Gute Arbeit ist schlechte Arbeit

Steine wälzen

Wer es geschafft hat ...

Drei Pfade

Leben als Ersatzteil

Wie baut man die Zukunft?

Dann doch lieber Alpakas

Kapitel 7

Mach dein Ding!

Die kalte Dusche

Was fehlt?

Was jetzt?

Kapitel 8

Hört auf zu arbeiten!

Unterm Strich

Ich bin raus!

Game over

TEIL III ANFANG

Kapitel 9

In Resonanz

Radically thrilling

Doppelt gebraucht

Flowing

Wer macht den Stau?

Opferlämmerblick

Umständehalber Einstellungssache

Kapitel 10

Innenleben

Extremisten

Wann ist es genug?

Eine Frage von Leben und Tod

Reset

Kapitel 11

Neue Fragen

»Ja oder Nein?« – ODER: »Was wird von mir erwartet?«

»Wichtig genug?« – ODER: »Wie lange dauert es?«

»Voranschreiten ins Unbekannte?« – ODER: »Wie lautet die Best Practice?«

»Was zu tun ist« – ODER: »Wie können wir es messen?«

»Die Kalkulation des Unmessbaren« – ODER: »Was kostet es?«

Freigefragt

Kapitel 12

Die Freiheit, Großartiges zu tun

Vom Zynismus zum Idealismus

Vom Tauschhandel zum echten Engagement

Vom Konsumenten zum Bürger

Endlich frei

Is that you?

Anhang

Als Frank Gehry aufhörte zu arbeiten

Manche wissen einfach nicht, was sie gut finden, und nennen das Offenheit. Frank Gehry hatte schon immer ein untrügliches Gespür dafür, was er gut findet. Sein ausgeprägter Sinn für Ästhetik und Stimmigkeit, seine Entschiedenheit und seine klare Meinung machten ihn in den 1960er Jahren als Architekt erfolgreich. Außerdem ist er in seiner etwas kauzigen, aber immer freundlichen Art sehr sympathisch. Jedem, der mit diesem Kanadier in seiner kalifornischen Wahlheimat zusammenarbeitete, war schnell klar: Gehry Partners in Los Angeles, das ist einer der besten Architekten in der Gegend, einer, der wirklich gute Arbeit abliefert.

Er baute, was man eben so baute: Bürohäuser, Einkaufszentren und so weiter. Die Auftragslage war gut. Über knapp zwanzig Jahre hinweg baute Gehry seine Firma immer weiter aus, Ende der 1970er Jahre hatte er bereits einige Dutzend Angestellte und war gut im Geschäft.

Seine zweite Frau Berta Isabel schenkte ihm einen Sohn, und da entstand der Wunsch nach einem größeren Haus für die Familie. Gehry fand ein Haus in Santa Monica aus den 1920er Jahren, das ihm und seiner Frau sehr gefiel. Sofort hatte er einige ziemlich eigenwillige Ideen, was er aus diesem Haus machen könnte. Das war nur so eine kreative Spinnerei, nicht wirklich ernst gemeint, aber seine Frau ermutigte ihn dazu, seine Ideen in die Tat umzusetzen. Ihr war klar: In ihrem Mann steckte so viel mehr als nur ein guter Architekt und Geschäftsmann. Sie sah in ihm einen Künstler, und sie wusste, dass auch diese Seite in ihm ein Ventil brauchte, damit er glücklich sein konnte.

Sein Haus wurde zu seiner Spielwiese. Er gestaltete es um und erweiterte es, allerdings auf eine Weise, die alles außer gewöhnlich ist. Aus dem schlichten Haus machte er ein ästhetisches Feuerwerk, er weckte die verborgene Vitalität der Wände und Fenster, der Ecken und Kanten, der Winkel und Flächen. Er spielte mit dem Licht, setzte schiefe Kuben an die Wände, durchbrach Mauern, zog neue. Nach und nach entwickelte er eine Art neuer Außenhaut für das Haus. Wenn man heute daran vorbeigeht, ist man überrascht und denkt: Oh, was ist das? Eine Skulptur? Auf den zweiten Blick erkennt man dann: Oh, da ist ja noch ein Haus drinnen!

Das Haus wurde zu einem verrückten Kunstwerk – aber innen ein überraschend wohnlicher, gemütlicher, sympathischer Ort, der intensiv bewohnt wird – beileibe kein Ausstellungsstück. Bei aller Avantgarde ist das Haus immer funktionell geblieben, ja, immer funktioneller geworden, mit wunderschönen, behaglichen Räumen und großen Fenstern, die die Sonnenstrahlen hereinlassen.

Es ist keine klassische Schönheit, kein Haus, das um Aufmerksamkeit buhlt. Kein Haus, das zeigen will: Schaut her, hier wohnt ein guter Architekt! Es will entdeckt, verstanden, erobert werden. Die eigentliche Schönheit ist innen. Gehry ist davon überzeugt, dass sich niemals die Menschen einer Form anpassen müssen, sondern immer umgekehrt. Ihm ging es beim Umbau seines Hauses nicht darum, etwas »schön zu machen« oder zu optimieren. Er sagt: »In diesem Haus leben Geister. Geister des Kubismus.« – Er wollte das Haus so umgestalten, dass diese Geister dort auch weiterhin wohnen können. Er wollte, dass die Fenster aussahen, als würden die Geister daran emporkriechen.

»Weil die Fenster schräg sind«, erzählt Gehry begeistert, »wird das Licht nach innen reflektiert. Wenn man am Tisch sitzt, sieht man die vorbeifahrenden Autos. Der Mond ist an der falschen Stelle. Er steht da, spiegelt sich aber da. Man sieht ihn da oben, denkt aber, er sei dort.«

Eines Morgens ging er ins Bad, um sich zu rasieren. Aber ihm gefiel das Licht nicht. Es kam aus der falschen Richtung und war zu dunkel. Er sah sich im Bad um, holte einen Hammer und eine Leiter und ... schlug ein Loch in die Decke. Bis die Sonne durchschien. Dann rasierte er sich fertig.

Ganz schön durchgeknallt.

*

Da hatte der erfolgreiche Architekt nun also mit seinem Wohnhaus sein ganz privates Spielzeug, an dem er herumbasteln konnte. Währenddessen florierte das Business. Gerade waren alleine 45 seiner Angestellten in Projekten eines einzelnen Bauherren, der Rouse Company, involviert. Eines dieser Großprojekte war der Bau des Santa Monica Place, eines Shopping Centers in Los Angeles, das fix und fertig geplant auf seine Errichtung wartete.

Den Chef von Rouse lud er anlässlich des Baustarts zu sich nach Hause zum Essen ein. Der Mann war verblüfft, als er eintrat. Er schaute sich um und staunte: »Frank, was zum Teufel ist das denn?«

Gehry war es ein wenig peinlich: »Na ja, ich habe halt ein wenig rumprobiert ...«

Er sagte: »Hmm. Sie haben rumprobiert. Und? Gefällt es Ihnen? Es muss Ihnen ja gefallen, oder?«

Gehry war ja durchaus stolz auf sein Werk. Er sagte: »Ja.«

Der Chef von Rouse schaute ihm in die Augen: »Aber Frank! Dann kann Ihnen das hier unmöglich gefallen!«

Er deutete mit der Hand in Richtung Santa Monica Place, wo das Einkaufszentrum unweit des Gehry-Hauses errichtet werden sollte.

Gehry nickte: »Stimmt. Es gefällt mir nicht.«

»Warum haben Sie es dann entworfen?«

»Weil ich Geld verdienen muss.«

Der erfahrene Geschäftsmann schwieg. Dann schüttelte er den Kopf. »Frank ...« Er schaute sich noch einmal in dem verrückten Haus um. »Frank, hören Sie auf damit. Sie sollten wirklich damit aufhören.«

Gehry schaute zu Boden. Er verstand den Mann. Der meinte nicht etwa, dass er mit dem Rumbasteln an seinem Haus aufhören sollte, sondern dass er aufhören sollte, solche Zweckbauten wie das Einkaufszentrum zu entwerfen.

»Sie haben recht«, sagte er leise.

An diesem Abend gaben sich die beiden Geschäftspartner die Hand – und sagten alles ab. Den Architekten Gehry Partners gab es nicht mehr. Er hörte auf zu arbeiten. Seine Angestellten entließ er größtenteils. Es war vorbei.

*

Entschiedenheit ist die wichtigste Voraussetzung, um Großes zu schaffen. Ohne diese radikale Entscheidung in diesem magischen Moment an diesem Abend in seinem Wohnhaus in Santa Monica würde einer der genialsten Architekten der Welt noch immer Einkaufszentren entwerfen. Dann hätte es einige der schönsten, spannendsten und verblüffendsten Gebäude, die wir kennen, niemals gegeben. Denn nachdem Frank Gehry aufgehört hatte zu arbeiten, begann er, bedeutende Werke zu schaffen.

Es gibt manche Sachen, die einem den Atem stocken lassen, wenn man sie nur sieht. So war es bei uns, als wir in Bilbao zum ersten Mal das Guggenheim-Museum gesehen haben. Wir erstarrten. Es ist einfach nur ... wow ... ganz unbeschreiblich. Ein echter Gänsehautmoment. Der Anblick dieses Gebäudes traf uns mitten ins Herz. Dass man so etwas überhaupt von einem Gebäude sagen kann, ist erstaunlich, denn es ist ja eigentlich tote Materie, die da zusammengeschraubt, zusammengemauert, zusammengeschweißt wurde. Aber wir können es nicht anders sagen: Es ging uns zu Herzen. Diese Formen, dieses Lichtspiel, diese Spannung, diese Emotionalität ... Aus jeder Perspektive entdeckt man Neues. Das Gebäude bewegte uns tief. Wir waren sprachlos.

Ab diesem Moment war Frank Gehry für uns ein ganz besonderer Mensch, auch wenn wir ihn noch nicht persönlich kennengelernt haben. Der Mann begeistert uns. Wir verfolgen voller Bewunderung sein Schaffen und freuen uns über jedes Gebäude, das er gestaltet hat oder neu gestaltet.

Unsere Begeisterung für ihn entspringt aber nicht nur der Ästhetik, sondern wir erkennen in seinem Lebensweg auch Aspekte von uns selbst. Es liegt uns fern, uns mit ihm vergleichen zu wollen, aber so wie er haben auch wir beide zunächst Dinge in unserem Leben getan, die in erster Linie viel Geld gebracht haben. Er baute Einkaufszentren und dergleichen, wir machten Beratung. Das war okay, wir waren sogar gut, so wie Gehry in seinem Metier auch gut war. Aber es war nicht genial. Es machte uns nicht stolz. Es war Arbeit, aber es war kein Werk.

Uns inspirierte auch sehr, was nach seinem Magical Moment an diesem denkwürdigen Abend kam. Gehry war mit seinen verrückten Entwürfen ja keineswegs sofort erfolgreich. Zuerst hatte er eine Durststrecke. Eigentlich war das Vitra Design Museum in Weil am Rhein Ende der 1980er Jahre sein erster großer Auftrag, davor lagen zehn harte Jahre, in denen sich kaum ein Bauherr so recht traute, Gehrys Entwürfe auch nur mit der Kneifzange anzufassen. Aber er ließ sich nicht beirren und hielt durch. Auch diesen Aspekt kennen wir gut ...

Und dann vereint er in sich auf faszinierende Weise zwei Komponenten, die auch uns bewegen: Zum einen ist er ein Künstler, der bedeutende Werke schafft, die die Menschen berühren. Zum anderen ist er aber Chef eines Unternehmens, ein Kaufmann, der rechnet, kalkuliert und knallhart in der Sache ist: Was kostet es, wie lange dauert es, was bringt es uns. Er kann Projekte managen, er kann Termine einhalten, er kann Gewinne erzielen – er ist ein Vollprofi. Diese Kombination hat es uns angetan. Ganz offensichtlich ist er kein verkanntes Genie wie Vincent van Gogh, sondern ein erfolgreicher Künstler-Unternehmer, wie etwa Goethe oder Picasso.

Beides auf einmal zu können, die Welt der Wirtschaft mit der Welt der großen Werke zu integrieren, das fasziniert uns. Und das macht uns Mut, über unseren kleinen Tellerrand hinauszudenken und mehr zu wollen, als nur einen guten Job zu machen.

Und genau das ist es, was wir mit diesem Buch bei Ihnen bewirken wollen. Wir wollen nichts weniger, als dass Sie aufhören. Hören Sie auf zu arbeiten! Und fangen Sie endlich an, das zu tun, was Ihnen viel mehr entspricht, nämlich das, was Sie tun würden, wenn Sie die Haltung eines Künstlers einnehmen würden!

Was wir aber nicht wollen: Wir geben Ihnen mit diesem Buch keine Ratschläge, wie Sie sich selbst oder Ihr Leben verändern sollten. Wir sind nicht Ihre Ratgeber. Was wir mit diesem Buch wollen, hat ein anderer sehr treffend ausgedrückt: Der erstaunliche Psychoanalytiker Milton Wexler, der Frank Gehry über Jahrzehnte begleitete, wurde einmal von dem Filmregisseur Sydney Pollack interviewt. Der Anlass dieses Gesprächs war die großartige Dokumentation »Sketches of Frank Gehry«, die Pollack über den Stararchitekten drehte. Wexler war zum Zeitpunkt dieses Interviews 98 Jahre alt.

Eine verblüffende Ausstrahlung hatte dieser weise Mann: faszinierend klar, frisch und immer mit einem Lächeln im Gesicht, aber gleichzeitig verbal messerscharf auf den Punkt.

Ganz am Ende der Dokumentation sagt er:

»Viele Leute kommen zu mir als Therapeut, in der Hoffnung, sich selbst verändern zu können, ihre Ängste zu bewältigen, ihre Eheprobleme oder was auch immer. Sie möchten von mir wissen, wie sie ihr Leben besser in den Griff bekommen können.

Wenn aber ein Künstler zu mir kommt, will er wissen, wie er die Welt verändern kann.«

TEIL I ENDE

Kapitel 1

Das leere Versprechen der Fabrik

Als Kevin Skinner mit der Gitarre in der Hand auf die Bühne schlurft, um in der Castingshow »America’s Got Talent« vorzusingen, geht ein Kichern durchs Publikum. Grob gewebter Kapuzenpulli in dumpfen Blau-Grau-Tönen. Verwaschene Jeans. Beigefarbene Baseball-Kappe mit dem Schild nach hinten. Unter dem Verschlussriemen an seiner Stirn schauen gerade noch ein paar mausbraune Haarspitzen heraus. Sein Gang erinnert an einen Jugendlichen, der an einer Tankstelle herumhängt und gerade darüber nachdenkt, den Truckfahrer um eine Zigarette anzuschnorren.

Piers Morgan, einer der Juroren, schüttelt den Kopf. Die beiden anderen, Sharon Osbourne und David Hasselhoff, wechseln einen vielsagenden Blick: Was für eine Null ... Was bekommen wir jetzt gleich wohl zu hören ... Schließlich rafft sich Hasselhoff doch zu ein bisschen Smalltalk auf.

»Singst du professionell, oder was machst du so beruflich?«

»Ich war ein paar Jahre lang Hühnerfänger«, antwortet Kevin im breitesten Südstaaten-Slang.

Das Publikum wiehert. Osbourne macht sich lauthals über seinen Akzent lustig.

Kevin reibt sich verlegen das Kinn, aber er bleibt auf der Bühne stehen. So wie er aussieht, müssten sich seine Knie im Moment wie Pudding anfühlen.

In der Fernsehsendung wird im unteren Bilddrittel eingeblendet: »Kevin Skinner, arbeitsloser Bauer«.

»Und wie viele Hühner hast du so pro Tag gefangen?«, fragt Hasselhoff.

»Na ja, ich bin nicht so gut in Mathe.« – Gelächter im Publikum. – »Aber wir haben mal zu sechst in einer Nacht sechzigtausend Hühner eingefangen.« – Lautes Gelächter. – »Einer hat immer acht auf einmal gefangen.« – Grölendes Gelächter.

Morgan beschließt mit einem sichtbaren Ruck, die Farce möglichst schnell hinter sich zu bringen: »Gut, dann zeig uns mal, was du uns heute mitgebracht hast.«

Kevin Skinner schlägt die ersten Töne auf seiner Gitarre an. Im Publikum wird weiter getuschelt und gelacht. Er fängt an zu singen.

»The thought crosses my mind ...«

Wow.

Gar nicht schlecht. Im Saal wird es schlagartig still.

»If I never wake up in the morning ...«

Das Grinsen verschwindet von den Gesichtern der Jurymitglieder.

»Would she ever doubt the way I feel about her in my heart ...«

Fasziniert starren die Menschen im Publikum den Sänger an. Manchen bleibt der Mund offen stehen. Kevins Stimme ist warm und weich, wunderbar klangvoll. Sie umspült die Zuhörer wie eine Thermalquelle. Das hätte keiner erwartet. Aber das allein ist es nicht. Kevin singt die gefühlvollen Zeilen, die der Songwriter Kent Blazy ursprünglich dem Country-Superstar Garth Brooks auf den Leib geschrieben hatte, aus seinem tiefsten Inneren heraus.

»Wenn ich morgen nicht mehr aufwache, wird sie dann wissen, wie sehr ich sie geliebt habe?«

Im Publikum wird weiter getuschelt und gelacht. Er fängt an zu singen.

Der Text könnte kitschig klingen. Aber Kevin singt ihn so, dass klar ist: Er meint jedes Wort. Er fühlt das, was er singt. Er verwandelt den Song in pure, echte, durchlebte Emotion.

»Wow«, sagt Hasselhoff leise.

Das Publikum hängt an Kevins Lippen. Einige haben Tränen in den Augen. Kevin scheint das zu spüren. Je länger er singt, desto mehr leuchtet er auf. Jeder im Saal hat das Gefühl, dass Kevin ihn persönlich meint, als er die letzten Zeilen singt:

»So tell that someone that you love ... just what you’re thinking of ... if tomorrow never comes.«

Der letzte Akkord geht im Jubel unter. Die Menschen im Saal springen auf, tosender Applaus ergießt sich auf den Hühnerfänger mit der goldenen Stimme, der gar nicht weiß, wie ihm geschieht. Schüchtern nickt er dem Publikum zu und versucht, sein schiefes Grinsen zu kontrollieren.

Auch die Jury ist völlig aus dem Häuschen. Piers Morgan applaudiert wie paralysiert. Sharon Osbourne strahlt wie ein Honigkuchenpferd.

David Hasselhoff springt auf, wirft beinahe seinen Stuhl um und klatscht über dem Kopf.

Kevin lacht befreit. Er ist überwältigt von der Reaktion, die er ausgelöst hat. Seine Augen funkeln. Die Augen des Publikums funkeln. Die Augen der Jury-Mitglieder funkeln, als sie seinen Auftritt kommentieren.

»Als du hereingekommen bist mit diesen Klamotten, dachte ich, das wird ein totaler Flop«, gibt Morgan zu. »Und dann fängst du an zu singen, und innerhalb von zwanzig Sekunden hast du mich gehabt. Mann, das war eine der emotionalsten und stärksten Darbietungen, die ich seit Langem erlebt habe.«

Jubel im Publikum.

»Danke. Danke. Das bedeutet mir viel«, antwortet Kevin mit belegter Stimme.

»Du kannst diesen Wettbewerb gewinnen«, versichert ihm Morgan. »Für mich bist du in der nächsten Runde. Ich stimme mit Ja.«

»Ja«, sagt Sharon Osbourne.

»Dreimal Ja! Gratuliere!«, sagt David Hasselhoff.

Als Kevin Skinner hinter der Bühne zu verarbeiten versucht, was gerade passiert ist, springen ihm die Tränen nur so aus dem Gesicht. »Ich denke an all die Jahre des Übens, weißt du ...«

Seine Stimme versagt. Er strahlt. Seine Augen leuchten wie die Venus am Abendhimmel.

Einmalig. Wunderschön.

Ausnahmeerscheinungsweise

Dieses Funkeln in den Augen. Das hat es uns angetan. Dieses Funkeln haben Menschen immer dann, wenn sie etwas tun, was sie selbst und die Menschen in ihrer Umgebung in Schwingungszustände versetzt, wenn sie ganz in ihrem Element sind, wenn sie ihr größtes Talent zur Wirkung bringen, wenn die Hemmungen und Blockaden von ihnen abfallen, wenn sie zu hundert Prozent im Hier und Jetzt sind, voll fokussiert auf die eine Sache, die sie lieben. Das sind magische Momente.

Warum sind solche Momente so selten, fragen wir uns. Sind das Zufallstreffer? Einer in einer Million Momenten? Nur etwas für Auserwählte? Nein, es gibt Menschen, die haben dieses Funkeln ständig. Der Architekt Frank Gehry ist so einer. In »Sketches of Frank Gehry«, der fantastischen Dokumentation von Sydney Pollack, kann man es beobachten. Bei jeder Skizze, beim Basteln an jedem Modell, immer wenn er auf den Baustellen seiner Gebäude den Fortschritt begutachtet, ist er mittendrin in seinem Leben, zu hundert Prozent bei der Sache, hoch konzentriert – irgendwie völlig von seiner Arbeit absorbiert. Wir finden das enorm inspirierend. Es wäre fantastisch, wenn das auch für jeden von uns möglich wäre, aber, na ja, das geht eben nicht. Man muss schon eine berühmte Ausnahmeerscheinung sein, um dieses Gefühl bei der täglichen Arbeit zu haben: der richtige Mensch zur richtigen Zeit am richtigen Platz zu sein, der genau das Richtige tut. – Oder?

Bei echt mieser Arbeit, bei hartem körperlichem Geschufte, bei stumpfsinniger Fließbandmaloche, bei Aktenbergengewühle und Kistengeschiebe, bei Mülltonnengewuchte, Tastaturgetippe oder Toilettengescheuere gibt es das natürlich nicht. Aber auch bei den Leuten, die einen interessanteren Job haben, gehört das Funkeln in den Augen nicht zum Arbeitsalltag. Es gehört überhaupt nicht zur Arbeitswelt. Arbeit ist eben Arbeit. Finden wir uns damit ab. – Einverstanden?

Dieses Funkeln in den Augen. Das hat es uns angetan.

Es kann ja auch nicht funktionieren. Wenn jeder sich selbst verwirklichen würde ... du lieber Himmel! Nein, wir brauchen ja die Leute, die den Müll abholen, das Standard-Betriebssystem auf sämtlichen Firmenrechnern installieren und Kisten auf Lkws verladen. Es kann sich doch nicht einfach jeder raussuchen, was er tut und lässt! Unsere Welt ist halt nicht so organisiert, dass wir immer mit einem Funkeln in den Augen arbeiten könnten. – Hm. Wirklich?

Dabei ist jeder von uns fähig dazu, solche besonderen Momente zu erleben. Manchmal, viel zu oft, ist es aber so, dass die Augen der Menschen zu leuchten beginnen, sobald es fünf Uhr abends ist. Feierabend. Jetzt beginnt das wahre Leben! Jetzt haben sie was vor. Am Wochenende und nach Feierabend blühen die Menschen auf! Für die meisten gilt: Die Freude, die Energie, das Interesse an anderen Menschen, an Gebäuden, Landschaften oder Städten, das sie im Urlaub haben, haben sie zu keiner Minute an ihrem Arbeitsplatz.

Das erschreckt uns. Es mag vielleicht normal sein, aber es erschüttert uns. Was ist eigentlich los in unserer Welt, dass die meisten Menschen zur meisten Zeit ihres Lebens im Wachzustand ganz offensichtlich nicht das machen, was ihnen das Gefühl gibt, voll in ihrem Element zu sein?

Ist es vermessen, darüber nachzudenken, wie unsere Wirtschaft, unsere Arbeitswelt, ja, die ganze Gesellschaft gestrickt sein müssten, damit viel mehr Menschen viel öfter im Leben – auch tagsüber am Wochentag – ein Funkeln in den Augen haben?

Ganz ehrlich und unter uns: Wir beide glauben nicht, dass die tägliche, schnöde Realität an den Arbeitsplätzen das Richtige für die Menschen ist. Es gibt Ausnahmen. Aber für die meisten Menschen gilt: Diese Art von Arbeit ist nicht gemacht für die Menschen und die Menschen sind nicht gemacht für diese Art von Arbeit. Und wir glauben auch nicht, dass diese Realität das Richtige für die Unternehmen ist. Und es ist auch nicht das Richtige für unser Land und für die Gesellschaften in Europa und der westlichen Welt. Nur weil wir es so gewöhnt sind, heißt das noch lange nicht, dass es richtig ist.

Wir fragen uns: Warum arbeiten wir eigentlich so, wie wir arbeiten? Was ist falsch daran? Was genau müsste anders sein? Können Unternehmen Arbeit menschengerechter organisieren? Was würde das für den Unternehmenserfolg bedeuten? Wie sähe eine Gesellschaft aus, bei der »arbeiten« einen ganz anderen Stellenwert hätte und nicht mehr als zwangsläufige, notwendige Unterbrechung des eigentlichen Lebens gewertet würde? Was wäre, wenn Arbeit lebenswert wäre?

Räder rollen routiniert

Okay, wir können nicht so tun, als ob die Arbeitswelt heute ein Ort wäre wie im Steinbruch oder bei Ford am Fließband. Jedes Unternehmen sucht doch in seinen Stellenanzeigen kreative Köpfe. Wenn’s geht, noch mit dem Rest vom kreativen Menschen mit dran. Die meisten Manager und Unternehmer wissen doch, dass ihre Mitarbeiter frische, unkonventionelle Ideen einbringen müssen, damit sie sich im harten weltweiten Wettbewerb behaupten und in gesättigten Märkten überhaupt noch zum Zug kommen können. Vielen Führungskräften ist es völlig klar, dass es nicht reicht, die Produkte einfach nur ein bisschen besser zu machen als die Konkurrenz, ein bisschen schneller, ein bisschen leichter, ein bisschen kostensparender. Manager suchen immer wieder nach der neuen kreativen Idee, in der eins plus eins drei ergibt. In tausend Mitarbeitergesprächen werden Lösungsfinder-Qualitäten gefordert. Originalität. Out-of-the-box-Denken.

Allerdings: Querdenken ist zwar eine interessante Eigenschaft. Kreativität ist zwar erforderlich. Innovation ist zwar erwünscht. Aber bitte bloß nicht zu weit außerhalb vom Kästchen des Gewohnten! Ein bisschen Innovation verträgt die Organisation. Aber zu verrückt darf es auch nicht sein! Denn sonst passt die Lösung nicht mehr aufs bewährte Formular. Und nicht mehr zu all den anderen Kästchen-Lösungen, die rechts und links entstehen. Sonst ist die Reaktion vorprogrammiert: »Fantastische Idee, aber wenn wir das machen, verlieren wir das Zertifikat von der Kontrollbehörde.« Oder: »Spannendes Konzept. Aber um es umzusetzen, müssen wir komplett umstrukturieren und für die nächsten ein, zwei Jahre mit geringeren Gewinnen rechnen. Das verzeihen uns unsere Investoren nie.«

Die Forderung nach kreativen Lösungen ist bei Lichte betrachtet in vielen Fällen eine rhetorische Figur, die nicht wirklich etwas Neues fordert, sondern nichts anderes will als das Bestehende in verbesserter Version. Die Kreativität, der Geist und die Kompetenz des Mitarbeiters sollen sich bitte darauf fokussieren, die Inhaltsstoffe ein und desselben Joghurts um zwei Prozent kostengünstiger zu machen, möglichst unter Beibehaltung des markterprobten Geschmacks. Ein völlig neues Erfrischungsgetränk erfinden? Das ist nicht Bestandteil der Stellenbeschreibung!

Eins komma fünf Prozent Um-satzwachstum. Vier Prozent geringere Kosten. Dreieinhalb Prozentpunkte höherer Markt-anteil.

Aus der Logik der Industrialisierung heraus ist das auch richtig und zielführend. Eine normierte Arbeitsweise ist enorm effizient: Es können dabei Güter und Dienstleistungen massenweise hergestellt werden. In guter Qualität. Es gibt keine Ausreißer. Der Kunde freut sich, dass er weiß, womit er rechnen kann. Das ist das McDonald’s-Prinzip: Keine Überraschungen. Der Burger heute schmeckt genauso wie der von gestern, der in Tokio schmeckt genauso wie der in Austin. Auf diese Weise kann man die größte Fastfood-Kette der Welt werden, einer halben Million Menschen Arbeit verschaffen und fast 30 Milliarden Dollar Umsatz erwirtschaften.

Und das geht auch in anderen Branchen: Auch das Designer-Schurwoll-Sakko wird industriell hergestellt, ebenso wie das Schweizer-Taschenmesser-Allzweckgerät, das sich als Mobiltelefon verkleidet hat. Ein fabrikmäßig organisiertes, auf Standardprozessen beruhendes Unternehmen wirft eben zuverlässig Top-Produkte aus. Die Qualität ist stabil, also auch der Absatz. Das freut die Verkünder der Quartalsergebnisse und die Aktionäre. Normierte Arbeitsweisen mit normierten Ergebnissen schaffen für alle Stakeholder gute, verlässliche Werte, die sich immer noch ein bisschen verbessern lassen. Eins komma fünf Prozent Umsatzwachstum. Vier Prozent geringere Kosten. Dreieinhalb Prozentpunkte höherer Marktanteil. Zehn Prozent gesteigerte Kundenzufriedenheit. Um null komma sieben Prozent verringerte Fehlerquote. Schnellere Rechner, sparsamere Autos, praktischere Verpackungen. Das ist doch alles bestens, oder?

Ja, das ist alles bestens und hat seine Berechtigung. Aber wenn wir auf die Arbeitswelt blicken, dann sehen wir hinter den Stahl-und-Glas-Fassaden, an den Hochleistungsrechnern und an den Roboter-Bedienplätzen, unter den Headsets, auf den Fahrersitzen und an den Computermäusen noch immer die prinzipiell gleiche Arbeit wie vor hundert Jahren. Im Grunde ist die heutige Arbeitswelt immer noch geprägt von der Denkweise des Fabrikzeitalters. Und die meisten Menschen machen nichts anderes als Fabrikarbeit.

Wie jetzt? In einer Welt von Online-Konferenzen, Kreativmeetings und Homeoffice reden wir von Fabrikarbeit?

Ja, tun wir. Zwar stehen nicht mehr Millionen von Menschen am Fließband und drehen alle zehn Sekunden eine Schraube nach rechts. Das machen inzwischen Roboter. Die Menschen konzentrieren sich auf die Kopfarbeit: planen, organisieren, kommunizieren. Sie programmieren den Roboter und verhandeln mit dem Schraubenlieferanten in China. Sie übersetzen für den globalen Markt die Schraubenmontageanleitung in 57 Sprachen, tüfteln an einem noch besseren Schraubendesign, verbessern den Arbeitsablauf und setzen Projektmeilensteine: »Schraubenmarktforschungsergebnisse präsentieren«.

Aber mal ehrlich. Ist das so viel anders als Schrauben anzuziehen?

Die Struktur der Arbeit ist immer noch dieselbe wie am Fließband: koordiniert, normiert und durchgetaktet. Fremdgesteuert, optimiert und abgegrenzt. Unsere Welt ist voller Fabriken. Fabriken, die Dämmstoffe herstellen, Versicherungen makeln, Bankkunden beraten oder Websites programmieren. Fabriken, die kranke Menschen pflegen, Pakete transportieren oder Waschmaschinen herstellen. Die Arbeit ist industrielle Arbeit – ob im ersten, im zweiten oder im dritten Sektor der Volkswirtschaft: Auch Dienstleistungen werden in einer industriellen Arbeitsstruktur erbracht. Das heißt, sie werden in möglichst normierte und somit massenhaft reproduzierbare Teiltätigkeiten zerlegt. Es ist eigentlich egal, ob es sich dabei um Bauteile fürs Auto handelt, um die Getreideernte, um Ferienreisen nach Südostasien oder um Software-Lösungen. Damit der Mikrochip aus Shanghai ins PKW-Lenksystem aus Bukarest passt, müssen die Bauteile kompatibel sein und am genau richtigen Liefertag dem Roboter zugeliefert werden. Und damit sich Peter Müller aus Hamburg im Holiday Inn in Kuala Lumpur wohlfühlt, müssen die Vorstellungen von Hygiene, Aircondition und einem anständigen Frühstück kompatibel sein mit seinen westeuropäischen Vorstellungen.

Das funktioniert immer dann am besten, wenn jeder sich ganz genau an seine Pflichten hält und seinen Job macht. Wenn die Aufgaben exakt festgelegt und abgearbeitet werden. In der Stellenbeschreibung wird genau gesagt, was der Stelleninhaber tun soll. Für alles gibt es Organigramme, Formblätter, Step-by-Step-Anleitungen, Sicherheitsbestimmungen, Qualitätskontrollen. Wer sich daran hält, macht alles richtig. Dann ist genau definiert, wer wann was mit wem zu tun hat und wer für was »zuständig« ist. Das gilt für die Putzfrau ebenso wie für den Bankberater oder den Mitarbeiter in der Einkaufsabteilung. Jeder soll bitte seine Arbeit machen, genau das tun, was von ihm erwartet wird, und in den vorgezeichneten Bahnen denken und handeln. Dann läuft es rund ...

Manches Leid folgt der Sparsamkeit

Zum Beispiel in einem modernen Flughafen: Weil immer mehr Leute reisen wollen und es immer mehr Billiganbieter gibt, die einen Flug nach Helsinki für 50 Euro oder nach Istanbul für 120 Euro anbieten, beschließt das Management des Flughafens, die vorhandenen Ressourcen optimal auszunutzen. Also werden Detailanalysen gemacht, die jeden Handgriff, jedes Wort und jedes Lächeln der Mitarbeiter registrieren. Die Ergebnisse werden untersucht, katalogisiert, gemessen und ausgewertet. Wie lange dauert welcher Arbeitsschritt, was kostet er? Wo gibt es unproduktive Leerlaufzeiten oder Doppelarbeiten? Wo verlangsamen Abstimmungsprozesse, Rückfragen und Schlaufen den Prozess?

Nach gründlicher Analyse der Ergebnisse setzt sich ein Team von Experten daran, die Arbeitsabläufe rationeller zu gestalten. Sie kommen auf die Lösung: Mitarbeiter, die gerade nichts zu tun haben, sollen bei ihren Kollegen einspringen, die gerade in der Arbeit ertrinken. Und zwar hilft nicht nur die eine Check-in-Dame ihrer Zwillingsschwester am nächsten Schalter, sondern auch der Gepäckwieger dem Beschwerden-Entgegennehmer. Damit das funktioniert, müssen die Arbeitsschritte standardisiert, portioniert und ohne Übergangskosten organisiert werden. Jeder Arbeitsschritt wird in einer detaillierten Anleitung beschrieben und ist so simpel, dass ihn jederzeit jeder Mitarbeiter übernehmen kann. Eine Ausbildung zur Verlorenes-Gepäck-Aufspürerin oder zum Asthmaspray-von-Sprengstoff-Unterscheider ist nicht mehr nötig. Individuelle Talente und Fähigkeiten sind egal geworden.

Das Ergebnis: Die Flughafengesellschaft braucht nicht mehr so viele spezialisierte und gut dotierte Mitarbeiter, die mit teuren Verträgen direkt bei der Flughafen AG angestellt sind. Die normierten Handgriffe können auch von einem preiswerten Leiharbeiter ausgeführt werden – egal, ob der bis gestern im Isolationstrakt hochkomplexe Medizingeräte repariert hat oder Rausschmeißer in der Disko war. Man braucht nur noch eine Handvoll feste Mitarbeiter, die das Ganze überwachen und die Leiharbeiter einlernen.

Der letzte Schritt in dieser Rationalisierungskette ist dann, die Arbeit nicht mehr an Leiharbeiter zu delegieren, sondern an die Kunden. Wie das geht? Man entwickelt ein standardisiertes Eincheck-Programm, auf das online zugegriffen werden kann. Da kann sich der Reisende zwei Tage vor Abflug durchklicken, die Bordkarte aufs Handy laden und dann einfach mit seinem Handgepäck direkt zur Sicherheitskontrolle laufen. Praktisch! Nur noch die Problemfälle landen am Schalter.

Wir finden: Effizienz ist prima. Effizienz ist nötig. Effizienz ist oft bewundernswert. Ohne Fabrikarbeit bei Foxconn in China gäbe es beispielsweise auch kein hochkreatives Apple in Cupertino. Nur: Wenn Effizienz zum alleinigen Maßstab wird, ist sie gefährlich.

Klar, sie hat für fast alle Beteiligten viele Vorteile. Die Fluggäste sparen sich eine Stunde Zeit, weil sie sich nicht mehr in die unendliche Warteschlange am Eincheck-Schalter anstellen müssen; sie können eine halbe Stunde vor Abflug am Flughafen sein statt wir früher zwei. Der Flughafen kann mehr Fluggäste in kürzerer Zeit zu geringeren Kosten abfertigen. Die Reisebüros können die Flüge zu sagenhaft günstigen Preisen anbieten. Eine Win-win-win-Situation. Was fehlt? Das vierte »Win«! – Die Verlierer bei diesem System sind die Mitarbeiter des Flughafens, die jetzt eine langweilige, normierte, stressige Tätigkeit durchführen, sich als Zahnrädchen ins Räderwerk exakt einpassen und jederzeit damit rechnen müssen, dass ihre Stellen auch noch wegrationalisiert werden.

Eine Win-win-win-Situation. Was fehlt? Das vierte »Win«!

Gut, auf die gesamte Gesellschaft bezogen, ist es ein winziges Problem, wenn ein Mensch seine Arbeit nicht liebt, ein Leben wie im Akkord führt oder einen unsicheren Arbeitsplatz hat. Das Problem ist immer noch klein, selbst wenn es für die meisten Mitarbeiter einer Firma gilt. Das große Problem ist: Die Mehrheit der heutigen Arbeitsplätze gleicht den effizienzgetriebenen Jobs nach Fabrikzeitalter-Muster. Welche Augen sollen da funkeln?

Haben Sie etwas anderes erwartet?

Der Preis für eine effiziente und rationale Arbeitsweise ist Austauschbarkeit. Austauschbarkeit der Einzelteile, der Produkte, der Arbeit. Und damit der Arbeitenden.

Wenn morgen ein Ingenieur in Szczecin dieselbe gute Arbeit machen kann wie heute der Ingenieur in Stuttgart, der in Szczecin aber nur ein Drittel des Jahresgehalts verlangt, dann bekommt er den Job. Und wenn übermorgen in Bombay ein Ingenieur für denselben Job ein Fünftel des Szczeciner Gehalts bekommt, dann wird die Entwurfsarbeit nach Bombay verlagert. Sobald dann ein Computerprogramm entwickelt wird, das dem Ingenieur zwei Drittel der Arbeit abnimmt, darf der Inder mit zwei seiner Kollegen »Reise nach Jerusalem« spielen: Wer fliegt raus?

Um das zu vermeiden, engagieren sich die Leute enorm in ihrem Job. Damit ihre Arbeit zwar teurer, aber auch entsprechend besser ist. Das Fatale ist: Diese Strategie funktioniert nicht. Kein Arbeitsplatz wird auf diese Weise sicherer. Weil Engagement vom Einzelnen aber als der einzige Ausweg empfunden wird, klotzen die Leute ran.

Wir haben im Bekanntenkreis eine Marketingleiterin, die jetzt schon den dritten Arbeitgeber in sechs Jahren hat. Die Frau ist echt gut, und deswegen hat sie jedes Mal schnell eine neue Arbeit gefunden. Jedes Mal hat sie uns erzählt, was für ein toller Arbeitgeber das ist, was für ein spannendes Aufgabenfeld. Dann gibt sie Gas. Engagiert sich. Arbeitet mindestens fünfzig Stunden pro Woche. Verbringt den Tag mit konzentrierten Planungsgesprächen beim neuesten Auftraggeber und besucht samstags einen Weiterbildungskurs, um die neuesten Entwicklungen in ihrem Fachbereich mitzubekommen und um zu networken. Sie gibt ihr Bestes, und das ist viel.

Nein, sie wird nicht ausgebeutet. Das ist auch überhaupt nicht unser Thema. Sie wird richtig gut bezahlt für ihr Engagement, sie spielt Golf, fährt einen Sportwagen und macht Urlaub an Orten der Welt, von denen andere nur träumen. Aber nach zwei Jahren ist dann wieder Schluss ... Jedes Mal ist sie wie vor den Kopf gestoßen und fragt sich, was sie falsch gemacht hat. Ob sie überhaupt was falsch gemacht hat oder ob sie einfach nur Pech hatte. Die Niedergeschlagenheit hält ein paar Tage an. Dann rafft sie sich auf und blickt optimistisch in die Zukunft. Beim nächsten Arbeitgeber hängt sie sich noch mehr rein.

Ihre Enttäuschung ist genauso symptomatisch wie ihr Optimismus. Obwohl sie weiß, wie das Spiel läuft, ist sie jedes Mal aufs Neue unangenehm überrascht, wenn die Karten wieder mal neu gemischt werden, gerade als sie sich mit viel Mühe und Ausdauer ein gutes Blatt zusammengestellt hat.

Ihre Enttäuschung ist genauso symptomatisch wie ihr Optimismus.

Sie geht davon aus: Wenn ich gute Arbeit leiste, kann ich bei dem Unternehmen bleiben. Wenn ich besonders gute Arbeit leiste, kann ich Karriere machen und nächstes Jahr vielleicht das Marketing für Gesamteuropa übernehmen. Und wenn ich extrem gute Arbeit leiste, dann werde ich eines Tages so richtig erfolgreich sein und ins Geschäftsleitungsteam aufrücken.

Was sie sich eigentlich wünscht: einen Heimathafen. Endlich mal irgendwo ankommen. Endgültig dazugehören. Echte, wohlverdiente, faire Arbeitsplatz-Sicherheit.

Diese Erwartung hat nicht nur sie. Sondern praktisch jeder, der sich in Deutschland um einen Arbeitsplatz bewirbt. Sie alle glauben an das große, unausgesprochene Versprechen der Fabrik.

Das Versprechen

Dieses Sicherheitsbedürfnis und diese Karriereerwartung entstehen nicht nur in den erwartungsfrohen Gehirnen von Hochschulabgängern, die endlich die Welt erobern wollen, oder in den treuen Seelen von Auszubildenden, die von der Pike auf einen Beruf erlernen möchten. Sie sind einfach menschlich. Und sie werden auch völlig selbstverständlich hervorgerufen und gefüttert. In jeder Corporate-Identity-Broschüre, in jeder Stellenanzeige steht sinngemäß: »Kommen Sie zu uns, werden Sie Teil der Firmen-Familie!« Das suggeriert eine Von-der-Wiege-bis-zur-Bahre-Mitarbeiter-Betreuung mit firmeneigenem Kinderhort, Gesundheits-Checks, Sportgruppen, Weihnachtsfeier und Pensionskasse. Und natürlich Aufstiegschancen. Selbst der Billigfriseur im Einkaufszentrum, von dem jeder weiß, dass er die Mitarbeiter schneller ersetzen muss als die Lockenwickler, hängt ein Plakat in die Glasfront: »Bei uns können Sie Karriere machen!«

Ist das alles böswillige Rattenfängerei und vorsätzliche Mitarbeiter-Veräppelung? Oh nein! Jegliches wie auch immer geartetes Arbeitgeber-Bashing ist hier völlig fehl am Platze. Die Chefs sind nicht die Bösen! Sie und die Führungsteams der Unternehmen haben ja selbst den Anspruch, ihren Mitarbeitern eine dauerhafte Heimat und echte Aufstiegschancen bieten zu können. Und sind doch selbst immer wieder frustriert, dass ihnen das nicht mehr gelingt. Jeder Chef leidet, wenn seine Fluktuationsquote im Team zu hoch ist. Denn die Personalsuche schlaucht, ist teuer, nervig, anstrengend und hält vom Tagesgeschäft ab. Und sie ist risikoreich. Jede Fehlbesetzung kostet immense Summen. Jeder Chef verspricht am liebsten »Karriere«, denn wenn seine Mitarbeiter bei ihm Karriere machen würden, wäre das auch für ihn am besten.

Es sind weder die Mitarbeiter noch die Chefs, die versagen. Es ist das Versprechen, das nicht mehr zu halten ist. Das Versprechen der Fabrik lautet: Wenn du dich als Rädchen in unserem Räderwerk mitdrehst, wenn du dich an die Vorgaben, Normen und Strukturen hältst und gute Arbeit machst, dann wirst du einen angesehenen Status haben, kannst aufsteigen, dann noch ein wenig mehr Geld verdienen und auch mal ein paar Mitarbeiter führen. Du bekommst Sicherheit, wir bilden dich weiter, vielleicht findest du hier sogar deine Frau. Ordne dich ein, sei engagiert und mach, was von dir erwartet wird. Alles, was du machen sollst, ist gute Arbeit. Wenn du dich nur ein wenig zusammenreißt, dann wird alles gut.