How do I tell them I love them? - Kacen Callender - E-Book

How do I tell them I love them? E-Book

Kacen Callender

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Beschreibung

"Ich weiß, dass du Angst hast. Aber diese Angst könnte verhindern, dass wir etwas richtig Gutes erleben"

Lark Winters größter Traum ist es, Autor*in zu werden. Aber dey erhält eine Agenturabsage nach der anderen. Zu jung, zu queer, zu emotional - niemand will die Relevanz der Geschichte für nichtbinäre Menschen wie Lark erkennen. Doch als plötzlich ein Tweet von Lark über unerwiderte Liebe viral geht, ist deren Traum zum Greifen nah. Endlich bekommt Lark die Aufmerksamkeit, die dey sich die ganze Zeit gewünscht hat. Einziges Problem: Lark hat den Tweet nie geschrieben! Er stammt eigentlich von Larks ehemals bestem Freund Kasim, der seit einem Jahr nicht mehr wirklich mit demm redet. Lark muss sich entscheiden: einen Traum leben, der auf einer Lüge basiert, oder herausfinden, was hinter Kasims Tweet steckt und was mit ihrer Freundschaft passiert ist ...

"FELIX EVER AFTER ist eine Zelebrierung der Vielfalt und Queerness! Bunt, voller Freude und Liebe ist Kacen Callenders Buch vor allem ein Coming-of-Age-Roman, in dem sich viele junge Menschen wiederfinden werden, die sich sonst viel zu selten oder nie in Romanen repräsentiert sehen." JOSIA JOURDAN über FELIX EVER AFTER

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Seitenzahl: 445

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Sammlungen



INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Es ist Zeit für eine Revolution

11

12

13

Birdie Takes Flight

14

15

16

I Love Myself

17

18

Verlogene Binarität

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

Wie schreibt man einen Roman?

Danksagungen

Kacen Callender

Die Romane von Kacen Callender bei LYX

Impressum

KACEN CALLENDER

How Do I Tell Them I Love Them?

Roman

Ins Deutsche übertragen von Anne-Sophie Ritscher

ZU DIESEM BUCH

Lark Winters größter Traum ist es, deren Manuskript an verschiedene Literaturagenturen geschickt hat, erhält dey eine Absage nach der anderen. Zu jung, zu queer, zu emotional – niemand will die Relevanz der Geschichte für nichtbinäre Menschen wie Lark erkennen. Larks einzige Hoffnung ist es, 50 000 Follower*innen auf Twitter zu bekommen, um über Social Media auf sich und deren Manuskript aufmerksam zu machen. Und als plötzlich ein Tweet von Lark über unerwiderte Liebe viral geht, ist deren Traum zum Greifen nah. Larks Leser*innen feiern demm für deren Verletzlichkeit, und in der Schule sehen Lark auf einmal alle mit anderen Augen. Einziges Problem: Lark hat den Tweet nie geschrieben! Er stammt eigentlich von Larks ehemals bestem Freund Kasim, der aus Versehen in Larks Twitter-Account eingeloggt war, obwohl die beiden seit einem Jahr nicht mehr wirklich miteinander sprechen. Lark muss sich entscheiden: einen Traum leben, der auf einer Lüge basiert oder herausfinden, was hinter Kasims Tweet steckt und was vor einem Jahr mit ihrer Freundschaft passiert ist …

Liebe Leser*innen,

in diesem Roman gibt es mehrere nichtbinäre Figuren, die statt sie/ihr oder er/ihm die Pronomen dey/demm verwenden. Sprache befindet sich stets im Wandel, daher gibt es im Deutschen keine allgemeingültigen genderneutralen Pronomen. Es gibt keine einheitliche Lösung, weil jeder Mensch seine Pronomen individuell für sich auswählt. Für die Übersetzung der im Original verwendeten Pronomen they/them wären auch folgende Möglichkeiten in Frage gekommen: they/them, si*er/si*es, xier/xies, hen/hens und weitere Neopronomen. Nach Rücksprache mit mehreren nichtbinären Menschen haben wir uns für die deutschen Neopronomen dey/demm entschieden, um deren Selbstverständlichkeit in der deutschen Sprache kenntlich zu machen und weil es sich klanglich sehr nah an den Originaltext anlehnt.

Wenn ihr Anregungen oder Gedanken dazu habt, freuen wir uns über euer Feedback auf unseren Social-Media-Kanälen.

Dieses Buch enthält außerdem potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr auf hier eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

1

Mein Handy brummt. Ich drehe mich so schnell auf meinem Stuhl, dass ich fast umkippe. Birdie lacht. Frank Ocean läuft. Ich kaue auf einem Erdbeer-Pocky herum. Noch eine Mitteilung, das Handy vibriert auf meinem Schreibtisch.

hey alles okay?? Frustriert vergrabe ich die Hände in den Haaren. Unglaublich viele Follower*innen taggen mich, Mutuals schreiben und fragen, ob es mir gut geht, wo ich bin, was los ist. Normalerweise poste ich jeden Abend, aber jetzt bin ich schon seit über einer Woche still. Ich tippe und lösche und ändere Entwürfe, der Cursor blinkt auf dem Bildschirm, aber mein Hirn ist leer, nichts, nada, nix passiert da oben und, ach du Scheiße, ich bin auch noch ziemlich süß, bitte nicht, ich will kein Thembo sein …

Ich stöhne und schleudere mein Handy von mir, mein armes Handy, dessen einziger Fehler seine Anwesenheit in meiner Hand war … Verdammt, zu stark, es prallt vom Tisch ab, fliegt durch die Luft, und ich beeile mich, um es noch zu fangen, und diesmal kippe ich wirklich auf den Holzboden, der Aufprall lässt die Wände meines Zimmers wackeln.

Meine Mom ruft von unten: »Lark? Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja!«, ächze ich, während ich meinen Ellenbogen untersuche. Shit, das hat echt wehgetan. »Ja, mir geht’s gut!«

Moment, regt Sport nicht angeblich das Gehirn an? Ich springe auf und renne auf der Stelle, zehn, neun, acht …

Alles klar, echt nicht. Egal. Ich lasse mich aufs Bett fallen und starre an die Decke. Und seufze.

Es ist kein Weltuntergang, wenn mir kein neuer Post einfällt, aber irgendwie fühlt es sich so an. Als würden mit jeder Sekunde, die verstreicht, all meine Träume auf mich einstürzen.

Meine Mom sagt, ich bin süchtig nach Likes. Ich weiß nicht. Vielleicht hat sie recht.

Von unten höre ich Musik. Die Art R&B, von der meine Mom behauptet, sie wäre vor zwanzig Jahren der Shit gewesen. Sie ruft nach mir. »Lark? Lark! Komm runter!«

Nur zu gerne. Ich stehe auf und poltere die Holztreppe runter. Die Fenster sind sperrangelweit geöffnet – seitdem man für elektrischen Strom nahezu Arme, Beine, Oberkörper, alles hergeben muss, hoffen wir auf die kleinsten Brisen von draußen. Ich niese, niese, niese so sehr, dass ich ein paar Treppenstufen verpasse. Die Pandemie überlebt, um von Pollen erledigt zu werden. Ich überspringe die letzten beiden Stufen, drehe mich in Richtung Küche und bleibe wie angewurzelt stehen.

Kas sitzt auf der Anrichte. Dafür, dass er hier nicht wohnt, sieht er viel zu entspannt aus. »Gesundheit«, sagt er und lächelt.

Ich reibe mir die Nase und schaue meine Mom an, die Verräterin. Warum lässt sie Kasim immer rein? Tu doch einfach so, als würdest du ihn nicht sehen oder hören, wenn er klopft. Sie sitzt an dem weißen Tisch, der an die Wand geschoben ist. Aus ihrem Laptop tönt My Whole Life Has Changed von Ginuwine.

Sie sieht mich an.

Richtig. Mein Gesichtsausdruck.

Ich ersetze den Was willst du denn hier?-Blick durch ein gequältes Lächeln. »Oh. Hey.«

CHARAKTERPROFIL!

NAME: Kasim Youngblood

PRONOMEN: Er/ihm

ALTER: 17

GEBURTSTAG: 19. November

STERNZEICHEN: Skorpion

WOHNORT: West Philly

BESCHÄFTIGUNG: Schüler

Kas springt von der Anrichte und lehnt sich mit verschränkten Armen dagegen. Er hat wunderschöne braune Haut, in diesem ganz bestimmten nachtdunklen Ton. Seine Haare sind seitlich rasiert, den Rest trägt er als Locs mit blondierten Spitzen, normalerweise hochgebunden. Er hat ein schwarzes Crop Top und schwarze Shorts an, trägt abgenutzte schwarze Stiefel und eine Holzspirale als Ohrring. Seine Gegenwart erweckt immer den Eindruck, er würde denken, man müsse sich geehrt fühlen, in seiner Nähe sein zu dürfen. Als wäre er in einem früheren Leben Pharao oder König gewesen und ich müsse auf die Knie fallen. Ehrlich gesagt bin ich neidisch auf diese Ausstrahlung. Mit dieser Einstellung lässt er nicht eine Sekunde lang zu, dass seine Daseinsberechtigung in Frage gestellt wird. Oder ob er in diesem Raum Platz einnehmen darf. This crown is already bought and paid for and I’m wearing the fuck out of it.

Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber ich glaube, als er mich sieht, wird sein Grinsen noch ein bisschen breiter. Dieses Grinsen. Dieses Grinsen. Ich schwör’s,Kasim sollte sich dieses Grinsen patentieren lassen. »Hey, Lark.«

Wir beobachten uns gegenseitig. Ein bisschen so, als wären wir in einer Naturdoku. Zwei natürliche Feinde, die sich im nächsten Moment angreifen könnten. Wäre das hier ein Anime, würden zwischen unseren Augen Blitze zucken. Niemand spricht. Meine Mom sieht von Kasim zu mir und zurück, als mache sie sich Sorgen, wir könnten nur deshalb Streit anfangen, weil wir die gleiche Luft atmen. Ich würde gerne von mir behaupten, dass ich ziemlich liebevoll bin. Ich glaube an den Weltfrieden. Ich hasse es, mich zu streiten oder zu diskutieren. Aber irgendwie bildet Kasim da die Ausnahme, und zwar nicht auf diese romantische Paramore-Art. Es muss irgendeine chemische Erklärung dafür geben, warum Kasim und ich nicht im gleichen Raum sein können, ohne zu explodieren. Ich verstehe es einfach nicht. Naturwissenschaften sind nicht unbedingt meine Stärke.

Meine Mom versucht, die peinliche Stille zu durchbrechen. »Na, starrst du in Gedanken immer noch auf Twitter?«

Kasims Blick landet auf mir, und Herabwürdigung strömt aus all seinen Poren. Meine Schutzmauer war schon ziemlich hoch, aber jetzt wächst sie noch um ein paar Kilometer.

»Ich starre nicht auf Twitter.«

»Mhm.« Sie bemerkt meinen kurz angebundenen Ton und hebt eine Augenbraue. Ich kann ihre Gedanken praktisch lesen. Eines Tages wirst du feststellen, dass du deinen Freund dringender brauchst als den Kampf. Ich weiß immer noch nicht, ob sie Kampf mit Drama gleichsetzt oder ob sie den wortwörtlichen Kampf, den Kasim und ich seit einem Jahr miteinander führen, meint.

»Kasim, Schatz, bleibst du zum Abendessen?«, fragt sie.

»Nein, danke, ich will nicht stören …«

»Du weißt, dass du niemanden störst.«

Kas schaut mich an, sein Lächeln fragt: Ach ja? Lark, was sagst du dazu, dass ich niemanden störe?

Meine Mom bemerkt es. »Stimmt’s?«

Meine Stimme ist ausdruckslos. »Ja, bleib zum Abendessen.«

Kasim kann ein Lachen kaum unterdrücken. »Sehr gerne. Danke, Ms Winters.«

Ich habe heute Abend echt keine Lust auf Kasim, aber meine Mom würde niemals jemanden wegschicken. Sogar während der Hochphase der Pandemie hat sie allen geholfen, vor allem Kasim und seinem großen Bruder Taye. Und ich liebe das. Ja, Gemeinschaft ist wichtig. Aber es ist genauso okay, manchmal Grenzen zu setzen, oder? Vor allem Grenzen gegenüber ehemaligen besten Freunden, die mich besonders gerne absichtlich fertigmachen.

»Die Aubergine ist gleich fertig«, sagt meine Mom und ächzt, als sie aufsteht. »Deck den Tisch, okay, Liebes?« Sie drückt meine Schulter und küsst mich im Vorbeigehen auf die Wange, bevor sie mich mit Kas allein lässt. Ernsthaft? Sie weiß, diesmal ist es ihre Schuld. Sie weiß, das wird nicht gut ausgehen.

Einen Moment herrscht Stille.

Ich frage: »Also, was willst du hier?«

Meine Mom ruft von nebenan: »Sei nicht gemein!«

Kasim antwortet mit einem Schulterzucken und einem Grinsen, seine Zähne sind strahlend weiß. Warum nur haben die chaotischsten Queers die schärfsten Reißzähne? »Ich wollte nur deiner Mom Hallo sagen. Mit dir habe ich hier nicht gerechnet.«

Warum nicht? Ich wohne hier. »Alles klar. Okay.«

Vor ein paar Monaten haben wir die Küchenschränke weiß gestrichen, aber das dunkle Holz schimmert an manchen Stellen noch durch. Kas öffnet einen Schrank und holt drei Gläser hervor, die mit verschiedenen Obstsorten bedruckt sind: Erdbeeren, Orangen, Trauben. »Warum habe ich das Gefühl, dass du mich nicht sehen willst, Lark?«

»Du warst letzte Woche schon hier«, sage ich und hole Besteck aus einer Schublade. »Teller, bitte.«

»Macht es dich sauer, dass ich vorbeikomme?« Kasim öffnet den Schrank über dem Waschbecken.

»Ich bin nicht sauer.«

»Bist du sicher?«

»Du weißt es doch auch. Du bist nur hier, um dich durchfüttern zu lassen.«

Er legt eine Hand auf seine Brust, als wäre er verwundet. »Komm schon. Ich würde deine Mom niemals ausnutzen.«

Ich muss zugeben, diesmal ist er ehrlich. Kasims Mom ist gestorben, als er vier war, und sein Dad wurde vor drei Jahren festgenommen, weil er ein paar Gramm Gras dabeihatte. Deswegen gibt es jetzt nur noch Kas und Taye, der darum kämpft, dass Kasim bei ihm bleiben darf. Als Kasims Dad ins Gefängnis kam, fing meine Mom an, Kas anzubieten, über Nacht bei uns zu bleiben, wann immer sein Bruder in einem seiner Jobs Nachtschichten machen musste. Kasim blieb wochenlang bei uns.

Und das Ding ist, ich mochte es richtig, als Kas bei uns gewohnt hat. Wir waren beste Freund*innen. Wir haben jede Sekunde zusammen verbracht. Um die Basketballplätze herum skaten. In den Plattenläden auf der Baltimore Avenue stöbern. TikToks machen, in denen wir tanzen, fallen, vor Lachen sterben, die Art Lachen, bei der man nicht mal mehr Geräusche machen kann und man einfach keucht und schnauft und heult und sich aneinander festhält, und dann fällt man noch mal, nur um noch lauter zu lachen. Er hat einfach komplett Bakugous Persönlichkeit, also habe ich ihn Kacchan genannt und er mich Deku, und wir haben nächtelang zusammen unter meiner Bettdecke illegal kopierte Animes angeschaut, und jedes Mal, wenn meine Mom vorbeigelaufen ist, haben wir uns totgestellt und geschnarcht und einander geschubst, wenn wir zu laut waren. Ich konnte ihm alles sagen. Alles. Und er hat mich nie verurteilt. »Ich habe Angst, irgendwann ganz allein zu sein.« Er hat den Kopf geschüttelt. »Warum? Du hast doch mich, oder?«

Aber als die Highschool anfing … Ich weiß auch nicht. Ich hasse ihn nicht. Ich hasse niemanden. Ehrlich, das tu ich nicht. Und ich glaube (meistens) auch nicht, dass er mich hasst. Aber es ist nicht mehr so, wie es mal war.

Kasims Lächeln wird breiter, während er mich anschaut, als wüsste er, wie genervt ich bin. »Irgendwas macht dich wütend.«

»Ich bin nicht wütend.«

»Ehrlich?«

»Ja, ehrlich.«

»Auf mich wirkst du wütend.«

Birdie betrachtet deren Flügel. »Du bist schon irgendwie wütend, Lark.«

Ich beiße die Zähne zusammen. »Es geht mir gut.«

Kasim schnaubt. »Ja. Klar. Du bist so ruhig. So friedlich.«

Ich hole scharf Luft. Vielleicht hat er recht. Ich bin angespannt. Es ist immer anstrengend, etwas zu schreiben, das zwanzigtausendeinhundert (und mehr) Leute sehen, lesen, beurteilen, mögen und nicht mögen. Etwas, womit sie einverstanden sein oder was sie mit einem Schaut mal wie beschissen dumm dieses Kind ist-Kommentar retweeten können. Dass ich gestresst bin, liegt nicht an Kasim.

Außerdem hat es keinen Zweck, genervt zu sein. Ich habe früh gelernt, dass ich nicht wütend oder frustriert sein darf. Manche Menschen dürfen auf dieser Welt Raum einnehmen, während von anderen erwartet wird, dass sie verschwinden. Wenn wir nicht verschwinden, werden wir gehasst, und dann wird uns die Schuld an diesem Hass gegeben. Wenn ihr nur netter gewesen wärt. Wenn ihr nur gelächelt hättet. Wenn ihr euch einfach hinsetzen und die Klappe halten würdet, dann würden die Leute euch vielleicht nicht so sehr hassen. Es ist nicht fair, aber so vieles auf dieser Welt ist unfair, oder? Ich seufze, wedle mit den Händen, um ein bisschen Anspannung loszuwerden, summe Cranes in the Sky von Solange.

Kasim stellt den letzten Teller an seinen Platz. »Worum geht es in deinem Post?«

Er weiß, wenn ich auf Social Media starre, dann vermutlich, weil ich einen neuen Thread plane. Ich würde mich jetzt nicht als berühmt bezeichnen, aber manchmal kriegen meine Posts fünfzigtausend Likes.

Ich kann ihm nicht in die Augen schauen. »Mh. Weiß ich noch nicht.«

Er grinst mich mit einem halben Lächeln an. »Vielleicht kann es darum gehen, wie man weißen Menschen den Arsch küsst, damit sie deine Existenz gelassener nehmen.«

Cheesus Crust. Seht ihr, was ich meine? Kas hat Spaß daran, mich zu reizen. Für ihn ist das ein Spiel. Mich nerven, bis ich ausraste. Er weiß, dass ich nicht so radikal bin wie er und seine neuen Freund*innen. Er weiß, dass es mir nur um Frieden geht. »Scheiß auf Frieden«, hat Kasim mal gesagt. »Sie lassen uns nicht in Frieden. Warum sollten wir das also tun?« Er will mich anstacheln. Mich wütend machen, damit er grinsen und mich heuchlerisch nennen kann. Damit er sagen kann, ich wäre nicht so sanft, wie ich zu sein vorgebe.

Ich hole mein Handy hervor. Ich habe über zwanzig neue Mitteilungen. Noch mehr Markierungen und Kommentare und Nachrichten. lark lebst du noch?!! Ich scrolle. »Vielleicht könnte ich darüber schreiben, wie Anarchie der Gemeinschaft schadet.« Noch eine Diskussion, die wir eine Milliarde Mal geführt haben. Wenn wir einander begegnen, verfallen wir immer in die gleichen Muster und Spiralen und Streits. Es ist wie eine Sucht. Wir können nicht aufhören.

Kasim schaut mich mit feurigem Blick an. Er ist wie ein Vulkan, tektonische Plattenverschiebung, Druck baut sich auf. Ich kann immer genau erkennen, wann er kurz davor ist, auszubrechen. »Es ist eine gute Sache, eine auf Rassismus aufbauende hierarchische Gesellschaft zu zerstören, Lark.«

»Aber was passiert währenddessen mit der Gemeinschaft?«, frage ich.

»Wir passen aufeinander auf.«

»Wir können nicht aufeinander aufpassen, wenn Lebensgrundlagen zerstört werden.«

»Wir nehmen die Scheiße und verteilen sie an die Menschen um.«

»Von den Menschen aus der Gemeinschaft nehmen, meinst du?«

»Nein, von Unternehmen …«

»Die Unternehmen von Menschen aus der gleichen Gemeinschaft werden auch zerstört …«

»Diese Unternehmen werden nicht angegriffen.«

»Aber das wird trotzdem passieren, oder?«, frage ich. »Während du damit beschäftigt bist, das System zu zerstören, leiden Menschen genau unter dieser Zerstörung.«

»Menschen leiden die ganze Zeit, Lark«, sagt Kas jetzt mit lauter Stimme. »Verdammt, du steckst so tief in den Ärschen weißer Liberalos, dass du außer deren Scheiße gar nichts mehr sehen kannst.«

»Oh Gott, Kas, das ist ekelhaft.«

Er ignoriert mich. Sein Grinsen ist verschwunden. »Ernsthaft, mach die Augen auf.«

Der Streit ist in vollem Gange. So läuft das immer mit uns. Ich weiß, meine Mom hört uns, sie greift aber nicht ein. Kas starrt mich eine Sekunde lang an, ohne etwas zu sagen. Er kann ziemlich heftig werden. Wie eine Explosion, gefangen in einem menschlichen Körper. Obwohl man die Druckwelle und das Feuer und die Trümmer nicht sehen kann, spürt man das alles auf sich zukommen.

»Was?«, frage ich. Meine Stimme bricht.

Er zuckt nur mit den Achseln und schaut weg. »Du könntest über Hunde schreiben. In deinem neuen Post, meine ich. Damit kannst du nichts falsch machen. Vielleicht folgen dir dafür sogar Leute.«

Ich verdrehe die Augen. »Du bist ein Arschloch«, sage ich und bereue es sofort. Das ist überhaupt nicht nett und alles andere als friedfertig von mir.

Für ihn ist das die perfekte Vorlage, mich darauf hinzuweisen, dass ich ihn ein Arschloch genannt habe und mich mit einem MACH DEMM FERTIG-Schlag zu vernichten, aber er lacht nur. Ein echtes Lachen, kein hohles, erzwungenes. Kas kann in einer Sekunde streiten und in der nächsten lachen, als wäre nichts gewesen. Selbst wenn er beleidigt wird. Als ob es ihn gar nicht interessiert. Ja, ich beneide ihn definitiv um diese Einstellung.

»Ich denke, ich kann ein Arschloch sein«, sagt er. »Aber das können wir doch alle. Selbst wenn niemand es zugeben will. Wir alle haben schon mal jemanden verletzt. Auch du.«

Kurz schäme ich mich. Ich will mich verteidigen. Mit ihm diskutieren. Aber ich halte mich zurück. Er hat recht. Es stimmt, oder? Ich habe vermutlich auch jemanden verletzt. Wir alle sind Menschen. Wir alle machen Fehler und verletzen einander, selbst wenn wir denken, wir tun das nicht. Selbst wenn wir denken, dass die andere Person nicht verletzt sein sollte, weil wir selbst nicht die Art Mensch sein wollen, auf die wir sonst zeigen und behaupten, dass sie böse ist. Wir wollen keine schlechten Menschen sein. Seit ich ein Kind bin, frage ich mich das – warum wir Menschen immer auf andere zeigen und behaupten, das wären die Bösen, während diese auf uns zeigen und uns böse nennen. Vielleicht ist niemand gut oder böse, vielleicht vereinen wir alle eine Mischung aus beidem in uns. Vielleicht trifft das auch auf mich und Kasim zu.

»Solange wir nur lernen und wachsen«, sagt er.

Das Abendessen ist so verdammt gut. Während wir den Tisch abräumen, lehnt sich meine Mom zufrieden in ihrem Stuhl zurück.Meine Mom hat braune Haut, dunkle Sommersprossen verteilen sich um ihre Augen herum. Ihr lockiges Haar wird langsam grau, was mir ein bisschen Angst macht. Ja, das ist düster und traurig, denn sogar ich schaffe es nicht, jeden Tag diesen Das Glas ist halb voll-Optimismus zu verbreiten. Aber ich will nicht, dass meine Mom stirbt und mich allein lässt. Als die Pandemie begann, hatte ich panische Angst davor, dass sie krank wird, und ein bisschen nervös bin ich deswegen immer noch. Sie hat mich bekommen, als sie Anfang vierzig war, deswegen ist sie älter als die meisten Mütter von Siebzehnjährigen. Ich denke oft daran, dass sie sterben könnte, bevor ich bereit bin, und dass ich dann allein herausfinden muss, wie ich in der Welt zurechtkomme. Meine Mom war auch immer allein, sie war nie verheiratet. Mein anderer Elternteil ist eine unbekannte Person, die ihren Samen gespendet hat. Manchmal frage ich mich, ob ich vielleicht eine riesige biologische Familie habe, mit einem Gruppenchat und Geschwistern und Cousins und Cousinen, die einfach anrufen, um deine Stimme zu hören. Ich habe Angst davor, so zu enden wie meine Mom: eine Person, die es verdient, geliebt zu werden, so wie alle anderen auch, aber die für immer allein bleibt. Warum auch immer, ich kann nicht verstehen, wieso, und vielleicht ist das am bedrohlichsten: niemals wirklich zu wissen, was ich falsch mache, warum alle anderen auf der Welt geliebt werden und große Familien und jede Menge Freund*innen haben und von Anfang an zweifelsfrei wissen, dass sie dazugehören. Aber vielleicht jammere ich. Ich bin viel zu unsicher, oder? Ich denke, das würden die meisten Menschen so sagen.

Birdie zuckt mit den Schultern. »Was eine andere Person über dich denkt, ist nur eine Projektion ihrer selbst.«

Meine Mom fragt: »Kasim, Schatz, bleibst du über Nacht?«

Sogar Kasim weiß, dass das eine schlechte Idee ist. »Oh, nein, danke, ich sollte …«

»Hast du nicht gesagt, dass Taye diese Woche unterwegs ist? Du bist seit vier Tagen allein zuhause.«

»Ja, aber er kommt morgen wieder.«

»Morgen fängt der Unterricht am Commons an.« Commons, kurz für Common Ground Community Center. Mein Herz schlägt schneller beim Gedanken daran, wieder zur Schule zu gehen – und beim Gedanken an eine bestimmte Person, die auf Instagram gepostet hat, dass sie da sein wird. »Jemand sollte dich morgens verabschieden«, sagt meine Mom.

»Es ist keine große Sache. Ich bin siebzehn. Ich bin dauernd allein zuhause.«

»Bist du nicht einsam?«, fragt sie. Ich unterdrücke ein Lachen. Ich kann sehen, dass Kasim es bereut, überhaupt vorbeigekommen zu sein. »Das Center ist näher bei uns. Ihr könnt zusammen hinlaufen.«

Kasim braucht einen Moment, um einen weiteren Grund zu finden, warum er nicht bleiben kann. Fast verzweifelt bricht es aus ihm hervor: »Aber ich habe nichts zum Anziehen für morgen.«

Kas spielt Dame, meine Mom spielt Schach. Sie antwortet sanft: »Larks Sachen passen dir noch, oder?« Wir haben unsere Klamotten immer geteilt. Meine Mom steht auf. »Es wird spät, und es ist dunkel. Es wäre mir lieber, du würdest bleiben statt nach Hause zu laufen, okay?«

Er schließt die Augen für einen Moment, vielleicht um ein Stöhnen zu unterdrücken. Kasim kann meiner Mom nicht widersprechen. Er liebt sie so sehr. Genau, wie sie es verdient. »Ja, na gut. Danke, Ms Winters.«

Als sich meine Mom umdreht und die Küche verlässt, grinse ich Kas selbstgefällig an.

»Lark, räum für Kas auf«, sagt sie.

Das wischt das Grinsen von meinem Gesicht. Shit. Ich habe vergessen, dass ich mein Zimmer mit Kasim teilen muss. Er hat vor sechs Monaten das letzte Mal hier übernachtet, und das auch nur, weil er krank und Taye nicht da war, um sich um ihn zu kümmern. Wir hatten Angst, es wäre der Virus, aber am Ende war es nur eine fiese Mischung aus Allergie und Erkältung. Der Arzt empfahl ihm, viel zu trinken und etwas gegen die Allergie zu nehmen. Irgendwie war es fast schön. Nicht, dass Kasim krank war, aber wir haben bis spät in die Nacht geredet und Animes geschaut, wie damals als Kinder. Wir haben so viel gelacht. Aber kaum ging es Kas besser, haben wir uns wieder gestritten. Ich weiß nicht mal mehr, worüber, und als er am nächsten Tag ging, war alles wie immer.

Kasim schaut mich nicht an und ich frage mich, ob er jemals daran denkt, wie es früher zwischen uns war. Ob er das Ende unserer Freund*innenschaft bedauert?

Vielleicht nicht. Vielleicht ist es ihm scheißegal.

Hmmmm.

2

Seit wir vor ein paar Jahren hier eingezogen sind, ist meine Mom dabei, das Haus zu renovieren. Es geht langsam voran, und die meisten Zimmer sind halb fertig. Wände sind in unterschiedlichen Farben gestrichen, an manchen Stellen fehlt der Teppich. Kasim läuft mir hinterher, als wir die Treppe raufstapfen. Liegt es an mir, oder fühlt es sich an, als würden wir zu unseren Hinrichtungen geführt?

»Sorry, dass ich einfach so in dein Zuhause eindringe«, sagt er.

Tut es das? Tut es dir wirklich leid?

Mein Zimmer ist hellblau gestrichen, der Boden besteht aus abgewetzten Holzdielen. Meine Schuhe stapeln sich im halb geöffneten Kleiderschrank. Die Kommode habe ich grün angemalt, und überall stehen Pflanzen. Es fühlt sich an, als würde ich in einem Baum leben. Es riecht nach Zitronengras, heruntergebrannte Rosmarinkerzen stehen auf dem Nachttisch, auf dem Fußboden verteilen sich Bücherstapel, Zeitschriften, Klamotten. Für Außenstehende ist mein Zimmer eine absolute Katastrophe, aber es ist mein Chaos, ich habe den Überblick, und genau so mag ich es.

Mein Laptop steht noch auf dem mit Schulbüchern übersäten Schreibtisch. Ich setze mich auf den Stuhl und drehe mich langsam, wobei ich versuche, Kasim bloß nicht anzuschauen. Scheiße, das wird eine unangenehme Nacht.

Am Fußende des Bettes liegt ein Sitzsack. Kasim lässt sich sofort hineinfallen. »Wollen wir was anschauen?«, fragt er. Er hat sich dafür entschieden, so zu tun, als wäre es gar nicht komisch, ich verstehe schon.

»Ich kann nicht. Ich muss immer noch rausfinden, was ich poste.« Ich höre auf, mich zu drehen, und sinke mit einem Stöhnen zusammen, mein Kopf knallt mit einem Bumms auf die Tischplatte.»Aua.«

Er lacht leise. »Du tust so, als wären es Hausaufgaben.«

Ich reibe mir die Stirn. »Gar nicht.« Ich klinge abweisend, also halte ich inne. Atme. »Ich wusste nicht, dass du wieder zum Unterricht am Commons kommst.« Vermutlich nimmt er wieder an der Schreibwerkstatt teil, genau wie ich. Kasim hält sich für einen ernsthaften Schriftsteller, und, naja. Es stört mich, dass er wirklich ziemlich gut ist. Er schreibt total autobiografisch, Erzählungen basierend auf seinem Leben, manchmal auch Essays. Ernsthaft, er wird noch irgendwann den Pulitzer-Preis gewinnen oder den Man Booker oder so.

»Ja.« Er scrollt auf seinem Handy. Stimmen, Musik. The giant horse conch weighs over eleven pounds. »Warum musst du überhaupt etwas posten?«

»Die Leute erwarten das.«

Er blinzelt mich an. »Warum?«

»Ich weiß auch nicht. Leute folgen mir wegen der Sachen, die ich sage, und sie schreiben mir und fragen, warum ich nichts poste, obwohl ich das sonst jeden Tag mache. Deswegen muss ich jetzt etwas posten.«

Twitter ist eine Brutstätte für Millennials, aber öffentlich zu sprechen macht mich nervös, deswegen geht TikTok gar nicht (allein, nicht tanzen und fallen und lachen mit Kasim), und Instagram mochte ich noch nie. Die anderen Teens auf Twitter sind mir ohnehin lieber. Queere, nerdige, neurodiverse Schriftsteller*innen und Leser*innen, die sich über Bücher, Anime und soziale Gerechtigkeit unterhalten. Ich habe einige Likes und Follower*innen mit absolut random Posts gewonnen:

Lark Winters (dey/demm)@winterslark

ich dachte es heißt fruit loops und nicht froot loops

 1K     3K     11.1K

Und Millennials sind besessen von der Gen Z. Ich glaube, sie wünschen sich, zu sein wie wir oder so. Keine Ahnung, aber auch das hat meinem Account geholfen.

Kasim streckt sich. »Okay«, sagt er. Er wirkt, als würde er mich gleich auslachen. Wäre auch nichts Neues. »Ich verstehe es nicht. Warum lässt du dich von einem Haufen Fremder kontrollieren?«

»Sie kontrollieren mich nicht.«

»Ist ja nicht gerade so, dass du dafür bezahlt wirst.«

»Ich mache das zum Spaß.«

»Sowas machst du zum Spaß?«, fragt er, und sein abwertender Ton trifft mich wirklich tief. Ja, tut mir leid, Kas. Seitdem du unsere Freund*innenschaft beendet hast, sind mir nicht mehr viele Optionen geblieben.

Außerdem mache ich das nicht nur zum Spaß. Ich träume davon, dass meine Texte veröffentlicht werden. Ich habe so viele Ideen (ich meine, ich habe ein Dokument mit über hundert Ideen), in denen dutzende Charaktere vorkommen, die so aussehen wie ich und auch so sprechen. In meinen Träumen stehen sie im Mittelpunkt. Manchmal sprechen sie mit mir, als wären sie echt, manchmal antworte ich ihnen. Keine gute Idee, wenn andere Menschen dabei sind, das kann ich euch sagen. Erzählungen, in denen sich Teens ineinander verlieben, Fantasy-Epen, in denen genderlose Held*innen ihre König*innenreiche retten, und sogar Sci-Fi-Geschichten, in denen vielgeschlechtliche Menschen einen explodierenden Stern kontrollieren müssen …

Ich möchte Bücher schreiben, in denen Schwarzsein die Norm ist. In denen klar ist, dass wir schön sind. Ich möchte Bücher schreiben, in denen Leser*innen nicht einem einzigen blonden, blauäugigen Charakter begegnen müssen, mit Augen wie der Ozean/Himmel, in denen meine Locken nicht als wild oder ungezähmt beschrieben werden, in denen die Augen der Charaktere so dunkelbraun sind, dass nicht mal die Pupille zu erkennen ist. Ich sehe die Stärke darin, statt einfach zu schreiben, dass sie wenigstens ein schönes Lächeln hatten. Ich will endlich mich sehen, nicht nur Fragmente von mir. Als wären Bücher Puzzleteile und ich müsste sie alle lesen, um mich selbst sehen zu können. Ich muss an die ersten Zeilen des Pokémon-Themes denken.

»Warum summst du den Pokémon-Song?«, fragt Kasim.

»Ich summe nicht.«

Scheiße. Ich will meine Geschichten unbedingt veröffentlichen. Vielleicht werde ich dann endlich gesehen. Meine Texte werden auf die Art verletzlich sein, die ich mir im echten Leben nicht zutraue. Ich meine, das letzte Mal, als ich mich verletzlich gezeigt habe, hat das nicht so gut funktioniert, oder? Kasim schaut zu mir auf, als ich zu ihm hinüberblicke. Leute werden mich kennen. Mein echtes Ich. Leute werden mich lieben. Sie werden mit mir befreundet sein wollen. Meine queere selbstgewählte Familie. Ich werde nicht mehr so verdammt einsam sein.

»Lark, du summst immer noch.«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

Ich habe angefangen, das Manuskript meines ersten Romans an Verlage zu schicken. Es geht um eine*n Jugendliche*n namens Birdie, der*dem Flügel wachsen. Also, ich habe das getan, wovor alle warnen: Ich habe Verlage angeschrieben, bevor ich den Roman fertig geschrieben habe. Aber warum sollte ich einen kompletten Roman schreiben, ohne zu wissen, ob irgendwer das fertige Manuskript überhaupt sehen will? Ich wollte die Lage checken, also habe ich vor ein paar Monaten meinen Traum-Agent*innen geschrieben, aber bislang hat Birdie nur Absagen erhalten. Alles Gute auf Ihrem Weg zur Veröffentlichung.

»Deren Pech«, sagt Birdie. Dey sitzt mit gekreuzten Beinen auf meinem Schreibtisch.

Ehrlich gesagt scheint mir Berühmtheit auf Twitter wie der einzige Weg zur Verwirklichung meines Traums. Literaturagent*innen und Verlage achten darauf, wie viele Follower*innen man hat. Wenn ich also auf über fünfzigtausend komme, werden meine Chancen, eine Literaturagentur zu finden, sofort steigen.

Und genau deswegen bin ich so gestresst. Twitter hat mal Spaß gemacht, aber jetzt kann eine falsche Entscheidung dazu führen, dass ich verdammt viele Follower*innen verliere. Meine Pläne könnten den Bach runtergehen.

Kasim wedelt mit einer Hand, von seinen Fingernägeln blättert schwarzer Lack. »Warum machst du für heute nicht Schluss? Du siehst aus, als könntest du eine Pause vom, äh, Spaß brauchen.«

»Ich muss meine Follower*innen halten, indem ich regelmäßig poste.«

»Ich verstehe Twitter einfach nicht.«

»Und ich verstehe nicht, was du von mir hören willst.«

Kasim holt etwas Gras und ein Feuerzeug hervor. Klick, zisch. »Ich kann dir beim Nachdenken helfen, wenn du willst.«

»Du hast schon genug geholfen, aber danke.«

»Ach komm. Ich habe ein paar gute Ideen.«

»Klar. Na gut, sag schon.«

»Heiße weiße Typen.«

»Halt’s Maul.«

Er lacht und bläst Rauch aus. »Okay, okay. Ernsthaft. Ein Thema, das du bisher nicht behandelt hast, ist mentale Gesundheit in der Black Community.«

Ich wende mich Kasim zu und sehe ihn an. »Du liest meine Posts?«

Das patentierte Grinsen auf seinen Lippen. »Leider.«

»Ich dachte, du hasst Twitter.« Ich bin davon ausgegangen, dass Kasim nicht auf Twitter ist. Er redet schlecht genug darüber.

Er ignoriert mich. »Du könntest zum Beispiel schreiben, wie Depressionen und Angststörungen sich auf Schwarze Menschen auswirken.«

Ich beobachte ihn einen Moment, dann drehe ich mich wieder um. »Das ist tatsächlich ein gutes Thema. Danke.«

»Gerne.«

Ich fange an zu tippen, und die Stille, die sich zwischen uns ausbreitet, ist unerwartet angenehm. Aber während nur mein Tippen zu hören ist, legt sich eine Frage schwer auf mich. Das Thema mentale Gesundheit ist wirklich spezifisch. Ich spüre den Impuls, ihn zu fragen, wie es ihm geht, ob etwas nicht stimmt. Ist er depressiv? Seine Mom ist gestorben, als er vier war. Er sagt, dass er sie nicht vermisst. Er vermisst eher die Vorstellung von ihr, die Beziehung, die sie hätten haben können. Nachdem sein Dad aus dem Gefängnis entlassen wurde, war er nicht besonders präsent, und seit einem Jahr haben sie gar keinen Kontakt mehr. Ich weiß nicht viel darüber, aber ich habe gehört, er hatte einen Nervenzusammenbruch und ist verschwunden. Er hat Taye und Kasim einfach zurückgelassen. Kasim hat mir erzählt, dass sein Dad, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde, schwer traumatisiert und nur noch ein Schatten seiner selbst war. Sein Leben und seine Träume wurden ihm genommen. Und das alles, weil er ein Schwarzer Mann mit ein paar Gramm Gras war. Es sollte keine Gefängnisse geben. Menschen, die sich eine Welt ohne Gefängnisse nicht vorstellen können, hätten sich vermutlich auch eine Welt ohne Sklaverei nicht vorstellen können.

Ich will Kasim fragen, wie es ihm geht, aber wir stehen uns nicht mehr so nahe wie früher. Das ist etwas, das ich ihn früher hätte fragen können, als wir noch befreundet waren, aber jetzt …

Kas raucht, während er auf seinem Handy scrollt. Ich weiß, dass meine Mom nicht glücklich wäre, wenn sie wüsste, dass Kasim Gras dabeihat. Nicht solange es richtig viele weiße Menschen gibt, die auch ihn gerne einsperren würden. Aber dass wir rauchen, ist meiner Mom egal. Sie glaubt an den gesundheitlichen Nutzen. Emotional wie körperlich. Es hilft mir mit meiner Angst, ihr mit ihren Rückenschmerzen. Cannabis ist schlichtweg aus rassistischen Gründen illegal, weil Schwarze Menschen davon profitiert haben …

Birdie schnaubt. »Währenddessen machen verschreibungspflichtige Opiate abhängiger und töten mehr Menschen und trotzdem sind sie immer noch legal. Hmmm, ich frage mich, wieso?«

Und jetzt, nachdem Generationen von People of Color, insbesondere Schwarze Männer, ihre Freiheit und ihr Leben für ein paar Gramm Gras verloren haben, eröffnen weiße Menschen Cannabis-Läden und verdienen Geld damit, während sie uns kriminalisieren, wenn wir ein bisschen was rauchen.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sich für Kasim anfühlt, wenn er Bilder von lächelnden Karens und Marthas sieht, die durch ihren süßen Cannabis-Shop in Colorado führen, während er weiß, dass sein Vater wegen des Besitzes von ein paar Gramm verhaftet wurde und im Gefängnis saß. Der Gedanke allein reicht aus, damit ich schreien und weinen und mich zusammenrollen will. Ich möchte in einer weichen rosafarbenen Muschel liegen, in der ich mich in Sicherheit weiß. Manchmal habe ich das Gefühl, diesen Schmerz auch in Kasims Augen zu erkennen, bevor er blinzelt und seine Schutzmauern sofort wieder stehen.

Jetzt blickt er mich an, und ich bemerke, dass ich ihn anstarre, aber es scheint ihn nicht zu stören. »Darf ich Musik anmachen?«, fragt er.

»Ja, klar.« Ich greife nach dem Joint und rauche ein bisschen. Gelassenheit breitet sich in mir aus. Er drückt auf seinem Handy herum. Teyana Taylors Gonna Love Me ertönt. Das Lied passt zur Stimmung, und ich wippe mit meinem quietschenden Stuhl vor und zurück.

Ich tippe das letzte Wort. Ich lese den Thread wieder und wieder, verbessere hier und da, bis alles perfekt ist. Ich halte den Atem an und drücke auf Alle twittern.

»Fertig?«, fragt Kasim.

»Ja.«

»Darf ich es lesen?«

»Benutz dein Handy.«

»Ich habe die App nicht.«

»Was? Warum nicht?«

»Weil ich kein Weeb bin.«

Ich verdrehe die Augen, nehme den Laptop und reiche ihn Kasim. Dann lasse ich mich auf mein Bett fallen und scrolle auf dem Handy durch die Mitteilungen. Zwanzig, dreiundzwanzig, sechsundzwanzig Likes und es werden mehr.

Lark Winters (dey/demm)@winterslark

warum reden wir nicht mehr über die mentale gesundheit Schwarzer menschen?? tbh kämpfe ich in letzter zeit oft mit meiner panikstörung & habe nicht das gefühl, offen darüber reden zu können

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als dürften wir als Schwarze menschen keine pausen für unsere mentale gesundheit machen. so viele von uns lernen, einfach zu lächeln und weiterzumachen und weiterzuarbeiten und dankbar zu sein und panik und depressionen wegzubeten

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und so viele von uns lernen, dass therapie und mentale gesundheit nichts mit uns zu tun hat und nichts für uns ist. den schmerz einfach ignorieren, um weiterarbeiten zu können

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aber das ist eine kapitalistische lüge, oder nicht?? wir sind nicht nur so viel wert wie die arbeit, die wir leisten. ich bin nicht mehr wert als andere, nur weil ich millionär*in werde, wenn ich erwachsen bin

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die vorstellung, dass wir nur so viel wert sind wie die arbeit, die wir leisten, stammt literally aus der sklaverei!! wir sollten nicht so hart arbeiten müssen. wir dürfen auch pausen machen.

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Scheint so, als ob es mal wieder ein erfolgreicher Thread wird, aber natürlich retweetet ihn ein Troll mit dem Kommentar Oh gott, dieses kind nervt so sehr.

Birdie legt den Arm um mich. »Du nervst nicht, Lark.«

Wenn das nur alle so sähen. Weiße, Heteros, cis Personen, neurotypische Menschen, Erwachsene. So ziemlich alle Menschen bezeichnen jemanden wie mich schnell als nervig: unsympathisch, egoistisch, unzuverlässig.

Früher ging ich auf eine freie öffentliche Schule. Ich war eines der wenigen Schwarzen Kinder und die einzige Person, die meine Pronomen verwendet hat. Wenn ich mich im Unterricht aufgeregt gemeldet habe, nannten mich die Lehrer*innen eine Belastung, während die weißen Kinder, die auch mitarbeiteten, fleißigwaren. Ich war die einzige Person in der Klasse, die fast jeden Tag Ärger hatte. Ich habe geredet und gelacht, so wie alle anderen auch, aber ich wurde als Einzige*r bestraft. Ich musste nachsitzen, weil ich die Lehrerin einmal nicht angelächelt habe. Sie meinte, ich wollte sie einschüchtern. Ich hatte keine Freund*innen. Wenn ich den Mund aufgemacht habe, schrien meine Klassenkamerad*innen, dass ich still sein sollte, hau ab, Lark, dich kann eh niemand leiden. Sie haben mich fertiggemacht, verfolgt, mich angespuckt und geschubst, und dann, eines Tages, bin ich im Schulbus eingeschlafen und meine Beine ragten in den Gang und alle sind sauer geworden und haben mich angeschrien, dass ich zu viel Platz einnehmen würde, dass es keinen Platz für mich auf der Welt gebe. Es hat einfach nicht aufgehört, und dann hat mich dieses eine Mädchen, mit dem ich noch nie gesprochen hatte, damit aufgezogen, dass meine Turnschuhe von Payless waren, und dann hat sie mir ins Gesicht geschlagen …

»Atmen«, erinnert mich Birdie.

Teyanas Song ist zu Ende. Hurt von Arlo Parks beginnt.

Birdie kommt aus der Zukunft. Dey sagt, dass es dort anders ist. Wir haben uns so weit entwickelt, dass wir unsere Einigkeit erkannt haben, und wir sind so sehr miteinander verschmolzen, dass wir keine Unterschiede mehr zwischen uns feststellen können.

»Vielleicht komme ich auch aus der Zukunft.«

Kasim schaut mich an. »Was?«

Ich ziehe den Kopf ein. »Nichts.«

Kasim zeigt auf meinen Laptop. »Wir dürfen auch Pausen machen? Ehrlich?«

»Ja. Was stimmt daran nicht?«

»Lark. Indem du das postest, machst du einfach gar keine Pause.«

Ich werfe ein Kissen nach ihm. »Halt die Klappe.«

Er fängt das Kissen und lacht, dann liest er still weiter. »Du konntest deine Meinung schon immer gut vertreten.«

Mir wird heiß. »Danke?« Ich setze mich auf. Ich bin mehr als bereit, das Thema zu wechseln. Ich kann nicht gut mit Komplimenten umgehen, aber Komplimente von Kasim verunsichern mich ganz besonders. Als würden sie mich dazu zwingen, an früher zu denken, als wir uns nah standen, und daran, warum jetzt alles so anders ist.

»Kommt es dir nicht manchmal wie Zeitverschwendung vor?«, fragt er.

»Was?«

»Social Media. Das ganze Gerede, ohne etwas zu tun. Ich bin mir nicht sicher, ob es irgendetwas bewirkt.«

»Und du willst einfach die Welt niederbrennen, oder was?«

»Nicht die ganze Welt. Nur das System, das uns vernichtet.«

»Obwohl das Feuer sich ausbreiten und auch uns verbrennen kann?«

»Naja, es ist die beste Möglichkeit, die wir haben.«

»Sagt wer?«

Er blinzelt mich mit einem Lächeln auf den Lippen an. »Menschen, die nicht deiner Meinung sind, liegen nicht automatisch falsch. Ich warte noch darauf, dass du das kapierst.«

Als wüsste er immer ganz genau, wo es wehtut. »Ich habe nie behauptet, dass du falsch liegst, nur weil du nicht meiner Meinung bist.«

»Nein. Du deutest es nur an.«

»Vergiss es. Ich habe keine Lust zu streiten.«

»Ich will nicht streiten.«

Keine Ahnung, was ich darauf antworten soll. Wann will Kasim denn mal nicht mit mir streiten?

»Ich meine nur, gegen den Status quo anzugehen ist nicht verwerflich, sofern es eine Veränderung bedeutet.«

»Stimmt. Du willst, dass die Welt weiß, dass es dir scheißegal ist, was sie von dir hält.« Okay, das hätte ich nicht so hart ausdrücken müssen. Ich schäme mich still. »Tut mir leid.«

Kasim zuckt mit den Schultern. Verdammt, wie konnte es zwischen uns so unglaublich angespannt werden?

»Ich gehe ins Bett«, sage ich zu ihm. »Mach den Laptop nicht aus, wenn du fertig bist, okay?«

Er nickt, tippt schon ganz vertieft. »Alles klar.«

3

Lark Winters <[email protected]>

Sehr geehrte Ms Jenkins,

ich bin auf der Suche nach einer Literaturagentur, die mich und meinen Young-Adult-Science-Fiction-Roman BIRDIE TAKES FLIGHT vertritt.

Birdie ist sechzehn und kommt aus einer Zukunft, in der Menschen Flügel wachsen. Als Birdie aus Versehen durch einen Zeitspalt rutscht und in unserer Gegenwart landet, wird dey für einen Engel gehalten und als Wiederkunft Christi verehrt. Weltweit wird dey von den Menschen sowohl gefeiert als auch für ein Monster gehalten.

Als Birdie die achtzehnjährige Alexandra trifft, schwört diese, demm dabei zu helfen, in die Zukunft zurückzukehren. Aber dann verschwindet Alex spurlos, und Birdie muss Hinweisen folgen, um ihr mysteriöses Verschwinden aufzuklären, wobei dey auf Antworten stößt, die demm dabei helfen, selbst nach Hause zu finden.

Doch nicht alles ist, wie es scheint, und nicht jede*r Verlorene möchte gefunden werden.

BIRDIE TAKES FLIGHT umfasst ungefähr fünfhunderttausend Wörter. Die ersten fünfzig Seiten finden Sie, gemäß den Anweisungen auf Ihrer Website, im Anhang. Ich gehe noch zur Schule und brenne für das Schreiben, mit dem Ziel, mehr Sichtbarkeit und Repräsentation für Menschen wie mich zu schaffen. Derzeit folgen mir über zwanzigtausend Menschen auf Twitter. Vielen Dank für Ihre Zeit und Aufmerksamkeit.

Mit freundlichen Grüßen

Lark

Jenkins, Susan <[email protected]>

Hi Lark,

danke für deine Einsendung. Die Idee ist spannend, aber ich konnte mich nicht in die Erzählung hineinversetzen. Obwohl es sich um einen Jugendroman handelt, klingt die Erzählstimme doch zu jung, und ich hatte Schwierigkeiten mit den weitläufigen, sich wiederholenden, unzusammenhängenden und, ehrlich gesagt, anstrengenden Monologen im Text.

Ich wünsche Dir viel Erfolg auf Deinem weiteren Weg.

Alles Gute

Susan

Birdie verzieht das Gesicht. »Ach Mist.«

Ich seufze und reibe mir die Augen, mein Handy fällt auf den Boden. Kasim stöhnt und dreht sich neben mir um. Das sollte mich nicht überraschen, oder? Das ist meine dreizehnte Ablehnung. Die weitläufigen, sich wiederholenden, unzusammenhängenden, anstrengenden Monologe … Ich meine, autsch, das tut weh, vor allem, weil ich anders denke und schreibe als neurotypische Personen. Das bedeutet also, dass nicht nur mein Schreiben abgelehnt wird, sondern auch ich abgelehnt werde, mit einem kleinen Beigeschmack von Ableismus. Aber unter dem Schmerz brodelt die Wut. Obwohl es sich um einen Jugendroman handelt, klingt die Erzählstimme doch zu jung. Was soll das überhaupt bedeuten?

»Wie viel Uhr ist es?«, fragt Kasim heiser.

»Keine Ahnung.«

»Schau nach.«

»Mein Handy liegt auf dem Boden.«

Er seufzt.

Zu jung. Als ob es schlimm wäre, jung zu sein. Warum tun Erwachsene immer so, als wären wir das Übel der Menschheit? Die denken, sie sind schlauer und reifer als wir. So, wie ich das sehe, verhalten sich Erwachsene genau wie Teenager. Sie machen einander fertig. Sie sind unsicher. Sie müssen ihre Lektionen lernen, um als Menschen wachsen zu können. Sie steigern sich in ihre Emotionen rein, und sie haben die gleichen Gefühle wie wir. Sie haben Angst, und sie lachen, und sie weinen.

Birdie sitzt auf dem Fußboden. »Auch nur eine weitere Art, wie sich eine Gruppe Menschen über eine andere erhebt. Deine Zivilisation praktiziert das momentan sehr ausgiebig.«

»Adultismus ist komisch«, sage ich.

Kasim setzt sich auf und schüttelt seine Locs, sodass sie ihm ins Gesicht fallen. »Was?«

»Denk mal drüber nach. Adultismus ist eine der wenigen Diskriminierungsformen, durch die du dich von einer Person mit weniger Macht und Privilegien zu einer Person mit mehr Macht und Privilegien entwickeln kannst. Erwachsene nutzen das aus und behandeln uns schlecht.« Wenn ich erwachsen bin, werde ich mich erinnern, wie scheiße sich das anfühlt, und ich werde Teenager wie menschliche Wesen behandeln.

Kasim schielt verschlafen auf mich herab. »Deine Gedanken sind so unzusammenhängend, Lark.«

Ich zucke mit den Schultern, werfe die Decke von mir und bücke mich, um mein Handy aufzuheben. »Es ist zehn Uhr.«

»Dann sollten wir uns fertig machen.«

Es ist lustig, dass wir an den Ort zurückkehren, an dem unsere Freund*innenschaft anfing. Wir gehen auf dieselbe Schule in der Nähe von Chestnut, haben aber nie wirklich miteinander geredet, bis der Unterricht am Commons anfing. Die Schule ist für dieses Jahr vorbei. Der Unterricht lief über Zoom, aber am Laptop aufmerksam zu bleiben war für mich fast unmöglich. Vor allem, weil ich neurodivergent bin und alles. Ich meine, ich glaube, dass ich neurodivergent bin. Ich will keine offizielle Diagnose, und meine Mom sagt, das ist okay, solange ich alles, was um mich herum passiert, im Griff habe, aber vielleicht habe ich Autismus, oder ich habe ADHS, oder ich habe beides. Es würde erklären, warum ich gemobbt wurde. Es war fast eine Erleichterung, herauszufinden, dass viele Menschen, die autistisch sind, oft gemobbt werden. Ungefähr wie, ah, endlich gehöre ich irgendwo dazu.

Mich zuhause fertig zu machen endet immer im Chaos. Es kann passieren, dass ich mich mit der Zahnbürste im Mund für ein Outfit entscheide, und dann suche ich mein Lieblings-Shirt, aber dann erinnere ich mich nicht daran, wo ich die Zahnbürste hingelegt habe, und dann denke ich an Fluorid in Zahnpasta und setze ich mich an den Laptop und google Fluorid, und dann ruft meine Mutter von unten, dass ich zu spät komme, und wenn dann noch eine andere Person da ist, ist es eine Art Tanz, wir stolpern alle drei Sekunden übereinander. Kas platzt ins Bad herein, während ich unter der Dusche stehe.

»Scheiße, Kas, verschwinde!«

»Tut mir leid, ich wusste nicht, dass du hier drin bist …«

»Das Wasser läuft!«

Als ich in mein Zimmer stürme, das Handtuch eng um mich geschlungen, schaut er mich nicht an. Ich wühle in meiner Kommode. Klamottenstapel verheddern sich ineinander. Ich weiß nicht, ob ich tatsächlich so wütend bin. Kas hat gar nichts gesehen. Ich stand hinter dem Duschvorhang. Vielleicht spiele ich nur vor, sauer zu sein, weil ich denke, dass ich das in Bezug auf Kasim tun sollte. Er presst die Lippen zusammen, während er an mir vorbei in den Flur drängt und die Badezimmertür hinter sich zuschlägt.

Birdie verdreht die Augen. »Ihr beiden streitet euch über absolut jeden Quatsch.«

Meine Mom ist in der Küche, als ich mit nassen Haaren runterkomme, Wassertropfen im Nacken. »Guten Morgen, Liebes«, sagt sie und schaut mich über den Tisch hinweg an.

»Morgen.«

Ich trage ein gelbes Hemd, einen Schal mit Blumenmuster, der gleichzeitig eine Maske ist, Jeans mit weitem Bein und weiße Plateau-Sandalen. Ich sehe praktisch aus wie Jaden und Willow Smith, kombiniert mit einem Afro, der aussieht wie ein Heiligenschein oder eine Wolke mit rosafarbenen Spitzen. Mein Style erinnert an einen Hippie aus den Siebzigern. Schlaghosen und T-Shirt mit grellem Aufdruck. Ich kann doch nicht den Namen eines Singvogels tragen, ohne wie ein Sonnenschein- und Blumenkind auszusehen, oder?

»Möchtest du frühstücken?«

»Nein, danke.« Ich halte mein Handy in der Hand und versuche, zu meinen Twitter-Mitteilungen vorzudringen. Es sind viel mehr als erwartet. Der Thread muss durch die Decke gegangen sein, während ich geschlafen habe. Aber meine Mom will meine Aufmerksamkeit.

»Ihr beiden kommt noch zu spät, wenn ihr euch nicht beeilt.«

»Mom, es ist doch bloß das Commons.«

»Ach so, es ist also okay, zu kommen, wann du willst?«

»Nein, aber …«

»Guten Morgen«, sagt sie, als Kasim die Küche betritt. Ein Rucksack, den er sich von mir geliehen hat, hängt über seiner Schulter. Normalerweise schlafe ich in dem grauen Shirt und der schwarzen Jogginghose, aber an ihm sieht das alles gerade besonders kuschelig aus. Die Maske hängt um seinen Hals. Er trägt heute keinen Binder. Er hat mir mal gesagt, dass ihn seine Brust nicht immer stört. Unter einer meiner Mützen umrahmen die Locs sein Gesicht. Meine Mom umarmt ihn fest.

»Warte mal, warum kriege ich keine Umarmung?«, frage ich, aber sie ignoriert mich.

»Hast du Hunger, Kasim?«

»Nicht wirklich.«

»Ihr zwei solltet euch auf den Weg machen«, sagt sie.

»Zeit ist ein Konstrukt«, sage ich zu ihr, während sie nur wissend lächelt und uns zur Eile antreibt. »Ernsthaft, sie ist nicht echt. Ist dir mal aufgefallen, dass sich ein Monat wie ein ganzes Jahr anfühlen kann und ein Jahr wiederum in einem Augenblick an dir vorbeirasen kann? Laut Einsteins Relativitätstheorie …«

Aber sie hört gar nicht zu. Sie schiebt uns mit einem »Viel Spaß« zur Tür hinaus, bevor sie diese hinter uns schließt.

Ich schüttle den Kopf. »Sie versucht es.«

»Du hast echt Glück mit ihr.«

Stimmt. Es gibt keinen Grund, zu widersprechen.

Ich umklammere mein Handy in der Tasche, kann aber nicht gleichzeitig durch Twitter scrollen und laufen. Normalerweise stolpere ich dann über meine Füße. Die Gehwege sind uneben, weil sich viele Baumwurzeln durch den Asphalt kämpfen. Wir laufen über die Veranda, die Stufen hinunter und raus in die Sonne. Ein neuer Tag in West Philly, oder auch Best Philly. Meine Mom und ich sind vor vier Jahren aus Brooklyn hierhergezogen, das hatte verschiedene Gründe. Der erste ist, dass wir uns das Leben dort nicht mehr leisten konnten, der zweite, dass die Stadt verdammt laut und schnell ist, und es hat sich rausgestellt, dass der Lärm und die Lichter und die Massen an Menschen meiner Angststörung nicht guttun, Überraschung! Und der dritte Grund ist, dass ich so schlimm gemobbt wurde. Es waren nicht mehr nur Sticheleien und Ausgrenzungen, ich wurde geschubst und angespuckt und verprügelt. Naja, das sind alles keine Dinge, an die ich gerne denke, aber was ich sagen will, ist, dass wir New York verlassen haben und hier gelandet sind.

Ich mag West Philly. Meine Gegend ist eine Straße, die von Bäumen gesäumt ist. Die Häuser haben wunderschöne Verandas, auf denen Topfpflanzen und Stühle stehen. Unsere Nachbar*innen sitzen dort, trinken Tee und sehen ihren Kindern beim Spielen zu. Es ist ruhiger und entspannter hier, und die Leute lächeln. Ich habe keine großen Probleme in der Schule. Die meisten meiner Klassenkamerad*innen finden mich komisch und niemand redet so richtig mit mir, aber seit die Schule im Grunde zu kleinen Kästchen auf einem Bildschirm geworden ist, spielt das keine große Rolle mehr. Außerdem gibt es viel Platz für Gärten. In New York können sich nur die Reichen Gärten leisten.

Aber naja, ich bin mir auch total bewusst, dass ich eigentlich nicht von hier bin, aber ganz bequem in einem Haus lebe, während Menschen, die hier geboren wurden, ohne Wohnsitz und hungrig sind. Einmal ist ein Typ auf dem Fahrrad neben mir hergefahren, als ich von der Schule nach Hause lief, und hat nach Kleingeld gefragt. Ich habe mich schlecht gefühlt, weil ich keins hatte, und dann hat er mir erzählt, dass er und seine Familie seit fünfzig Jahren hier in der Gegend leben, aber sie haben das Haus verloren und wohnen jetzt auf der Straße. Ich meinte, dass es mir leidtäte, aber das hat sich so bedeutungslos angefühlt, und dann wusste ich nicht, was ich sagen soll, und er ist weggefahren. Es ist so scheiße. Ich hasse es, Teil eines Systems zu sein, unter dem so viele Menschen leiden.

Zwischen Kasim und mir herrscht eine unangenehme Stille, weil wir nicht wissen, wie wir sonst miteinander umgehen sollen. Der Himmel ist wunderschön hellblau mit flauschigen weißen Wölkchen. Um uns herum explodiert das Grün in den Gärten, riesige Blumen mit Bienen und Schmetterlingen um uns herum, Pollen tanzen durch die Luft. Wusstet ihr, dass Stadtplaner*innen massenweise männliche Bäume gepflanzt haben, aber nicht ausreichend weibliche, die die Samen hätten aufnehmen können, und dass die Menschen in den Städten deswegen jetzt nicht einfach Obst pflücken können, sondern Essen kaufen müssen, und dass Allergien deswegen so schlimm sind? Bunte Häuser liefern sich Farben-Wettstreits, und eine Person, die auf der anderen Straßenseite mit ihrem Hund spazieren geht, ruft einer anderen zu: »Hey, wie geht’s dir? Lange nicht gesehen!« Es ist der perfekte Frühlingstag, kennt ihr das? Diese kühle Brise mit der Hitze der Sonne, alles summt vor Leben. Frühling ist definitiv meine liebste Jahreszeit.

»Kas«, sage ich, »welche ist deine Lieblingsjahreszeit?«

»Winter.«

Die Jahreszeit, in der alles kalt und tot ist. Na klar.

An der Ecke rufen ein paar Kinder, die Getränke aus einer Kühltruhe verkaufen: »Wasser! Gatorade!« In den Fenstern hängen Schilder, auf denen BLACK LIVES MATTER und IMMIGRATION AND CUSTOMS ENFORCEMENT ABSCHAFFEN und ACAB steht. Ein Graffito an der Wand einer leerstehenden Lagerhalle zeigt ein Kind, das eine Handvoll Erde trägt, aus der frisches Grün wächst, ich muss an das Gedicht A Small Needful Fact von Ross Gay denken und mir kommen die Tränen. Kas bemerkt es, sagt aber nichts. Er weiß, dass ich ständig weine.