Hundsgeschrei - Titus Simon - E-Book

Hundsgeschrei E-Book

Titus Simon

4,9

Beschreibung

"Aber der Mensch braucht doch eine Zukunft. Oder wenigstens eine Hoffnung." Tränen liefen ihr über das schmale Gesicht. Wie die jüdische Bevölkerung von den Nazis gedemütigt und drangsaliert wird, erfährt Jakob Winter schon früh am eigenen Leib. Der Spross einer Hohenloher Fabrikantenfamilie blickt in die Abgründe der Zeit - in seiner Kleinstadt im schwäbisch-fränkischen Grenzland und dann im Ghetto in Riga. Unter abenteuerlichen Umständen kann er aus dem Lager fliehen und kehrt nach einer Odyssee durch halb Europa schließlich mit den amerikanischen Truppen nach Deutschland zurück. Doch als er sich hier wieder einleben will, trifft er nicht auf die einst vertraute Heimat, sondern auf Argwohn und bürokratische Schikanen. Der spannende Roman erzählt nicht nur von Jakob Winter, sondern auch von der Schaustellerfamilie Schürbel und der Hohenloher Bauernfamilie Lang. Mit großer historischer Genauigkeit zeichnet Titus Simon berührend und eindringlich ein Panorama des Lebens in der Region vom Ersten Weltkrieg bis in die Fünfzigerjahre.

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Titus Simon

Hundsgeschrei

Roman

Professor Dr. Titus Simon, geboren 1954 in Backnang, verheiratet, drei erwachsene Kinder, studierte Rechtswissenschaften, Sozialarbeit, Pädagogik und Journalistik. Er arbeitete zwischen 1975 und 1992 mit jugendlichen Gewalttätern, in der Obdach- und Wohnungslosenhilfe und beim NABU Baden-Württemberg. 1992 bis 1996 hatte er die Professur »Jugend und Gewalt« an der Fachhochschule Wiesbaden inne, 1996 wurde er an die Hochschule Magdeburg-Stendal berufen. Er lebt heute als freiberuflicher Schriftsteller in Oberrot (Landkreis Schwäbisch Hall).

1. Auflage 2013

© 2013 by Silberburg-Verlag GmbH,

Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Anette Wenzel, Tübingen, unter Verwendung des Gemäldes »Die Rückkehr« von Heiner Lucas.

Lektorat: Gertrud Menczel, Böblingen.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1558-1

E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1559-8

Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1239-9

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www.silberburg.de

Vorbemerkung des Autors

Der Roman ist dem Andenken Jakob Sterns gewidmet, stellvertretend für alle aus Baden-Württemberg deportierten und getöteten Juden. Von ihm ist nur bekannt, dass er am 10. Juni 1894 in Braunsbach geboren wurde, als Soldat im Ersten Weltkrieg war, später bei seiner Schwester in Schwäbisch Hall lebte und seit seiner Deportation im Dezember 1941 als verschollen gilt.

Der Protagonist des vorliegenden Romans, Jakob Winter, teilt zwar mit ihm nur den Vornamen, und die Geschichte, die hier erzählt wird, beruht auf einer fiktiven Handlung. Aber alle Hintergründe, die historischen Orte und Ereignisse sowie die Lebensumstände der geschilderten Personen wurden von mir sorgfältig recherchiert, und die gesamte Romanhandlung hätte sich zweifellos genau in dieser Weise zutragen können.

Es ereignete sich mitten im großen Krieg. Millionen Soldaten der sich bekämpfenden Nationen krallten sich ineinander, wühlten sich in den Dreck, stachen mit Bajonetten aufeinander ein, bewarfen sich mit Handgranaten, beschossen sich aus Mörsern, Kanonen und Maschinengewehren, mit Bomben, Giftgas und Granaten. Die Erhebungen, um die gekämpft wurde, waren jenseits des Militärischen so bedeutungslos, dass sie nicht einmal einen Namen hatten. Man gab ihnen Nummern. »Höhe 101«; »Höhe 304«. Und um diese in zivilen Zeiten so unwichtigen Erdhaufen zu besitzen, opferten Feldherren und Generalstäbe Zehntausende. Von denen, die nach den oftmals vergeblichen Anstürmen in die Massengräber geworfen wurden, waren viele so jung, dass sie in ihrem kurzen Leben als Jungarbeiter, Bauernjunge, Schüler oder Kaufmannsgehilfe noch nicht einmal mit einer Frau geschlafen hatten. Vielleicht waren sie schon einmal verliebt gewesen oder hatten sich in schwärmerische Träumereien vergraben, über die sie mit niemandem sprachen, schon gar nicht mit ihren gleichaltrigen Freunden. Der Tod gab ihren noch bartlosen Gesichtern manchmal für einen letzten Augenblick das Aussehen weinender Säuglinge.

Am 29. März 1916 griff das Württembergische Reserve-Infanterie-Regiment 120 bereits zum zweiten Mal eingangs des Caillette-Waldes, nur wenige hundert Meter südöstlich des Forts Douaumont gelegen, einen Infanteriestützpunkt an, den die Franzosen schlicht und unspektakulär »Abri DV 1« nannten. Es war eigentlich nur eine winzige Anlage, ein Bunker mit zwei Meter dicken Betonmauern. Darin untergebracht waren zwei Mannschaftsräume, eine Küche und eine Latrine. Eine vorgeschobene Schutzmauer aus Natursteinen sicherte zusätzlich den Innenraum. Die Besatzung bestand aus 50 Mann. Im Inneren des Unterstandes roch es nach Fäkalien, Blut, Karbol und den Ausdünstungen von Männern, denen es bei Strafe verboten war, das wenige Wasser, das sich in der unterirdisch angelegten Zisterne sammelte, zum Waschen zu verwenden. Seit mehreren Monaten hatte man die Besatzung des »Abri DV 1« nicht mehr abgelöst. Zweimal kam unerfahrener Ersatz für Gefallene und Verwundete. Die jungen Kerle fielen bei den nachfolgenden Angriffen als Erste.

Die Württemberger waren bereits die dritte landsmannschaftliche Formation, die diesen unbedeutenden Stützpunkt erobern sollte, dessen strategische Wichtigkeit sich lediglich aus den Spekulationen grauer Häupter ableitete, die nächtelang über Generalstabskarten grübelten. Zwei Angriffe eines brandenburgischen Regiments waren abgewehrt worden und auch die fünf Einnahmeversuche des elsässischen Infanterieregiments 132 blieben trotz großer Verluste erfolglos.

Die Württemberger, von denen viele aus den Oberämtern Backnang, Ludwigsburg, Heilbronn sowie aus verschiedenen hohenlohischen Städtchen und Dörfern stammten, stürmten mit Flammenwerfern und Handgranaten. Und weil auch das wieder vergeblich war, begannen schwäbische Pioniere mit Unterstützung hinzugezogener oberschlesischer Mineure, die ihr bisheriges Arbeitsleben überwiegend in den Kohlegruben ihrer Heimat verbracht hatten, sich unter der Erde an den Betonklotz heranzuarbeiten. Der tonige Sandstein, der an tiefer gelegenen Stellen Sedimentschichten mitführte, ermöglichte einen verschalungsfreien Vortrieb. Das Pochen der schweren Hämmer, das Klingen der Meißel, das Rattern der neuartigen Bohrhämmer und das dumpfe Hallen, wenn zur Sicherung einzelner Abschnitte Stempel gestellt wurden, waren Tag und Nacht weit zu hören, weswegen die Franzosen nur wenig später in großer Eile begannen, nun ebenfalls einen Schacht zu schlagen, von dem aus sie die deutschen Maulwürfe noch vor Erreichen des »Abri« in die Luft zu sprengen gedachten. Nun wurden auf deutscher Seite Horchposten eingesetzt, die versuchten, das Vorankommen der Franzosen zu lokalisieren. In dieses unterirdische Brüllen, Rennen und Schuften hinein rückten weitere Spezialeinheiten an, die mit neuartigen Kreiselpumpen das Wasser ableiteten und mit elektrisch betriebenen riesigen Ventilatoren die Luft zu verbessern versuchten. Die größte Verantwortung hatten die eingesetzten Horchposten. In Richtung der grabenden Feinde hatte man zwei kurze Horchstollen geschlagen. Die in der Nässe kauernden Posten lauschten in höchster Konzentration am kalten Stein, als gälte es, den Herzschlag eines ungeborenen Kindes unter den anderen Geräuschen des Mutterleibs herauszuhören. Wenn der Gegner zu graben aufhörte, war er meist kurz davor, die Sprengladung zu zünden.

Nun war der Krieg im März 1916 schon weit im zweiten Jahr. Und dieses Mal standen die französischen Mineure und Sappeure unter dem Befehl eines Hauptmanns, der im Zivilberuf Bergbauingenieur war und der in den letzten Jahrzehnten wahrscheinlich mehr Zeit unter als über der Erde verbracht hatte. Aufgrund seines gutmütigen Spitzmausgesichts nannten ihn seine Untergebenen »Taupe«, also »Maulwurf«. Dieser listige, bergerfahrene Mensch ließ zur Täuschung der Deutschen in einem kurzen Nebenstollen noch vortreiben, als man im Hauptstollen bereits damit begonnen hatte, die Sprengladungen zu installieren. So währte die Stille vor der Explosion an jenem nasskalten Morgen nur eine knappe Minute. Dann wurden 40 000 Kilogramm Westfalit gezündet, ein deutscher Sprengstoff, den die Herstellerfirma noch wenige Wochen vor dem Krieg in großen Mengen an ein französisches Bergbauunternehmen verkauft hatte. Der deutsche Stollen brach komplett ein. Unter den Trümmern lagen dreihundert tote Oberschlesier und Württemberger.

Erst zwei Tage später gelang es schwäbischen Pionieren, an den Rand der Verschüttung vorzudringen.

»Ruhe!«, brüllte plötzlich ein Feldwebel.

In die aufkommende Stille hinein war ein unregelmäßiges schwaches Klopfen zu hören.

»Mensch, da leben noch welche.«

Ein Sappeur schlug klirrend mit einem langen Stahlrohr gegen das Gestein.

Schnelles Klopfen war die Antwort. Klirren, Klopfen, Klirren, Klopfen, Klirren, Klopfen.

»Wir müssen denen mit Morsezeichen antworten. Schlag Morsezeichen!«

Was so einfach und zugleich richtig erschien, entpuppte sich als langwieriges Unterfangen. Erst nach einer halben Stunde hatte einer der Verschütteten begriffen, dass die Klopfzeichen der anderen eine inhaltliche Bedeutung hatten. Und es dauerte eine weitere Stunde, bis die draußen erfahren hatten, dass noch acht Mann lebten, und die drinnen verstanden, dass man kleinere Sprengungen vornehmen musste, um nicht einzelne Gesteinsbrocken tagelang mit den Presslufthämmern bearbeiten zu müssen.

Für die Sprengung ließ man einen in der Nähe stationierten Leutnant heranbringen, der vor dem Krieg als einer der ersten württembergischen Juden technische Chemie in Karlsruhe studiert hatte. Später wirkte er bei der Weiterentwicklung von Sprengstoffen für den Bergbau mit und entwickelte dabei eine enorme Begabung für die Dosierung von Sprengladungen zum Zwecke der punktgenauen Sprengung. 1913 meldete er sich als Zweijähriger zur Kavallerie. Ein knappes Jahr später, gleich zu Beginn des Krieges, ritt er als Fähnrich des in Ludwigsburg stationierten Dragonerregiments »Königin Olga« nach Saarburg in Lothringen aus. Doch schon im September saß der größte Teil der Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften ab und tauchte in den Gräben unter, nachdem die kühn anreitenden Kavalleristen in Massen von den Maschinengewehren der Franzosen weggemäht worden waren. Der technisch begabte Sprengstoffexperte wurde zu einer Pioniereinheit versetzt, bei der er aufgrund seiner präzisen Sprengungen alsbald bei den Mannschaften beliebt, jedoch als Jude nicht bei allen Vorgesetzten wohlgelitten war, obwohl seine Sprengkünste selbst in höchsten Offizierskreisen gelegentliche Respektsbekundungen auslösten und erste Auszeichnungen nach sich zogen.

Als der Leutnant zur Unglücksstelle durchgedrungen war, inspizierte er eingehend das zu entfernende Gestein. Dann ließ er zur Verwunderung der Anwesenden einen Tisch bringen, an dem er unter ratlosen Blicken der umstehenden Pioniere Berechnungen durchführte und kleine Skizzen fertigte. Anschließend bereitete er drei fein dosierte Sprengungen vor, die er im Abstand von jeweils einer Stunde durchführen ließ, nachdem man zuvor die Eingeschlossenen mit Klopfzeichen über die geplante Detonation informiert und, soweit das möglich war, beruhigt hatte.

Nachdem sich der Staub der letzten Sprengung einigermaßen gelichtet hatte, begannen die Schippersoldaten mit der Beseitigung der Trümmer, die noch den Durchgang versperrten. Auch von der anderen Seite wurde, wenngleich mit nur noch wenig Kraft, geschippt und gehämmert. Endlich kroch nach einer weiteren Stunde ein blasser, bis in die letzte Furche seines von Erschöpfung und Angst gezeichneten Gesichts mit Staub bedeckter Soldat aus den Gesteinstrümmern und blickte geblendet und von der Gewalt der Sprengungen vorübergehend taub in das Licht der elektrischen Grubenlampen. Von zwei Armierungssoldaten gestützt taumelte er den Offizieren entgegen, erkannte unter diesen den Leutnant, der offensichtlich ein Landsmann von ihm war, und bedankte sich zur Verwunderung der Umstehenden mit den Worten: »Grüß Gott, Herr Jud.«

Der Mai 1952 war ein ungewöhnlich heißer Monat. Auf den trockenen Hochflächen, die das an der Grenze zwischen den letzten Ausläufern Württembergs und dem Hohenlohischen gelegene kleine Städtchen umschlossen, machten sich die Bauern bereits große Sorgen. Wenn der Regen noch länger ausbliebe, verdorrte das Gras, verlöre man das Korn und litte das Vieh. Und wenn das alles einträte, könnten sie die Kreditraten für die neuen Maschinen nicht aufbringen. Viele hatten damit begonnen, ihre Höfe zu modernisieren. Manchen half dabei das wertvolle Gut, das hungernde Städter in den letzten Kriegsmonaten und während der unmittelbaren Nachkriegszeit gegen Brot, Milch, Eier und Kartoffeln eingetauscht hatten. Nicht alles besaß noch seinen Wert. Viele Teppiche und so mancher Tand waren jetzt, da man schon einige Jahre wieder eine harte Mark hatte, nur noch schwer zu versilbern. Aber echter Schmuck und ausgesuchtes Porzellan fanden immer ihre Hehler. Das brachte nicht den wirklichen Gegenwert ein, war aber immer noch deutlich mehr als das, was die Hungerleider dafür seinerzeit an Naturalien in ihre Rucksäcke, Taschen und Persilkartons gepackt hatten.

Als Jakob Winter an einem späten Vormittag den Seelbacher Bahnhofsvorplatz überquerte, platzte ihm eine üppige Pracht blühender Kastanien entgegen, die die Bahnhofstraße zu beiden Seiten bis zum Postamt säumten. Nach der Brücke, die über die träge dahinfließende Seel führte, verengte sich die Straße. Auf der anderen Seite des Flusses begann die Altstadt, die er das letzte Mal kurz vor Weihnachten des Jahres 1946 betreten hatte. Am Gasthof »Waldhorn« vorbei ging er in Richtung der alten Lateinschule, die seine beiden Schwestern 1937 von einem Tag auf den anderen hatten verlassen müssen.

Inmitten der Häuser, die in einem nahezu geschlossenen Ring den Marktplatz umfassten, überfiel ihn eine Vielzahl höchst diffuser und verschiedenartiger Erinnerungen. Das aufkommende flaue Gefühl in der Magengrube ließ ihn an seine Großmutter Bertha denken. Während ihres gemeinsamen Zusammenlebens in der »Weißen Villa« hatte sie regelmäßig »Blümeranzen« erwähnt, unter denen sie angeblich litt. Es dauerte einige Jahre, bis er sich dazu durchgerungen hatte, seine Mutter zu fragen, was es denn mit Großmutters seltsamem Leiden auf sich habe. Seine Mutter lächelte still, wie sie es immer tat, und erklärte ihm flüsternd, die »Ome«, so hatte er sie als Kind immer genannt, leide ab und zu an Bauchschmerzen, Völlegefühl oder einem anderen Magenleiden. So genau wisse das keiner. Die Ärzte fänden nichts und könnten somit entsprechend wenig unternehmen. Es sei »psychisch«, sagte sie noch, was er damals nicht zu deuten wusste.

Vor wenigen Tagen war er dreißig geworden. Das flaue Gefühl, das ihn an diesem Vormittag beschlich, hatte reale Ursachen. Sie waren so vielfältig, dass er auf Anhieb nicht zu bestimmen wusste, was ihm am meisten Bauchgrimmen bereitete. Waren es die unendlich trostlosen Ereignisse der letzten 15 Jahre? War es die Wiederbegegnung mit dem Ort, der die ersten 19 Jahre seines Lebens seine Heimat gewesen war? Oder war die Empfindung schlicht dem Umstand geschuldet, dass er heute als Bittsteller aufs Rathaus schlich, das er beim letzten Mal im Dezember 1946 als strenge und zugleich gefürchtete Autorität betreten und anschließend wieder verlassen hatte? Seit damals war er nicht mehr hier gewesen.

In Höhe des Gasthofs »Waldhorn« blieb er stehen und besah sich das historische Gebäude. In den Nachkriegsjahren hatten die neuen Besitzer offensichtlich noch nicht die Mittel aufbringen können, um die Fassade neu zu streichen. Zwischen dem unverändert soliden braungrauen Fachwerk dominierte noch immer der ockergelbe Putz der Vorkriegszeit, an den sich Jakob Winter seit frühester Kindheit erinnern konnte. Damals war über dem Eingang ein aus Stuck gefertigter Rundbogen angebracht gewesen, der mehrere Fachwerkstützen überspannte. »Zur silbernen Leuchte« stand darauf in Frakturschrift. Einmal hatte er als Kind zugeschaut, wie der Schriftzug vom alten Malermeister Bloch nachgebessert worden war. Der alte Bloch, so viel hatte er Ende 1945 in Erfahrung bringen können, war 1944 in Theresienstadt umgekommen, wohin man die alten Juden gebracht hatte, die 1941 aus Altersgründen nicht am Transport nach Riga teilhaben durften. »Teilhaben durften?« Die schleimige und zugleich verschleiernde Nazisprache drängte sich immer noch in seine Erinnerungen.

Bloch war der erste jüdische Inhaber eines Malergeschäfts in Seelbach gewesen. Als es im November 1941 geheißen hatte, die württembergischen Juden würden nach Osten geschafft, um in den frisch eroberten Gebieten neu zu siedeln, hatte Leo Bloch darauf gedrängt, mitzukommen. Aber er war damals schon fast 70 und alle, die älter als 65 waren, wurden von der als »Umsiedlung« kaschierten Deportation ausgeschlossen. Bloch hatte 1938 seinen Betrieb arisieren müssen. Ein Neuanfang im Osten schien ihm nach Jahren des Elends eine verlockende Alternative zu sein.

Der Rundbogen aus Stuck war abgeschlagen worden, als im Frühjahr 1939 aus der »Silbernen Leuchte« das »Waldhorn« wurde. Ein aus Schwäbisch Hall stammender SA-Mann namens Horlacher war der neue Besitzer.

Zügig überquerte Jakob den Marktplatz und steuerte auf ein imposantes Fachwerkgebäude zu, das älteste und zugleich größte Haus am Platze. Das Erdgeschoss war durch einen brachialen Umbau verschandelt worden, der es ermöglichte, auf einer durchgehenden Fläche den ersten »Konsum« im Ort einzurichten. Viele Jahrzehnte war hier der Kolonialwarenladen der Familie Weiß gewesen. Kurze Zeit versuchte der loyale Angestellte Kurt Langer das Geschäft pro forma »arisiert« weiterzuführen. Doch der frühere Sozialdemokrat stand damals schon unter ständiger Beobachtung der neuen Mächtigen. Das Scheingeschäft flog auf, er wurde sogar eine Zeitlang wegen »illegaler Geschäftsbeziehungen zu Juden« eingesperrt. Immerhin konnte Weiß noch verkaufen.

Jakob Winter versuchte, sich an die einzelnen Mitglieder der Familie Weiß zu erinnern. Kein einziges der ihm bekannten Familienmitglieder war aus den Vernichtungslagern zurückgekehrt. Ihre ganz besondere Tragödie war der Umstand, dass sie Deutschland noch rechtzeitig verlassen hatten. Doch dann wurden sie in Frankreich vom Vormarsch der Wehrmacht überrollt, von der französischen Polizei festgesetzt und später an deutsche Stellen ausgeliefert. Der alte Weiß starb mit seiner Frau in Theresienstadt, die beiden Töchter in Auschwitz. Besonderes Pech hatte der Sohn Ulrich. Er hatte Kontakt zu Kreisen der französischen Résistance und ging rechtzeitig vor der Verhaftung der deutschen Juden in den Untergrund. Bei einer Routinekontrolle seiner gefälschten Papiere verlor er die Nerven, rannte davon und wurde so unglücklich in den Rücken geschossen, dass er wenige Tage später verstarb. Keine der beiden Töchter hatte jemals geheiratet, obwohl sie schon zu Beginn der Nazizeit im heiratsfähigen Alter gewesen waren. Er dachte an das immer traurige Clärchen Weiß, das mit einem Angestellten der Schwäbisch Haller Bausparkasse verlobt gewesen war. Auf Anraten seiner Vorgesetzten nahm dieser bereits lange vor dem Erlass der Nürnberger Rassegesetze Abstand von der Vermählung mit einer Jüdin. Jakob hatte Clara Weiß oft im Laden gesehen, wenn ihn seine Mutter oder die Köchin zum Einkaufen schickten. Meist waren nur Kleinigkeiten zu besorgen. Die große Lieferung brachte schon immer der alte Weiß am Vortag des Schabbes. Es war ein festes Ritual, das ihn durch seine Kindheit begleitete. »Die Weiß-Sachen abladen«, hallte die Donnerstimme des Großvaters durchs Haus. Oder sie wurden von der Köchin Emma Goldner zu dieser Arbeit herangezogen. Zuständig für das Hereinschleppen der Kisten war eigentlich sein sechs Jahre älterer Bruder Elias. Doch der nahm ihn, das jüngste von vier Kindern, schon früh in die Pflicht. Gelegentliche Versuche, sich dieser Aufgabe zu entziehen, bestrafte der kraftstrotzende Ältere mit Püffen und wechselnden kleinen Quälereien, von denen ein schmerzhaftes Drehen des Ohrläppchens sogar noch eine der angenehmeren war, weil diese Tortur nur kurz anhielt.

Bis 1931 kam Weiß noch mit einem leichten Einspänner, der von einem mageren Pferd gezogen wurde. Der alte knorrige Gaul stand geduldig vor dem Haus. Als vier oder fünf Jahre altes Kind hatte er ihn gefürchtet. Sein Vater, der zu Beginn des Weltkriegs bei der Reiterei gewesen war und somit den Umgang mit Pferden aus dem »Effeff« beherrschte, wie man in der Familie zu sagen pflegte, hatte ihn von Mal zu Mal näher an den Wallach herangeführt und ihm schließlich gezeigt, wie man ihm ein Stück Zucker gab. »Immer von der flachen Hand«, hatte der Vater ihn ermahnt, »dann passiert den kleinen Fingerchen nichts.«

Als die Kreatur zu schwach geworden war, brachten ihn seine Besitzer zum Metzger, was Jakob mit Entsetzen hörte. Er aß daraufhin zwei Jahre keine Wurst, wobei Pferdesalami schon aus Gründen der Einhaltung jüdischer Speisegesetze nicht zu den Delikatessen gehörte, die ein fester Bestandteil der Winter’schen Küche waren.

Kurze Zeit später machte der Kolonialwarenhändler Weiß seine Auslieferfahrten mit einem nagelneuen Opel »Blitz«. Sobald der kleine Lastwagen vor der Treppe der »Weißen Villa« abgestellt wurde, setzte sich Jakob von nun an einen kurzen Augenblick ins Führerhaus, bis ihn Elias dazu anhielt, sich gefälligst am Abladen zu beteiligen. Das war nicht wenig, denn im Haushalt der Winters mussten mit den Bediensteten um die 15 Personen verköstigt werden. Neben Großeltern, Eltern und den vier Kindern lebte noch die immer kränkelnde Großtante Magda im Haushalt, die älteste Schwester der Großmutter, wie diese eine geborene Günzburger, die, obwohl angeblich dreimal verlobt und von Hause aus eine gute Partie, immer ledig geblieben war. Ihre gesundheitlichen Störungen und die daraus resultierenden Aufgeregtheiten und hektischen Aktivitäten legten sich gelegentlich wie Mehltau auf die überwiegend heitere Grundstimmung des Hauses.

Jakob Winter hatte nun das Rathaus vor sich. Ein Blick auf seine amerikanische Armbanduhr, die ihn seit 1944 durch zahlreiche Länder begleitet hatte, verdeutlichte ihm, dass noch eine Dreiviertelstunde Zeit bis zu seinem Termin war. Als er vor ein paar Wochen aus Israel angerufen hatte, der Aufbau der Verbindung hatte fast zwei Stunden gedauert, wurde ihm ein Termin um 12 Uhr vorgeschlagen. Man habe dann eigentlich Mittagspause und somit genügend Zeit, sein Anliegen ungestört zur Kenntnis nehmen und gegebenenfalls gleich bearbeiten zu können. Das sei zwar nicht üblich, aber bei ihm mache man eine Ausnahme.

Er überlegte kurz, ob er schon jetzt hineingehen sollte. Bei seinem letzten Besuch hatte er auch nicht gefragt, ob irgendjemand Zeit dafür hatte, was seiner Meinung nach zu tun war. Aber damals kam er als Angehöriger der amerikanischen Streitkräfte und es stand außer Frage, dass die Angestellten und Beamten der Kommunalverwaltung – vom Bürgermeister bis zum Amtsboten – seinen Anweisungen Folge zu leisten hatten. Zumindest war das in den ersten Monaten so. Mit wachsender Dauer der Besatzung lernten die Besiegten rasch, wer mit wem konnte und an wen man sich mit heiklen Anliegen zu wenden hatte und an wen besser nicht. Und der damals neu eingesetzte Seelbacher Bürgermeister, der jetzt immer noch im Amt war, hatte nach und nach über Bürgermeisterkollegen in Erfahrung bringen können, dass zwar der zuständige General ein ausgemachter Judenfreund war, hingegen der unmittelbar für ihren Raum zuständige Colonel Clark keine besonderen Sympathien für die Angehörigen des auserwählten Volkes hegte. Immer öfter gelang es nun dem Seelbacher Bürgermeister Horn, darauf hinzuwirken, dass der von »Rachegedanken zerfressene« deutschstämmige Besatzungssoldat Jakob Winter in die Schranken gewiesen wurde, die die Seelbacher über ihre rasch wachsenden Kontakte zu den wichtigsten Leuten der Besatzungsmacht nun immer unverblümter einforderten.

Jetzt, einige Jahre später und dazu in privater Mission, war es wahrscheinlich nicht Erfolg versprechend, vor der vereinbarten Uhrzeit in die Räume des beschaulichen Bürgermeisteramtes vorzudringen. Höflich, aber bestimmt würde ihn einer dieser kleinen Beamten mit dem Verweis auf wichtige andere Angelegenheiten auf später vertrösten.

Er beschloss, noch einmal sein früheres Zuhause aufzusuchen, und nahm sich zugleich vor, das Haus nicht zu betreten. Ehe dies wieder geschehen konnte, mussten all die Dinge geregelt sein, die ihn erneut hierhergeführt hatten. Er durchschritt den schmalen Durchlass, der den Marktplatz vom historischen Klosterhof abgrenzte. Gleich neben dem baufällig gewordenen Torbogen stand in gutem Zustand eines der wenigen Häuser, die frisch verputzt waren. Hier hatte der weit über Seelbach hinaus bekannte Arzt Dr. Max Goldmann seine Praxis gehabt, der als erster Jude das Wagnis eingegangen war, im Klosterhof ein Haus zu kaufen. Auch wenn keine offene Feindseligkeit aufkam, so brachte der Umstand, dass sich nun ein Jude im bislang nur von Christen bewohnten historischen Ortskern niederließ, Unruhe in die evangelische Gemeinde. Selbst der Umstand, dass er nur eine völlig heruntergewirtschaftete Bruchbude erwarb, die er abriss und durch ein stattliches Gründerzeithaus ersetzte, ließ keine Ruhe einkehren. Unbeirrt hiervon richtete er die Praxisräume und eine schöne Wohnung für seine nur dreiköpfige Familie ein, die sich über zwei Stockwerke erstreckte. Die Juden, die in Seelbach zu Beginn des Jahrhunderts fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachten, hatten in ihren Straßen und Vierteln zu bleiben. Wo sollte das noch enden? Zuletzt war man in seiner eigenen Straße ein Fremder. Das hinderte die meisten christlichen Seelbacher allerdings nicht daran, die Praxis von Dr. Goldmann aufzusuchen, wenn ärztlicher Rat oder eine Behandlung geboten waren. Im Umkreis von dreißig Kilometern gab es keinen besseren Arzt. Und außerdem behandelte Dr. Goldmann, der als erster Jude auf der Liste der sozialdemokratischen Partei in den Seelbacher Gemeinderat gewählt worden war, viele Arme umsonst. Von den Wohlhabenden hingegen nahm er reichlich und gab sich dabei auch nicht die Blöße, seine Leute besserzustellen als die Gojim.

Mit schnellen Schritten überquerte Jakob Winter den Klosterhof. Frauen hasteten mit gefüllten Einkaufstaschen und den in Mode gekommenen Einkaufsnetzen nach Hause. Viele trugen Kopftücher, obwohl es nicht kalt oder regnerisch war. Gleich war Mittag. Ein schmaler Weg führte ihn zwischen Hausgärten hindurch zur Frommbergstraße. Im vorletzten Garten stand noch immer der Kirschbaum, den sie als Kinder mit großem Vergnügen geplündert hatten.

»Macht, dass ihr fortkommt, ihr Judenbengel!«, hatte der alte Huter ihnen nachgebrüllt und dabei ungelenk mit seinem Gehstock in der Luft herumgerudert.

»Judenbengel« hatte er auch dann zu ihnen gesagt, wenn sie nicht im Begriff waren, seine Kirschen oder, etwas später im Jahr, die saftigen Birnen zu stibitzen. Der Birnbaum fehlte jetzt in dem verwilderten Garten. Hatte man ihn in der schlechten Zeit zu Brennholz zersägt?

Huter war nun schon etliche Jahre tot. Nach Kriegsende hatte er ihn mehrfach aufgesucht, um mehr über das Schicksal seiner »Ome« zu erfahren. Er war kein schlechter Mensch gewesen, der Huter, eher noch ein guter. Mehrmals hatte er seine Großmutter im provisorischen Altersheim im Schloss Eschenau besucht und er war mutig genug gewesen, sie wenige Tage vor dem Abtransport zu warnen. Das wusste Jakob Winter nicht von ihm selbst, der Alte hatte nichts dazu gesagt. Er hatte es von einer Krankenschwester erfahren, die unmittelbar vor der Deportation der betagten Altenheiminsassen die Aufgabe zugewiesen bekommen hatte, die Frauen einer Leibesvisitation zu unterziehen.

Der alte Huter hatte vor niemandem gekuscht. Vor den Nazis nicht und nicht vor ihm, als er in amerikanischer Uniform vor ihm stand, damals im Juni 1945. Fast distanzlos hatte er ihm die Hand auf den Unterarm gelegt. »Na, Judenbengel«, sagte er nur und verdrückte dabei eine Träne. Ja, Huter war ein Guter gewesen. Das reimte sich und entsprach den Tatsachen.

Ein Guter, wie auch der Leiter der Ortspolizei, Oskar Angelbauer, mit dessen Sohn Alfred Jakob nicht nur eng befreundet, sondern zum Leidwesen sowohl der Winters als auch der Angelbauers einige Zeit in der kommunistischen Jugend aktiv war. Ein Skandal fast. Der Sohn des Postenleiters der örtlichen Polizei und der Sohn des bedeutendsten Unternehmers der Stadt bei den Kommunisten. War denn alles aus den Fugen? Jedenfalls gab es keine gesicherte Ordnung mehr. Weder für den christlichen Sozialdemokraten Angelbauer noch für den bis in die Knochen deutschnational gesinnten jüdischen Spiegelfabrikanten Joseph Winter.

Am Ende des Schotterweges, noch ehe er die Frommbergstraße erreicht hatte, wurde die Sicht auf die etwas höher am Hang gelegene »Weiße Villa« frei. 123 Stufen führten zu ihr hinauf. Jakob hatte sie als Kind oft gezählt. Und trotzig hatte er wieder von vorne mit Zählen begonnen, wenn ihn sein sechs Jahre älterer Bruder Elias mit seinen Scherzen so verwirrt hatte, dass am Ende 124 herauskam oder 122 und einmal sogar nur 119. Sein kindlicher Glaube daran, dass es 123 Stufen sein mussten, wurde nie erschüttert. Aber er wollte es bewiesen sehen. Und während Elias feixend davonstürmte, um noch vor dem Essen einige ausgesuchte Leckereien bei der Köchin Emma »abzugreifen«, wie er es nannte, ging Jakob wieder hinunter zur Frommbergstraße und begann erneut, die Stufen zu zählen. Das war vor 1933 gewesen. Er ging damals auf die Seelbacher Volksschule, sein Bruder besuchte das Schwäbisch Haller Knabengymnasium. Elias kam meist mit dem Zug und Jakob wartete auf ihn häufig zusammen mit Alfred Angelbauer, den er immer nur »Alfi« genannt hatte, am Bahnhof.

Bei Angelbauers gab es erst um eins Essen, da der Polizist nicht früher zu Hause erschien. Dass das nichts mit dem Dienst zu tun hatte, sondern mit einer lange im Verborgenen blühenden Liaison mit der verwitweten Engelwirtin Cäcilie Giebel, kam erst Jahre später ans Licht, dann aber mit Macht, oder – wie man so sagte – »volle Pulle«.

Immerhin 14 Jahre lang war es dem Polizisten und der Wirtin gelungen, die Beziehung geheim zu halten, was in einer Kleinstadt höchst ungewöhnlich war. Natürlich wollten später viele gewusst haben, zu welchem Zweck der Polizist durch den weitläufigen Garten und den Sommerkeller in den Teil des Hauses vordrang, den die Wirtin auch für ihre langjährigen Bediensteten niemals zugänglich machte. Respektvoll sprachen alle davon, dass sie auf diese Weise das Andenken an ihren bereits früh verstorbenen Mann wahren wollte, der in diesem Keller zu Tode gekommen sei. Böse Zungen behaupteten, er sei nachts schwer berauscht beim Versuch, noch einen weiteren Krug Most zu holen, die Sandsteintreppe hinuntergestürzt und anderntags den Folgen seiner schweren Schädelverletzungen erlegen.

Als die Affäre dann 1942 aufflog, war die so lange betrogene Ehefrau nicht aufzuhalten. Sie denunzierte ihren Mann beim Ortsgruppenleiter. Und da ein Ehebruch zwar moralisch verwerflich, aber ansonsten nicht zu beanstanden war, köderte sie diesen mit dem Hinweis, dass ihr Mann, der Leiter der Ortspolizei, die Familie Winter im Herbst 1941 vor der drohenden Deportation gewarnt habe. Ohne Folgen zwar, denn niemand aus der Familie machte den Versuch, sich dem anstehenden Abtransport zu entziehen, aber dennoch, das war nicht weniger als der Verrat von Dienstgeheimnissen an Juden, Hochverrat also, Verrat am Führer und an der Volksgemeinschaft. Ortsgruppenleiter Karl Gauder sah endlich die Gelegenheit, dem früheren Sozialdemokraten Angelbauer den entscheidenden Schlag zu versetzen. Er hatte es nie verwunden, dass dieser 1933 nach kurzer Abberufung aus seiner Funktion auf Drängen des damaligen Bürgermeisters Walter Knecht wieder in sein Amt eingesetzt worden war. Jetzt konnte er endlich dafür sorgen, dass Oskar Angelbauer noch mit 48 Jahren an die Front musste. Und nicht nur das. Für sein nachgewiesenes volksschädliches Verhalten kam er in ein Strafbataillon und fiel 1943 an der Ostfront. Dies geschah wenige Tage, bevor es dem immer fröhlichen Alfi am 14. Juli ganz in der Nähe der Ortschaft Prochorowka nicht mehr gelang, seinen brennenden Panzer zu verlassen.

Manche sagten später, das sei die gerechte Strafe für Agathe Angelbauer gewesen, die ihren einzigen Sohn über alles vergötterte, zumal gleich mehrere Seelbacher dabei gewesen sein wollten, als die Engelwirtswitwe die Angelbauerin »bis an den letzten Tag« verflucht habe. »Kein Stein soll ihr auf dem anderen bleiben. Keinen einzigen glücklichen Tag soll sie jemals wieder erleben.«

Aber andere fanden, das ginge dann doch zu weit, immerhin sei die Engelwirtin ja ein ganz »abg’schlagnes Ripp«, die Verführerin, die »Lacke«, die eigentliche Hur’ gewesen und somit zumindest mitschuldig am Schicksal von Oskar Angelbauer.

Ein Blick auf die Uhr verdeutlichte Jakob Winter, dass es Zeit war, umzukehren. Er hatte ohnehin nicht die Absicht gehabt, die 123 Stufen hinaufzusteigen. Ihn interessierte auch nicht, wer derzeit in der Villa wohnte. Das war im Augenblick nicht von Belang. Das würde erst eine Rolle spielen, wenn es darum ging, das Procedere der Rückübereignung praktisch in Angriff zu nehmen.

Natürlich war das ein großer Fehler gewesen, die Sache in den Jahren ’45 und ’46 schleifen zu lassen. Als Angehöriger der US-Streitkräfte hätte er die Rückübereignung binnen Tagen durchsetzen können. Dass er damals nicht sofort aktiv wurde, hatte seine Gründe. Den Ort Seelbach konnte er nur unter Aufbietung aller Kräfte mit unendlicher Wut und in großem Schmerz aufsuchen. Von der jüdischen Gemeinde, die in den zwanziger Jahren fast die Hälfte der Wohnbevölkerung ausmachte, war niemand mehr da. Und die Gojim? Mit erhobenem Haupt begegnete ihm einzig Franz Huter. Wobei dieses Bild nicht stimmte, denn dem hatte die Bechterew’sche Krankheit das Kreuz in die Waagrechte und den Kopf nach unten gezwungen. Trotzdem war er der einzige Aufrechte in Seelbach. Und die anderen? Die Witwe Angelbauer brach in Tränen aus, als er das Gartentor zu ihrem Grundstück öffnete, um sich nach Alfi zu erkundigen. Auf der Straße hasteten viele Frauen mit scheuen Blicken an ihm vorbei. Frauen waren damals im Ortsbild deutlich in der Überzahl. Viele wichen ihm aus, teils aus Scheu, aus Unsicherheit dem Besatzungssoldaten gegenüber, der früher einmal einer der ihren gewesen war. Einer der ihren? Wohl nicht ganz, aber einer von hier, der Enkel des Salomon Winter, der mit dem wirtschaftlichen Erfolg seiner Spiegelfabrikation viele im Ort in Arbeit und Brot gebracht hatte, der auch in der Krise der späten zwanziger Jahre keinen einzigen Mitarbeiter entlassen hatte. Noch nicht einmal diejenigen, die als Erste im braunen Hemd herummarschierten, obwohl der Bürgermeister ihm den Rat gegeben hatte, das Gesindel rauszuschmeißen.

»Es sind verwirrte junge Leute«, hatte das charismatische Oberhaupt des Hauses Winter erwidert. »Wenn ich sie um die Arbeit bringe, werden ihre Verwirrungen und ihr Hass auf uns Juden noch weiter zunehmen. Wenn sich einer bei der Arbeit nichts zuschulden kommen lässt, kann er meinetwegen in seiner Freizeit im kackbraunen Hemde herumlaufen.«

Schon kurz nach dem 30. Januar 1933 legten die jungen Nazis, die in der Winter’schen Spiegelfabrik vor allem in der Verwaltung tätig waren, ihre braunen Hemden auch während der Arbeitszeit nicht mehr ab. Und später, als man seinen Sohn Joseph, der zum Jahreswechsel 1933/34 die Führung der Geschäfte übernommen hatte, aus der Firma jagte, war es einer dieser braunen Rotzlöffel, der ihn mit den Worten »Itzig Winter, du hast in einem arischen Betrieb nichts mehr zu suchen« aus dem Chefbüro wies. Gottfried Metzig war das gewesen, ein früherer Schulkamerad von Elias, der mit diesem Mistkerl während der ersten Schuljahre sogar freundschaftlich verkehrte und ihn hin und wieder mit nach Hause brachte. Metzig hatte sich später lange vor der Einberufung zur Wehrmacht drücken können. Die Leitung der Spiegelfabrik, die jetzt optische Teile für Scherenfernrohre und andere wehrtechnische Produkte herstellte, wurde als »kriegswichtig« eingestuft. Schließlich erhielt er 1944 doch noch seine Einberufung und starb ein Dreivierteljahr später bei der sinnlosen Verteidigung der zur »Festung« ausgerufenen schlesischen Metropole Breslau. Für die Leitung der arisierten Winter’schen Spiegelfabrik war er bestens qualifiziert gewesen. Im Nahkampf gegen erfahrene sowjetische Infanteristen hatte Metzig nichts zu bestellen.

Der Großvater hatte ihn eingestellt, trotz seiner nur mäßigen Schulzeugnisse. Er hatte ihn gefördert, auch wenn Prokurist Jänke, der, obwohl SA-Angehöriger, dem Alten bis zum Schluss treu ergeben war, dafür plädiert hatte, ihn nach einer misslich verlaufenen Probezeit zu entlassen.

Aber der in seiner Jugendzeit äußerst lebensfrohe und erlebnishungrige Großvater hatte nur gelacht. »Jänke, Sie sind nicht optimistisch genug. Die jungen Pferde lernen später schon noch, den Karren zu ziehen.«

In einem hatte Großvater Recht. Jänke war kein Optimist. Wiewohl überzeugter Nationalsozialist, teilte er doch deren Rassenideologie nicht, dafür war er zu klug, zu gebildet. Die Ostjuden mussten seiner Meinung nach unverzüglich dorthin zurückgebracht werden, wo sie herkamen. Dagegen waren Leute wie sein Chef wichtig für die Wirtschaft und das Gemeinwesen. Er warnte die Winters schon früh vor drohender Gefahr. Aber der Großvater lachte nur. Er lachte in seiner dröhnenden, nimmer endenden Art, die das ganze Haus, das Familienleben und den Betrieb nachhaltig beeinflusste. Wenn der Alte in seinem Kontor lachte, löste sich die Anspannung der Beschäftigten. Joseph war immer anders gewesen. Und das im Weltkrieg Erlebte hatte ihn noch stiller und ernster werden lassen. Der Wesensunterschied zwischen Vater und Sohn hätte kaum größer sein können. Zumal der Alte groß gewachsen und massig daherkam, Joseph hingegen eher seiner Mutter glich, die bis ins hohe Alter zierlich wirkte.

So ungleich war das Verhalten von Vater und Sohn auch am 20. April 1922, einem fürchterlichen Tag. Sturmböen krachten gegen die frisch getünchten Wände der Villa. Der nicht enden wollende Starkregen peitschte wuchtig gegen die Fenster. Eigentlich war dieser Tag für einen Judenjungen ein gänzlich schlechter Zeitpunkt, das Licht der Welt zu erblicken. Schon Jakobs elfter Geburtstag, an dem der Großvater ihm eine neue, größere Dampfmaschine schenkte und das damit angetriebene, feinteilig aus Blech nachgebildete Sägewerk gleich dazu, wurde wie alle späteren Geburtstage bis zur Deportation überlagert von »des Führers Geburtstag«. Durfte ein Judenlümmel just an dem Tag feiern, an dem auch der Führer Geburtstag hatte? Die Frage wurde mehrmals gestellt, erstmals vom jugendlich wirkenden und voller Elan auftretenden Referendar Heinrich Grosse, der am kleinen Jakob in der Sexta des Haller Knabengymnasiums ein Exempel statuierte: Anders als bisher üblich sang die Klasse dem Geburtstagskind am 20. April 1933 das erste Mal kein Lied.

Aber an diesem Tag elf Jahre zuvor beglückwünschte ein kraftstrotzender Salomon Winter seinen Sohn, der durch das Auf und Ab des dramatischen Geburtsvorgangs, der seine Frau fast das Leben gekostet hätte, weshalb sie in Zukunft immer kränkeln würde, in völlige Erschöpfung verfallen war.

Dass Mutter und Kind überlebten, war einzig dem unermüdlichen Einsatz der erfahrenen Hebamme Charlotte Bühler zu verdanken gewesen, die Rosa Winter bei allen vier Geburten begleitet hatte. Im Verlauf ihres langen Berufslebens half sie im Ort fast sämtlichen Christen- und Judenkindern ins Leben. Jahre später musste sie fassungslos mit ansehen, ohne eingreifen zu können, wie die einen auf die anderen losgingen. Rosa Winter und ihren Töchtern begegnete sie ein allerletztes Mal im November 1941 unter dramatischen Umständen.

Damals, am 20. April 1922, war der Säugling so zierlich, dass die Hebamme den erschöpften Joseph mehrmals ermuntern musste, bis er sich getraute, auch sein viertes Kind unmittelbar nach der Geburt auf den Arm zu nehmen. Nur wenige Minuten später eilte er in den Salon, um seinem Vater die erleichternde Botschaft zu überbringen.

Salomon Winter hatte sich bereits einen Cognac eingeschenkt, was er üblicherweise um diese Zeit nicht tat. Jetzt hielt er seinem Sohn einen zwei Finger breit gefüllten Schwenker entgegen. »Erbärmliches Wetter, das.« Der Alte nippte an seinem Glas und legte seinem Sohn den freien Arm um die Schulter. Der massige, groß gewachsene Salomon war noch im Stile des letzten Jahrhunderts gekleidet, im schwarzen Gehrock, weißen Hemd mit gesteiftem Kragen und altmodischem Binder. Sein rotes Gesicht war eingerahmt von einem schlohweißen, dichten Bart und immer noch fülligem, weißem Haar, das er trotz der Mahnungen seiner gestrengen Gemahlin stets länger trug, als es einem Mann seines Alters und seines Standes geziemte. Zumal es ihm erst kurz vor der Jahrhundertwende gelungen war, sich als erfolgreicher Unternehmer in Seelbach zu etablieren. Er galt somit trotz anhaltendem Erfolg als neureicher Jude.

Salomon Winter entstammte mütterlicherseits einer traditionsreichen jüdischen Familie, die bereits in der achten Generation am Jebenhäuser Judenberg siedelte, der ab 1939, wie die ganze Gemeinde Jebenhausen, zu Göppingen gehörte. Hingegen war sein Vater ein armer galizischer Zuwanderer gewesen, den man in der Familie der Mutter nur ungern als Schwiegersohn akzeptierte. Genau genommen überhaupt nur, um »eine Schand« zu vermeiden. Aber das war noch gar nichts im Vergleich zu seiner Frau, die in gerader Linie von dem Geschlecht der Gutmanns abstammte, deren Angehörige 1777 von Memmingen aus maßgeblich die Ansiedlung einer jüdischen Gemeinde in Jebenhausen organisierten, die bis Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer der größten in Württemberg heranwuchs.

»Soll man ›Glückwunsch‹ sagen? Oder hättest du gerne auf diesen Verreckling verzichtet?«

Joseph Winter hatte sich abgewöhnt, derartigen Ausbrüchen seines Vaters Beachtung zu schenken. Er wusste, dass dieser versuchte, sich mit einer nach außen getragenen Rohheit gegen die Verletzungen zu schützen, die man ihm als aufstrebendem jüdischen Unternehmer immer wieder zuzufügen versuchte.

»Willst du eine Zigarre?«, fragte Salomon seinen Sohn. Der schüttelte wortlos den Kopf. Joseph Winter war ein kleiner, zierlicher Mann, so gar nicht dem Vater ähnlich, und dies galt keineswegs nur für sein äußeres Erscheinungsbild. Während der Vater eine derbe, laute Sprache pflegte, von der die streitbare Mutter zuweilen schnippisch behauptete, sie gehe auf seinen Urgroßvater zurück, den geschwätzigen und ob seiner Streitsucht berüchtigten Viehjuden Zipflo Winter, der zu allem Übel auch noch jenisches Blut in den Adern hatte, war Joseph nicht nur von schmaler Statur, sondern auch anderen Menschen gegenüber stets zurückhaltend und höflich. Galt der alte Winter im Geschäftsleben zuweilen als rücksichtslos, war Joseph sowohl im Umgang mit Angestellten als auch in geschäftlichen Verhandlungen feinsinnig und leise und entsprechend beliebt. Zuweilen führte seine ruhige Beharrlichkeit zu größeren Erfolgen als die polternden Auftritte des Vaters, der sich in den Revolutionstagen, in denen die Fabrik unmittelbar vor der Besetzung stand, beinahe mit einem Teil seiner Arbeiter eine Schießerei geliefert hätte. Einer ihrer Anführer war ebenfalls Jude, was in der christlichen Gemeinde Verwirrung stiftete. »Jetzt schießen schon die Itzigs auf den Salomon«, spöttelte man im »Engel«, wo sich die »Neutralen« trafen.

Immer wenn Jakobs Vater seine depressiven Verstimmungen still vor sich hin lebte, wobei er niemals klagte und auch sonst keinerlei Bemerkungen über sein Unwohlsein und die dafür verantwortlichen Gründe machte, legte die Großmutter verschwörerisch einen Finger auf die Lippen und zog den Jungen, je nachdem, wo sie sich gerade aufhielten, in den Hausflur, in das Gartenhaus oder in die Küche, wo sie Emma, die in ihrem Reich nicht gestört werden wollte, missbilligend, zuweilen sogar regelrecht feindselig anschaute.

»Das ist der Krieg«, flüsterte die Großmutter dann in immer gleicher Wortwahl. »Das hat der Krieg aus ihm gemacht. All das furchtbare Leid und Elend. Dein Vater war früher ein so fröhlicher Junge.«

Während Vaters aus den Folgen des Krieges resultierendes seelisches Leiden immer wieder als Grund dafür herhalten musste, wenn er wortkarg, von Depressionen geplagt oder in Gedanken und somit nicht ansprechbar war, war das Leiden des Großvaters weniger offensichtlich. Es rührte ebenfalls, wenngleich auf völlig andere Weise, aus einem tief empfundenen monarchistischen Patriotismus. Salomon Winter hatte noch als Kind erlebt, wie Juden nicht nur im Alltag diskriminiert, sondern ihnen auf vielfältige Weise elementare Rechte verwehrt wurden, die die christliche Bevölkerung im Zweifelsfall hatte. Erst 1864 wurden die württembergischen Juden in vollem Umfang mit ihren christlichen Landsleuten gleichgestellt, was im Hause Winter zu einer ausgeprägt monarchistischen Grundeinstellung geführt hatte, die vom Vater auf den kleinen Salomon übergegangen war. Jetzt spielten Juden eine wichtige Rolle bei der Industrialisierung Württembergs und auch der Vater betätigte sich erfolgreich als Entrepreneur und gründete in Seelbach jene Spiegelmanufaktur, aus der später die Winter’sche Spiegelfabrik hervorging. Eng verbunden mit der monarchistischen Gesinnung war eine ungeheure Sympathie für alles Militärische. Mit der rechtlichen Gleichstellung der Juden waren sie auch der Wehrpflicht unterworfen. Im Krieg gegen Frankreich kämpften in den Jahren 1870/71 zahlreiche jüdische Freiwillige in den württembergischen Regimentern. Salomon Winter, der in diesen Jahren für einen aktiven Dienst noch viel zu jung war, sah mit vielen anderen patriotischen Juden mit großer Zerknirschung, wie nach dem erfolgreichen Kriegsverlauf jüdische Soldaten durch die Militärverwaltungen in einer Weise zurückgesetzt wurden, die dem Gedanken der Gleichberechtigung Hohn sprach. Selbst bei hervorragender Betätigung und ausgezeichneter Befähigung konnte kaum ein Jude Reserveoffizier, geschweige denn aktiver Offizier werden. Dass dies mit dem mosaischen Glauben zusammenhing, war offensichtlich, denn von den Einjährig Freiwilligen, die den jüdischen Glauben ablegten und sich taufen ließen, erhielt immerhin ein Viertel das Offizierspatent.

Diese Zurücksetzung kränkte das wirtschaftlich prosperierende, meist monarchistisch ausgerichtete jüdische Bürgertum, weshalb Salomon Winter mit großer Genugtuung zu sehen glaubte, wie dieses Unrecht »im Stahlbad des großen Krieges« hinweggefegt wurde. Beide Söhne, Arthur, sein Erstgeborener, und der zwei Jahre jüngere Joseph, wurden Kavalleristen und ob ihrer Bewährung in den Monaten nach Kriegsbeginn zügig befördert, was der Alte mit Stolz vernahm. Jetzt endlich schien sein Traum von der Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen in Erfüllung zu gehen. Natürlich machten sich die Eltern Sorgen, lagen nachts oft lange wach. Mutter Bertha sprach mehrfach am Tag ihre Gebete, in denen sie die Bitte um Unversehrtheit ihrer beiden Söhne in den Vordergrund stellte. Dabei kreisten ihre Gedanken meist um den Jüngeren, der längst von seinem Gaul abgestiegen war und als Angehöriger einer Spezialeinheit in den Schützengräben der Westfront kämpfte und litt. Voller Stolz berichtete der Vater seinen Geschäftsfreunden, dass sein Sohn als einer der ersten des 154. Infanterieregiments das Eiserne Kreuz 1. Klasse und nachfolgend auch noch die württembergische Verdienstmedaille erhalten hatte. Dennoch war es nahe liegend, dass man sich um den Jungen, der bei Cambres während eines Sturmangriffs der Franzosen verwundet worden war, die größeren Sorgen machte. Doch obwohl er in allen wichtigen Schlachten der Westfront mitkämpfte, nahm der kleine Joseph wie durch göttliche Fügung keinen weiteren körperlichen Schaden.

Arthur hingegen verbrachte eine vergleichsweise vergnügliche Zeit auf dem Balkan. Er ritt mit seiner Einheit durch die flache südungarische Ebene, in der das Kavalleristendasein im Sommer ausgesprochen heitere Seiten aufwies, manches amouröse Abenteuer mit sich brachte und insbesondere nach Belieben eine reichhaltige Ergänzung der Verpflegung ermöglichte. In langsamem Vormarsch rückte seine Schwadron in Richtung Serbien vor, um die labile österreichisch-ungarische Besatzung zu stabilisieren. Zu Kämpfen kam es kaum. Höhepunkte waren Patrouillenritte, abendliche Techtelmechtel mit einheimischen Weibern und die Plünderung eines riesigen Weinlagers in Semendria. Immer wieder sprach man in Arthurs Einheit über die bevorstehende Beendigung des Krieges. Als dessen kleiner Bruder in den Kämpfen vor Verdun steckte, prosteten sich die deutschen Dragoner in Üsküb zu. Man war überzeugt davon, dass dieser Stoß den Franzos’ endgültig in die Knie zwingen würde und sie alsbald nach Hause kämen. Einen langsamen Rückzug aus Serbien malten sie sich aus, unterbrochen von möglichst vielen Zwischenhalten mit abschließenden Gelagen und weiteren Begegnungen mit heißblütigen Schönen.

So konnte niemand wirklich damit rechnen, dass der württembergische Dragoner Arthur Winter, der stolz darauf war, als Jude in einer Eliteeinheit Dienst tun zu können, bei einem eigentlich harmlosen Ausritt im Raum Vranje fiel, aus der Ferne gut getroffen von einem Heckenschützen, der in seinem anderen Leben Jagd auf Wölfe und Bären machte und deshalb in diesem Krieg als Scharfschütze zum Einsatz kam. Kurze Zeit hielt sich im Regiment sogar das Gerücht, dass dieser tödliche Schuss mit einer Liebschaft im Zusammenhang stand, die der Württemberger mit einer Einheimischen begonnen hatte. Aber dann verwarf man diesen Gedanken, und die Eltern des Dragonerstabsfeldwebels Arthur Winter erhielten mit amtlicher Post die Nachricht, dass ihr Sohn für Heimat und Vaterland tapfer kämpfend auf dem Felde der Ehre in einem Gefecht nahe der Stadt Vranje gefallen sei. Das Regiment wahre ihm ein von tiefem Respekt getragenes Andenken.

Salomon Winter hatte sich nie wirklich von diesem Schlag erholt. Arthur war in seinen Augen der Begabtere der beiden Söhne gewesen, der Elanvollere, so ganz anders als sein zögerlicher, schüchterner kleiner Bruder, der sich für nichts anderes als die Chemie zu interessieren schien. Arthur sollte später einmal die Leitung der Firma übernehmen. Die Vorbereitung auf diese Aufgabe sollte beginnen, sobald der Krieg vorbei war. Salomon Winter machte sich bittere Vorwürfe. Hatte nicht auch sein stolzes Fordern, seine Bewunderung für alles Militärische den Geist seines toten Sohnes vergiftet? Hätte dieser, Student der Nationalökonomie in Tübingen und Heidelberg, nicht auch einen Schreibtischposten erlangen können?

Erst mit der Geburt von Elias, dem ersten Enkel, begann der Schmerz etwas nachzulassen. Jedes weitere Enkelkind ließ freudige Momente im Leben von Salomon und Bertha Winter aufflackern und so brachte auch die Geburt von Jakob weitere Linderung, obgleich der Verlauf der Schwangerschaft in den letzten Wochen vielfältigen Anlass zur Sorge gegeben hatte. In den schlimmsten Stunden musste sogar befürchtet werden, dass die Mutter das Kind verlieren und sie selbst auch zu Schaden kommen könnte.

Der greise Firmenchef schenkte seinem Sohn unaufgefordert einen weiteren Cognac ein und paffte weiße Schwaden in den Salon. »Wir werden eine Annonce im ›Seelbacher Anzeiger‹ aufgeben müssen, die die Ankunft dieses neuen Erdenbürgers bekannt macht. Und natürlich auch im ›Israeliten‹ und in der ›Jüdischen Rundschau‹.«

Der Sohn nickte. Freudige Regungen waren in seinem melancholisch-ernsten Gesicht nicht zu entdecken. Joseph wusste nur zu genau, dass des Alten Erinnerungen bei derartigen Anlässen immer wieder um den toten Arthur kreisten. Und ihm wurde einmal mehr bewusst, dass der Vater den gefallenen Bruder immer für den besseren Sohn und fähigeren Nachfolger gehalten hatte.

»Der neue Rabbi wird morgen kommen«, sagte Joseph, bei dem sich der vor einem halben Jahr neu ins Amt eingesetzte Rabbiner Ariel Judin telefonisch gemeldet hatte.

»Das wird auch mal Zeit«, brummte Salomon Winter, der ein Freund und Vertrauter des verstorbenen Vorgängers David Öttinger gewesen war. Öttinger war ein Landrabbiner alten Schrots und Korns, der fast vierzig Jahre in Seelbach gewirkt hatte. Als der alte Betsaal nicht mehr ausreichte, hatte er mit großer Umsicht den Neubau einer kleinen Synagoge vorangetrieben, die 1892 im Beisein jüdischer, evangelischer und weltlicher Würdenträger eingeweiht worden war. Nach seinem Tod im Jahre 1921 hatte die Gemeinde den jungen Ariel Judin erwählt, der eine moderne Ausbildung am Berliner Rabbinerseminar absolviert hatte. Salomon Winter war entschieden der Meinung, dass der Mann einfach nicht hierher passte. Das Seminar war geprägt von den Einflüssen des bürgerlich-orthodoxen Judentums der Reichshauptstadt, in der immerhin fast ein Viertel aller deutschen Juden lebte. Es war zu vermuten, dass er sich mit den kauzigen Vertretern des schwäbischen Landjudentums schwertun würde.

Da das Neugeborene gesund war und Mutter Rosa über ihre keineswegs vollständig überwundenen gesundheitlichen Probleme mit niemandem sprach, konnte trotz der Schwierigkeiten bei der Geburt acht Tage später die Beschneidung gefeiert werden.

Nahezu alle religiösen Juden Seelbachs waren in die kleine Synagoge gekommen. Aus Künzelsau reiste Salomon Winters alter Freund Max Seligmann an, der neben zahlreichen Familienangehörigen auch den bekannten Religionslehrer Goldstein mitbrachte. Zur besonderen Freude von Großmutter Bertha hatten neben der Jebenhäuser Verwandtschaft auch zwei im badischen Schmieheim lebende Neffen den weiten Weg auf sich genommen.

Als das hübsch angezogene Kind in die Synagoge getragen wurde, erhob sich die Gemeinde und alle sprachen laut: »Gesegnet sei, der da kommt.«

Der Mohel, der nach Seelbach angereiste Beschneider, legte das Kind auf den vorgesehenen Stuhl, der nach altem Brauch zuvor für den Propheten Elia frei gehalten worden war. Der Beschneider eröffnete die Zeremonie, die Anwesenden antworteten ihm in vorgeschriebener Weise.

Rosas unverheiratete Schwester Anna Oberlander übernahm anschließend in ihrer Eigenschaft als Patin das Kind von der blassen, aber innerlich freudig erregten Mutter und reichte es an Max Goldmann weiter, der als bester Freund des Vaters zum männlichen Paten erwählt worden war. Der Arzt schüttelte den Kleinen sanft und gab ihn, wie vorgeschrieben, seinem Vater auf den Arm. Zum Sandak, zum zweiten Paten, hatte man Oswald Winter, einen in Frankfurt am Main lebenden Cousin Josephs, erwählt. Er saß auf dem eigens für ihn bereitgestellten Stuhl und bekam das Kind vom Vater gereicht.

Der Mohel sprach nun: »Gelobet seiest du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der uns heiligt durch seine Gebote und uns die Beschneidung befahl.«

Mit dem Beschneidungsmesser löste er die Vorhaut des Knaben und entfernte sie vollständig mit dem dafür vorgesehenen Kamm.

Das anhaltende, aber nicht sehr laute Weinen des seiner Vorhaut beraubten Kindes wurde alsbald vom Wechselvortrag von Joseph Winter und der ihm antwortenden Gemeinde übertönt, der damit endete, dass der Name des Jungen verkündet wurde: »Der in den Bund mit Abraham Aufgenommene soll Jakob heißen.«

Nachdem das Pflichtmahl gehalten und das Kind reich beschenkt worden war, stand Großvater Salomon auf und rief in die Runde: »Ihr Lieben, ich danke euch für euer Kommen. Der Tag war lang. Wir sind ermüdet. Der Wirt soll denen, die es wünschen, noch einen Bronfen bringen. Und dann ist Zeit zum Aufbruch.«

Die Sonne stand hoch, als sich Jakob Winter dem Seelbacher Rathaus näherte. Wenigstens dieses Gebäude war wohl vor kurzem umfassend saniert worden. Die Außenfassade strahlte in frischem Ockergelb, die Rahmungen der Fenster waren etwas dunkler abgesetzt und über allem leuchtete das Farbenspiel bunter Blumen, die von der Frau des Hausmeisters Kasubke mit viel Geschick in die Kästen gepflanzt worden waren, die vor allen Fenstern in Richtung Marktplatz hingen.

Kasubke war aus Ostpreußen gekommen, stammte aus einen winzigen Dorf in der Nähe von Tilsit, ein Flüchtling also. Ein Lungensteckschuss quälte ihn, ließ ihn endlos lange schleimig röchelnd husten. Fabrikarbeit als Schlosser war unmöglich geworden und so wurde aus der 1946 aufgenommenen Notstandsarbeit eine kärglich bezahlte Anstellung, immerhin mit kleiner Dienstwohnung im Dachgeschoss der nahe gelegenen Volksschule, die er ebenfalls hausmeisterlich zu betreuen hatte. Und da seine Frau noch ein paar Mark mit Putzen, Blumenschmuck und Grünpflege verdiente, reichte es gerade so.

Vom Turm der Michaeliskirche schlug es Mittag. Er war also auf die Minute pünktlich. Er traf Oberamtmann Holderied in dem Zimmer an, dessen Nummer ihm das Vorzimmerfräulein am Telefon genannt hatte. Holderied sprang auf, als es dreimal kurz an die Tür klopfte. Nun verharrte er mit im Ansatz ausgebreiteten Armen auf halbem Wege zwischen dem ausladenden Holzschreibtisch und der geöffneten Tür.

»Herr Winter?«

Und als der Ankömmling wortlos nickte, wies er mit einer knappen Geste auf einen freien Stuhl, der etwas abgerückt vor dem Schreibtisch stand.

»Nehmen Sie doch bitte Platz. Ich suche nur noch schnell die Unterlagen zusammen.«

In Wahrheit hatte Hermann Holderied nichts weiter zu suchen. Er hatte vielmehr schon vor Tagen alle relevanten Dokumente samt der zwischenzeitlich erstellten handschriftlichen Notizen in eine dieser neu in Mode gekommenen grünen Umlaufmappen gelegt. Auch das Bürowesen musste modernisiert werden, völlig klar. Aber dass deswegen gleich zweihundert grüne Umlaufmappen angeschafft werden mussten?

»Ach, hier sind ja Ihre Unterlagen.« Der Beamte nahm den Akt auf, der seitlich von ihm auf dem Schreibtisch abgelegt war. »Ich habe von Ihrem Anliegen gelesen und es auch, soweit dies bis heute möglich war, geprüft. Aber es gibt noch ein paar Unklarheiten, die zunächst ausgeräumt werden müssen. Um genau zu sein, es gibt noch erheblichen Klärungsbedarf.« Holderied räusperte sich und rückte seine dunkel gefasste Brille zurecht. Eine Angewohnheit, die er selbst lästig fand. Er ruckelte in unregelmäßigen Abständen an seiner Brille, obwohl sie zumeist richtig saß.

Jakob Winter schwieg und musterte den Oberamtmann. Er hatte bislang noch gar nicht darauf geachtet, wer ihm da gegenübersaß und wohl soeben damit begonnen hatte, ihm Scherereien zu machen. Da saß ein leicht fülliger Mann mit weichen Gesichtszügen, wohl Mitte, höchstens Ende dreißig. Der schon deutlich zurückgewichene Haaransatz ließ ihn vermutlich älter erscheinen. Das Resthaar legte sich in zahllosen kleinen Locken um den Hinterkopf. Obwohl es recht warm, ja fast schon heiß war, trug Holderied ein braunes Wolljackett, darunter ein kariertes Hemd, keine Krawatte, den obersten Knopf geöffnet. Bei der Begrüßung hatte er sehen können, dass der Mann eine wohl noch aus der Vorkriegszeit stammende dreiviertellange Hose und bis unter die Knie reichende grüne Wollsocken trug. Wie hatte man diese Beinkleider genannt? Knickerbocker? Richtig. Er hatte Derartiges seit etlichen Jahren nicht mehr gesehen. Dieses Stilelement war nicht in die wilde Melange unterschiedlichster kultureller Traditionen, Moden und Ausdrucksformen hineingeschwappt, die derzeit im Staat Israel, der das Kindergartenalter noch nicht überschritten hatte, aufeinanderprallten.

»Ich entnehme Ihren Unterlagen, dass Sie die israelische Staatsbürgerschaft angenommen haben.« Holderied hatte die grüne Mappe aufgeschlagen und blätterte geschäftig in den wenigen Papieren, die sich darin befanden.

Winter entgegnete nichts.

»Hier.« Der Beamte nahm ein Dokument aus der Umlaufmappe. »Eine Kopie Ihres israelischen Passes. Und da«, er nahm ein zweites Schriftstück aus dem dünnen Papierstapel, der vor ihm lag, »eine beglaubigte Abschrift Ihrer jüdischen«, er räusperte sich verlegen, »Ihrer israelischen Einbürgerungsurkunde, ausgestellt am 20. April 1949. Ein kurioses Datum.«

»Mein Geburtstag. Ein Zufall, was ist daran kurios?«

»Ja, Sie haben Recht, lassen wir das, das führt uns nicht weiter.« Holderied blickte auf, sah erstmals länger in Winters Gesicht. »Sie sind doch erst vor wenigen Jahren Israelit geworden. Weshalb wollen Sie nun die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben?«

»Israelit, man sagt besser Jude, bin ich seit meiner Geburt. Ebenso Deutscher. Ich habe meine deutsche Staatsbürgerschaft nie aufgegeben, sondern die israelische zusätzlich angenommen.« Obwohl der kleine, drahtige Mann nicht laut geworden war, hätten seine Eltern, seine Geschwister und eine Reihe sehr guter Freunde nun gewusst, dass er verärgert war. Kaum merklich veränderte sich seine Stimmlage. Schon als Schüler hatte er immer äußerst kontrolliert gewirkt. Wenn es darauf ankam, besaß er eine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und er hatte diese Eigenschaft in den beiden Jahren perfektioniert, in denen er Verhöre führte. Ab Mitte 1944 verhörte er kriegsgefangene deutsche Offiziere und nach der Kapitulation des »Tausendjährigen Reiches« saß er allen möglichen NS-Funktionären gegenüber. Einfachen SA-Männern, Ortsgruppenleitern und von Ende 1945 an immer öfter aufgespürten Angehörigen der Wachmannschaften von Konzentrationslagern – und dies mit einer Mischung aus Leidenschaft und Ekel. Auf höhere Funktionsträger war er dabei nicht gestoßen. Sofern sie nicht untergetaucht oder umgekommen waren, waren für diese Verhöre andere zuständig gewesen.

Holderied hatte die aus der Sprechweise Winters nur schwer herauszuhörende Verstimmung nicht wahrgenommen. »In den schlimmen Jahren, die hinter uns liegen, ist Ihnen dann doch wohl die deutsche Staatsbürgerschaft verloren gegangen.«

Winter schwieg. Nicht aus Wut oder Erstaunen. Ihn wunderte überhaupt nichts mehr. Wer so viele Variationen menschlichen Handelns kennen gelernt hatte, war durch nichts mehr in Erstaunen zu versetzen. Leise sagte er: »Was meinen Sie mit ›verloren gegangen‹?«

»Ja, nun, Sie haben Ihre deutsche Staatsbürgerschaft abgeben müssen.«

Jakob Winter lehnte sich auf dem unbequemen Stuhl zurück und verschränkte die Hände im Nacken. Dann schnellte er so geschwind nach vorne, dass Holderied sichtlich erschrak. »Mister Holderied, ich bin nicht hier, um Spielchen zu spielen. Wir beide wissen doch über diese Dinge Bescheid. Ich habe es erleben müssen und bei Ihnen als deutschem Beamten darf ich es zumindest heute als bekannt voraussetzen. Sie kennen die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.1941? In guter deutscher Gründlichkeit wenige Tage vor den ersten Transporten in den Osten in Kraft gesetzt.«

»Der Wesenskern dieser Bestimmungen ist mir geläufig.«

»Der Wesenskern? Das haben Sie ausgezeichnet formuliert. Mit dieser perfiden Verordnung verloren alle Juden, die deportiert wurden, beim Passieren der Reichsgrenze ihre deutsche Staatsbürgerschaft. Und somit bestand für das Reich eine ausreichende Legitimation für den Zugriff auf die zurückgelassenen Vermögenswerte.«

Holderied blickte Jakob Winter über den Rand seiner nun doch leicht nach unten gerutschten Brille an. »Sie wollen die Fabrik zurück. Dabei handelt es sich um einen Vorgang, für den unsere Stadt nicht zuständig ist. Ich nehme an, dass das für Sie nur schwer durchzusetzen sein wird, denn die Nachkommen des Erwerbers haben bereits vor einigen Jahren einen völlig korrekten Kaufvertrag vorgelegt. Auch die Eintragungen im Handelsregister und im Grundbuch sind kaum zu beanstanden.«

»Darum geht es heute nicht, Herr Holderied. Es geht heute einzig und allein um das Aufleben meiner deutschen Staatsbürgerschaft, meinetwegen auch um deren Wiedererwerb.«

Nachdenklich kratzte sich der Beamte am Hinterkopf. »Es ist in der Tat sinnvoll, sich auf diesen Rechtskreis zu konzentrieren. Sie müssen wissen, auch wenn die Umstände dramatisch waren, ging Ihnen doch nach damals geltendem Recht die deutsche Staatsbürgerschaft verloren. Und solange ein damals Verfolgter von der Möglichkeit, die deutsche Staatsbürgerschaft geltend zu machen, keinen Gebrauch macht, wird er von der Bundesrepublik Deutschland nicht als Deutscher im Sinne des Grundgesetzes betrachtet. So weit die geltende Rechtsauffassung. In Ihrem Fall kommen aber noch weitere Gesichtspunkte hinzu.«

Holderied begann wieder in den Unterlagen zu blättern und fuhr dann fort: »Zum einen haben Sie per Dokument belegt, dass Sie Inhaber der israelischen Staatsbürgerschaft sind. Die Bundesrepublik Deutschland kennt keine mehrfache Staatsbürgerschaft. Und zum anderen konnte trotz der von mir intensiv betriebenen Nachforschungen kein Beleg für Ihre Geburt in Deutschland ausfindig gemacht werden. Dieses Problem wird dadurch verschärft, dass alle standesamtlichen Unterlagen Seelbachs als Folge länger anhaltender Beschießungen durch amerikanische Verbände im April 1945 verbrannt sind. Die Hitzeentwicklung in den Räumen des Standesamtes war so gewaltig, dass selbst Metallschränke keinen Schutz boten.«

»Weil hier eine versprengte SS-Einheit nach ihrem Eintreffen am Morgen des 21. April noch besonderen Durchhaltewillen zeigen wollte«, zischte Winter.

»In den Kirchenbüchern ist ja nichts über Ihre Familie zu finden.«

»Und die Dokumente der jüdischen Gemeinde Seelbach wurden 1938 vernichtet, als angeblich unbekannte Täter die Synagoge angezündet haben«, fuhr Winter lakonisch fort.

»Nun, zumindest mir sind die damaligen Täter unbekannt, da ich nicht aus dieser Gegend stamme. Mich hat es erst vor drei Jahren hierherverschlagen.«

»Und wie soll das jetzt weitergehen?«

Holderied war dankbar dafür, dass ihm dieser unbequeme Vorsprecher das Heft des Handelns wieder in die Hand gab.

»Sie wären, glaube ich, gut beraten, zuerst einmal Nachweise Ihrer Abstammung beizubringen«, dozierte er in verschrobenem Beamtendeutsch.

Jakob Winter verfiel in ein heiseres Gelächter. »Einer, der die ersten 19 Jahre seines Lebens immer hier gelebt hat, muss Nachweise seiner Abstammung für jemanden beibringen, der erst vor wenigen Jahren hier zugezogen ist.«

»So sind die Dinge nun einmal«, erwiderte Holderied mit ernster Miene und bedeckte den geschlossenen Hefter mit gefalteten Händen.

Als Jakob Winter mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen anschließend die Stufen der Rathaustreppe hinuntereilte, zeigte ihm ein einzelner Glockenschlag an, dass er immerhin eine Stunde in der sonnendurchfluteten Amtsstube verbracht hatte. Wohin jetzt? Er blickte sich suchend um. Sollte er noch einen kurzen Abstecher zur alten Schule machen? Durch den nahe gelegenen Stadtpark waren es nur ein paar Schritte. Er konnte auch beim Kriegerdenkmal vorbeigehen, nachschauen, ob man seit 1934 etwas verändert hatte. Wäre ja möglich. Der angeblich demokratische Staat Bundesrepublik Deutschland existierte nun auch schon drei Jahre. War damit jünger als der Staat Israel.

Während Jakob Winter seinen Gedanken nachhing, gewahrte er auf der anderen Seite des Marktplatzes einen Mann, der offensichtlich schon seit geraumer Zeit ungeniert zu ihm herüberstarrte. Er stand regungslos neben einem fast neuen Traktor, einem roten Allgaier AP 17. Die eine Hand ruhte auf der glänzenden Motorhaube, mit der anderen verlängerte er den Schirm seiner grünen Bauernmütze. Jakob Winter erkannte den Mann sofort. Es war Friedrich Lang, der alte Köcherhofbauer, Vater seines damaligen Feindes Franz Lang und dessen jüngeren Bruders Gustav, mit dem er sich gleich während des ersten gemeinsamen Schuljahres in der Seelbacher Volksschule angefreundet hatte. Wenn er noch einen Blick auf seine alte Schule werfen wollte, musste er an ihm vorbei und dann links in Richtung Stadtpark abbiegen. Ohne Eile schlenderte auf den alten Bauern zu, der ihn regungslos anstarrte. Noch immer hielt er die rechte Hand in Verlängerung des Mützenschirms.

Als Jakob Winter in die Metzgergasse einbog, hatte er den Alten hinter sich gelassen. Sein Blick fiel auf das Gebäude mit der Hausnummer 11. Hier betrieb David Leonberger bis 1936 eine »Matzedeie«, eine Matzenbäckerei mit angeschlossener Schankwirtschaft. Noch während er sich zu erinnern versuchte, wann er das letzte Lebenszeichen eines Mitgliedes dieser vielköpfigen Familie erhalten hatte, hörte er hinter sich den Köcherhofbauern eine Beleidigung knurren, die er nun schon einige Jahre nicht mehr vernommen hatte: »Verrecken sollst, Scheißjud«, es hörte sich an wie ein Grunzen, »elender Scheißjud.«

In einer ersten spontanen Regung wollte er umkehren und dem Alten eine »scheuern«, wie man hier sagte. Aber er beherrschte sich, wie er es sich bei zahlreichen Gelegenheiten seit seiner Schulzeit zu eigen gemacht hatte.

In dem Haus, das über mehrere Generationen hinweg Leonbergers gehört hatte, befand sich heute ein Lebensmittelgeschäft. Durch das große Schaufenster, das er von früher nicht kannte, sah er, wie eine ihm unbekannte weibliche Person, wohl die Frau des Inhabers, eine einsame Kundin bediente. Die Geschäftsfrau sah einen Moment lang zu ihm heraus. Für sie war er ein Fremder. Einige Schritte weiter in Richtung Park befand sich unverändert eine Metzgerei. »Metzgerei Groninger« stand jetzt über dem Eingang. Noch immer musste man beim Betreten des Verkaufsraums zwei Stufen hoch, so wie damals, als in diesem Haus eine koschere Schlachterei betrieben wurde. Er dachte an Sigismund Cohn und bei dieser Erinnerung legte sich eine fröhliche Heiterkeit über die spontane Wut, die Langs Beleidigung in ihm ausgelöst hatte. Cohn war vermutlich in ganz Deutschland der Metzger gewesen, der am nachlässigsten mit den Regeln des rituellen Schlachtens umgegangen war. Er metzgerte auch für christliche Kunden und alle wussten, dass er es nicht so genau damit nahm, wem er koscheres Fleisch verkaufte und wem nicht.

Ihm fiel niemand aus der jüdischen Gemeinde ein, der darüber viel Aufhebens gemacht hätte. Wie sagte doch seine Großmutter immer, dabei einen Bibelvers zitierend, dessen Quelle er nicht kannte: »Dem Reinen ist alles rein, dem Unreinen hingegen ist alles unrein.«