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Dr. Johanna Kennerknecht, kurz "Jo", ist mit einer Delegation von Tourismusvertretern in der bayerischen Vertretung in Berlin eingeladen. Teil der Veranstaltung: eine Vernissage von Leonora Pia Pfaffenbichler. Allein - die Dame erlebt ihre eigene Ausstellungseröffnung nicht, sondern liegt erschlagen auf der Toilette. Die Künstlerin und ihr Tierschutzhof waren zu Hause im Pfaffenwinkel den bäuerlichen Nachbarn ein echter Dorn im Auge. Zudem hatte sie Ärger mit anderen Tierschutzorganisationen und mit Verwandten von Spendern - Verdächtige zuhauf also. Aber wo liegt die mörderische Verbindung zwischen Berlin und dem äußersten Südwesten der Republik? Eine echte "Viecherei" für den bodenständigen Kommissar Gerhard Weinzirl: Hundstage an der Ammer, Mordskunst an der Spree.
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Seitenzahl: 302
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Nicola Förg ist im Oberallgäu aufgewachsen und studierte in München Germanistik und Geographie. Sie lebt mit vielen Tieren in einem vierhundert Jahre alten denkmalgeschützten Bauernhaus im Ammertal. Als Reise-, Berg-, Ski- und Pferdejournalistin ist ihr das Basis und Heimat, als Autorin Inspiration, denn hinter der Geranienpracht gibt es viele Gründe zu morden – zumindest literarisch. Im Emons Verlag erschienen ihre Kriminalromane »Schussfahrt«, »Funkensonntag«, »Kuhhandel«, »Gottesfurcht«, »Eisenherz«, »Nachtpfade«, »Hundsleben«, »Markttreiben« sowie die Katzengeschichten »Frau Mümmelmeier von Atzenhuber erzählt«.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlung, Personen und manche Orte sind frei erfunden. »Gut Sternthaler« existiert nicht, und an der beschriebenen Stelle gibt es auch kein Anwesen. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
© 2008 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 2010ISBN 978-3-86358-034-6 Oberbayern Krimi Originalausgabe
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Für Maxi – Freundschaft ist keine Frage der Quantität der zusammen verbrachten Tage,
PROLOG
»Kindness to animals is thehallmark of human advancement;where it appears, nearly everythingelse can be taken for granted.«
Grey Owl, eigentlich Archibald (Archie)Stansfeld Belaney
Es lag ihm im Blut – die Liebe zu Tieren, die Sehnsucht nach der Weite der Indianerwälder. Wie viele Jungs wollte er ein Indianer sein; er durchstreifte tagelang die Wälder rund um Hastings an der englischen Küste, weniger zur Begeisterung seiner Tanten, die ihn aufzogen. Nach seinem Schulabschluss begann er in einem Holzhandel zu arbeiten, wo er seinen Chef und die Mitarbeiter ständig foppte, Aufträge falsch ausführte und schließlich entlassen wurde. Zähneknirschend finanzierten die Tanten schließlich 1906 die Überfahrt nach Kanada.
Er jobbte in Toronto, das half zwar nicht, seine Sehnsucht zu stillen, brachte aber Geld ein. Damit reiste er in den Norden Ontarios, und die harte Realität entsprach nicht dem Traumbild seiner Kinderzeit. Von Moskitos aufgefressen zu werden, klatschnass geregnet, bei minus fünfundvierzig Grad im Freien zu übernachten, war anders als sein Traumbild. Er lernte den Trapper Bill Guppy kennen, der dem Jungen Tricks und Kniffe fürs Überleben in der Wildnis verriet. Und da zeigte Belaney Biss und Einsatz, er wurde in kürzester Zeit zu einem erfahrenen Trapper. Er begann sich mit den Ojibway-Indianern anzufreunden und nahm den Namen Grey Owl (Wa-Sha-Quon-Asin, »Vogel, der nachts wandert«) an. 1910 heiratete er eine Ojibway-Indianerin und bekam zwei Töchter. Er versuchte mit aller Macht, seine englischen Wurzeln zu vergessen. Er verleugnete nicht nur vor sich selbst, Engländer zu sein, sondern erfand eine komplett neue Vita und behauptete, ein Halbblut zu sein.
Mit einer gewissen Beunruhigung nahm er das Vordringen des weißen Mannes wahr, obwohl dem eine gewisse Schizophrenie zugrunde lag, denn auch er war ein weißer Mann. Für sich nahm er durchaus in Anspruch, dass er vom Fallenstellen und vom Verkauf der Biberfelle leben durfte.
Mit dem Ersten Weltkrieg meldete sich Grey Owl als Freiwilliger, wurde schwer verwundet und durch Giftgas verletzt. Er landete in einem Lazarett in Hastings, wo seine Tanten sich um ihn kümmerten. Die Tanten waren mit der jungen, bezaubernden Balletttänzerin Ivy Holmes bekannt, der Jugendliebe von Archie, und ganz nach Plan der Tanten verliebte sie sich erneut in den abenteuerlichen Exoten. Er heiratete sie 1917, obwohl er in Kanada bereits verheiratet war. Grey Owl reiste kurz nach der Hochzeit nach Nordontario, Ivy hatte mit Wildnis nichts am Hut, sondern strebte eine Bühnenkarriere an. Sie verkehrten nur per Brief miteinander, und schließlich gestand er ihr, dass er bereits rechtsgültig verheiratet war – Ivy Holmes ließ ihre Ehe wutentbrannt annullieren.
Traumatisiert vom Krieg war Grey Owl noch mehr überzeugt, dass die Zivilisation nur das Schlechteste im Menschen hervorbrachte. Aber auch in Kanada rückte ebendiese Zivilisation vor, Prospektoren und Bodenspekulanten hatten sein Paradies längst verhökert und aufgeteilt. Sie beuteten Bodenschätze gnadenlos aus, und rein geschäftsmäßig wirtschaftende »Biberfell-Unternehmen« dezimierten den ehemals reichen Biberbestand fast bis auf null. Für einen allein agierenden Fallensteller wie Grey Owl wurde das Überleben schwierig.
Er zog sich immer weiter in die Wildnis zurück, verbittert, zerrissen zwischen den Welten. 1925 lernte der nun sechsunddreißigjährige Grey Owl eine neunzehnjährige Mohawk-Indianerin kennen. Sie folgte ihm in seine Fallenstellerhütte. Grey Owl, nach wie vor verheiratet, ließ sich mit Gertrude in einer indianischen Zeremonie trauen. Er nannte sie Anahareo. Die sensible junge Frau litt sehr unter dem Töten der Tiere, und als Grey Owl eine Bibermutter fing und damit zwei kleine Biber auf dem Gewissen hatte, kam die Wende. Anahareo bestand darauf, die Waisen großzuziehen. Von den kleinen Tieren bezaubert, beschloss Grey Owl das Trapperleben aufzugeben und sich dem Naturschutz zu widmen, ja sogar eine geschützte Biberkolonie aufzubauen.
Grey Owl und seine Frau waren in finanziellen Nöten, der Winter war hart, und Grey Owl war wie getrieben von seiner Angst, das letzte Paradies wieder zu verlieren. Sein Kopf war voller großer Gedanken, und dann begann er zu schreiben. »Why should the last of the silent places be destroyed ruthlessly whilst we stand by in listless apathy without making an effort? … We need an enrichment other than material prosperty, and to gain it we have only to look around at what our country has to offer.« Er schrieb während dieses Winters 1929 eine Naturerzählung für die englische Zeitschrift »Country Life«. Die Herausgeber waren so begeistert, dass sie einen großzügigen Scheck schickten und die Option auf eine Autobiographie eröffneten. Sein erstes Buch hieß »The Men of the Last Frontier«, er schrieb zudem für britische und kanadische Magazine. Die Welt hörte auf den Indianer und seine Sätze voller Wahrheit und Zauber. Ein mörderischer Stundenplan folgte: Lesereisen in Europa und den USA, Alkoholexzesse, Phasen fast manischen Schreibens bestimmten sein Leben. Er war unendlich weit weg vom kanadischen Wald, weit weg von seinem eigentlichen Lebensplan. Wegen seiner Zeitschriftenbeiträge und seines Ruhmes wurde die kanadische Nationalparkbehörde auf ihn aufmerksam und bot ihm Arbeit als Naturschützer an. Grey Owl zog mit seiner Frau und den Bibern zunächst in den Riding-Mountain-Nationalpark in Manitoba. Er empfand sein Arbeiten dort aber als zu eingeschränkt und bat um Versetzung in den Prince-Albert-Nationalpark in Saskatchewan.
Die Beaver Lodge, seine Hütte am Ajawaan-Lake, steht noch immer. Hier entstanden sein Bestseller »Pilgrims of the Wild« (1934) und einige weitere Werke sowie seine Kurzgeschichten mit dem Titel »Tales of an Empty Cabin« (1937). Er starb 1938 im Alter von nur fünfzig Jahren an einer Lungenentzündung im Hospital in Prince Albert. Einen Tag nach seinem Tod enthüllte der »Toronto Star« Grey Owls wahre Identität. Dass er Brite gewesen war. Seine Fangemeinde fühlte sich geprellt, war sie doch einem falschen Wilden aufgesessen. Was war er nun? Ein Betrüger? Oder ein großer Poet der Wildnis?
Er hatte das Beste gewollt und war als Tierschützer mit großem Sendungsbewusstsein an einem gescheitert: daran, eben auch nur ein Mensch zu sein!
EINS
Es war wieder so weit. Es war unvermeidbar, und es griff um sich wie eine Seuche. Am ersten Tag nur einmal, bald schon im Zweistundenrhythmus, um sich im furiosen Finale des vierten Advents dann so zu steigern, dass man es nahezu minütlich ertragen musste. »Last Christmas I gave you my heart, but the very next day you gave it away.« Es whamte wieder, und unweigerlich drängten sich da Bilder von George Michaels Achtziger-Jahre-Föhn-Inferno-Frisur vors innere Auge und jedes Bild dieses Videos, das Aliens – sollten Außerirdische mal Jahrmillionen später landen und die Überreste einer Zivilisation entdecken – in schiere Bestürzung treiben würde. Es war wieder so weit: Die stufenweise Weihnachtswahnsinnseskalation hatte die Endzeit erreicht.
Es war Weihnachtsmarkt in Weilheim, der ausnahmsweise entgegen der üblichen Terminierung am letzten Adventswochenende stattfand. Gerhard hatte frei und hatte sich zu einem Frühschoppen auf dem Markt eingefunden. Er hatte erfolgreich ein Gespräch bei den Bürgern von Weilheim abgeblockt und seiner Vermieterin Gundula glaubhaft versichert, dass er leider gar keine Zeit für ein Referat bei der Hausaufgabenbetreuung von sozial schwachen Kindern habe. Er hatte sich auch dem Eine-Welt-Laden verweigert, wo er eine Petition für einen Mann im fernen Sezuan hätte unterzeichnen sollen, etwas von »als Polizist keine politischen Äußerungen machen« murmelnd. Sezuan, war das nicht irgendwas mit Gulasch? Ach nein, das war Szeged, Sezuan hatte doch meist mit Schweinefleisch süßsauer zu tun. Was ihn daran gemahnte, dass er Hunger hatte. Um sicherzugehen und nicht in die kulinarische Vegetarierfalle bei den Betroffenenständen zu tappen, orderte er eine Leberkassemmel in der Metzgereifiliale, unweit vor deren Eingang zwei Schafe ein lebendes adventliches Bild abgaben, was Gerhard so Tür an Tür mit der Metzgerei doch eher bizarr fand. Er schlenderte rüber zu den blauen Jungs, schneidigen Burschen der Marine, die alljährlich hier waren. Immerhin gab es ja das Küchenminensuchboot Weilheim. Die blauen Jungs mit dem hervorragenden Glühwein, die ihrem Namen immer alle Ehre machten! Er hatte seinen Glühwein zur Hälfte leer getrunken, als sein Handy, dem er die bayerische Kulthymne »Vogelwiese«, eingespielt von den Schönberger Musikanten, als Klingelton verliehen hatte, sich meldete. Es war Melanie Kienberger, eine Kollegin, mit der er in diversen Sokos zu tun gehabt hatte. Gerhard lauschte mit zunehmender Beunruhigung.
»Melanie, was habe ich damit zu tun? Das ist wohl kaum Sache der Mordkommission«, sagte Gerhard. Das Schluchzen am anderen Ende war so laut, dass er unwillkürlich das Handy vom Ohr weghielt.
»Die sind doch alle krank. In Schongau haben alle die Magen-Darm-Grippe, die Füssener können wegen Glatteis nicht fahren, da ist das in Weilheim gelandet. Bei mir und Felix. Ich schaff das nicht, ich schaff das nicht, da hab ich Sie angerufen.« Der Rest ging in einem erneuten Schluchzen unter.
»Melanie, beruhigen Sie sich! Ich komme!« Na, das war ja toll. Nun musste er, sozusagen als Freundschaftsdienst, in die Einöde fahren. Er überlegte noch kurz, den Kollegen in Schongau zu informieren, aber er beschloss doch, erst hinterher vorbeizufahren. Hinter was nur? Das klang nämlich nicht gut, gar nicht gut. Das klang nach Ekel, und das klang, so viel war klar, nach verdammtem Medienrummel, sofern Melanie nicht übertrieben hatte. Und es klang nach einer Scheißfahrerei an irgend so einen Weltenarsch. Dieser Landkreis Weilheim-Schongau war für Gerhard immer noch ein Buch mit gewissen Siegeln, und wohin er nun berufen wurde, das hatte er wahrlich noch nie gehört.
»Hinter der Wieskirche«, hatte Melanie gesagt, »aber nicht über die Wieskirche zu erreichen.« Da Gerhard sich immer geweigert hatte, ein Navi zu verwenden, und auf seine alten Landkarten bestand, würde das ein echter Spaß werden, denn seine Karten stammten aus den achtziger Jahren und waren zumeist wegen Colaüberflutungen verpappt. So wie sich das allerdings anhörte, brauchte man in dem Fall eher eine Wanderkarte.
Es nieselte vor sich hin, Gerhard nannte so ein Wetter »hohe Luftfeuchtigkeit«. Er war nun mal Optimist. Er hastete durch die Fußgängerzone, sein Auto stand auf dem Parkplatz des Weilheimer Tagblatts. Weil er so ein netter Bulle war, hatte er mal von einem Redakteur ein paar der Ausfahrtsmarken erhalten, in einer retsina- und ouzoseligen Verbrüderungsaktion im Dionysos, beim kleinen Griechen Toni.
Das Wetter war wirklich eins für viel Weihnachtsmarktglühwein oder für Bettdecke über den Kopf – oder beides. Keines für eine Ausfahrt. Wie fuhr man eigentlich auf dem schnellsten Weg nach Steingaden?, fragte er sich und registrierte, dass er nach über drei Jahren im Oberland immer noch weiße Flecken auf der inneren Landkarte hatte. Zumindest wusste er seit seinem letzten Fall, wie man von Schönberg nach Echelsbach gelangte, wo Jo und Kassandra nach wie vor ihre Wohngemeinschaft hatten. Und von der unseligen Selbstmörderbrücke gleichen Namens ging es ab nach Steingaden. Jo und Kassandra – die beiden mit all ihren Viechern –, für sie musste das der Alptraum sein, was ihn nun erwartete. Sofern Melanie nicht übertrieben hatte.
Als er auf Höhe Wildsteig war, wurde es stürmischer. Der Wind zerrte an seinem Bus, aber auch an den Wolken, die ab und zu einer blauen Lücke Platz machten. Gerhard stellte fest, dass auf einmal Schnee lag, gar nicht mal so wenig. Plötzlich war Winter, Schneewinter, Sturmzeit. In Steingaden bog er nach links ab, ganz durch den Ort müsse er fahren und am Schild mit den vielen Namen abbiegen. Was damit gemeint war, ging Gerhard am Ortsende auf: So schnell konnte man gar nicht lesen, zu viele Namen standen da. Fronreiten, Schlatt, Gogel – Hiebler war auch dabei gewesen. Das Sträßchen war eng und kurvig, und es wand sich unmerklich bergauf. Und als wolle Steingadens wildes Hinterland Werbung für sich machen, riss der Himmel auf. Der Blick ging über einen zugefrorenen Tümpel und hinein in die Allgäuer Alpen – alles wie im Bilderbuch.
Gerhard kam an eine Abzweigung, aha, da ging’s nach Hiebler. Definitiv, hier war er noch nie gewesen; er bezweifelte, ob hier überhaupt je Fremde gewesen waren. Das war ja eine … Er stutzte: gottverlassene Gegend? Nein, das eigentlich nicht, es war wohl vielmehr so, als hätte Gott hier eine gute Lobby: Feldkreuze, Kruzifixe an den Häusern, Lüftlmalerei mit biblischen Motiven.
Die Straße führte in ein kleines Tal hinab, wo jemand augenscheinlich ein Bauernhaus mit viel Liebe renovierte, und wieder hinauf nach Hiebler. Ein paar Höfe, eine enge Ortsdurchfahrt, ein Hund bellte, eine rote Katze huschte über die Straße. »Weiter auf der Teerstraße«, hatte Melanie gesagt, »vielleicht fünfhundert Meter, dann geht’s rechts in den Wald. Aber da steht dann eh ein Schild.« Da stand ein Schild, zweifelsfrei: »Gut Sternthaler«. Der blaue Himmel hatte soeben den Kampf gegen die Wolken verloren, schlagartig wurde es dunkler.
Gerhard rüttelte über einen Schotterweg und hielt, stieg langsam aus und sog die Atmosphäre mit einem langen Blick in sich auf. Es ging ein wirklich frischer Wind, so einer, der augenblicklich durch alle Klamotten kroch. Fröstelwetter, zumal das Haus da im Wald einem unwillkürlich Schauer über den Rücken jagte. Es war von einer hohen Mauer umgeben, gekrönt mit Stacheldraht. Kameras richteten ihre neugierigen Augen auf jeden Ankömmling. Das Tor stand offen. Das Haus selbst war ein altes Gutshaus oder besser ein großes Bauernhaus, das unter wild wucherndem Efeu zu ersticken drohte. Es war ein typisches Einhaus, westseitig war der ehemalige Stalltrakt, der vor sich hin bröselte. Einige wie zufällig platzierte Schuppen und Nebengebäude wirkten, als hätte ein Riese Bauklötzchen auf den Boden geworfen. Bei schönem Wetter im Sommer mochte das romantisch wirken, momentan hatte es was von der »Rocky Horror Picture Show«, irgendjemand von der »Addams Family« würde gleich auftauchen oder »der Hund von Baskerville«. Nebel war nun auch aufgezogen.
Und das Hundebellen klang schauerlich. Es kam von der Ostseite des Hauses, wo sich Hundehäuser mit davorliegenden Zwingern anschlossen; in Reih und Glied standen sie, das Ganze wirkte mehr wie eine Ferienhaussiedlung denn wie ein Tierasyl. Die Hundehäuschen waren in weit besserem Zustand als das Haus, und Gerhard rieselte es eiskalt den Rücken hinunter. Er sah schnell weg und richtete den Blick wieder auf das Haupthaus. Im gekiesten Hof standen ein Sanka, ein Notarztwagen und ein Polizeiauto. Melanie lehnte am Wagen, weiß wie eine frisch gekalkte Wand. Felix Steigenberger stand abseits, er hantierte mit einer Tempopackung, es war augenscheinlich, dass er sich übergeben hatte. Melanie machte einen Schritt auf ihn zu, sie wirkte wie ferngesteuert.
»Ist gut, Melanie. Warum ist der Notarzt hier?«, fragte Gerhard.
»Die Frau dahinten ist komplett zusammengebrochen. Das ist so, so …« Melanie begann wieder zu weinen.
»Ist gut, Melanie«, sagte Gerhard nochmals und reichte ihr einen Flachmann. »Kräftiger Schluck, ich nehm das auf meine Kappe. Geben Sie Steigenberger auch einen.« Er fummelte wieder in der Jacke. »Pfefferminz, kann er vielleicht auch brauchen.«
Gerhard ging auf den Sanka zu, wo eine Frau lag, die völlig apathisch wirkte. Eine Infusion tropfte, der Arzt sprang elastisch aus dem Wagen.
»Haben Sie die Schweinerei schon gesehen?«, fragte er.
Gerhard schüttelte den Kopf.
»Das ist widerlich, die einzige Bestie im Tierreich ist der Mensch. Kennen Sie Nietzsche? Der hat mal gesagt: ›Ich fürchte, die Tiere betrachten den Menschen als ein Wesen ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Tierverstand verloren hat.‹« Der Arzt zog angewidert die Mundwinkel hoch.
»Die Dame?«, fragte Gerhard.
»Ist, glaub ich, die Zweite Vorsitzende des Ganzen«, sagte der Arzt.
»Ansprechbar?«
»Keine Chance, wir mussten sie stark sedieren. Sie war völlig hysterisch, hat hyperventiliert, dann ist ihr Kreislauf kollabiert. Wir bringen sie nach Schongau. Ich denke, am Abend sollten Sie mit ihr reden können.«
»Danke«, sagte Gerhard und wandte sich nun doch den Hundezwingern zu. Zögerlich ging er näher. Das Gebell wurde wieder lauter, ein junger Mann war dabei, Hunde aus ihren Zwingern zu holen, sie anzuleinen. Wobei »Zwinger« ein sehr tiefstapelnder Terminus war. Das waren Luxusherbergen. Jeder der Hunde hatte eine Art Ferienhaus mit davorliegender Betonterrasse und einem Wiesenstück. Gerhard sah den jungen Mann fragend an.
Der junge Mann streckte Gerhard die Hand hin. »Moritz Niggl. Ich will die einen …« Seine Stimme brach. »Sie sind total verstört, sie müssen doch die anderen nicht so sehen.« Tränen traten in seine Augen.
»Haben Sie sie entdeckt?«, fragte Gerhard.
»Ja, ich trete jeden Morgen um acht meinen Dienst an, heute war ich erst um zehn da. Ich hatte verschlafen. Wenn ich früher da gewesen wäre, wer weiß …« Er starrte zu Boden, um seine Tränen zu verbergen. »Normalerweise hören die Hunde schon mein Auto. Es ist ein Gebelle, eine Freude. Heute Morgen war es totenstill.«
»Was haben Sie dann getan?«
»Die Frau Eisele angerufen und die Polizei.« Moritz kämpfte immer noch mit den Tränen.
»Frau Eisele?«
»Die Zweite Vorsitzende, die Frau im Sanka. Sie war keine echte Hilfe. Sie ist total zusammengeklappt, ich musste mich um sie kümmern. Ich hab dann gleich noch den Notarzt verständigt.«
»Sonst haben Sie alles gelassen, wie es war?«, fragte Gerhard.
»Ja, war das nicht gut?«
Er sah Gerhard mit seinen rehbraunen Augen an. Hundeaugen, lange Wimpern, ein hübscher Kerl, dieser Moritz Niggl. Trotz seiner fünf Millimeter kurzen Haare oder gerade deshalb.
»Doch, sehr gut. Sehr umsichtig von Ihnen. Ist Ihnen irgendwas aufgefallen, war irgendwas anders?«
»Nein, wie immer, nur diese Stille, es war so unerträglich still!« Er wischte sich kurz über die Augen.
»Wie kommen Sie denn durch das Tor? Das Haus wirkt auf mich sehr gut gesichert«, sagte Gerhard.
»Ich habe eine Steckkarte und muss einen Code eingeben.« Niggl fummelte in seiner Latzhose und reichte Gerhard die Karte.
»Aha, wer kann denn noch das Tor öffnen?«
»Frau Pfaffenbichler, Herr Eicher, Frau Eisele und ich.« Tränen rannen ihm noch immer übers Gesicht, er hatte die Hand auf den Kopf eines Schäferhundmischlings gelegt.
»Können die Hunde irgendwohin?«, fragte Gerhard.
»Ja, ich habe mit einer unserer Gönnerinnen gesprochen. Sie nimmt sie auf. Es sind ja nicht mehr so viele.« Nun begann er richtig zu weinen.
Gerhard legte ihm linkisch die Hand auf die Schulter. Weinende Frauen waren ihm schon ein Gräuel, aber heulende Männer? »Kann ich Sie irgendwo erreichen?«
Der junge Mann nickte und holte noch eine Karte aus seiner Arbeitslatzhose. »Handy steht drauf.«
Dann ging er, sieben Hunde an der Leine. Große und kleine, er wirkte wie einer dieser Walker, die in Großstädten wie München die Hunde viel beschäftigter Berufstätiger ausführten. Aber das war kein netter Spaziergang an der Isar oder im Englischen Garten, das war Flucht, die Vertreibung aus dem Paradies. Der größte Hund war ein schlaksiger Irish Wolfhound, der auf einmal stehen blieb und zurücksah. Über die Zwinger blickte er, und dann schaute er Gerhard an. Lange. In den Augen des Tieres lag ein so tiefer Schmerz, dass Gerhard versucht war, wegzusehen. Aber er hielt dem Blick stand. In dem Moment zerbrach etwas in ihm, aber es erwachte plötzlich ein neuer Wille in ihm. Der Wolfhound hatte die Rute ganz kurz gehoben, das war kein Wedeln, aber ein Lebenszeichen. Dann drehte er sich um und trottete neben den Seinen her.
»Ich erwische sie. Für dich, Kumpel!«, sagte Gerhard leise, und dann musste er den Blick auf das richten, was er bisher nur aus den Augenwinkeln registriert hatte. Insgesamt gab es zwanzig dieser Luxus-Hundezwinger. Sechs schienen leer gewesen zu sein, sieben Hunde zogen mit dem jungen Mann von dannen, sieben waren noch da. Sie hatten Galgen errichtet, alle akkurat gleich hoch, zwei Meter, schätzte Gerhard, Querbalken, Stützbalken – Galgen aus hellem Holz, sie sahen brandneu aus. Eine Galgenparade wie im Holzfachmarkt. Sie hatten die Hunde aufgeknüpft, große und kleine. Das Schlimmste war ein Jack Russell. Er hing da seltsam verdreht, die Zunge aus dem Maul … Hatte er noch verzweifelt um sein kleines Hundsleben gekämpft? Gerhard fror, ihm war übel, und dann auf einmal stieß er einen Schrei in die neblige Dämmerung hinaus. Es war wie Wolfsgeheul, und Gerhard sah nochmals die Augen des Wolfhounds. Das hier war anders. Das hier war Frevel. Ein Massaker an Schwachen.
ZWEI
Ein Mann war neben ihn getreten. Er trug eine Latzhose, ein Thermohemd und Lodenstiefel, eine Mütze mit Fendt-Aufdruck.
»Des san Irre«, sagte er nur.
Als würde ihn das retten, als würde ein Mensch, ein klarer Mensch ihn heilen können, fühlte Gerhard sich gleich besser.
»Eicher, Flori, ich bin der Nachbar, ich helf ab und zu aus, ich liefer Fleisch und so«, sagte der Mann.
»Weinzirl, Gerhard, Kripo«, sagte Gerhard. Dann standen die beiden Männer nur da. Eicher stopfte sich bedächtig eine Pfeife.
»Seit wann sind Sie da, Herr Eicher?«, fragte Gerhard nach einer langen Weile.
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