Verdammte Weiber - Nicola Förg - E-Book

Verdammte Weiber E-Book

Nicola Förg

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Beschreibung

»Nicola Förg greift in ihren Krimis immer wieder aktuelle Themen und Konflikte auf, die sie in eine spannende Geschichte packt.« ARD Brisant In »Verdammte Weiber«, dem 16. Band der Alpen-Krimi-Reihe, verknüpft die SPIEGEL-Bestsellerautorin den mysteriösen Tod einer Journalistin, deren Recherchen zur Diskriminierung von Frauen in der Kunst mit einer spannungsreichen Familiengeschichte zu einem packenden Fall. Das Eis auf dem Grüntensee ist dünn, der frühe Morgen klirrend kalt. Für die Frau, die in die Eisfläche eingebrochen ist, kommt jede Hilfe zu spät. Aber was hatte die ehemalige Journalistin überhaupt hier zu suchen? Irmi Mangold, die sich mit der Toten, Cordula, erst vor Kurzem bei einem Skikurs angefreundet hatte, will nicht an einen Unfall glauben. Das Ermitteln ist nun mal ihre Passion, die Sache mit dem Ruhestand hatte sie sich viel leichter vorgestellt. Cordula recherchierte über das tragische Schicksal einer vergessenen Künstlerin. Hatte sie etwas Brisantes herausgefunden, was sie besser nicht gewusst hätte? Spielte der Erbschaftszoff mit ihrer Halbschwester eine Rolle? Oder eskalierte ein schwelender Streit mit dem Verlegerssohn, der Cordula schon ihren Beruf gekostet hatte? Raffinierte Plots, Spannung und aktuelle gesellschafts- und umweltpolitische Themen – diese Mischung macht die Kriminalromane der SPIEGEL-Bestsellerautorin Nicola Förg zu einem besonderen Lesegenuss. Die Diskriminierung von Frauen in der Kunst – dazu recherchierte Cordula, das Opfer in Nicola Förgs aktuellem Alpen-Krimi, intensiv vor ihrem Tod. Vor allem das rätselhafte Schicksal der zu Unrecht vergessenen Künstlerin IIlse Schneider-Lengyel, Mit-Begründerin der Gruppe 47, faszinierte sie. Detailreich und fesselnd integriert Nicola Förg diese Recherche in ihren neuen Kriminalroman »Verdammte Weiber«. »Bei jedem neuen Thema lernt man etwas dazu. Es ist immer wieder ein Vergnügen.« Radiolounge

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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© Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Dr. Annika Krummacher

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Frank Janssens / Getty Images und Shutterstock.com

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Zitat

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

Epilog

Nachwort

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Zitat

Ich bin als Rebell

Geboren

Zu klein die Welt

Mich zu verlieren

Bin ich da!

Und wenn ich so

Verflucht

Von einer Kuppel hänge

Zeigt mich

Als elenden

Rebellen an.

Ich dränge mich

Und koste alles aus

Es ist Rebellenlohn

Dass ich verscharrt

Unwillig, durstig

Unbesänftigt ende.

Ilse Schneider-Lengyel

Prolog

In der rauchigen Höhle will ich gar nicht beginnen, als Frauen sammelten und kochten und hofften, dass ihr Alter nicht vom Säbelzahntiger gefressen wurde. Oder hofften sie genau das? Auch nicht im finsteren Mittelalter möchte ich anfangen, als die Frauen, waren sie ärmlich, nur hungerten und früh starben, meist schon im Kindbett. Waren sie adlig, trugen sie einen Keuschheitsgürtel (rostig?) und mussten einem Minnesänger lauschen, der sie anjaulte. Gern galten sie als Hexe, wenn sie auch nur irgendwie auffällig oder gar aufsässig waren. Wenn sie nicht verbrannt wurden, wurden sie vergewaltigt, ein probates Mittel durch all die Jahrhunderte. Gewalt, die physisch und psychisch tiefe Verletzungen erzeugt und Narben, höher als Bergkämme.

Irmi schluckte. Aus jedem Satz des Manuskripts, das sie vor sich hatte, sprach Coci. Sie sah sie förmlich vor sich. Laut und aufsässig, so wie sie immer gewesen war.

Aber dann startete irgendwann die Aufklärung, dieser Aufbruch in die Vernunft. Zwar brachte er der Frau nur wenig, sie wurde aber womöglich zum ersten Mal gesehen und erhob sich aus dem Küchenstaub. Man überlegte, was die Bestimmung einer Frau denn sein könnte. Denn langsam entstand ein städtisches Bildungsbürgertum, es kam erstmals zu einer Trennung von Arbeits- und Wohnort, und da mag der unbedarfte Laie nun denken: Prima, ab da hätten die Frauen dann ja auch gut arbeiten gehen können? Falsch – arbeiten schon, aber bitte schön zu Hause. Die Frau sollte der Familie dienen und dem Ehemann untertan sein. Was auch sonst! Das konnte man schließlich wissenschaftlich erklären. Der Begriff der »Geschlechtscharaktere« kursierte ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Demnach waren Wesen und Natur von Mann und Frau höchst unterschiedlich. Schon mal rein optisch: Der Mann ist ansehnlicher mit stärkerem Muskelsystem, das Weib ist kleiner, schwächer, weicher und runder. Und dann natürlich die seelische Dimension: Der Mann ist unternehmungslustig und aufstrebend, das Weib bescheiden und rücksichtsvoll. In der einen oder anderen Definition liest man sogar, das Weib sei listig. Beim Manne regiert der Verstand, beim Weibe das Gemüt. Der Mann ist aktiv, die Frau passiv. Der Mann eignet sich also durch seine genetische oder gottgegebene Rationalität für ein Leben und Arbeiten in der Öffentlichkeit. Frauen hingegen sind passiv und empfindsam, produktiv nur im Kinderkriegen und gehören ins Private.

Denn sie bekamen die Kinder ja nicht nur, sondern sollten sie auch erziehen, zumindest im Bürgertum. Das traute man ihnen immerhin zu: In der Frühaufklärung fand man die These, Frauen verfügten nur über eine »verminderte Geisteskraft«, abstrus. Wenigstens das! Aber die Einschränkung folgte auf dem Fuße. Aus den Geschlechtscharakteren ließ sich ableiten, dass weibliche Gelehrsamkeit nicht nur unnötig, sondern höchst gefährlich und schädlich war. Denn so eine gelehrte Frau drohte zwangsläufig das Hauswesen zu vernachlässigen! Andererseits – es war ja die Zeit der Aufklärung – wollte man die Frau doch ein wenig bilden, schließlich sollte sie Vorbild und Erzieherin der Kinder sein und mit dem gebildeten Manne im Hause parlieren. Um 1770 wurde beschlossen, dass alle erwachsenen Personen – und explizit auch Frauen – lesen und schreiben können sollten.

Doch damit gab man den Frauen ein Teufelszeug an die Hand, also musste man kanalisieren, was sie lasen. Denn zur Tatsache, dass sie lesen konnten, kam erschwerend hinzu, dass die Bürgersfrauen finanziell abgesichert waren und zu Hause durchaus ihre Stunden der Muße hatten. Also musste es für das leicht einfältige weibliche Gemüt auch den passenden Lesestoff geben. Das war die Geburtsstunde der Frauenzeitschriften, hört, hört! Ihr klares Ziel war es, der unkontrollierbaren Lesewut des Weibes entgegenzuwirken. Klar, dass die ersten solchen Zeitschriften von Männern herausgegeben wurden. Es gab aber (o Wunder!) auch einige wenige Frauen, die Ende des 18. Jahrhunderts eigene Zeitschriften herausgaben. Was an sich gar nicht so unlogisch war, denn wenn man die Geschlechtscharakterisierung als Maß der Dinge heranzieht, dann ist es ja gut, wenn Frauchen für Fräuleins schrieben.

Die Herausgeberinnen waren meist zugleich die Autorinnen der Zeitschriftenartikel. Es gab aber durchaus eingesandte Beiträge von anderen Frauen, die zur Feder griffen … Wenn die Ergüsse lieb und brav waren und keine Anzeichen von weiblicher Gelehrsamkeit zeigten, gefiel das auch den Männern. Eine solche Zeitschrift sollte eine pädagogische Intention erfüllen und die körperliche wie seelische Schönheit der Frau preisen. Bescheidenheit, Freundlichkeit, Sanftmut, Redlichkeit, Fleiß und Sparsamkeit – das alles sollte man als Mädchen schon erlernen und später dann heiter und ruhig wie ein Füllhorn über Familie, Kinder und Mann ausschütten.

Irmi legte das Manuskript zur Seite und seufzte. Was für kluge Gedanken. Wie gern hätte sie mit Coci über diesen Text gesprochen und ihr oft zugestimmt! Zu spät!

1

Die Straße war schneebedeckt und glatt. Irmi fuhr nur Schritttempo, bis sie wieder den Parkplatz erreicht hatte. Dieses Mal blickte sie etwas länger über den See und sein Gestade. Immer noch waren die wenigen Büsche am Ufer vereist, zu Skulpturen erstarrt. Wenn man hier auf der Ostseite stand, sah man in die Sonne, die auf den Eiskristallen spielte und ein furioses Funkeln erzeugte, das so lebensfroh war – und in diesem Moment so unpassend. Weit hinten stand der Grünten, der »Wächter des Allgäus«, der offenbar dieses Mal nicht so gut aufgepasst hatte. Irmi hatte das nur zweieinhalb Kilometer lange Gewässer bis vor Kurzem gar nicht gekannt und auch nicht gewusst, dass es nicht natürlich entstanden war. 1962 hatte man das Flüsschen Wertach aufgestaut und dem See nach ebenjenem Berg den Namen Grüntensee verpasst. Ein See als Hochwasserschutz und zur Stromerzeugung, der nun schon gute sechzig Jahre alt war. Er hatte Zeit gehabt, in die Gegend einzuwachsen, und auch die Menschen hatten genug Zeit gehabt, mit ihm zusammenzuwachsen.

Auf ihrem Weg zum Ufer rückte die kunterbunte Winterwelt zusammen. Ein alter Herr mit Zipfelmütze und einem Overall in verwaschenem Lila aus den Achtzigerjahren glitt langsam, aber stetig durch die Loipe. Er wurde von zwei jungen Skaterfrauen überholt, die ebenso schlank waren wie ihre schmalen Latten. Irmi querte die Loipe und stapfte auf der Pfadspur erneut zum Ufer. Ihr war übel, da half ihr auch die Winterluft nicht. Eine junge Mutter zog zwei Kinder mit dem Schlitten, was sichtlich mühsam war hier im tiefen Schnee. Ein schneebegeisterter Berner Sennenhund umtanzte sie, bohrte seine Nase immer wieder in den Schnee, warf die weißen Kristalle in die Höhe und schnappte danach. Als er Irmi entdeckte, schoss er auf sie zu, sprang an ihr hoch, und Irmi hatte zu tun, Haltung und Stand zu bewahren.

»Oskar, du blödes Viech!«, rief die junge Frau atemlos. »Oskar, komm zurück! Oskar!« Als sie vor Irmi stand, war Oskar im wahrsten Sinn zu einem neuen Ufer aufgebrochen und hatte begonnen, an selbigem etwas auszubuddeln.

»Entschuldigen Sie, er ist noch jung und furchtbar wild«, erklärte die junge Frau. »Wir hatten immer Berner, die waren alle durch die Bank gemütlich, nur Oskar ist ein Monster.«

»Alles gut, ich hab auch einen Hund, der an Leuten hochspringt. Der ist nur nicht so, na ja, gewichtig«, meinte Irmi lächelnd.

Ihr Blick glitt wieder zum zugefrorenen See. Vom Ufer aus war das Loch zu sehen mitsamt den Absperrbändern und Warnhinweisen, dass man den See nicht mehr betreten sollte.

Die junge Frau war ihrem Blick gefolgt. »Da ist heute früh eine Frau eingebrochen, so schrecklich. Ich, ich …« Sie schluckte schwer.

»Sie waren dabei?« Irmi kam der Verdacht, dass es sich bei der jungen Frau um die Zeugin handelte, die der Kollege vorhin erwähnt hatte.

»Nicht direkt. Ich kam vom Dorf, war auf dem Weg zum See. Auf der Straße kamen mir zwei Jungs entgegen. Die beiden rannten, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Ich hab ihnen hinterhergerufen, was denn los wäre. Der eine ist sogar kurz ausgerutscht und hat sich wieder hochgerappelt, und dann sind sie weitergerannt. Oskar konnte ich grad noch abrufen, der dachte nämlich, das sei ein Spiel. Ich bin Richtung Parkplatz gelaufen und dann runter zum See. Und im Näherkommen hab ich was Buntes gesehen und hab mir gleich gedacht, dass in dem Eisloch eine Person treibt. Ich war total in Panik, hab die 112 gerufen und noch versucht, einen Ast zu finden, aber alles war so vereist. Verstehen Sie?«

Sie hatte Tränen in den Augen. Irmi verstand sie nur zu gut. Die junge Mutter machte sich Vorwürfe. Das Bild der Eisfrau würde sie ein Leben lang verfolgen, es würde sie immer wieder anspringen, auch später, wenn es einen Trigger gab.

»Sie haben ganz richtig gehandelt«, versuchte Irmi sie zu beruhigen. »Sie hätten sich nur selber in Gefahr gebracht.« Und Sie haben zwei Zwerge, die ihre Mama brauchen, ergänzte sie innerlich. Die beiden Kleinen sahen aus wie zwei Wichtelmännchen mit spitzen Strickmützen, absolut identisch. Und beide blickten Irmi wie gebannt an.

»Zwillinge?«

»Ja, Kaspar und Jakob. Nach den beiden Opas. Oder finden Sie die Namen blöd? Ich meine, heutzutage?«

»Nein, ich mag solche Traditionen. Gerade heutzutage, wo Kinder gern mal Matt-Eagle oder Dee-Jay genannt werden.«

Die junge Mama lächelte kurz, dann sah sie zum See. »Wenn ich nur etwas hätte tun können. Wenigstens war der Notarzt schnell da, aber auch der konnte sie nicht mehr zurückholen.«

»Und Sie meinen, wenn die beiden Jungs früher etwas gemeldet hätten, dann hätte sie überleben können?«

»Vielleicht. Ich weiß nicht. Es ist so schrecklich.«

»Kannten Sie die Buben?« Buben sagte man heute nicht mehr, schoss es Irmi durch den Kopf.

»Das hat mich die Polizei auch schon gefragt.«

»Und kannten Sie die Burschen nun?« Burschen war besser.

»Nein, ich habe sie nicht gekannt, doch das heißt nichts. Aus Haslach sind sie nicht, würde ich sagen. Vielleicht aus Wertach? Oder Urlauber? Man kennt auch bei uns längst nicht mehr alle.«

»Haben Sie sonst noch wen gesehen?«

»Nein, es war ja noch so früh. Und so schrecklich kalt. Aber Oskar muss raus, sonst ist der daheim unerträglich. Und wenn ich nicht ein bisschen weiter mit ihm laufe, am besten im Tiefschnee, damit er müde wird, ist er nicht zufrieden. Als die Polizei kam, haben die alles abgesperrt. Da wurden auch meine Daten aufgenommen, falls sie mich eventuell noch mal kontaktieren müssen.« Sie sah Irmi an. »Sind Sie auch von der Polizei?«

»Da war ich mal. Früher.«

»Dachte ich mir, weil Sie so fragen.«

»Wie denn?«

»So genau.« Sie lächelte. »Ich hab Jura studiert und das Erste Staatsexamen gemacht. Das weitere Vorgehen ruht grad etwas wegen der beiden Jungs. Aber ich mach weiter, wenn die etwas älter sind und das mit der Betreuung klappt.«

»Das ist gut. Und Sie sind …?« Irmi sah sie fragend an.

»Kathrin. Kathrin Schmid.«

»Irmi, Irmi Mangold.« Irmi überlegte kurz. »Ich war früher in Garmisch tätig, und ich habe die Frau gekannt.« Und ich war heute schon mal hier, ergänzte sie innerlich.

»Echt? Oje! Die Frau war auch aus Garmisch, das stand bei allgaeunews.de. Schlimm, oder?«

Dass sie aus Garmisch gewesen war? Weil die Landschaft dort gefährlicher war? Weil man auch im Eibsee oder Ferchensee hätte einbrechen können? Oder weil Irmi die Frau gekannt hatte?

Kathrin merkte offenbar, dass ihre Äußerung etwas seltsam rübergekommen war. »Ich bin irgendwie durch«, erklärte sie müde.

Irmi nickte und zog dann ihr Handy heraus, in dem noch ein paar ihrer alten Visitenkarten steckten. »Da steht meine Handynummer drauf, falls Sie …« Ja, was eigentlich?

»Sie waren Hauptkommissarin. Mega.«

Ob »mega« der richtige Ausdruck war?

Oskar hatte die Gunst der Stunde genutzt, in der er unbeobachtet war, und war Richtung Parkplatz in ein kleines Wäldchen gesaust. Nun kam er angetobt, das Fell an den Pfoten mit Schneeklumpen behängt, im Maul einen Skistock, genau genommen einen eleganten Stock zum Langlaufen.

»Oskar! Den hast du aber keinem geklaut, oder?« Kathrin sah sich um. Ein Langläufer, der gerade vorbeizog, hatte jedenfalls zwei Stöcke, die er beidseitig in den Schnee hieb. »Gib das her!« Der Hund ließ los, und Kathrin steckte den Stock in den Schnee. In diesem Moment begann Kaspar oder Jakob zu brüllen, ohne Vorwarnung und in beachtlicher Lautstärke. Der zweite Zwilling stimmte ein.

»Oje, ich muss weiter. Wiedersehen! Oskar, auf geht’s!«

Der Hund ließ es sich nicht nehmen, Irmi noch mal anzuspringen, und folgte dann seiner Familie.

»Ciao, Kathrin«, rief Irmi.

Die junge Frau drehte sich kurz um und winkte.

Irmis Blick wanderte wieder zum Eisloch. Was ist passiert?, dachte sie. Du warst eine Winterfrau! Du bist doch nicht auf brüchiges Eis gegangen!

Der Stock, den Oskar apportiert hatte, steckte noch neben Irmi im Schnee. Sie sah sich um. Es war Nachmittag. Langläufer und Winterwanderer waren noch fröhlich unterwegs. Doch die Temperatur begann schon zu sinken, und bald würde sich die bitterkalte Nacht herabsenken. Der Himmel war klar, über dem Schnee regierten scharfe Minusgrade. Dabei hatte das alles ganz harmlos begonnen – in wohliger Wärme und mit Sieglinde.

2

Irmi betrachtete aufmerksam den Korb mit den Kartoffeln und las die kleinen Schiefertafel, auf der mit hübschen regelmäßigen Buchstaben geschrieben stand: Sieglinde, 1935, festkochend, Züchter: Friedrich Böhm aus dem Odenwald, Schale: glatt, gelb mit mitteltiefen Augen. Irmi lächelte in sich hinein. Sie hätte ihre eigenen Augen auch als mitteltief bezeichnet, wenn sie am Morgen leicht verquollen aufwachte. Und es war einfach reizend, dass Lissi in ihrem Hofladen den Produkten mit kleinen Erklärungstäfelchen eine Identität gab.

Auch Linda hatte eine kleine Schiefertafel bekommen. Der Sortenschutz der Knolle war nach dreißig Jahren abgelaufen, und der Lüneburger Züchtungskonzern Europlant hatte sie Ende 2004 von der Saatgutliste streichen lassen, weil diese Kartoffelsorte angeblich krankheitsanfällig sei. Was blanker Unsinn war. In Wahrheit wollte der Konzern, dass die Landwirte ab jetzt neuere, lizenzpflichtige Sorten von Europlant anbauten, statt die Linda lizenzfrei zu nutzen. Aber da hatte der Agrarriese nicht mit den Linda-Fans und der Initiative »Rettet die Linda« gerechnet. Am Ende kam die geliebte Knolle über Schottland zurück nach Deutschland. Und letztlich hatte der Linda-Krimi dazu beigetragen, dass verloren gegangenes Wissen um alte Kartoffelsorten wieder aus der Erde gebuddelt wurde.

Mit solchen Geschichten konnten Lissi und Luise ihre Käufer unterhalten und an ihren Hofladen binden. Man kaufte eben nicht einfach ein Lebensmittel, sondern Geschichte und Geschichten. Schon seit geraumer Zeit ging Luise voll in ihrer Arbeit in Lissis neuem Hofladen auf. Er lief gut, eben weil die beiden Frauen nicht nur Herzblut, Fachwissen und eine ausgeklügelte Produktpalette zu bieten hatten, sondern auch empathisch waren und auf die Wünsche ihrer Kunden eingingen.

»Also, nach dreißig Sekunden solltest du wirklich mal was sagen«, meinte Lissi und riss Irmi aus ihren Gedanken.

»Hau schon raus!«, rief Luise ungeduldig.

»Na gut, dann neunzig«, sagte Irmi.

»Hundert«, tippte eine Frau, die Irmi vom Sehen kannte. Sie kaufte öfter bei Lissi ein.

»Ich schätze, hundertfünfzehn«, sagte der Hase.

»Streber!«, rief Luise. »Es sind hundertsiebzehn. Dann hast du gewonnen. Du bist am nächsten dran von allen, die heute gevotet haben. Und da wir gleich schließen, geht der Preis an dich.« Sie drückte Fridtjof eine Tafel Rapunzel-Bioschokolade in die Hand.

»Du bist wirklich ein Streber«, sagte Irmi. »Wie bist du darauf gekommen?«

»Im Korb befinden sich zehn Kilo. Zehn mittelgroße Kartoffeln wiegen etwa ein Kilo. Da sind aber auch kleinere darunter, daher meine Schätzung.«

»Pfft«, machte Irmi.

»In unserem kleinen Wettkampf hat Fridtjof gewonnen!«, triumphierte Luise. »Also muss Irmi eine Aufgabe lösen.«

Irmi stöhnte. Sie steckte mitteltief im Schlamassel. Warum war sie so vorlaut gewesen? Luise hatte ein Spiel erfunden, bei dem man jeden Freitag die Menge oder das Gewicht von Produkten aus dem Hofladen schätzen musste. Das Gewicht eines Riesenkürbis beispielsweise oder eben die Anzahl von Kartoffeln in einem Korb. Und Irmi hatte übermütig gemeint, sie werde auf jeden Fall besser sein als Fridtjof. Sie war schließlich das Landei. Fridtjof allerdings war ein begnadeter Koch, das hätte sie einkalkulieren sollen. Und sie hatten vereinbart, dass der Sieger dem Verlierer anschließend eine Aufgabe stellen durfte.

»Sag schon, Fridtjof, was muss Irmi nun machen?«, erkundigte ich Lissi grinsend.

»Ich singe nicht, und ich ziehe nichts Merkwürdiges an!«, rief Irmi.

»Du sollst auch nichts Merkwürdiges anziehen. Eher was Warmes«, meinte der Hase lächelnd. »Wir haben schon mal drüber gesprochen: Du wirst einen Skikurs machen.«

»Du spinnst!«

»Warum nicht? Wenn du ein paar zusammenhängende Kurven fahren könntest, könnten wir kleine Pistenskitouren machen. Nichts Großartiges, nur mal rauf aufs Hörnle zum Beispiel.«

Irmi starrte den Hasen an. Fridtjof war fitter als jeder Sneaker, fettlos und sehnig, ein Hochgebirgsfex. Das Hörnle kam ihr höher als jeder Andengipfel vor – insbesondere bei der Vorstellung, mit lästigen Ski an den Füßen da hochzulaufen. Wobei der schlimmere Teil allemal das Hinunter war.

»Ich bin fünfundsechzig!«, gab sie zu bedenken.

»Das macht doch nichts«, mischte sich die Frau ein, die eben mitgeschätzt hatte. »Sie sehen jünger aus und wirken durchaus sportlich. Ich hatte schon ältere Kunden.«

»Was für Kunden?«

»Ich gebe Skikurse für erwachsene Wiedereinsteiger. Cordula Kühnlein heiße ich.«

Irmi starrte die Frau an, die auch so ein Hungerhaken war und so aussah, als laufe sie vor dem Frühstück einen Halbmarathon. »Ihr spinnt doch alle beide! Ich bin als Kind mit Gleitschuhen die Straße runter.« Sie fixierte die Skilehrerin. »Kennen Sie überhaupt noch Gleitschuhe?«

»Na klar, ich bin Ende fünfzig. Natürlich kenne ich Gleitschuhe.«

»Ich habe immer Rücklage bekommen, das ging mir alles viel zu schnell. Einmal hab ich mir den Hinterkopf aufgeschlagen. Dann habe ich Bernhards alte Ski probiert, mit so einer Ratschbindung. Wir haben uns selber eine Piste getreten, am Hang hinter unserem Hof. Da bin ich geradeaus gefahren und habe mich zum Bremsen in den Schnee geworfen. Ich bin keine Skifahrerin. Ich habe das nie gelernt, und mit etwa zwölf habe ich die stümperhaften Versuche auch ganz eingestellt, da hab ich mir dann nämlich auch noch den Arm gebrochen. Ich war beim Skitag in der Schule immer bei der Rodelgruppe dabei. Und bei uns war weder Zeit noch Geld für Liftkarten. Ich bin also keine Wiedereinsteigerin! Ich bin generell ungeeignet für Gleitsportarten. Und ich bin ein altes Weib, das seine Knochen gerne intakt lassen würde. Ihr wisst es: Bei alten Frauen ist der Oberschenkelhalsbruch der Anfang vom Ende!«

Luise lachte laut heraus. »Du redest, als wärst du achtzig plus!«

»Das Material ist heute auch ganz anders, und wenn es wirklich nur um Basics geht, dann haben Sie das schnell drauf.« Diese Cordula Kühnlein war Feuer und Flamme.

»Irmi wird ein Pistenflitzer! Großartig!«, rief Lissi.

»Niemals!«, konterte Irmi entschieden.

»Wettschulden sind Ehrenschulden«, behauptete Lissi übertrieben ernst. »Und du hast doch jetzt Zeit, da wäre es schön, wenn ihr, du und Fridtjof, was gemeinsam machen könntet.«

Lissis Worte schnitten mitteltief in Irmis Herz. Etwas gemeinsam machen? Sie und Fridtjof hatten gute Gespräche und gutes Essen, was ja angeblich der Sex des Alters war. Sie reisten bisweilen miteinander und hatten auch noch Sex, gelegentlich, bewusst, aber die Libido regierte wahrlich nicht ihre Tage. Und sonst? Fridtjof hatte seine Berge, die er rennend, radelnd oder mit Ski bezwang. Für Irmi in viel zu hoher Geschwindigkeit und mit einer bemerkenswerten Kondition und Expertise, die sie nie mehr erreichen konnte. Fridtjof hatte ihr nie vermittelt, dass er ihre Anwesenheit beim Sport vermissen würde. Wieso schlug er jetzt die Skitouren vor? Weil er spürte, dass Irmi haderte?

In der Tat hatte sie sich das Ausscheiden aus dem Beruf leichter vorgestellt. Ihr fehlte der Rhythmus, der Fokus, sie war noch nicht so recht angekommen im Rentnerleben. Der Tag war so lang, wenn man nicht mehr zur Arbeit ging. Alles, was sie früher nebenher gemacht hatte, schnell und doch effizient – das sollte nun ihren Tagesablauf bestimmen? Sie gabelte Luises Eseln und Mulis das Heu in Zeitlupe hin, machte hübsche Häufchen und schnitt Karotten zierlich klein. Sie verwandte viel mehr Zeit aufs Einräumen der Spülmaschine, das Wäscheaufhängen, das Putzen, und sie hatte sogar schon ihre T-Shirts und Pullover der Farbe nach sortiert. Das war doch der Anfang vom Ende! Und natürlich wusste sie, dass nicht nur Fridtjof, sondern auch Luise und Lissi sie besorgt beäugten. Die drei waren der Meinung, sie solle sich ein Hobby suchen, eine Sprache lernen oder eben eine neue Sportart.

Doch war das wirklich so einfach? Irmi hatte in ihrem Leben nie zwischen Beruf und Freizeit getrennt. Sie hatte ihre Fälle mit nach Hause genommen, was sie aber nie als Pein empfunden hatte. Schließlich hatte sie ihren Kopf, der ein Rätsel lösen wollte, nicht einfach an- und ausknipsen können. Und umgekehrt hatte sie ihre Persönlichkeit, die von ihrer klaren bäuerlichen Kindheit geprägt war, mit zu den Kollegen genommen und Ruhe in den Haufen gebracht. Aber nun fehlte ein großer Teil.

Da Irmi wohl etwas zu lange geschwiegen hatte, meinte Luise: »Na ja, wenn Irmi so gar nicht will, hat das wenig Sinn.«

»Wie wäre es mit einem Kompromiss?«, schlug die Skilehrerin vor. »Sie probiert das mal einen halben Tag, und wenn es ihr gar keinen Spaß macht, brechen wir ab?«

Alle sahen sie an. Das war ja lächerlich! Und dieses Reden in der dritten Person. Als wäre sie gar nicht da!

»Also gut. Wettschulden sind Ehrenschulden. Ich probiere das aus«, sagte Irmi. »Aber eins sage ich euch gleich: Ich werde mit Sicherheit nicht in Garmisch rumrutschen! Da kennt mich ja jeder und jede. Und ich fahre auch nicht stundenlang an den A… der Winterwelt irgendwo in den Alpen, dass das klar ist.«

»Kein Problem, ich hätte sowieso die Gegend rund umJungholz vorgeschlagen«, sagte Cordula Kühnlein. »Kennen Sie Jungholz in Tirol?«

»Nur vom Namen her«, gab Irmi zu.

»Der Ort liegt im Allgäu und ist nur über den Gipfel des Sorgschrofens mit Tirol verbunden, also eine österreichische Enklave«, erklärte der Hase. »Wer hat schon einen Hausberg, auf dessen Gipfel die Grenzlinien von je zwei deutschen und österreichischen Gemeinden zusammentreffen? Auf dem Gipfel des Sorgschrofens treffen sich die Grenzlinien von Bad Hindelang, Pfronten, Jungholz und Schattwald im Tannheimer Tal.« Er lächelte die Skilehrerin an. »Sehr einzigartig, gute Wahl von Ihnen.«

»Wärt ihr einverstanden, wenn wir alle Du sagen?«, fragte Cordula Kühnlein. »Ich bin die Coci.«

»Spätestens beim Skikurs wären wir ja allemal per Du, oder?«, erwiderte der Hase lächelnd.

»Na gut.« Irmi nickte zustimmend.

»Am Sonntag würde ein Kurs beginnen«, fuhr Coci fort. »Komm doch am ersten Tag dazu, Irmi, und wenn es dir taugt, dann bleibst du, und wenn nicht, dann sind deine Wettschulden damit beglichen.«

»Ich hab aber keine Skiklamotten und erst recht keine Schuhe«, gab Irmi zu bedenken.

»Eine Wintertrekkinghose tut’s auch. Und vielleicht irgendein Anorak. Drunter ziehst du einfach ein warmes Fleece. Skischuhe, Helm und Ski gibt es im Verleih. Alles kein Problem!«

»Ich hab eine tolle Skijacke für dich«, sagte Luise.

»Die ist aber knatschorange!«

»Dann sieht man dich oder denkt, du bist von der Pistenwacht«, meinte Luise grinsend.

»Eher von der Straßenwacht. Echt, Leute!«

»Das Outfit sollte nicht das Problem sein«, sagte der Hase. »Und zur Einstimmung in den Wintersport, liebe Irmi, könntest du uns morgen schon mal anfeuern!«

»Wen soll ich anfeuern?«

»Wir haben eine Mannschaft für die Internationalen Offenen Polizeiskimeisterschaften gemeldet.«

»Was? Und wer ist wir?«

»Sailer, Sepp, Margit, Hansi, Andrea und meine Wenigkeit.«

»Für ein Skirennen?«

»Riesenslalom.«

Luise staunte. »Ich dachte, du fährst nicht alpin, sondern nur Langlauf und Touren?«

»Für das Team opfere ich mich auf«, entgegnete der Hase. »Sailer leiht mir das nötige Equipment, ich habe auch schon trainiert. Wir werden morgen am Garmischer Hausberg mit ein paar anderen deutschen Teams und ein paar Österreichern eine Art Vorwettbewerb fahren. Einen Freundschaftscup. Zur offiziellen Meisterschaft kommen dann auch Teilnehmer aus der Schweiz, Österreich, Italien, Liechtenstein, sogar der Slowakei, Tschechien und aus Polen.«

»Das ist euer Ernst?«, fragte Irmi ungläubig.

»Klar, wir müssen dem Rest der Welt doch mal zeigen, dass wir am Fuße des höchsten Berges der Republik auch was können. Und wir haben durchaus ein paar Wunderwaffen dabei. Andrea hat als Jugendliche einige Kreiscuprennen gewonnen, und Sailer fährt fast wie Odermatt.«

»Wer ist Odermatt?«

Coci grinste. »Ein Schweizer Gott auf Ski. Ich würde auch mitkommen, als Fanbase, wenn ihr mögt?«

»Na klar, wir brauchen Jubelchöre«, versicherte der Hase.

»Und Kathi?«, fragte Irmi. »Macht die auch mit?«

Der Hase lachte. »Hast du Kathi jemals Sport machen sehen? Mal abgesehen von ihrem Zigaretten-Hochgeschwindigkeitsdrehen?«

Irmi lächelte, und eine Welle der Melancholie überschwappte sie. Die anderen lebten weiter ohne sie, und das war gut so. Natürlich. Es war immer noch keine Entscheidung gefallen, wer Irmis Posten übernehmen würde. Kathi wohl eher nicht. Es gab Spekulationen und Ängste, dass man ihnen jemanden vor die Nase setzen würde, der oder die gar nicht ins Team passte. Aus dem Schwäbischen, aus Franken oder im schlimmsten Fall aus München.

Sie tranken noch einen Bio-Prosecco, den der Hase sogar lobte. Seiner Ansicht nach hatten viele Biowinzer Probleme damit, gute Weine zu machen. Dann verabschiedete Fridtjof sich mit einer lässigen Handbewegung in die Runde und mit einem Küsschen für Irmi.

»Fescher Typ. Ist das deiner?«, fragte Coci, als der Hase verschwunden war.

»Gewissermaßen«, erwiderte Irmi.

»Dann sehen wir uns morgen. Ciao, ich freu mich!«

Die drei verbliebenen Damen sahen Coci nach.

»Hat ja eine ganz schöne Power, diese Frau«, meinte Lissi nach einer Weile. »Sie war ein paarmal hier, ich hab rausgehört, dass sie noch gar nicht so lange in Garmisch wohnt.«

»Hmm«, machte Irmi und sah sich schon mit dieser Powerfrau die Hänge hinunterpurzeln und in Gletscherspalten fallen. Aber da half ja dann der orange Anorak, sie zu finden.

 

Als sie am nächsten Morgen erwachte, hielt sich Irmis Lust in Grenzen, beim Skirennen zuzuschauen. Sie wusste, dass das lange Herumstehen ihren alten Bandscheiben nicht gefiel. Aber sie hatte es dem Hasen versprochen, und Luise war ganz aufgeräumt. Sie hatte nachrecherchiert und wusste zu berichten, dass beim offiziellen Wettkampf die drei schnellsten Männer und die schnellste Frau ermittelt werden sollten. Für den Vorwettkampf war dieses Reglement übernommen worden.

Auf den Straßen war viel Verkehr. Es war Samstag, und halb München strebte den Alpen zu. Auf dem Parkplatz gab es Extraplätze für die Polizei-Skifahrer. Eine sehr junge Anwärterin wies sie ein, und Irmi fragte sich, ob das nicht womöglich Kinderarbeit sei und ob man dem Mädel nicht etwas zu essen holen sollte, so dünn war das Ding. Der Lauf sollte sich im unteren Bereich der Talabfahrt stattfinden. Es war ordentlich was los. Und obwohl das Ganze doch vor allem dem Spaß und dann dem Après-Ski in einem extra dafür aufgestellten Zelt dienen sollte, war schnell spürbar, dass einige die Sache sehr ernst nahmen. Ein junger Mann herrschte gerade einen anderen an, dass er »falsch wachseln« würde. Ein paar Frauen hatten ein Bettlaken zwischen sich gespannt mit der Aufschrift: Fellhorn-Recken – schneller um die Stecken! Aus der Ferne sah Irmi den Hasen winken, und ein Stück entfernt stand Sailer und redete auf Andrea ein. Beide sahen aus, als ginge es um einen zweiten Lauf bei den Olympischen Winterspielen, bei denen sie sich Medaillenchancen ausrechneten.

»Da sind Leute aus mehreren PIs in Bayern und Baden-Württemberg gekommen«, wusste die perfekt vorbereitete Luise.

Und plötzlich tippte Irmi jemand auf die Schulter. Es war Lars, Andreas langjähriger Fernbeziehungsfreund aus Velbert.

»Lars, was machst du denn hier? Bist du extra zum Anfeuern angereist?«

Er lachte. »Na klar, ich werde Andrea schon anfeuern, aber eigentlich bin ich mit unserem Skiteam aus NRW hier, um gegen die Südmächte anzutreten.«

»Fährst du auch?«

»Nein, ich bin als Organisator, PR-Fuzzi und Wurstbrötchen-Verteiler dabei. Und ich hab den Kleinbus gefahren, einer muss ja nüchtern bleiben. Ich muss leider weiter! Bis später, Irmi!«, rief er und drehte sich im Gehen noch mal um. »Du siehst gut aus, richtig erholt.«

Ja, sie war jetzt schon so erholt und so unterbeschäftigt, dass sie sich freiwillig an einen Berg stellte. Lars, wenn du wüsstest … Ihr Blick schweifte weiter umher. Sogar ein Fernsehteam aus Tirol war gekommen und außerdem Journalisten vom Tagblatt und der Tiroler Tageszeitung.

Die Ersten starteten, und Ski fahren konnten die alle. Zumindest für Irmis laienhaftes Auge sah das richtig gut aus. Doch was dann folgte, war der Hammer! Auch wenn Irmi diesen göttlichen Odermatt nicht kannte – Sailer schoss durch die Tore, dass es wie aus einer anderen Liga wirkte, extrem professionell. Am Ende erreichte er eine Spitzenzeit und erntete tosenden Applaus. Zugleich wurden Irmis Zweifel immer größer. Sie verfluchte sich für die Zusage zum Skikurs, das würde sie nie mehr lernen.

Kathi war aufgetaucht und grinste Irmi an. »Sailer ist der Knüller, oder? Beim nächsten Mal machst du auch mit, Irmi!«

»Never ever!«

Sie blickten wieder auf den Hang.

»Der Hase startet! Go, Fridtjof!«, brüllte Kathi und ließ ihre Ratsche knattern.

»Boah, Kathi, da krieg ich ja einen Hörsturz!«

Auch der Hase machte das sehr gut, womöglich nicht mit dieser letzten Konsequenz wie Sailer, und er fuhr nicht so dicht an die Tore ran, aber es sah elegant aus.

Fridtjof war etwa in der Mitte des Kurses, als in den Zielraum vier Menschen liefen. Je zwei von ihnen hatten ein Transparent zwischen sich aufgespannt. Dümmer, als die Polizei erlaubt – Cops sind Klimakiller!, stand auf dem einen und auf dem anderen: Skigebiete unter 2000 Metern gehören polizeilich verboten! Zwei weitere junge Leute sprühten ein riesiges Ausrufezeichen in den Schnee.

Der Hase, der soeben unter dem Zielbanner durchfuhr, geriet in Bedrängnis, konnte nicht mehr bremsen oder ausweichen und rutschte einem der Transparentträger in die Hacken. Ein Menschenknäuel entstand. Irmi war wie erstarrt.

»Ist denn keine Polizei hier?«, brüllte ein Mann neben ihr.

Irmi bekam einen kleinen Hustenanfall, der wie ein Weckruf war. Es war jede Menge Polizei da – regional, national und auch international, dank der Tiroler. Es kamen zwei Sanitäter angelaufen und von irgendwoher eine Frau mit einer pinkfarbenen Mütze. Sie riss eines der Banner herunter, brüllte den Träger an und begann ihn zu schütteln.

Irmi fühlte sich wie in einer Zeitkapsel gefangen. Da vorne war Tumult, und sie klebte mit ihren Hacken irgendwie im Schnee. Als sie sah, dass der Hase immer noch auf dem Boden lag, lief auch sie los. Im Näherkommen stellte sie fest, dass die Pink-Bemützte Coci war.

Sailer, der noch seine Skistiefel trug und im Zielraum seinen Kollegen hatte anfeuern wollen, hatte Coci mittlerweile von dem jungen Mann getrennt und hielt sie fest. Irmi warf ihm einen kurzen Blick zu und rannte zum Hasen. Er und ein weiterer junger Mann entknoteten sich gerade aus einem Gewirr aus Ski, Stöcken und dem Transparent.

»Himmel, Fridtjof, ist dir was passiert?«

»Zur Feststellung müsste ich erst mal hochkommen«, meinte er trocken.

Irmi schluckte. Wenn sie ihr Knie so verdreht hätte, wären mit Sicherheit sämtliche Bänder gerissen und hätten ihren Meniskus in den Orbit geschleudert. Einer der Sanitäter löste die Skibindung.

»Warum ist die nicht aufgegangen?«, fragte Irmi mit etwas zittriger Stimme.

»Die war im Rennmodus. Normalerweise stürze ich nicht«, erklärte der Hase lächelnd und konnte immerhin aufstehen.

»Und?«, fragte der Sanitäter.

»Alles noch dran, glaube ich.« Der Hase rollte seine Hose nach oben, was seine sehnigen Waden und ein sehr schmales spitzes Knie in den Blick rückte.

»Scheint nichts gerissen zu sein, aber ich würde doch Röntgen und Ultraschall empfehlen«, meinte der Sanitäter.

»Mach ich, ist wohl nur ein bisschen überspannt«, sagte der Hase.

»Kommen Sie mit zum Wagen. Ich mach mal einen Eisbeutel drauf«, schlug der Sanitäter vor. »Geht das?«

Der Hase nickte und humpelte davon. Im Gehen drehte er sich noch mal um und fixierte den jungen Mann mit dem Blick. »Apropos überspannt – was Sie hier veranstalten, ist auch etwas überspannt.«

»Das ist gefährlich und fahrlässig!«, rief Irmi.

»Nur wenn wir plakativ agieren, werden wir gehört«, erklärte der junge Mann, wirkte aber nicht restlos überzeugt.

Coci, die sich offenbar aus Sailers Griff entwunden hatte, kam angelaufen. »Diese Idioten haben schon im November 2023 in Gurgl einen Tumult heraufbeschworen. Der Norweger Kristoffersen hatte recht, als er auf die losgegangen ist. Und weil das im Weltcup nicht so gut ankam, werfen sie sich jetzt auf die Amateure. Auf ein harmloses Rennen der Polizei! Ja, warum kleben die denn momentan nirgendwo? Kann ich euch sagen! Es ist denen zu kalt.« Sie sah den jungen Mann direkt an. »Und außerdem habt ihr Deppen ja nun das Kapitel des Klebens und der Straßenblockaden beendet.«

»Wir werden dafür verstärkt an Orten der fossilen Zerstörung auftauchen!«, ätzte der junge Mann zurück.

»Das ist eine Skipiste! Keine Ölpipeline, kein Flughafen oder das Betriebsgelände von RWE! Tickt ihr noch richtig? Ihr dürft sowieso …«

Sailer unterbrach das Ganze, indem er den jungen Mann zur Seite schob. Kathi sah erst Sailer, dann Coci interessiert und leicht verwundert an. Sie schien zu begreifen, dass sie soeben ihre Meisterin getroffen hatte. Verglichen mit Coci war Kathi ein Waisenkind im Ausrasten.

»Können Sie sich ausweisen?«, wandte sie sich an Coci.

»Cordula Kühnlein. Diese Pfosten! Diese …«

»Frau Kühnlein.« Kathis Stimme gewann an Schärfe. »Das mag alles Ihre Meinung sein, aber Sie können trotzdem nicht einfach eine Person attackieren. Wenn diese Person Anzeige erstattet, dann …«

»Ich erstatte hier Anzeige! Und zwar wegen Nötigung. Der Veranstalter des Renntags sollte Anzeige erstatten wegen Hausfriedensbruch.«

»Zielraum-Friedensbruch«, warf Kathi trocken ein.

»Und Fridtjof sollte Anzeige erstatten! Wie geht es ihm, Irmi?«, fragte Coci.

»Gut, er hat sich ein wenig das Knie verdreht, aber es scheint nichts Gravierendes zu sein. Er wird das röntgen lassen.«

»Ich drücke ihm die Daumen. Ich wünsche ihm so sehr, dass es nur eine Prellung ist.« Coci atmete durch. »Diese Idioten! Diese Letzte Generation ist wirklich das Letzte. Extinction Rebellion hat es vorgemacht, und jetzt reden die hier auch von gewaltlosem zivilem Ungehorsam? Ich sag das gern noch mal: Das erfüllt den Straftatbestand der Nötigung, und Robin Hood sind die auch nicht! Die werden doch finanziert und unterstützt von einem breiten Bündnis, auf der Synode der evangelischen Kirche wurde eine Klimakleberin sogar mit standing ovations gefeiert. Die wollen einen Weltenumsturz mit Greta als Präsidentin. Wobei die ja jetzt Palästinenserin ist, ob das geht für den Posten? Die ist ja irgendwie weg vom Fenster.«

Kathi gluckste leicht und gab sich dann sehr staatstragend: »Frau Kühnlein, Sie scheinen ja hier bekannt zu sein.« Sie warf Irmi einen Blick zu. »Und jetzt verhalten Sie sich mal ganz stad.«

Coci nickte und schwieg. Es verwirrte Irmi immer mehr, welche Bandbreite in den Emotionen dieser Frau lag. Ihr Mitgefühl für Fridtjof war wirklich tief empfunden gewesen – und dann hatte sie auf Attacke geschaltet. Binnen Sekunden. Sie war keine Dramaqueen, sie taktierte nicht. Sie war pur.

»Das wird ein Nachspiel haben, Coci«, sagte Irmi. »Aber wir sollten jetzt mal den Zielraum freigeben. Dann kann der Wettkampf weitergehen.« Kaum hatte sie den Mund geschlossen, fiel ihr auf, dass sie solche Sätze nicht mehr zu sagen hatte.

»Fridtjofs Lauf müsste auch wiederholt werden, das war ja nicht gerecht. Er war beeinträchtigt!«, schob Coci nach.

»Coci, wir sind nicht bei Olympia, und sein Knie hat sowieso grad mal Pause«, sagte Irmi.

»Trotzdem! Hier auf der Piste, wo gerade die Menschen Freude haben sollten, die sonst das ganze Jahr den Kopf hinhalten müssen für ebensolche Kleber! Wenn die Klimakleber sich vor den Bundestag setzen oder zu Habeck in den Heizungskeller oder vor Konzerne, die klimaschädlich produzieren, von mir aus. Geschenkt! Aber Kunstwerke von Künstlern, die seit Jahrhunderten tot sind, zu zerstören, das ist doch krank.«

»Sie haben jetzt dennoch Pause«, donnerte Kathi dazwischen. »Lautstärke runter! Hirn rein! Wir nehmen jetzt mal Ihre Personalien auf. Das weitere Vorgehen wird davon abhängen, ob es zu Anzeigen kommt.«

Coci schwieg tatsächlich. Irmi musste in sich hineingrinsen. Wie sich die Rollen veränderten, wenn man wie Kathi nun den Job der Spaßbremse ausfüllen musste und keine ausgleichende Irmi mehr an seiner Seite hatte. So betrachtet, hatte es doch auch Vorteile, frei zu sein, dachte Irmi.

Sie folgte Kathi und Coci, vorbei an dem jungen Mann, den die Skilehrerin vorher so angegangen war. Irmi hörte, wie Coci im Vorübergehen zischte: »Das war längst nicht alles, du Bürschlein.« Seine Antwort kam ebenso zischend zurück: »Sei bloß vorsichtig, Alte.« Die Aggression flirrte regelrecht über dem Schnee. Irmi konnte ihr eigenes Gefühl gar nicht so recht einordnen und ging zum Rettungswagen, wo der Hase mit einem royalblauen Eisbeutel auf dem Knie saß.

»Alles gut, das wird schon wieder«, versicherte er.

»Hoffentlich!« Irmi kniff die Augen zusammen. Wegen der Sonne, aber auch weil diese ganze Situation sie stresste. »Schon eigen, wie diese Cordula abgeht.«

»Manche Menschen fühlen sich leider sehr schnell eingeschränkt und ungerecht behandelt. Je höher der Druck, desto schneller knallt es. Das ist wie bei Hunden. Manche haben eine extrem hohe Reizschwelle und brauchen lange, bis bei ihnen der Kessel explodiert, und bei anderen reicht schon ein winziger Anlass. Sie scheint schnell hochzukochen.«

»Aber sie ist andererseits wirklich empathisch.«

»Du wirst sie ja im Skikurs besser kennenlernen«, meinte der Hase. »Ich hoffe, das ist eine Situation, in der die Empathie die Oberhand hat.«

»Oder es wird ein sehr explosiver Kurs. Ich fahr dich jetzt mal in die Ambulanz, und du widersprichst nicht, sonst explodiert mein Kessel!«

 

Am Ende stützten die Untersuchungen in der Klinik die bisherigen Vermutungen. Es war nichts gebrochen oder gerissen, aber es war eine Bänderdehnung, und dem Hasen wurde empfohlen, nach der PECH-Regel zu verfahren: P wie Pause, E wie Eis, C wie Compression und H wie Hochlagern. Das C hatte bereits ein Verband erledigt.

Fridtjof gab sich fröhlich, wobei Irmi wusste, wie sehr es ihn traf. Der Sportjunkie war auf Eis gelegt. Als sie wieder zu Hause bei Irmi ankamen, hatte Luise zur Aufheiterung ein indisches Gericht gekocht. Der Hase wurde von ihr in einen Sessel platziert, der das H gewährleistete. Als sie ihm dann aber einen Tee statt Wein andrehen wollte, war es vorbei mit seiner Contenance.

»Ich liege nicht im Sterben«, sagte er entschieden, und Irmi kredenzte stattdessen einen Sauvignon blanc vom Lieblingsweingut Gründl in der Südsteiermark.

Plötzlich klopfte es an der Tür. Luise runzelte die Stirn und ging in den Flur hinaus, um zu öffnen. Man hörte eine Stimme, dann kamen Schritte näher. Die Besucherin war Coci.

»Entschuldigt die Störung, aber ich wollte nur wissen, wie es geht. Und mich entschuldigen. Tut mir sehr leid.«