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Spannend und immer am Puls der Zeit: Mit »Verlorene Söhne« veröffentlicht SPIEGEL-Bestseller-Autorin Nicola Förg den 15. Band ihrer Alpenkrimi-Reihe und verbindet erneut aktuelle politische Themen geschickt mit einem raffinierten Verbrechen.
»Nicola Förg setzt auf spannende Ermittlung mit unerwarteten Wendungen, einer Prise Humor und Detailwissen. Und ganz nebenbei gelingt es ihr, aktuelle Themen mit aufzunehmen.« SWR Fernsehen
In »Verlorene Söhne« thematisiert Nicola Förg den Generationenkonflikt und seine Folgen: Gen Z gegen die Baby Boomer. Sie verknüpft das Thema virtuos mit einer Diebstahlserie, mit dem Zorn der alteingesessenen Dorfbewohner gegen eine Ferienhausvermieterin und dem Drama zweier Familien.
Im Garten einer leicht heruntergekommenen Villa, die gerade umgebaut werden soll, wird ein junger Mann gefunden: erschossen. Wurde er Opfer jener Diebesbande, die seit einiger Zeit in der Gegend knappe Baustoffe stiehlt, wie jene, die er in dieser Nacht bewachen wollte? Galt der Schuss eigentlich seiner Mutter, einer korrekten Lehrerin, die Drohungen per Mail und SMS von erbosten Eltern erhalten hat? Oder ist der Schlagabtausch, der im Internet höchst polemisch zwischen dem jungen Mann und seinem Vater tobt, in der realen Welt eskaliert? Der Vater ist der Autor des Romans »Boomer oder etwas Besseres als den Tod findest du überall «, der als Besteller hohe Wellen schlägt. Auch Irmi liest ihn gerade, schwankt zwischen Faszination und Abscheu. Sie spürt, dass die Motive tiefer gehen: Liegen sie in der komplizierten Vergangenheit von Joshua und seiner Familie, einem dichten Geflecht von Schuld und Verantwortung, Liebe und Verlust, Arroganz und Eitelkeit?
»Wortwitz, Charaktere, die so genau gezeichnet sind, dass sie sich jede Leserin und jeder Leser alle genau vorstellen kann - das ist Nicola Förg, die auf Gewalt und Gruseligkeiten getrost verzichten kann. «Fuldaer Zeitung
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Cover & Impressum
Zitate
Prolog
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Epilog
Nachwort
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
es sint nû wol zehen jâr, daz ich nâch âventiure reit
Hartmann von Aue, Iwein
Die Âventiure (mittelhochdeutsch) ist nicht mehr willkürliches Geschick, das dem Helden zustößt, sondern eine von ihm aus eigenem Antrieb gesuchte und durch wunderbare Fügung für ihn allein bestimmte gefahrvolle Bewährungsprobe.
Aus: Lexikon des Mittelalters
Er konnte über seine Zehen hinwegsehen, deren Nägel eine Pediküre hätten vertragen können, aber das waren eben die knorzigen Nägel eines alten Mannes, und wenn es sowieso bald vorbei war, was interessierten da noch die Nägel. Auch seine Krampfadern störten ihn nicht weiter, dieses wulstige Gespinst, das seine Waden überzog.
Die Scheibe vor ihm war blitzblank geputzt und gab den Blick frei auf eine dünne Schneefläche, die bis zum Wald reichte. Dahinter ragten bleiche, graue Berge auf, in deren Karen schon der erste Schnee lag. Zwei Läufer rannten vorbei, rhythmisch in ihrer Bewegung, überzogen mit hautengen Hightech-Fasern.
»Eine merkwürdige Zeit«, sagte die Stimme neben ihm. »Ich erinnere mich gerade an unsere Skianzüge in den Siebzigerjahren. Sie waren glänzend, sahen aus wie im Raumschiff Enterprise oder aus der Raumpatrouille Orion, und wenn man stürzte, dann rutschte man unaufhaltsam den ganzen Berg hinunter. In den Achtzigern hatten wir dann diese Anzüge in Neonfarben mit passenden Stirnbändern dazu – und Puschelohren. Hatten Sie Puschelohren? Als Mann wahrscheinlich nicht, oder?«
Er sah hinüber, sie trug den gleichen flauschigen Bademantel, nur füllte sie ihn weniger aus als er. Gestern Abend schon war sie ihm aufgefallen, weil sie eine attraktive Frau geblieben war, auch wenn sie in seinem Alter zu sein schien.
»Nein, keine Puschelohren, aber die hohe Stenmark-Mütze.«
Sie nickte und lächelte. »Dann sind Sie auch Ski gefahren?«
»O ja. Auch noch im Zusammengepresste-Haxn-Fahrstil, beim echten Wedeln, da war ich groß. Ich musste mich umstellen, als die Carver kamen, mit denen ja jeder Bewegungstrottel fahren konnte. Hatten Sie eigentlich auch diese Parablacks auf den Ski?«
Sie lachte, ihre Falten machten sie nicht alt, sondern lebendig. »Allerdings. Damit man die Ski nicht überkreuzte, dabei brachte man sie natürlich trotzdem übereinander, aber nie mehr auseinander. Ich bin mehrfach havariert.«
»Hatten Sie ein Lieblingsgebiet?«, fragte er.
»Die Dolomiten. Der Langkofel, als die Eiergondel noch fuhr. Allein diese bunten Eierbecher waren schon die Herausforderung. Man musste rechtzeitig aufspringen, ohne sich die Schienbeine aufzuschlagen, die Ski zu verlieren oder jemand anderem die Stöcke ins Auge zu bohren. Oben auf der Terrasse gab es dann nur noch den Abgrund und den Schlund der Scharte. Diese erste Überwindung, da hineinzuspringen, und das mit den langen Ski, die wir fuhren, die schier länger waren als die ganze Scharte.« Sie lächelte wehmütig.
»Dann müssen Sie ein Crack gewesen sein! Im oberen Teil war das pure Konzentration auf die Felsen, die ja bekanntlich Skifahrer anspringen wie Tiger. Später dann gab es nur noch mannshohe Buckel und das legendäre Geißbockspringen um zwei Stöcke.«
»Wenn Sie das auch kennen, sind wir zwei Cracks. Ehemalige Cracks. Das wird es nie mehr geben. Es waren sagenhafte Zeiten!«
O ja, aus heutiger Sicht waren es hymnische Zeiten gewesen, in denen er frei und unbekümmert gewesen war, als er nicht über seinen Geldbeutel, das Klima oder seine Gesundheit hatte lamentieren müssen. Geld hatte er als junger Mann kaum besessen, das Klima war nur ein Wort gewesen, wie Wetter, Gewitter oder Biergarten, und seine Knochen waren stark gewesen und unbeugsam.
»Es ist schön, diese Erinnerungen im Herzen zu tragen. Wenn man nach vorne blickt, hilft es, etwas zu haben, was im Hintergrund steht wie eine unverrückbare Wand«, sagte sie.
Er fand, dass sie mit jedem ihrer Worte attraktiver wurde, und merkte, dass er begann, sich anzubiedern, dass er sie im Gespräch halten wollte.
»Als der erste Kunstschnee kam, änderte sich etwas. Der Schnee verlor seine Würde. Da lobe ich mir die Achtzigerjahre auf der Sella Ronda. Das war eine richtige Kultrunde, und die Zuckellifte machten die skifahrerisch uninteressante Runde doch zu einem Wettlauf gegen die Zeit«, sagte er. »Damals waren es zapfige dreißig Grad minus in Colfosco, und dann die endlosen Lifte hinauf zum Grödner Joch. Der lange Hatsch durchs Steinerne Meer. Und die Verführung, vom rechten Weg abzukommen. Die Porta Vescovo hat uns mehrfach das Genick gebrochen. Irgendwo im Nirgendwo stand der Lift, und der Liftmann sprach sein kategorisches Nein. Nichts geht mehr. Wir landeten in Arabba, inzwischen bei fünfunddreißig Grad minus. Wir hatten keine Handys, um nach Hilfe zu rufen oder die ganze Welt zu verfluchen. Wir redeten mit echten Menschen in einer Bar, von denen einer ein einsichtiger Taxifahrer war und uns retour chauffierte. Über alle Pässe – für ein paar lächerliche Tausend Lira.«
»Ja, das sind Legenden. Legenden der Leidenschaft«, sagte sie und nestelte in ihrer Tasche, sie schien genug gesprochen zu haben.
War er zu redselig geworden? Er blickte wieder hinaus, wo der Tag langsam der Dämmerung zu weichen begann. Es war Anfang November und wurde schnell dunkel. Heute Abend war eine Notte Italiana angekündigt worden, mit Antipasti und Salaten, drei Hauptgerichten zur Wahl und dann diese Fülle an Dolci! Er hatte bisher immer auf seine Ernährung geachtet, hätte sich selbst auch als gut erhalten bezeichnet, aber da es jetzt ja egal war, würde er in den Desserts schwelgen. Das Hotel hatte seine fünf Sterne nicht zu Unrecht – die Küche war exorbitant, sein Zimmer elegant und die Lage des Hauses hier vor den Bergen selten begnadet. Ein Haus, das man sich unter normalen Umständen auch nicht leisten könnte.
Sie hatte sich erhoben und nickte ihm zu. Ihr Bademantel schleifte fast über den Boden, sie war klein und schmal. Er würde sie beim Aperitif dennoch fragen, ob sie sich nicht an seinen Tisch setzen wolle. Warum sie wohl hier war, sinnierte er noch, denn man sah ihr nichts an, aber ihm sah man ja auch nichts an außer den Krampfadern. Er musste lächeln, da sie beide noch die Langkofelscharte gefahren waren, das verband sie über eine halbe Ewigkeit hinweg. Womöglich würde er sie fragen, warum sie nicht die Kreuzfahrt gewählt hatte, aber die Antwort lag ja auf der Hand: Eine kühne Schartenbezwingerin wählte natürlich ein Wellnesshotel in den Bergen.
Mitten ins Herz. Könnte man als Song trällern. Als Film wäre so etwas mit Hugh Grant besetzt, eine Romantikkomödie. Aber das hier war alles andere als romantisch. Der Anblick traf Irmi mitten ins Herz. Über der Szene lag eine dunkle Melancholie, eine düstere Verklärung, ja, eine schwer erträgliche Ästhetik. Man musste hinsehen. Der junge Mann war tot, erschossen – mitten ins Herz. Rot, rot, tot. Da war Blut, viel Blut auf seiner Kapuzenjacke. Es schien Irmi so, als sähe er sie an. Verwundert. Sein Gesicht war lang und schmal, seine Nase auch. Er war blass, die dunklen Haare fielen bis auf seine Schultern. Er wirkte sphärisch und androgyn, ein junger Mann, der im Tod eine bestürzende Grazie besaß.
Auch Kathi war ganz still, ebenfalls ergriffen von etwas nur schwer Erklärlichem. Ein erster Vogel begann zu tirilieren, ein Hausrotschwanz vielleicht oder eine Feldlerche, die schon eine Stunde vor Sonnenaufgang in den Tag hinein sangen. Oder eine Singdrossel, auch so eine Frühaufsteherin. Irmi suchte Kathis Blick, die den Kopf schüttelte.
»Er ist so jung«, sagte sie dann.
Achtzehn Jahre vielleicht, womöglich etwas älter. Da sollte man nicht sterben. Nicht an Krankheiten, nicht bei Unfällen, nicht durch Drogen und schon gar nicht durch eine Kugel, die eine stille Nacht am Staffelsee durchflogen hatte. So etwas war schwer erträglich.
Um kurz nach vier Uhr war ein Notruf eingegangen. Ein Mann aus Uffing hatte sich gemeldet, weil er im Nachbargarten einen Schuss gehört hatte. Eine Streife, bestehend aus Sailer und Sepp, war losgefahren, für einen Lokalaugenschein. Eher unwillig waren sie gefahren, weil sie einen Fehlalarm vermutet hatten, doch sie hatten einen Toten entdeckt. Sailer hatte angerufen.
»Frau Mangold, an guatn Morgen. Oder aa ned.«
»Sailer?«
»Der Sepp und i, mir stehn da vor einem jungen Mann. Der is blass.«
»Sailer!«
»Der is blass und tot. Also, der war aber sicher scho vorher blass.«
Das war Sailers etwas krude Art, seiner ureigenen Verwunderung Ausdruck zu verleihen.
Und so waren sie in der Galveigenstraße in Uffing gelandet. Fridtjof Hase war auch schon eingetroffen und begann gerade mit seiner Arbeit. Am Gartenzaun zum Nachbargrundstück stand ein älteres Ehepaar. Es fiel Irmi schwer, das Schweigen zu durchbrechen. Aber es half ja nichts.
»Der Mann da drüben hat angerufen?«, fragte sie Sailer.
»Ja, ich dacht erst, das ist ein Schmarrn, was die Leitstelle da faselt. Schuss in der Nacht. Könnt a Fernsehfilm sein, hob i denkt. Oder von mir aus a Jager. Die schießn ja aa mit Nachtsichtgeräte. Aber der Anrufer hot gmoant, es war direkt im Nachbargarten. Do schießt man ja an sich ned. Zwischen die Häuser nei. Mitten in der Nacht.«
Eher am Ende der Nacht, aber mitten ins Herz.
Irmi sah dem Hasen an, dass er von dem Anblick erschüttert war. Der junge Mann wirkte so ätherisch. Ein Gothic vielleicht.
»Was ich für den Moment sagen kann«, fasste der Hase zusammen. »Es scheint ein Herzsteckschuss zu sein, oder aber das Projektil steckt noch im Stuhl.«
Auch Irmi sah keine Austrittsspuren. Der junge Mann saß in einem dieser hölzernen Klappstühle, die beim Geradestellen der hohen Lehne gerne mal die Finger einquetschen. Es war offensichtlich ein älteres Modell, denn er war von der Sonne ausgebleicht. Davor stand ein Hocker. Ein Bein des jungen Mannes war zur Seite weggetrudelt, die Arme hingen ebenfalls herab. An einer Hand war Blut, womöglich hatte er sich ans Herz gefasst, als der Einschlag gekommen war. Neben dem Stuhl lag der Rest eines Joints, den Irmi nun vorsichtig in eine Tüte schob.
Der Arzt war aufgetaucht. Sailer und der Hase hoben den jungen Mann aus dem Stuhl. Die Vermutung des Hasen erwies sich als richtig. Im Stuhl steckte ein Hohlspitzgeschoss, das sich beim Aufprall pilzförmig deformiert und seine Querschnittsfläche vergrößert hatte.
»Das Aufpilzen könnte auf eine Jagdwaffe hindeuten«, sagte der Hase. »Es soll mehr Energie auf den Zielkörper übertragen, also schneller töten.«
»Ging es schnell?«, fragte Irmi in Richtung des Arztes.
»Ich nehme an, der Schuss hat die linke Herzkammer durchdrungen. Da füllt sich der Herzbeutel, also dort, wo eigentlich das Herz eingebettet ist, sehr schnell mit Blut. Der Herzkreislauf funktioniert nicht mehr, man ist binnen einer halben Minute tot.«
Aber zwischen dem Todesschuss und dem Tod lag noch so viel Leben, dachte Irmi. Tiere, die von einem Jäger erschossen wurden, liefen noch in den Wald hinein. Auch eine halbe Minute konnte viel Angst, Adrenalin und Verwunderung bedeuten.
»Könnte man so einen Schuss denn überhaupt überleben?«, fragte Kathi.
»Bei so einem Fangschuss und der Munition eher nicht. Aber wenn ein Geschoss nur die rechte Herzkammer trifft und nicht Lunge oder Hauptschlagader erwischt, hat der Getroffene relativ gute Überlebenschancen. Im Durchschnitt bei achtzig bis neunzig Prozent, sofern der Angeschossene sofort ins Klinikum kommt«, erklärte der Arzt.
»Dann war es also ein Jäger?«, erkundigte sich Irmi.
»Das kann ich so nicht sagen«, meinte der Arzt.
»Aber die Person konnte schießen? War das ein gezielter Schuss?«, wollte Kathi wissen.
»Das kann ich auch nicht sagen. Es war aber schätzungsweise ein Schuss aus nicht mehr als zwanzig Metern. Aus der Entfernung muss man kein Meisterschütze sein.«
»Der Tote hat die Person also gesehen und womöglich erkannt?«, hakte Kathi nach.
»Wenn er den Täter gekannt hat, dann hat er ihn auch erkannt«, meinte der Arzt.
Das war der Knackpunkt. Irmi blickte durch den Garten. Vom Standort des Stuhls bis zum Gartentor waren es etwa zwanzig Meter. Und gesehen hatte der junge Mann mit Sicherheit etwas. Ein Strahler erleuchtete den Garten und tauchte ihn in einen grünlichen Schein. Fragen konnten sie ihn leider nicht mehr. Der Hase zog aus der Cargohose des jungen Mannes ein Portemonnaie.
»Kein Handy?«, fragte Irmi.
»Zumindest nicht hier.«
Sie klappte den Geldbeutel auf: Gesundheitskarte, ein Führerschein und der Personalausweis. Joshua Heiligensetzer, zweiundzwanzig Jahre alt. Irmi hätte ihn jünger geschätzt.
Sie winkte Sailer heran. »Checken Sie doch bitte mal die Wohnadresse.«
»Was er hier wohl gemacht hat? Gewohnt hat er hier bestimmt nicht«, meinte Kathi. »Das Haus scheint eine Baustelle zu sein.«
Das stimmte. Aus einem Fenster hing ein gelber Rüssel wie von einem riesigen Insekt – eine Rutschbahn für Bauschutt. Offenbar wurde hier gerade renoviert. Der Garten war zertreten, Stapel von Brettern, Dämmstoffen und Dachplatten waren mit Planen nachlässig abgedeckt. Es war teilweise matschig im Garten, was dem regnerischen Frühling geschuldet war. Die letzten Stunden hatte es allerdings nicht geregnet.
Ob der junge Mann hier gearbeitet hatte? Aber mitten in der Nacht?
Irmi nickte dem Arzt und dem Hasen zu und machte sich mit Kathi auf den Weg zum Gartenzaun, wo noch immer das Ehepaar wie angewurzelt stand. Beide schienen um die siebzig zu sein. Sie waren schlank, bestimmt aus der Kategorie alerte Jubelrentner, denen es gut ging und die sportlicher waren als ihre Kinder und Enkel – sofern sie welche besaßen. Sie hatten fast denselben Kurzhaarschnitt in Grau, beide trugen eine Freizeithose und eine dünne Fleecejacke, sie in Hellblau, er in Moosgrün.
Irmi stellte sich und Kathi vor. »Und Sie sind Herr und Frau …?«
»Heinrich«, sagte der Mann. »Roswitha und Maximilian Heinrich.«
»Sie haben angerufen?«
»Allerdings. Ich bin nämlich morgens gegen vier oft wach«, erklärte der Mann. »Außerdem trommeln diese Regenschauer dauernd aufs Dachfenster. Was für ein grauenvolles Frühjahr! Ich war jedenfalls wach und habe Stimmen gehört.«
»Stimmen?«
»Ja.«
»Wie viele?«
»Ich bin davon nur aufgewacht! Wie soll ich Ihnen die Anzahl der Stimmen nennen? Wollen Sie auch noch die Tonlage wissen? Ich bin erst einmal ins Bad, und als ich wieder rauskam, waren da immer noch Stimmen. Nach wenigen Minuten folgte der Schuss.«
»Und Sie wussten genau, dass es sich um einen Schuss handelt?«, fragte Kathi, die schon ziemlich genervt war vom aggressiven Ton des Herrn Heinrich.
»Natürlich! Der Knall war keine Explosion oder so etwas. Es war ein Schuss. Ich war beim Militär, ich höre so was«, sagte Maximilian Heinrich in gestrengem Ton.
»Hätte es nicht auch aus dem Fernseher kommen können?«, nahm Irmi den Gedanken von Sailer auf.
»Wir schalten immer um Viertel vor zehn ab. Die ersten neunzig Minuten Primetime sind ja meist schlimm genug.«
»Warum schauen Sie dann überhaupt?«, rutschte es Kathi heraus.
»Weil wir Gebühren zahlen«, meinte Frau Heinrich.
Irmi schluckte. »Haben Sie hinausgesehen? Sind Sie auf den Balkon gegangen oder so?«
»Natürlich nicht. Ich stelle mich doch nicht in den Kugelhagel.«
Irmi sah ihn interessiert an. Sie waren in Uffing. Ob hier so oft mit nächtlichem Kugelhagel zu rechnen war, bezweifelte sie. Hier war es doch recht friedlich, Gott sei Dank.
»Das Haus nebenan …«, hob Kathi an.
»… wird renoviert. Es ist oft laut und staubig. Und nachts haben wir hier Festbeleuchtung! Man muss alles verrammeln, um das Licht auszusperren. Eine Zumutung, was uns Frau Molitor da aufbürdet!«
»Frau Molitor ist die Besitzerin?«
»Ja«, entgegnete er schnaubend.
»Und der junge Mann? Kennen Sie den?«
»Kennen? Nein. Er war aber öfter mal hier und auch im Gespräch mit Frau Molitor.«
»Hat er hier gearbeitet?«
»Sieht der aus, als würde er arbeiten? Ich bitte Sie!«
Ein blasser junger Mensch saß in einem Gartenstuhl. Ein junger Mann, mit dem man ohne Weiteres einen Vampirfilm hätte besetzen können. Gekifft hatte er auch. So einer arbeitete im Weltbild eines Herrn Heinrich natürlich nicht.
»Und diese Frau Molitor? Wer ist sie? Wo finden wir sie?«, fragte Irmi.
»In Augsburg. Sie sieht ab und zu nach, wie ihre Baumaßnahme fortschreitet.«
»Hat die Dame einen Vornamen?«, hakte Kathi genervt nach.
»Bettina. Frau Dr. Bettina Molitor«, erklärte Roswitha Heinrich. »Der Doktortitel ist übrigens ein Dr. phil.« Es war nicht zu überhören, dass solche Doktoren wiederum in ihrem Weltbild keinen Wert hatten.
Es war aber auch gemein. Da wohnte man so gediegen, bekam wahrscheinlich ein bis zwei satte Renten, wollte das geschleckte Gärtlein genießen, und da erdreistete sich eine Frau Dr. phil., nebenan zu renovieren. Schmutzte, illuminierte und ließ Kiffer in den Garten. Pfui Deibel! Das waren echte Schicksalsschläge. Luxusprobleme mit Sonderausstattung.
»Sonst ist Ihnen nichts aufgefallen, die Tage zuvor vielleicht?«, fragte Irmi.
»Mitnichten«, sagte sie. »Außer Lärm.«
»Wir kommen womöglich noch auf Sie zurück«, kündigte Irmi an und wandte sich mit Kathi zum Gehen.
Die beiden nickten nur.
»Puh«, meinte Kathi, als sie außer Hörweite waren. »Was für Arschlöcher!«
Sailer kam auf sie zu, er hatte die Adresse des Toten. »Der Bua wohnt mit der Mutter zamm. Petra Heiligensetzer. In der Röthenbachstraße.« Die Straße lag ebenfalls in Uffing, auf der anderen Seite des Orts.
»Fahren wir«, sagte Irmi. Ihr graute vor dem Besuch.
Der Hase wollte währenddessen mit seinem Team weiter Spuren sichern. Inzwischen ging er davon aus, dass die Tatwaffe ein Revolver war. Der junge Mann sollte in die Rechtsmedizin überstellt werden, wo man hoffentlich mehr herausfinden würde.
Es war gerade acht Uhr, und es herrschte sonntägliche Morgenruhe. Schon wenig später standen sie vor dem gepflegten Haus von Frau Heiligensetzer. Es wirkte eher bescheiden, doch das Grundstück war recht großzügig bemessen. Damit besaß es einen gewaltigen Wert, denn längst waren die meisten solcher Grundstücke mit Dreispännern zugepflastert.
Sie läuteten. Eine hochbeinige schwarze Katze, die ein spitzes Gesicht hatte, kam angeschlendert und strich Irmi um die Beine. Unweigerlich brachte sie das Tier mit dem jungen Mann in Verbindung. Zu ihm hätte keine dicke rote Katze gepasst. Im Haus hörte man Schritte, dann sah man eine Silhouette durch die Milchglastür. Im nächsten Augenblick ging die Tür auf. Eine Frau um die fünfzig öffnete. Sie hatte dieselben feinen Gesichtszüge wie der Junge, war brünett und gehörte zu den Frauen, die ihre schlanken Beine in die mittleren Jahre gerettet, aber obenrum zugelegt hatten.
»Frau Heiligensetzer, könnten wir Sie kurz sprechen?«
»Warum? Wer sind Sie?«
»Polizei. Dürften wir?« Kathi machte einen kleinen Schritt auf die Tür zu.
Die Frau wirkte überrumpelt, machte aber eine vage einladende Handbewegung. Sie folgten ihr durch einen kleinen Flur mit einer Garderobe in den Wohn-Ess-Bereich. Rechts schien die Küche zu sein, die eine Durchreiche besaß. Das Haus schien aus den Sechzigern zu stammen, aber die Einrichtung war skandinavisch hell mit freundlichen Blautönen. An der Wand hingen bunte Katzenbilder, die aussahen, als hätten Kinder sie gemalt. Die drei setzten sich an einen weißen Esstisch.
»Hübsche Bilder«, sagte Irmi.
»Von meinen Schülern. Ich unterrichte an der Grundschule. Die Klassen drei und vier. Wir haben das Buch Ich bin hier bloß die Katze gelesen, und die Kinder haben sich davon inspirieren lassen.«
»Wie Kinder die Welt sehen«, kommentierte Irmi. Dieses Übersprungreden war grauenhaft. Der Sohn der Lehrerin würde die Welt nicht mehr sehen.
»Warum sind Sie hier? Wegen Joshua?«, fragte Frau Heiligensetzer unvermittelt.
Irmi zuckte leicht zusammen. »Wie kommen Sie darauf?«
»Ich hatte schon öfter die Polizei zu Gast. Letztens, weil Joshua etwas geworfen hatte, bei einer Demo. Oder herumgepöbelt. Angeblich.«
Etwas geworfen? Pflastersteine, oder wie?
»Eigentlich müsste er im Bett sein. Soll ich ihn wecken?«
Es war so bitter. Kathi übernahm.
»Frau Heiligensetzer, wir müssen Ihnen leider sagen, dass Ihr Sohn tot ist. Setzen Sie sich doch bitte.«
Die Mutter des jungen Mannes sank auf einen der weißen Stühle. Es war grabesstill.
»Unsinn, er kann nicht tot sein«, sagte sie dann. »Er schläft.«
»Er ist in einem Garten in der Galveigenstraße zu Tode gekommen«, erklärte Kathi.
Frau Heiligensetzer sah auf und wiederholte: »In der Galveigenstraße?«
»Ja, genau. Kennen Sie die Adresse? Wissen Sie womöglich, was er in dem Garten gemacht hat?«
»Aufgepasst.«
»Aufgepasst?«
»Das Haus wird gerade renoviert, und es werden dauernd Baustoffe aller Art gestohlen. Joshua hat sie bewacht.«
Zwischen Irmi und Kathi flogen schnelle Blicke hin und her. »Aber warum? Was hat er mit dem Haus zu tun?«, fragte Kathi.
»Es gehört meiner Schwester. Sie lässt es gerade umbauen. Wegen des Baustoffmangels ist das ganze Unterfangen eine Katastrophe. Ziegel, Holz und Dachplatten fehlen. Und wenn man Material heranschafft, kommen die Handwerker nicht. Und in der Zwischenzeit klauen Diebe das Material von der Baustelle. Teilweise ganz dreist am helllichten Tage. Oder nachts.«
»Darum war also der Scheinwerfer an?«, fragte Irmi.
»Ja, eigentlich sollten Videokameras installiert werden. Bettina war mit einer Sicherheitsfirma in Kontakt. Die Kameras müssen ja so positioniert sein, dass sie keine angrenzenden Bereiche ausleuchten. Sie wollte Infrarotkameras, das war alles gerade in Planung.«
Und hätte es die schon gegeben, dann hätten sie jetzt womöglich den Täter abgelichtet.
»Es verzögerte sich vor allem deshalb, weil meine Schwester die anderen Anwohner nicht noch mehr verärgern wollte.«
»Die Nachbarn Ihrer Schwester schienen in der Tat nicht sehr begeistert zu sein von der Baustelle«, sagte Kathi.
»Die Linders, die hinten angrenzen, sind recht umgänglich, aber der Heinrich nebenan ist ein Stänkerer. War Stabsoffizier. Ist mit fünfundfünfzig in Rente. Seine Gattin ist Juristin. Mit Doktortitel. Zwei Tausendprozentige.«
Sie sprach ruhig und schien es komplett weggedrückt zu haben, was sie ihr gerade mitgeteilt hatten.
»Und Ihr Sohn hat das quasi als Job gemacht?«, fragte Kathi.
Frau Heiligensetzer schluckte. »Ja, Bettina hat ihn dafür bezahlt.«
»Was macht er sonst? Ausbildung? Studium?«, wollte Kathi wissen.
»Nein, er … er … er ist noch auf der Suche … nach sich selbst und seinem Weg.« Sie sah zum Tisch.
Irmi und Kathi warteten. Der Junge war tot. Egal, ob er ein Suchender oder ein Rebell gewesen war, ein Kiffer oder auch nur ein Mustersöhnchen – für seine Mutter war das der Tag X. Der Tag, an dem die Welt stillgestanden war und, selbst wenn sie sich wieder in Bewegung setzen würde, nie mehr dieselbe wäre.
Irmi versuchte abzulenken. »Ihre Schwester scheint recht umfangreich zu renovieren?«
»Das Haus wird komplett umstrukturiert. Es sollen drei Ferienwohnungen werden. Schöne Wohnungen im gehobenen Segment. Heute lassen sich keine Buden mehr vermieten, in die man die eigenen alten Möbel stellt und wo die Bäder noch in Rosa oder Beige strahlen. Heute muss es clean sein, Bäder mit Regenwaldduschen – all so etwas.«
»Klingt sinnvoll«, sagte Irmi und fühlte sich furchtbar. »Ihr Sohn hat eine Baustelle bewacht und wollte womöglich einen Diebstahl verhindern. Er ist tot.«
»Er schläft. Weil er doch so lange wach war.«
»Frau Heiligensetzer …«, hob Kathi wieder an.
»Das war er nicht, in dem Garten. Kommen Sie!«, rief sie fast herrisch.
Sie stand auf, ging wieder in den Flur und eine Treppe hinunter. Dort klopfte sie an eine Tür, an der ein Schild hing. No trespassing. Violators will be shot.
Irmi schluckte schwer.
Frau Heiligensetzer klopfte erneut und drückte dann die Klinke hinunter. Das Zimmer war relativ groß, das Bett leer. Es war ein Souterrainraum mit eigener Terrassentür, die angelehnt war.
Irmi hatte ein gewisses Chaos erwartet, wurde jedoch überrascht. Das Zimmer war eher spärlich eingerichtet. Es gab einen Schreibtisch mit Regalen darüber, einen kleinen Kleiderschrank und eine Couch, über der das Poster einer Band namens Entwine angebracht war. Daneben hing ein Pappschild mit der Aufschrift Morgen werden die schwarzen Vögel kommen. Jean-Paul Sartre. Eine Jeans und eine Lederjacke waren über die Lehne eines Stuhles gebreitet. Über dem Bett hing eine große uralte Schulkarte, auf der noch die DDR eingezeichnet war. Was Irmi sofort auffiel, war ein großer Bildschirm, allerdings gab es keine Tastatur oder andere Hardware.
»Wo ist denn sein PC?«
»Er hatte einen Laptop. Sein Heiligtum. Den hat er an den Bildschirm angeschlossen. Sonst hat er ihn immer im Rucksack dabei. Da sind immer der Laptop und das Handy drin. Er ist mit diesem Rucksack wie verwachsen.«
Genau dieser Rucksack fehlte. Und damit das gesamte Leben, denn das fand nun mal in Laptops und Smartphones statt. Sosehr diese schlanken Geräte alles offenbarten, was ein Leben ausmachte, so bescheiden war es, wenn genau diese Utensilien fehlten. Das Zimmer von Joshua gab maximal Auskunft über seinen Musikgeschmack. Und darüber, dass er womöglich Sartre gelesen hatte. Und anscheinend auch Fantasy. Im Regal fanden sich mehrere Bände von Michael Peinkofer. Sie waren zur Seite gekippt, als hätten sie einen Schwächeanfall. Vor dem Bett standen Crocs, in Gehrichtung, so als warteten sie nur auf ihren Besitzer. Der nie mehr kommen würde.
»Joshua ist wohl noch nicht da«, erklärte Frau Heiligensetzer. »Ich habe zu Bettina gesagt, dass das eine Zumutung ist, dieser Job. Er kommt bestimmt gleich.«
»Er wird nicht kommen«, sagte Kathi leise und fasste die Frau an der Schulter, schob sie sanft zur Tür und die Treppe hinauf. Zurück in das hübsche Zimmer, wo sie eine grüne Katze mit orangenen Augen von einer Kinderzeichnung verhöhnte.
Plötzlich begann die Frau zu weinen. Immer lauter. Irmi zückte ihr Handy und rief das Kriseninterventionsteam an, das versprach, gleich da zu sein.
»Sollen wir jemanden informieren?«, fragte Irmi. »Ihre Schwester?«
Frau Heiligensetzer schluchzte. »Die wollte morgen sowieso kommen«, sagte sie. Plötzlich sah sie Irmi mit aufgerissenen Augen an. »Wie? Wie ist er gestorben?«
»Ein Schuss. Näheres wissen wir noch nicht. Es tut mir so leid.«
Die Frau begann zu zittern, Irmi hielt ihre Hand und fühlte Sodbrennen aufsteigen. Sie war heilfroh, als es läutete und die Profis vor der Tür standen. Dann konnten sie endlich gehen.
»Scheiße!«, sagte Kathi leise, als sie wieder im Auto saßen.
»Furchtbar. Wie verkraftet man das jemals?« Diese Frage hatte Irmi sich schon zu oft stellen müssen.
Kathi schwieg. Der Junge war im Alter ihrer Tochter, war Soferls Generation. Viel zu jung to be shot.
Sie schwiegen, bis sie im Büro waren, wo Andrea schon auf sie wartete.
»Ich hab mal ein bisschen recherchiert«, sagte sie. »Zum Haus dieser Frau Molitor. Das ist ganz interessant, es ist nämlich ein Ärgernis im Dorf. Also weil da private Ferienwohnungen entstehen sollen.«
»Wie das?«
»Nun ja, das werden auf hundertsiebzig Quadratmetern Wohnfläche drei Wohnungen, der Garten hat zwölfhundert Quadratmeter. In schönster Lage, kurzer Fußweg zum See.«
»Ja, und?«
»Also, der Gemeinderat würde viel lieber Wohnungen für Einheimische sehen, die werden wohl dringend benötigt. Er hat den Antrag von Bettina Molitor auf Nutzungsänderung des Einfamilienhauses in ein Ferienhaus mit temporärer gewerblicher Nutzung abgelehnt.«
»Oha!«, machte Kathi.
»Aber Frau Molitor wollte das nicht hinnehmen und ist zum Landratsamt gegangen. Die Untere Bauaufsichts- und damit Genehmigungsbehörde fand, es gebe keine Wohnungsnot, und da seien rundherum ja auch genug andere Ferienwohnungen, um die sich keiner geschissen hat«, fuhr Andrea fort. »Also, ähm, sie haben das natürlich schöner formuliert.«
»Und dann?«
»Der Gemeinderat hat weiter abgelehnt und die Ablehnung an die Kreisbehörde weitergeleitet. Es ging Zeit ins Land, und … ähm … ja, dann hat das Landratsamt Anfang des Jahres die Genehmigung erteilt. Planungsrechtlich zulässig, war die Begründung.«
»Und der Gemeinderat kotzt jetzt«, fasste Kathi knapp zusammen.
»Ja klar, aber die Mitglieder konnten nix machen. Baurecht sei kein Instrument, um regulierend auf den Wohnungsmarkt einzuwirken, sagt das Landratsamt«, erklärte Andrea.
»Und Frau Molitor ist nun eine Persona non grata?«, mutmaßte Kathi.
»Ja, so in etwa. Vor allem ist sie von außerhalb, also keine Ureinwohnerin vom Inner Circle. Da … ähm … hätte sich wahrscheinlich keiner so aufgeregt. Eine Frau Heinrich, die im Gemeinderat sitzt, wollte sogar noch klagen.«
»Ach nee, die Roswitha!«, rief Kathi und erklärte ihrer Kollegin: »Das ist die Nachbarin, Juristin a. D.«
»Oh, das ist interessant. Im Gemeinderat gab es nämlich zwei Lager. Die Gruppe Heinrich, die klagen wollte, und eine Gruppe, die keine Erfolgsaussichten sah. Die haben dann am Ende auch gesiegt. In dem Haus entstehen jetzt die geplanten Ferienwohnungen.«
»Was für eine Schmach für Frau Dr. Roswitha«, bemerkte Kathi.
»Aber deshalb würde sie doch keinen jungen Mann erschießen lassen?«, entgegnete Irmi zweifelnd.
»Könnte ja ihr Alter vom Militär gewesen sein! Das würde doch passen, Irmi! Wenige Stunden nach der Tat – und schon ein Motiv! Das haben wir selten!«
Das stimmte, aber Irmi hatte so ihre Zweifel.
»Ich trau das denen zu!«, beteuerte Kathi.
»Und dann rufen sie seelenruhig die Polizei?«, fragte Irmi.
»Na klar, ganz perfide. Die sind beide sicher nicht dumm«, meinte Kathi. »Ich will einen Beschluss für eine DNA-Probe. Man könnte auch auf Schmauchspuren testen.«
»Kriegst du nie!«, sagte Irmi.
»Da sind auch noch andere auf der Seite von Frau Heinrich, es gibt genug Menschen in Uffing, die eine Niederlage nicht wegstecken können«, ergänzte Andrea.
So einig waren sich Kathi und Andrea nur selten.
In Dörfern herrschten eigene Regeln, es gab nicht nur Verflechtungen und Verstrickungen, sondern auch ein latentes oder offenes Misstrauen gegenüber den Zuagroasten. Da baute eine Frau aus Augsburg und zog nicht mal selber ein, sondern machte Reibach mit Ferienwohnungen. Die natürlich, gut vermarktet, weit mehr einbrachten als fixe Mieter. Feriengäste wurde man schließlich wieder los, Festmieter konnten sich als zahlungsunwillig oder gar als Mietnomaden entpuppen.
»Ihr könnt euch ja mal schlaumachen, wer noch alles gegen die Wohnungen war«, sagte Irmi und atmete tief durch. »Mich würde interessieren, ob das Ehepaar Heinrich nicht doch wusste, wer Joshua war. Und wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass natürlich auch Baustoffdiebe infrage kommen. Joshua könnte sie auf frischer Tat ertappt haben, dann sind sie in Panik geraten und haben geschossen.«
Das passierte leider überall. Die Polizei bekam in schöner Regelmäßigkeit Anzeigen. Etliche Vorfälle sahen nach Gelegenheitsdiebstahl aus. Da brauchte man für die eigene neue Garage Ziegel, die es aber nicht gab. Also organisierte man sie sich halt … Aber es gab auch Profibanden, die ganze Baustellen abräumten. Lag das Areal außerhalb einer Ortschaft oder an großen Straßen, stieg das Risiko. In dicht besiedelten Gebieten waren solche Diebstähle eher unwahrscheinlich. Aber wenn die Nachbarschaft dem Bauherrn nicht gewogen war, sah sie weg. Und die Heinrichs hätten den Dieben womöglich noch applaudiert.
»Wenn das echte Banden sind«, sagte Andrea, »dann wird auch mal geschossen. Menschen morden wegen weniger.«
»Das ist leider wahr«, erwiderte Irmi. »Hast du auf die Schnelle etwas über Joshua gefunden?«
»Ja, ein ziemliches Früchtchen. Er hat mit vierzehn einen Schulkameraden vermöbelt, und zwar richtig schlimm. Die Eltern des anderen Jungen haben dann aber die Anzeige zurückgezogen. 2019 und 2022 wurde er zweimal auf einer Klimademo festgenommen, weil er unsere Kollegen mit Eiern und Tomaten beworfen hatte. Die letzten Jahre gab es keine weiteren Anzeigen.«
Immerhin keine Pflastersteine, dachte Irmi.
»Die Mutter hat gemeint, der Junge sei noch auf der Suche«, sagte sie. »Nach sich selbst und seinem Weg. Das bei der Tante war wohl nur ein Job.«
»Also, Abitur hat er ja«, bemerkte Andrea. »Mit zweiundzwanzig ist das ja noch legitim.«
»Na ja«, meinte Kathi.
»Nicht alle haben das Glück, dass die Kids so fokussiert sind wie deine Sophia«, entgegnete Andrea. »Eine meiner Cousinen hängt auch voll durch. Sie hat das mit dem Homeschooling in der Coronazeit, ähm, irgendwie nicht gepackt.«
»Dann mach ich ein FSJ oder von mir aus Work and Travel!«, rief Kathi. »Aber nicht einfach mal nix.«
»Man könnte meinen, du wärst im Rentneralter«, witzelte Irmi. »Kein Verständnis für die Jugend? Außerdem stimmt das ja nicht ganz: Er hat doch gejobbt und nicht einfach auf der faulen Haut gelegen.«
Andrea hatte es natürlich auf den Punkt getroffen. Kathi hatte verdammt viel Glück mit ihrer Tochter. Das Soferl war immer gut in der Schule gewesen, ohne viel zu lernen. Sie hatte jahrelang Biathlon auf Leistungsebene gemacht und dabei gelernt, was Fokussierung bedeutete. Außerdem war sie klar wie ein Bergsee und hatte keine größeren pubertären Ausfälle gehabt. Einen großen Anteil daran hatte sicher Elli, Kathis Mutter. Sie hatte dem Kind jene Wurzeln gegeben, die es gebraucht hatte.
Kathi gab nur ein »Pfft« von sich.
»Ich denke, wir lassen es für heute gut sein. Wir warten die Ergebnisse aus der Rechtsmedizin ab und reden morgen noch mal mit Frau Heiligensetzer«, sagte Irmi. »Hoffentlich konnten die Psychologen ihr etwas helfen.«
Auf dem Heimweg versuchte sie, den Anblick des toten Jungen zu verdrängen und sich stattdessen auf andere Bilder zu konzentrieren. Sie rief sich in Erinnerung, wie sie gestern mit Lissi und Luise einen Teil der Krönung von Charles angesehen hatte. Ihre Nachbarin Lissi hatte schon ab neun vor dem Fernseher gesessen mit den Worten: »Das ist die letzte Krönung in Europa, die ich ansehen kann.« Was womöglich nicht stimmte, denn vielleicht würden sie noch die Inthronisation von William erleben. Und irgendwas an dem aus der Zeit gefallenen Event hatte Irmi eben doch berührt.
Luise war im letzten Sommer eingezogen. Je näher der Tag gerückt war, an dem Luise kommen wollte, desto banger war Irmi geworden. War das wirklich eine gute Idee, eine WG zu gründen? Bestehend aus zwei alten Weibern, beide Mitte sechzig? Aber schon nach wenigen Tagen war Irmi nahe dran, den Boden zu küssen und Luise die Füße. Luise war vollkommen autark. Sie verbrachte viel Zeit mit Lissi, was Irmi insgeheim beruhigte. Es nahm ihr den Druck, Luise bespaßen zu müssen. Dabei musste man Luise eigentlich nicht unterhalten, denn die ruhte in sich. Sie wusste, wo sie stand. Sie war selbst bespaßend.
Luise und Lissi waren in ihrer Kräuter-, Essenzen- und Kochbegeisterung schnell Verbündete geworden. Irmi profitierte davon. Es gab frisch Gekochtes, aber Luise bestand nicht auf gemeinsamen Mahlzeiten. Wenn es sich ergab, war es gut. Wenn nicht, auch. Luise sprach von einer Win-win-Situation. Aber Irmi fand, dass der Gewinn eindeutig auf ihrer Seite lag.
Als sie in den Hof einbog und die Autotür öffnete, begann Giacomo auch schon zu dröhnen. Wann immer ein Auto vorfuhr, hob der Esel zur Begrüßung an. Er begann leise, zog Luft, steigerte sich und plärrte dann in einer beeindruckenden Lautstärke – selbst für so ein Grautier. Anfangs war es Irmi peinlich gewesen, vor allem vor Lissi, die nebenan in den vollen Genuss des Geschmetters kam. Aber die fand das lustig.
Mit Luise war wieder Leben auf dem Hof. Sie war schließlich nicht allein gekommen, sondern hatte Giacomo und Pedro, zwei Martina-Franca-Esel, und die beiden Maultiere Fränzi und Gritli mitgebracht. Echte Schweizerinnen, deren Mütter Freiberger Stuten gewesen waren. Mittlerweile waren sie ganz schön international auf dem Mangoldhof: zwei Italiener, zwei Schweizerinnen, eine Niederbayerin – und Irmi als einzige Eingeborene. Die Herkunft von Spitz Raffi war unbekannt, nur der Kater stammte erwiesenermaßen aus Grafenaschau.
Luise hatte eine Hängematte zwischen Apfel- und Pflaumenbaum befestigt, in der sie gerade lag und las. Sie hatte eine Daunenjacke an, denn es war ziemlich kalt. Raffi lag zu ihren Füßen, der Kater auf ihrem Bauch. Irmi winkte kurz hinüber, ging ins Haus und holte sich ein Bier. Damit setzte sie sich aufs Hausbankerl, das mit Luises Einzug zu einer ganzen Sitzgruppe angewachsen war.
Nach etwa zehn Minuten kam Raffi. Nach angemessener Zeit entstieg Luise der Hängematte, holte sich ein Bier und setzte sich Irmi gegenüber in einen alten Holzstuhl. Offenbar waren Luise und Raffi sich einig, dass man sie besser erst mal in Ruhe ließ. Irmis Brust war von einer plötzlichen Rührung erfüllt. Wie glücklich konnte sie sich schätzen!
Raffi leckte ihre Hand. Sein Blick sagte: War nicht so toll heute, oder?
»Nein, gar nicht toll. Ein junger Mann, erschossen im Garten seiner Tante. Mitten ins Herz.«
»Schrecklich«, sagte Luise leise. »Sehr jung?«
»Ja, erst zweiundzwanzig. Der Junge sah aus wie … wie … Ich kann es schwer formulieren. Nicht wie ein Engel, aber womöglich wie ein Filmstar. Ich würde einen Vampirfilm mit ihm besetzen. Ach, ich weiß auch nicht. Es hat mich mehr getroffen, als es sollte.«
»Weiß es die Familie schon?«, erkundigte sich Luise.
»Ja, die Mutter. Grundschullehrerin, angenehme Frau. Sie wollte es erst nicht wahrhaben, dann ist sie zusammengeklappt. Ich frage mich die ganze Zeit: Wie kann man so etwas je aushalten?«
»Man kann es. Irgendwann. Es hilft, wenn es einen Täter gibt. Ein Urteil. Ein Motiv. Dann kann man abschließen«, sagte Luise.
Genau das fesselte Irmi immer noch an ihren Beruf. Sie konnte Menschen dabei helfen, einen solchen Fall abzuschließen. Das trieb sie weiter an.
Sie tranken ihr Bier.
»Da war so eine bizarre Ästhetik über dieser Szenerie, das hat uns alle erschüttert«, sagte Irmi schließlich.
»Ging es schnell?«, fragte Luise. »Das tröstet womöglich.«
Vielleicht hatte man keine Angst vor dem Tod, sondern nur vor dem Leiden? War ein schneller Tod akzeptabler? Im Alter bestimmt, dachte Irmi. Auch sie fürchtete eher das Leiden und nicht die Tatsache, abtreten zu müssen. Sie war fünfundsechzig – nach hinten wurde es verdammt überschaubar.
»Ja, es muss sehr schnell gegangen sein«, sagte sie.
Luise nickte.
Irmi sah sie an. Ihre Freundin besaß einen Jagdschein und war eine Weile Sportschützin gewesen. Sie konnte nicht nur schießen, sondern war sogar so etwas wie eine Meisterschützin.
»Du schaust so?«, fragte Luise.
»Ich bin nur immer noch etwas irritiert, dass du auf Tiere schießt«, meinte Irmi.
»Du schießt auf Menschen«, entgegnete Luise schlicht.
»Nur sehr ungern.«
»Tut mir leid, Irmi, das war eine blöde Bemerkung von mir. Zumal an einem Tag wie heute. Aber es geht ja um mehr. Im Wald musst du treffen. Das ist kein Spiel. Das ist tödlicher Ernstfall. Wenn ich danebentreffe, dann verursache ich grauenvolles Leiden. Dafür gibt es keine Entschuldigung.«
»Wohin würdest du schießen?«
»In die Kammer, den Brustkorb. Es zerfetzt Herz, Lunge, die großen Schlagadern. Sofortiger Blutdruckabfall, die Lunge kollabiert.«
»Aber die Tiere laufen doch noch weg!«
»Ja, manchmal. In die Dickung. Du brauchst einen Hund zum Nachsuchen, Jagd ohne Hund ist Schund«, sagte Luise. »Und darum jage ich nicht. Ich bräuchte einen Jagdhund, und Raffi ist definitiv nicht schussfest.«
Das war allerdings wahr. Raffi war ein Angsthase. Er wäre der beste staatlich geprüfte Gewittermelder, sollte es je eine solche Prüfung geben. Er spürte Gewitter herannahen, wenn es noch tiefblau am Himmel war, und wurde bei Donner zum Zitteraal. Nein, ein Jagdhund war er definitiv nicht.
»Wäre es nicht besser, auf den Kopf zu zielen?«, fragte Irmi.