Hungrig auf  Berlin - Denis Scheck - E-Book
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Hungrig auf Berlin E-Book

Denis Scheck

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Beschreibung

Denis Scheck erkundet mit seiner Co-Autorin Anne-Dore Krohn Berlin, neuerdings das Mekka des Genusses. Sie lassen sich von Sterne-Koch Tim Raue in dessen Restaurant mit einem asiatisch-europäischem Menü verköstigen und verbringen einen champagnerlaunigen Abend in der Charlottenburger Paris Bar. Sie nehmen Leserinnen und Leser mit zum Streetfood-Markt in der Markthalle Neun und ins Hinterhofrestaurant Cookies Cream, das es mit Seetangkaviar und anderen innovativen pflanzlichen Gerichten zu großem Renommee gebracht hat. Eine kulinarische Entdeckungsreise und Liebeserklärung gleichermaßen an die deutsche Hauptstadt – Sehnsuchtsort für Foodies und Gourmets aus aller Welt.

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Seitenzahl: 228

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Impressum

© eBook: 2022 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2022 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

MERIAN ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Redaktion und Projektmanagement: Anne-Katrin Scheiter

Text: Anne-Dore Krohn und Denis Scheck

Schlusskorrektur: Maike Specht

Covergestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln

eBook-Herstellung: Amelie Scherzl

ISBN 978-3-8342-3332-5

1. Auflage 2022

Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln

Illustrationen: Gerhard Seyfried, Berliner Stadtansichten

Fotos: Karte: Freytag & Berndt, Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln

Syndication: www.seasons.agency

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Wichtiger Hinweis

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch bei Personenbezeichnungen das generische Maskulinum verwendet. Es gilt gleichermaßen für alle Geschlechter.

Vorbemerkung

BERLIN-MEMORY

Wir haben für unseren kulinarischen Führer durch Berlin die Struktur eines Memory-Spiels gewählt. Ein Memory-Spiel – übrigens die Erfindung der Schweizer Kindergärtnerin Bertha von Schroeder aus den 1940er-Jahren – enthält 32 Karten, geordnet zu 16 Paaren. Auch wir fassen unsere 32 Empfehlungen zu 16 Paaren zusammen, die meist einen Gegensatz zwischen Streetfood und Haute Cuisine markieren – so folgt auf Mustafas Gemüse Kebap der Sternevegetarier Cookies Cream und auf den Grill Royal die BSR-Kantine. Manchmal ist der Bezug aber auch ein anderer, etwa der politische Anspruch, der das Nobelhart & Schmutzig mit dem Kreuzberger Himmel verbindet, die Auffassung von Lebensmitteln als Kultur, wie sie die Markthalle Neun und das Kochu Karu vorleben, oder die Wesensverwandtschaft zwischen einem Metropolen-Italiener wie dem Sale e Tabacchi und einem Metropolen-Griechen wie dem Cassambalis. Heute existieren rund 10 000 Gastronomiebetriebe in Berlin. Dass wir dieser enormen Vielfalt in 32 Kapiteln nicht gerecht werden können, versteht sich von selbst. Wir haben unsere Auswahl höchst subjektiv und rein nach dem Lustprinzip getroffen und hoffen, unsere Leserinnen und Leser lassen sich davon anstecken und verfahren genauso.

Anne-Dore Krohn & Denis Scheck

im März 2022

Das Märchen von Berlin

Wenn Nebel über den Ku’damm zieht und unsere Gegenwart mit ihren Schriftzügen, Werbeplakaten und Schaufensterdekorationen auslöscht, sodass nur die Silhouetten der Passanten im matten Lichtschein der Laternen übrig bleiben, kann man sich manchmal ins Berlin der 1920er-Jahre versetzt fühlen. Dann scheinen Fetzen von Charleston aus Tanzkneipen zu dringen. Die Comedian Harmonists singen »Mein kleiner grüner Kaktus«, Anita Berber, die wildeste Frau der Weimarer Republik, wirbelt nackt über die Bühnen, und Blandine Ebinger webt aus »Ach, er haßt, daß ich ihn liebe« melancholische Schleier. Wer die kulinarische Gegenwart Berlins vermessen möchte, beginnt am besten mit einem Bummel durch die gastronomische Vergangenheit der Stadt in den 20er-Jahren. Auf diesem wird schnell klar, in welchem Maß Berlin heute an eine Geschichte anknüpft, die die Stadt zum Sehnsuchtsziel der Amüsierlustigen und Feierwütigen weltweit machte – aber auch zum Zentrum der Geschundenen und Ausgebeuteten. Hungrig waren sie alle, sehr unterschied sich jedoch, wonach sie Appetit hatten. Die Dämonen der Vergangenheit sind im heutigen Berlin allgegenwärtig – und man begegnet ihnen auch in der Küche. Diese Stadt besitzt einen eisernen Magen.

Die Gastronomie Berlins steckt voller packender Geschichten, die wir während unserer Recherche für dieses Buch kaum glauben konnten. Zum Beispiel der Fall des legendären Restaurants Horcher, das während der Nazizeit nach Madrid umzog – mitsamt einer Maschine zur Herstellung einer der urdeutschesten Spezialitäten überhaupt: dem Baumkuchen. Bis heute hat das Madrider Horcher zwei Michelinsterne. In seinem amüsanten Buch »Berlin. Was nicht im Bädeker steht« von 1927 liefert der Journalist Eugen Szatmari eine sehr anschauliche Beschreibung des Horcher, das 1904 in Schöneberg in der Lutherstraße 21 eröffnete: »Horcher gehört zu den sehr wenigen Berliner Restaurants, die man mit den berühmtesten Gaststätten von Paris durchaus vergleichen kann. Was Ciro für Paris bedeutet, bedeutet etwa Horcher für Berlin. Ein kleines, vornehmes Restaurant, ohne Musik, wo man nicht nur gut essen kann, sondern – was in Berlin so selten ist – auch völlig individuell bedient wird. Bei Horcher stehen auf der Speisekarte keine Preise, er ist aber kaum teurer als die großen Hotels und bietet ausgezeichnete Küche. Dafür verkehrt bei ihm denn auch eine ausgewählt gute Gesellschaft. Während Peltzer ein Lokal ist, wo man vor allem zu Mittag speist, geht man zu Horcher meist abends. Dann kann man dort den früheren Minister Kühlmann sehen, Industriekapitäne aus dem Westen, berühmte Schauspieler, und es wird gewiss Leute geben, denen der Braten besser schmeckt, wenn sie sehen, dass am Nebentisch Elisabeth Bergner sitzt, oder Richard Tauber seine Austern schlürft. Auch Fritzi Massary und Pallenberg sind bei Horcher Stammgäste, ebenso wie Mia May, die als berühmte Köchin der Horcher’schen Küche sachverständige Anerkennung zollt. Hier verkehrt auch die Prinzessin von Sachsen-Altenburg, die Deutschlands schönste Perlen besitzen soll, Maler wie Arthur Kampff und Orlik, der Operettenkönig Oscar Straus, Dichter wie Werfel und Hans Heinz Evers, und viele, viele andere Leute, die in einem Restaurant weder Jazzmusik noch Charleston suchen wollen. Sie werden von Horcher alle sehr freundlich begrüßt, denn Horcher kennt alle seine Stammgäste persönlich, er kennt auch ihren Geschmack, und der Koch Poncini bekommt dann von dem Oberkellner Martius – dem einzigen Berliner Kellner, der ein eigenes Auto hat – besondere Weisungen für einen jeden Gast, denn es gibt Leute, die den Salat mit Senf angemacht haben wollen, während andere Gäste Zitrone und Zucker bevorzugen. Bei Horcher wird jedes Gericht sozusagen mit Liebe serviert.«

 Zu den Spezialitäten des intimen, weniger als zehn Tische umfassenden Horcher zählte ein Fasan, dessen Knochen ähnlich wie die seit Jahrhunderten nummerierten Enten im weltbekannten Pariser Restaurant La Tour d’Argent in einer Presse ausgedrückt wurden und die Basis für eine anschließend flambierte Sauce bildeten. Wie aber kommt ein noch zur Kaiserzeit von einem badischen Weinhändler gegründetes Berliner Promi-Restaurant der Weimarer Republik in die Hauptstadt Spaniens?  Es lag, wie so oft, an der »Liebe«. An der Liebe, mit der Otto Horcher, der Sohn des Gründers Gustav Horcher, auch einige Stammgäste des Horcher nach 1933 bewirtete. Hermann Göring und Albert Speer zum Beispiel. Seine Verbindungen zur NSDAP-Spitze trug ihm die Lizenz zur Bewirtung des Deutschen Pavillons bei der Weltausstellung 1937 in Paris ein. Bereits 1933 hatte Otto Horcher durch Zukauf des legendären Restaurants Zu den drei Husaren nach Wien expandiert. Nach der Kapitulation Frankreichs 1940 übernahm Otto Horcher sogar das gefeierte Maxim’s in Paris. Sein opportunistisches Meisterstück gelang Horcher aber 1944, als er seine Nazi-Förderer bequatschte, ihn mitsamt dem ganzen Kücheninventar, den Gläsern, der Tischwäsche, dem Porzellan und dem Tafelsilber und der Baumkuchenmaschine in verplombten Eisenbahnwaggons von Berlin nach Francos Spanien ausreisen zu lassen. Wir konnten es kaum fassen: Dieser ebenso unwahrscheinliche wie spektakuläre kulinarische Exodus soll im Berlin des Jahres 1944 möglich gewesen sein? Da hätte sich doch noch den verbohrtesten Endsieggläubigen der Verstand für die wahre Lage öffnen müssen! Angeblich erteilte Hermann Göring persönlich die Genehmigung für den Umzug des Horcher; wir fanden für dieses Gerücht jedoch keinen Beleg. 

Der Franzose Jean-Claude Bourgueil kocht seit vielen Jahren im mal mit drei, mal mit zwei Sternen bewerteten Schiffchen in Düsseldorf-Kaiserswerth. Er hat im Horcher in Madrid in den 60er-Jahren gelernt und uns damit verblüfft, dass er nach seiner Lehrzeit die Herstellung von Baumkuchen beherrschte, den wir immer für eine deutsche Angelegenheit schlechthin gehalten hatten – quasi das kulinarische Pendant zu Weihnachtsbaum, Waldsterben und Peter Wohlleben. Noch Ende der 60er-Jahre, so erzählte es uns Jean-Claude Bourgueil persönlich, konnte man im Horcher in Madrid ein Hakenkreuz auf der Porzellanmarke erkennen, wenn man den Platzteller umdrehte. Manches brennt sich eben für immer ein. 

SCHWIMMER ODER NICHTSCHWIMMER?

Von solch bizarren historischen Kontinuitäten und Brüchen erzählt auch die extrem beliebte TV-Serie »Babylon Berlin«.  Nicht erst durch den internationalen Erfolg dieser Serie, die auf den Romanen von Volker Kutscher basiert, erlebt die Ausgehkultur der 20er-Jahre ein keineswegs nur auf Berlin beschränktes Comeback in Gestalt von »Roaring Twenties«-Kostümbällen. In den 20er-Jahren existieren in Berlin über 300 Kinos, eines von ihnen war das Theater im Delphi in der Gustav-Adolf-Straße 2 in Weißensee. Das Delphi gibt es noch heute. Für »Babylon Berlin« wurde es selbst zur Kulisse. Hier spielt eine der mitreißendsten choreografierten Szenen, die je in Deutschland gedreht wurde: einmal so tanzen wie die Bubikopf-Kokotten und Halbwelt-Dandys im Moka Efti zum Song »Zu Asche, zu Staub / Dem Licht geraubt / Doch noch nicht jetzt / Wunder warten bis zuletzt / Ozean der Zeit / Ewiges Gesetz / Zu Asche, zu Staub / Zu Asche / Doch noch nicht jetzt …« Gesungen hat das mit hypnotischer Melancholie die litauische Schauspielerin Severija Janušauskaitė. Extra für die Serie komponiert haben den Song Nikko Weidemann, der Schweizer Mario Kamien und Regisseur Tom Tykwer. Ein Welthit – die ganze Tragik der Weimarer Republik blitzt in ihm auf.

Wo wir die Zeitmaschine zurück in die 20er-Jahre nun schon mal in Gang gesetzt haben, statten wir doch den berühmten Künstlerlokalen und Kaffeehäusern Berlins gleich einmal einen Besuch ab. Dem für seine schwäbische Küche bekannten Schlichter, Luther-/Ecke Ansbacher Straße. Oder dem Josty am Potsdamer Platz. Der Bierstube von Änne Maenz in der Augsburger-/Ecke Joachimsthaler Straße, wo wir Ernst Lubitsch, Fritzi Massary oder Billy Wilder antreffen. Oder dem für seine Premierenfeiern bekannten Schwanneke in der Rankestraße 4, das der Schauspieler Viktor Schwanneke 1921 eröffnet hat und das eigentlich nach seiner Frau Weinstube Stephanie heißt, doch so nennen es nur Uneingeweihte. Unbedingt wollen wir natürlich auch ins Romanische Café mit seiner berühmten Unterteilung: in den kleinen »Schwimmerbereich«, der prominenten Gästen wie Ruth Landshoff, Bertolt Brecht, Mascha Kaléko, Erich Maria Remarque oder Alfred Döblin vorbehalten ist, und dem bedeutend größeren »Bassin für Nichtschwimmer«, in den Worten Erich Kästners der Platz für »jene Leute, die hier seit zwanzig Jahren, Tag für Tag, aufs Talent warten«. Doch wehe dem, der sich am ersten Tisch nach der Drehtür im Nichtschwimmerbereich hinsetzte, dem für Granden wie Max Slevogt, Alfred Flechtheim, Emil Orlik, Bruno Cassirer oder Max Liebermann vorbehaltenen Künstlerstammtisch. Gabriele Tergit beschreibt in ihrem Bestseller »Käsebier erobert den Kurfürstendamm« von 1931 die Atmosphäre in diesem Künstlercafé, in dem Karrieren gemacht und beendet wurden: »Das Romanische Café befindet sich gegenüber der Gedächtniskirche und besteht aus einer Schwimmer- und Nichtschwimmerabteilung. Die Schwimmer sitzen links von der Drehtür. Die Nichtschwimmer rechts. Das Romanische Café ist sehr schmutzig. Erstens ist es trotz seiner großen Fensterscheiben so angeräuchert, wie es für eine Stätte des Geistes notwendig ist, zweitens ist es schmutzig durch die Manieren seiner Bewohner, die unausgesetzt Überreste ihrer Raucherei auf den Fußboden werfen. Drittens aber durch die ungeheure Frequenz. Denn dieses Café ist eine Heimat. Ungarn, Polen, Jugoslawen, Russen, Tschechen, Slowaken, Ruthenen, Dänen, Böhmen, Österreicher, Balten, Letten, Litauer, Serben, Rumänen und die große Schar der in Berlin dem Geist geöffneten, von Osten kommenden Juden, sie alle finden dort Landsleute. Denn so ist es mit Berlin: In der Fremdenstatistik interessiert man sich hauptsächlich für die Amerikaner, aber eigentlich kommen am meisten Völker von Osten nach Berlin, eventuell ein paar Holländer und Dänen. Darauf wird weniger Wert gelegt. Aber Berlin ist 100 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Berlin ist ein Vorort des Nordostens, wie Wien des Südostens. Berlin ist keine chice Hauptstadt, wie Paris oder Rom oder London, wo die Engländer und die Amerikaner, die Spanier und Franzosen hinfahren for sightseeing, im Frühling oder in der season als »Trip«. Nach Berlin kommt man vom Osten, um eine Stellung zu finden, um Musik zu machen, um zu filmen und um zu malen, Theater zu spielen, zu schreiben, Regie zu führen, zu bildhauern, um Autos zu verkaufen, Bilder, Grundstücke, Terrains, Teppiche, Antiquitäten, um Läden aufzumachen, Schuhläden, Kleiderläden, Parfümläden, um zu darben und zu studieren. Sie alle sitzen im Romanischen Café, erst im Nichtschwimmerbassin, später im Schwimmerbassin. Sie alle sprechen und schimpfen.« Die Küche im Romanischen Café war übrigens so berüchtigt schlecht, dass eigentlich nur Touristen auf die Idee kamen, dort irgendetwas anderes zu sich zu nehmen als zwei Eier im Glas.

Für unser Leben gern würden wir auch mal einen Abend lang im Haus Vaterland am Potsdamer Platz mit 8000 anderen Gästen in zwölf Themenrestaurants verbringen – eine Dimension von Eventgastronomie, die heute selbst Disneyland oder Las Vegas erblassen ließe. Zur Auswahl standen unter anderem die Wildwestbar Arizona, ein türkisches Café, ein Wiener Heurigenlokal, ein bayerischer Biergarten, eine japanische Teestube, eine spanische Bodega, eine italienische Osteria und das ungarische Restaurant Czardas. Zu den Hauptattraktionen des Hauses Vaterland zählten jedoch die »Rheinterrassen«, die alles an technischen Finessen aufboten, was man sich Ende der 20er-Jahre zur Unterhaltung der Gäste ausdenken konnte: Rheinromantik inklusive künstlicher Sonnenuntergänge und illuminierter Eisenbahn-, Flugzeug- und Schiffsmodelle. Vollends zum Wunder Berlins wurden die »Rheinterrassen« jedoch mit einem pünktlich zu jeder vollen Stunde inszenierten Wolkenbruch vor der Kulisse von St. Goar nahe der Loreley. Die furchtbar unterschätzte deutsche Autorin Irmgard Keun lässt in ihrem Roman »Das kunstseidene Mädchen« von 1932 diese frühe Form der Gästebespaßung im Haus Vaterland ihre Ich-Erzählerin Doris in ihrem atemlosen und dabei doch herrlich verquatschten Stakkatostil beschreiben: »Und im Vaterland toll elegante Treppen wie ein Schloß mit Gräfinnen, die schreiten – und Landschaften und fremde Länder und türkisch und Wien und Lauben von Wein und die kolossale Landschaft eines Rheines mit Naturschauspielen, denn sie machen einen Donner. Und sitzen, es wird so heiß, die Decke fällt – der Wein macht uns schwer – ›ist es denn nicht schön hier und wunderbar?‹ Es ist doch schön und wunderbar, welche Stadt hat denn sowas noch, wo sich Räume an Räume reihen und die Flucht eines Palastes bilden? Die Menschen sind alle so eilig – manchmal sind alle blaß im Licht, dann sehen die Kleider von den Mädchen nicht bezahlt aus, und die Männer können sich den Wein eigentlich nicht leisten – ob denn keiner glücklich ist?« Das Haus Vaterland fiel 1943 nach einem Bombenangriff einem Großbrand zum Opfer. Ein kulinarischer Notbetrieb in den unversehrten Teilen des Monumentalbaus als Wehrmachtsheim und HO-Gaststätte wurde mit Unterbrechungen bis 1953 fortgeführt. Natürlich hat sich auch Volker Kutscher diesen gigantischen Vergnügungsdampfer der Weimarer Republik nicht entgehen lassen: Sein vierter Gereon-Rath-Roman »Die Akte Vaterland« von 2012 spielt größtenteils hier.

BRÖTCHEN-FLATRATE IM ASCHINGER

Im Berlin des Jahres 2022 boomt der Markt für Stadtführungen, die zu den In-Kneipen und Tanzlokalen von damals führen. Leider nicht im Programm enthalten: die acht Restaurants und an die 30 Bierquellen-Filialen von Aschinger am Köllnischen Markt, der Friedrichstraße, am Alexanderplatz oder am Rosenthalerplatz, am Hackeschen und am Werderschen Markt, in der Leipziger-, der Invaliden- oder der Tauentzienstraße. Nichts von dem einstigen Gastroimperium der Brüder Aschinger hat in der Berliner Gegenwart überlebt – bis auf die 1912 erbauten einstigen Großbäckereien in der Saarbrücker Straße, deren unschlagbar billige Produktionsweise den Erfolg von Aschinger begründete. Heute sind sie unter dem Namen Backfabrik ein Kreativquartier und Veranstaltungsort. In den Stehbierhallen und Restaurants von Aschinger konnte man in den 20ern die berühmte Erbsensuppe essen und hatte dazu noch eine Brötchen-Flatrate. Daran erinnert sich auch der Maler George Grosz, der im Januar 1933 in die USA emigrieren musste, in seiner 1946 veröffentlichten Autobiografie »Ein kleines Ja und ein großes Nein«. Die Gastrokultur im Berlin der 20er-Jahre beschrieb Grosz für seine amerikanische Leserschaft so: »Wir liebten die kleinen Eckkneipen, die man Stehbierhallen nannte. Da stand man neben dem Kohlenträger, dem Rollkutscher und dem Portier von nebenan und trank sein kleines Helles, aß seinen Rollmops und nahm hinterher noch einen ›Koks mit Pfiff‹. Das war Kartoffelschnaps mit einem Stückchen Zucker, das in Rum getaucht war. Wer phantasievoller gestimmt war, bestellte ein ›Persico mit Rosen‹ (Kornschnaps mit einem Schuß Himbeersirups) oder eine ›Grüne Minna‹ (Kartoffelschnaps mit einem Schuß grünem Pfefferminzlikörs). War man knapp an Geld, so konnte man jederzeit bei Aschinger seinen Hunger stillen: Man bestellte einen Teller Erbsensuppe, der kostete 30 Pfennig und war kein Teller, sondern eine kleine Terrine. Die Hauptsache aber war: Man konnte dazu soviel Brot und Brötchen haben, wie man wollte. War der Brotkorb auf dem Teller leer, so kam der Kellner von selbst und füllte nach; kleine Dampfbrötchen, noch warm und knusprig, ein Kümmelbrot, herrliche Salzstangen. Was in unseren Taschen verschwand, wurde nicht beanstandet, man durfte es nur nicht zu auffällig machen. Aschinger war eine wahre Wohltat für hungrige Künstler.«

Wie viele Literaturenthusiasten begeistern wir uns, je älter wir werden, immer mehr für Alfred Döblin, der seinen Stil von Buch zu Buch radikal wechselt. Sein Roman »Berlin Alexanderplatz« von 1929 ist nicht nur eine von James Joyces’ »Ulysses« und John Dos Passos’ »USA-Trilogie« inspirierte Geschichte über den Niedergang des Gelegenheitsarbeiters und Kleinkriminellen Franz Biberkopf im Kampf mit der Großstadt Berlin. Genau genommen liest sich Döblins Meisterwerk auch über weite Strecken wie ein Berliner Restaurant- und Kneipenführer. Franz Biberkopf frisst und säuft nach seiner Haftentlassung im Grunde ununterbrochen – denn nur so kann er sich seiner immer prekäreren Existenz versichern: »Meck und der Stumme staunten, wie Franz ganz auftaute, mit Wonne aß und trank, Eisbeine, dann Bohnen mit Einlage und eine Molle Engelhardt nach der anderen, und ihnen spendierte er [ ... ] Und sie meckerten, schmatzten, schluckten zu dritt. Immer wieder verkündete Franz: ›Man muß sich auffüllen. Ein Mensch, der Kraft hat, muß essen. Wenn du die Plautze nicht voll hast, kannste nischt machen.‹« Wer nach solchen Ernährungsgrundsätzen lebt, muss einfach früher oder später bei Aschinger landen. Franz Biberkopf entwickelt bei Aschinger eine regelrecht sozialdarwinistische Naturphilosophie, in der auch ein kräftiger Schluck aus der Pulle von Oswald Spenglers »Der Untergang des Abendlandes« eingeflossen ist: »Aschinger hat ein großes Café und Restaurant. Wer keinen Bauch hat, kann einen kriegen, wer einen hat, kann ihn beliebig vergrößern. Die Natur läßt sich nicht betrügen! Wer glaubt, aus entwertetem Weißmehl hergestellte Brote und Backwaren durch künstliche Zusätze verbessern zu können, der täuscht sich und die Verbraucher. Die Natur hat ihre Lebensgesetze und rächt jeden Mißbrauch. Der erschütterte Gesundheitszustand fast aller Kulturvölker der Gegenwart hat seine Ursache im Genuß entwerteter und künstlich verfeinerter Nahrung. Feine Wurstwaren auch außer dem Haus, Leberwurst und Blutwurst billig.«

Auch wenn wir heute ein anderes Verhältnis und Verständnis von »feinen Wurstwaren« haben, wie sie zum Beispiel die Fleischerei Kumpel und Keule in der Markthalle Neun (>) vorlebt, und weniger leichtfertig pauschale Aussagen über »Kulturvölker« treffen: Döblin stattet seinen Franz Biberkopf mit einem durchdringend scharfen Blick für die anderen Gäste im Aschinger aus: »Ein junger, dicker Herr mit einer Hornbrille sitzt auf einem Stuhl und verzehrt den Mittagstisch. Man sieht ihn an und stellt fest: Er hat einen dampfenden Teller mit Roulade, Soße und Kartoffel vor sich stehen und ist dabei, alles hintereinander zu verschlingen. Seine Augen wandern hin und her über den Teller, dabei nimmt ihm keiner was weg, sitzt keiner in der Nähe, er sitzt ganz allein an seinem Tisch, aber doch in Sorge, zerschneidet, drückt an seinem Futter und schiebt es sich in den Mund, rasch, eins, eins, eins, eins, und während er arbeitet, eins rin, eins raus, eins rin, eins raus, während er schneidet, quetscht und schlingt, schnüffelt, schmeckt und schluckt, betrachten seine Augen, beobachten seine Augen den immer kleineren Rest auf dem Teller, bewachen ihn rundherum wie zwei bissige Hunde und taxieren seinen Umfang. Noch eins rin, eins raus. Punkt, jetzt ist fertig, jetzt steht er auf, schlapp und dick, der Kerl hat alles glatt aufgefressen, jetzt kann er auch zahlen. Er faßt in die Brusttasche und schmatzt: ›Fräulein, was machts?‹ Dann geht der dicke Kerl raus, schnauft, macht sich hinten den Hosenbund locker, damit der Bauch gut Platz hat. Dem liegen gut drei Pfund im Magen, lauter Eßwaren.«

SODOM UND BERLIN

Diese Charakterisierung sitzt. Bis heute. Ähnliche Szenen tragen sich im Berlin der Gegenwart in zahllosen Kantinen, Metzgerimbissen oder auf günstigen Mittagstisch spezialisierten Res- taurants zu – auch wenn sich zum Glück inzwischen die frischere und vor allem leichtere vegetarische oder vegane Küche durchsetzt. Der Elsässer Yvan Goll zeichnet in seinem Roman »Sodom und Berlin« von 1929 ein Bild der deutschen Hauptstadt, das bis heute stimmig ist und auch deshalb unter die Haut geht: »Berlin. Bleiche Stadt. Stadt des fahlen Zements. Stadt der eisigen Winter. In angstvollen Nächten wird sie von einer Vorstellung geplagt: Das weiße Gesicht Rosa Luxemburgs blüht wie eine tragische Seerose im Eis des Landwehrkanals. Der ewig gejagte Schatten Karl Liebknechts flieht hinter die schwarzen Büsche des Tiergartens, aus denen die wilden Augen seiner Mörder herausleuchten.« Aber »Sodom und Berlin« ist letztlich ein satirischer Roman, in dem Goll seinen Helden Odemar Müller nach Eskapaden in Paris und Italien am Ende natürlich bei Aschinger landen lässt: »O Freude! O Vision eines Schlaraffenlandes! Plötzlich hatte er vor sich eine der Aschinger-Bierquellen mit ihren Wurstringen, ihren Bergen von Bratheringen, ihren Seen von Mayonnaisesauce und ihren Wolken aus Schlagsahne. Das war so recht eine deutsche Landschaft. Er hatte seine Heimat wiedergefunden. In der verrauchten Stehbierhalle floss der süffige schwere Triumphator schäumend wie eine Alpenquelle.« Präzise und psychologisch detailscharf zeichnet auch der Schweizer Robert Walser in seinem grandiosen Feuilleton Aschinger den Futtertrog der Hauptstadt der Weimarer Republik: »Bei Aschinger gewöhnt man sich rasch einen Ess- und Trink-Vertraulichkeitston an, man spricht dort nach einiger Zeit fast nur noch wie Wassmann im Deutschen Theater. (…) Mit dem zweiten oder dritten Glas Hellem in der Faust treibt’s einen dann gewöhnlich an, allerlei Beobachtungen zu machen. Man will gern recht exakt notiert haben, wie die Berliner essen. Sie stehen dabei, aber sie nehmen sich ganz nett Zeit dazu. Es ist ein Märchen, zu glauben, in Berlin haste, zische oder trabe man nur. Man versteht hier geradezu drollig, Zeit dahinfließen zu lassen, man ist eben auch Mensch. Es ist eine innige Freude, zu sehen, wie hier nach Wurstbrödchen und italienischen Salaten geangelt wird. Die Gelder werden meistens aus Westentaschen hervorgezogen, es handelt sich ja doch beinahe regelmäßig nur um einen Groschen. (…)  Die Unbefriedigten finden rasch an der Bierquelle und am warmen Wurstturm Befriedigung, und die Satten springen wieder an die Geschäftsluft hinaus, gewöhnlich eine Mappe unter dem Arm, einen Brief in der Tasche, einen Auftrag im Gehirn, einen festen Plan im Schädel, eine Uhr in der offenen Hand, die sagt, daß es jetzt Zeit ist. Im runden Turm in der Mitte des Gemaches thront eine junge Königin; es ist die Beherrscherin der Würste und des Kartoffelsalates, sie langweilt sich ein wenig in ihrer köcherlichen Umgebung. Eine feine Dame tritt ein und spießt ein Kaviarbrötchen an zwei Finger auf, sofort mache ich mich ihr bemerkbar, aber so, als ob mir das Bemerktwerden Wurst wäre. Ich habe inzwischen Zeit gefunden, mich an einem neuen Hellen festzuhalten. Die feine Frau geniert sich ein bißchen, in die Kaviarherrlichkeit hineinzubeißen, ich bilde mir natürlich sogleich ein, das sei ich und kein anderer, wegen dem sie ihrer Zubeißesinne nicht so ganz völlig mächtig wäre. Man täuscht sich so leicht und so gern. (…) Würde und Selbstbewußtsein wirken behaglich, auf mich wenigstens, und deshalb stehe ich so gern in irgendeinem von unsern Aschingerhäusern, wo die Menschen zu gleicher Zeit trinken, essen, reden und denken. Wie viele Geschäfte sind hier schon ersonnen worden! Und das Schönste ist: Man kann stundenlang am Fleck stehen, das verletzt niemanden, das findet kein einziger von all denen, die kommen und gehen, auffällig. Wer hier an der Bescheidenheit Geschmack findet, der kann auskommen, er kann leben, es hindert ihn niemand. Wer keine gar so besondere Herzlichkeit beansprucht, der darf ein Herz haben, man erlaubt ihm das.«

Berlin in den 20er-Jahren: Das war das Labor der Avantgarde, das Testgelände der Utopien, das Paradies des Partyvolks. Vicki Baum, der wir in den kommenden Jahren eine große Renaissance prophezeien, arbeitete Mitte der 20er-Jahre als berühmte Romanautorin und Redakteurin für diverse Zeitschriften im Ullstein-Haus und hielt in ihrer Autobiographie »Es war alles ganz anders« fest, was für sie als Wienerin den Charme von Berlin in der Weimarer Republik ausmachte. Bemerkenswert dabei, mit welcher soziologischen Präzision sie den Wandel der Trinkgewohnheiten in der Hauptstadt analysiert: »Berlin war so herrlich lebendig, so geladen mit einer seltsamen Elektrizität. Bars – ich hatte, bevor ich nach Berlin kam, noch keine gesehen. Schrecklich, grollten die konservativen Älteren, wir werden immer amerikanischer. Cocktails – nicht mehr der edle deutsche Wein wie früher. Früher, das bedeutete ausnahmslos: vor dem Krieg. Kostümfeste in Privatwohnungen, mit Reizkostümen, die viel Fleisch sehen ließen, und wildem Treiben. Für unsern Geschmack reichlich frei, schnoben die Tapergreise. Für uns aber war es genau die Freiheit, die wir wollten und brauchten.« Das Berlin Vicki Baums war eine Stadt mit drei Opern, 49 Theatern, über 300 Kinos, gut 80 Varietés und Kabaretts und an die 60 Tageszeitungen, die morgens, mittags und abends erschienen. Und auch wenn die Presselandschaft Berlins im Vergleich dazu heute fast ausgelaugt wirkt, weist die deutsche Hauptstadt der Gegenwart immerhin vier feste Opernhäuser auf und rund 150 Theater und Bühnen, die Konzert- und Clubkultur ist weltberühmt, und gleich fünf (!) Literaturhäuser bieten Zugang zu deutschsprachiger und internationaler Dichtung. Auch für die Stadt heute gilt: Berlin tanzt. Berlin geht aus. Berlin trinkt. Berlin isst. Berlin feiert. Und Berlin spricht über nichts so gern wie über Essen und Trinken. Wenig liest sich denn auch so amüsant wie die Restaurantkritiken „Von Tisch zu Tisch“ im „Tagesspiegel“, über Jahre von Susanne Kippenberger und Bernd Matthies liebevoll auf hohem Niveau gestaltet.

BERLIN IST MULTIKULINARISCH

Aber manchmal hat man den Eindruck, die ganze kulinarische Pionierarbeit der vergangenen Jahrzehnte könnte umsonst gewesen sein. Im September 2021 kündigt die Lufthansa eine kulinarische Innovation für ihre Businessclass an. Unter dem Slogan »Tasting Heimat« werden sechs deutsche Großstädte mit ihren kulinarischen Spezialitäten vorgestellt, darunter Leipzig mit einem feinen Allerlei von Spargel, Morcheln und Flusskrebsen, Düsseldorf mit einem mürben Rheinischen Sauerbraten und Frankfurt mit der legendären Grünen Soße, die schon Goethe begeisterte. Nur für die deutsche Hauptstadt bleibt mal wieder nichts als die triste unvermeidliche Currywurst ...

Armes Berlin. Nichts gegen eine gut gemachte Currywurst – wenn man aber, wie wir, oft eher der Literatur vertraut, wurde die Currywurst sowieso nicht in Berlin erfunden, sondern in Hamburg. Das schreibt jedenfalls der Schriftsteller Uwe Timm in seiner tollen Novelle »Die Entdeckung der Currywurst«. Und wenn es schon um Berlin-typisches Fast Food geht, finden wir Falafel sowieso viel leckerer. Aber die reflexartige Reduktion der Hauptstadt in den Medien auf Currywurst, Bulette oder Falafel tut der vielfältigen gastronomischen Gegenwart Berlins bitter unrecht. Und erst recht seiner nicht minder bunten kulinarischen Vergangenheit. »Berlin ist multikulinarisch!«, jubelt etwa die Schriftstellerin Tanja Dückers, die 2018 die Schokoladenmanufaktur Preußisch süß – Berliner Stadtteilschokolade gründete. Man kann heute nirgendwo in Deutschland so gut und so abwechslungsreich essen und trinken wie in Berlin – und dies auf jedem Niveau. Gelebte Diversität lässt sich, auch kulinarisch, nirgendwo schöner, anregender und mitunter auch anstrengender erleben als in Berlin, und zwar auch für wenig Geld. Daran hat selbst die Pandemie wenig geändert. Gefahr droht allerdings von einer lange unterschätzten Nebenwirkung von Corona: Nach Auskunft der deutschen Sternekoch-Legende Dieter Müller, der als Ideengeber das Pots im Ritz-Carlton verantwortet, stehen in Berlin, während wir diese Zeilen zu Papier bringen, 18 000 Stellen im Gastro- und Hotelgewerbe offen, einfach weil die bisher dort Tätigen in andere, von den Auswirkungen Coronas sicherere Gewerbe abgewandert sind – was beim Service zum Teil schon spürbar ist. Und natürlich setzt das auch Grenzen für den kreativen Spielraum.