Der undogmatische Hund - Denis Scheck - E-Book

Der undogmatische Hund E-Book

Denis Scheck

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Beschreibung

»Ein Leben ohne Hund ist möglich, aber sinnlos.« frei nach Loriot. Eine unerhörte Liebesgeschichte: Als der unfassbar niedliche Jack-Russell-Terrier Stubbs beim Ehepaar Schenk/Scheck einzieht, stellt er nicht nur ihre Welt auf den Kopf. Sondern auch ihre Sicht auf die Literatur. Höchst amüsant und originell erzählt »Der undogmatische Hund« von einer wunderbaren Ménage-à-trois und macht uns bekannt mit den berühmtesten Hunden der Weltliteratur. Sie werden Stubbs nie mehr vergessen, soviel sei versprochen. Ihre Liebe hat einen Namen: Stubbs, im Ruhrpott geborener Jack- Russell-Terrier. Jahrelang haben Denis Scheck und Christina Schenk ihrer Sehnsucht nach einem Hund widerstanden. Zu eng die Etagenwohnung, zu reisefreudig ihr Lebensstil. Bis ein befreundeter Koch ihnen einen Hundewelpen zeigt und sie dahinschmelzen wie Eis in der Sahara. Das neue Familienmitglied verändert nicht nur die Beziehungsdynamik. Sondern auch ihren Blick auf die Welt: Sie wird reicher, kurioser, überraschender. Klug und geistreich erzählen Denis Scheck und Christina Schenk von verrückten Begegnungen auf dem Hundeplatz und auf Reisen. Nicht alle reagieren so krass wie Henryk M. Broder, dem beim Anblick des Hundes spontan der Satz entfährt: »Kann er denn schon Heil Hitler?« Aber wie ein Mensch tickt, das verrät Stubbs immer sehr schnell. Und er hat noch viel mehr in petto: Selten wurde Weltliteratur so vergnüglich erzählt. Was, glauben Sie, passiert, wenn Sie die Literaturgeschichte mit den Augen eines Hundes betrachten? Sind Sie bereit für Cujo, Bauschan, Snoopy und ihre Freunde? Ein Buch, das BELLetristik neu definiert.

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Seitenzahl: 321

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Denis Scheck / Christina Schenk / Stubbs

Der undogmatische Hund

Eine Liebesgeschichte zwischen einer Frau, einem Mann und einem Jack Russell

Mit einem caniden Kanon

Mit Illustrationen von Torben Kuhlmann

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Denis Scheck / Christina Schenk / Stubbs

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Man sollte immer wissen, an welchen Baum man pisst. Kiepenheuer & Witsch gehört zu der in der Gänsheide in Stuttgart residierenden Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck GmbH (sieht von außen aus wie eine Zahnarztpraxis im Rheinland, aber wenn Sie mal da sind, lassen Sie sich unbedingt den NATO-Saal zeigen!), der in Deutschland neben S. Fischer, Rowohlt, Droemer Knaur auch die Mehrheit an SpringerNature gehört, in Großbritannien Pan Macmillan, in den USA Macmillan, Farrar Straus & Giroux, St. Martin’s Press sowie viele andere Verlage nebst signifikanten Teilen der bewohnten Milchstraße. Außerdem gehören anderen Familienmitgliedern der von Holtzbrincks die »Zeit« und das »Handelsblatt«, aber um das alles genau zu recherchieren, war der Vorschuss echt zu mau. Um die KiWi-Autorin Katja Lange-Müller zu zitieren: Wir sitzen so oder so alle im Portemonnaie eines der großen Konzerne.

Inhaltsverzeichnis

Sehet auf die Hunde.

Philipper, 3:2.

Wir müssen immer wählen, uns entscheiden. Die Tiere müssen nur sein und handeln. Wir sind angejocht, und sie sind frei. Mit einem Tier zusammen zu sein bedeutet daher, ein wenig Freiheit zu erfahren.

Ursula K. Le Guin, »Der andere Wind«

Intelligenz lähmt, schwächt, hindert? Ihr werd’t Euch wundern! Scharf wie’n Terrier macht se!

Arno Schmidt, »Das steinerne Herz«

Inhaltsverzeichnis

[email protected]

Liebe Kerstin,

 

allerverbindlichsten Dank für Deine Mail. Ein Buch über Stubbs? Werte Verlegerin, wie denkst Du Dir das? Ein Hundebuch in Tagen wie diesen? Ist das Dein Ernst? Das Klima heizt sich auf. Die Welt hungert. Rassismus und schreiendes Unrecht, wohin man schaut. Ausbeutung und Unterdrückung, so schlimm und perfide wie im alten Rom. Das Böse triumphiert. Die Dummheit feixt. Niedertracht und Stumpfsinn tanzen Tango auf den Tischen, während wir auf der Suche nach dem letzten Krumen Grips unter den Bierbänken mit unseren Birnen aneinanderstoßen. Und da sollen wir – ein Hundebuch schreiben? In diesen Zeiten?

 

Fragen besorgt,

Deine

Christina, Denis & Stubbs

 

[email protected]

Liebe Kerstin,

 

Du hast recht: unser Leben mit Stubbs ist etwas Besonderes und als solches durchaus erzählenswert. Aber: dürfen wir das überhaupt? Stubbs schlägt zwar bei jedem Klingeln an, als stünden die AfD im Verein mit den Zeugen Jehovas und der Steuerfahndung vor der Tür, und zudem ist er durchaus ein Poser und kann an keinem Baum, keinem Laternenpfahl und keinem Grasbüschel vorbei, ohne sein Bein zu heben. Aber auf seine Weise ist Stubbs doch auch diskret und knurrend auf den Schutz seiner Intimsphäre bedacht. Wir haben in den letzten Jahrzehnten durch die sozialen Medien eine bis dahin unvorstellbare Zurschaustellung des Privaten erlebt. Wer über den Ursprung der Redensart nachdenkt, dass man schlafende Hunde nicht wecken sollte, kommt zumindest ins Zögern, das Leben seines Hundes literarisch auszuschlachten. Ist aus der Perspektive eines Tiers zu schreiben nicht ein Paradebeispiel für kulturelle Aneignung? Gar literarischen Vampirismus? Wir wollen doch nicht die literarischen Zuhälter unseres Hundes werden.

 

Kussi & Gruß aus dem medialen Rotlichtmilieu!

Deine

Christina, Denis & Stubbs

 

[email protected]

Liebe Kerstin,

 

wir haben ein wenig nachgedacht. Alle Autoren, so John Updike, beuten im Steinbruch ihrer Erinnerungen die Goldadern der eigenen Biografie aus. Die einen verbrämen das besser, die anderen schlechter. Falsche Fährten zu legen und Spuren zu verwischen gehört seit je zum Repertoire guter Schriftsteller, die ja nach Joseph Conrad immer auch zugleich Geheimagenten sind. Zu unseren Leben zählt seit zehn Jahren das Zusammensein mit Stubbs, und das hat uns existenziell verändert, emotional bereichert und unsere Augen und Ohren geöffnet für so einiges, was bislang in unserem Dasein eher brach lag. Unseren Bezug zur Natur zum Beispiel. Unsere Art, miteinander und mit unserer Umwelt umzugehen. Nicht zuletzt unser Wertesystem – wir haben zum Beispiel das breite Themenfeld »Fressen!« lange unglaublich unterschätzt! – und unsere Sicht auf die Welt. Es hat uns in vielerlei Hinsicht zugänglicher gemacht.

Stubbs ist unter anderem das, was man in der Chemie einen Katalysator nennt: Er provoziert Reaktionen. Wer unter Einsamkeit leidet, sollte sich unbedingt einen Hund anschaffen. Allerdings nicht, weil der Hund selbst die Einsamkeit vertreibt. Sondern weil ein Hund einen in Kontakt mit Menschen bringt. Wir haben beide zum Glück keinerlei Grund zur Klage, was mangelnde öffentliche Beachtung anlangt. Aber nur einmal in unserem Leben durften wir uns fühlen wie Greta Thunberg oder George Clooney, Barack und Michelle Obama, der Papst oder Leonardo DiCaprio. Nämlich als wir mit dem zwölf Wochen alten Welpen Stubbs durch die Kölner Südstadt spazierten. Jeder Mensch sollte einmal im Leben erleben, wie die Gesichtszüge entgegenkommender Passanten vor Verzückung entgleisen. So müssen Marilyn Monroe, Elvis oder die Beatles durchs Leben gegangen sein. Ja, es gibt den Zustand der Ekstase. Und ja, es gibt noch einen Zustand darüber hinaus. Noch viel besser ist es, Ekstase in anderen auszulösen. Unvergessen allerdings auch Stubbs’ Zusammentreffen mit Henryk M. Broder, dem beim Anblick unseres Hundes spontan der Satz entfuhr: »Kann er denn schon Heil Hitler?« Stubbs verrät einem recht schnell, wie ein Mensch tickt.

Von alldem möchten wir erzählen. Aber, liebe Kerstin, will das auch jemand lesen? Ist es nicht in Wahrheit vielmehr so, dass Hundebücher keinen hinterm Ofen hervorlocken, weil der Markt nun mal Katzenbücher liebt? Allein, auf Katzenbüchern scheint ein besonderer literarischer Fluch zu lasten. Hape Kerkeling ist zur »Katzenreligion« konvertiert. Elke Heidenreich hat sich mit ihrem Büchlein über den schwarzen Kater Nero Corleone ein schönes Heim in Marienburg erschrieben; was von ihrer katzenverrückten Leserschaft aber kaum jemand weiß: In Wahrheit besitzt sie einen charakterstarken schwarzen Mops namens Vito, den wir öfters im Park treffen. Das Frankfurter Verlegerpaar Klaus und Ida Schöffling subventioniert mit Katzenkalendern seit Jahrzehnten sein literarisches Programm. Akif Pirinçci hat sich mit seinen »Felidae«-Katzenkrimis um sein letztes Quäntchen Verstand geschrieben und ist in die Wahnsinnszone des Völkischen abgedriftet, während Rita Mae Brown mit dem gehorteten Zaster für ihre angeblich mit Sneaky Pie Brown verfassten Katzen-Schmöker bestimmt schon mehrere Geldspeicher von Dagobert Duck’schem Format gefüllt hat. Wahrscheinlich haben Katzenliebhaber einfach mehr Zeit zum Lesen. Hundefreunde müssen schließlich Gassi gehen.

Apropos: Was habt Ihr solventen Auflagenmilliardäre von Kiepenheuer & Witsch Euch denn als Vorschuss für so ein Hundebuch vorgestellt?

 

Es grüßen Deine ebenso neugierigen wie auf Eure XXXL-Spendierhosen setzenden

 

Christina, Denis & Stubbs

 

[email protected]

Liebe Kerstin,

 

hossa! Niemand soll uns nachsagen, gute Argumente stießen bei uns auf taube Ohren. Und Ihr Auflagenhexer vom Riesenrubel-Verlag habt wirklich ganz ausgezeichnete Argumente. Hammer!

Ein Hundebuch also. Aber es ist ja nicht so, als ob es das in der Weltliteratur nicht schon das eine oder andere Mal gegeben hätte. Im Gegenteil! Seit Argos vor Freude über das Wiedersehen mit seinem seit zwanzig Jahren vermissten Herrchen Odysseus tot umfiel, wimmelt es in der Literaturgeschichte von Hunden. Zum Glück auch von Hundegeschichten mit einem befriedigenderen Ausgang als die »Odyssee«. Denn was immer man vom Schicksal Odysseus’ hält, das Schicksal von Argos erscheint uns nicht sonderlich beneidenswert: Wer wartet schon gern 20 Jahre auf sein Herrchen?

Den schönsten Beleg dafür, dass nicht die Kunst das Leben imitiert, sondern genau andersherum oftmals das Leben die Kunst, und die Wirklichkeit bloß eine schwache Kopie unserer großen Erzählungen ist, haben wir ausgerechnet in einer Kölner Hundeschule mit eigenen Ohren gehört. Dort trafen wir auf ein bildungsbeflissenes Boxer-Herrchen, das offenbar aus Begeisterung für Thomas Manns Novelle »Herr und Hund« seinen Hund Bauschan nannte – was ihm auf dem Übungsplatz statt des erhofften Reputationsgewinns allerdings lediglich die trockene Nachfrage eintrug, wie um Himmels willen er denn bloß auf die sagenhafte Schnapsidee verfallen sei, sein armes Tier »Bauschaum« zu nennen? Hundenamen sind ein Kapitel für sich und uns folglich auch eingehenderer Betrachtung wert.

In der Antike haben die Hunde sogar einer eigenen Denkschule in der Philosophie ihren Namen geliehen: den Kynikern. Mit unserem heutigen Verständnis des Worts Zynismus haben die Kyniker allerdings nichts zu tun. Ihnen ging es vielmehr um die Maximierung unseres Glücks durch die Minimierung unserer Ansprüche. Der Urvater der Kyniker, der Sokrates-Schüler Antisthenes, lehrte: »Armut und Reichtum wohnen nicht im Hause, sondern im Herzen der Menschen. Man darf wohl die Lust erstreben, die hinter der Anstrengung liegt, aber nicht die, welche davor liegt. Ich besitze nichts, damit ich nicht besessen werde.« Ihren Namen bekamen die Kyniker dank eines Schülers von Antisthenes, Diogenes von Sinope, der seine Bedürfnisreduzierung nun wirklich ins Extrem trieb und sich selbst »ó κύων«, Kynos, »den Hund« genannt hat. Diogenes trennte sich von jeglichem Besitz, der ihm bloßer Ballast schien, und schlief gelegentlich in einem Vorratsgefäß, was ihm den Spitznamen eintrug, unter dem er später populär wurde: »Diogenes in der Tonne«. Es war eben jener Diogenes, der bei einer kurzen Begegnung mit Alexander dem Großen, als dieser ihm großmütig einen Wunsch gewährte, gesagt haben soll: »Geh mir aus der Sonne.«

Auf solche Geschichten möchten wir nicht verzichten. Wir wollen deshalb nicht nur unsere Geschichte mit Stubbs erzählen, sondern auch ein wenig von der Geschichte des Hundes und dessen Spuren in der Literatur. Nabelschau ist nämlich so gar nicht die Sache von Stubbs. Was uns zum ersten Mal auf die Idee gebracht hat, Stubbs zu fragen, wo eigentlich sein Nabel ist. Ohne Recherche, dämmert uns dabei, wird dieses Buch nicht geschrieben werden können. Aber gut so: Neugier ist schließlich das, was uns vielleicht am meisten mit Stubbs verbindet. Zugegeben – Faulheit auch. Wir haben uns also belehrt: Natürlich haben Hunde als Säugetiere einen Nabel. Nur beißt die Hundemutter bei der Geburt der Welpen die Nabelschnur in der Regel so säuberlich ab, dass der Hundenabel unter dem Bauchfell kaum zu erkennen ist. Wahrscheinlich kommen deshalb Hunde viel seltener als Menschen auf die Idee, dass sie der Nabel der Welt sind.

Nun also frisch ans Werk. Wie hieß es früher in der DDR so schön: »Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden!«

Wat macht de Maloche?

 

Deine

Christina, Denis & Stubbs

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 Hundepunkte oder: Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten

»Im Anfang war die Erde wüst und leer, und wir lebten ohne Hund. Das war grundverkehrt.« und wir ahnten es von Beginn an. Uns hatte immer der Groucho Marx zugeschriebene Spruch eingeleuchtet: »Outside of a dog, a book is a man’s best friend. Inside of a dog, it’s too dark to read.« Wir wünschten uns einen Hund. Wir vermissten einen Hund. Wir sehnten uns nach einem Hund. Wir wollten einen Hund. Uns fehlte ein Hund vielleicht in der Weise, wie manchen Menschen der Antike Atlantis fehlte: Wir ließen uns träumen, dass es einen Hund für uns geben musste. Nur machten wir uns die Sache mit dem Hund wahrlich nicht leicht. Stattdessen machten wir uns Gedanken. Zu viele und zu unproduktive Gedanken, erscheint uns im Nachhinein.

Ganz abgesehen von der Angst vor Überforderung, erwachsend aus unseren offenliegenden Charakterschwächen, unserer ins Auge springenden Inkompetenz und schlagenden Unwissenheit im Umgang mit Hunden, beschäftigte uns vor allem eine Überlegung: War es denn nicht reine Tierquälerei, Hunde in der Stadt zu halten? Müsste man dazu nicht mit viel Platz auf dem Land wohnen? Wo man dem Hund nicht nur freien Auslauf über Flur und Feld, Wald und Wiesen bieten konnte, sondern auch Kontakte zu ungezähmten Mitgeschöpfen wie Fuchs, Dachs und Reh, Hase, Waschbär oder Wildschwein – zumindest per pee mail? Waren all die durchgeknallten Fußhupen, neurotischen Tölen und giftigen Kläffer, denen wir in unserer Nachbarschaft begegneten, nicht das Produkt fehlgeleiteter Tierliebe beengt lebender Städter, die vor lauter »Dogs«- und »Landlust«-Lektüre gar nicht an die wahren Bedürfnisse ihrer Sozialpartner dachten? Und überhaupt: Von welcher Geisteshaltung zeugte es eigentlich, Geld für einen Hund auszugeben, statt damit etwas für Menschen zu tun, die in anderen Teilen der Welt in Hunger, Not, Unterdrückung, Ausbeutung und Elend leben? Aber das alles gibt es auch hierzulande. Allein in Köln leben an die sechstausend Menschen auf der Straße, viele davon mit Hund. Und Obdachlose mit Hund werden oft doppelt ausgegrenzt – die wenigen Unterkunftsangebote verbieten meist Tiere, sodass viele lieber auf ein warmes Bett verzichten, als ihre Weggefährten allein auf der Straße zu lassen. Seit ich als Kind Henri Malots »Heimatlos« verschlungen habe, einen echten tearjerker über ein Pariser Findelkind und einen alten Schauspieler, die mit ihren drei Hunden und einem Affen im Frankreich des 19. Jahrhunderts Straßentheater spielen, komme ich selten an Obdachlosen mit Hund vorbei, ohne im Vorbeigehen ein paar Euros zu spenden. Entlastungsgesten von Menschen mit Luxussorgen, gewiss. Doch verbarg sich hinter unserer Liebe zum Hund nicht schnöder Egoismus?

Man muss nicht unbedingt ein deutscher Literaturkritiker sein, um aus all diesen Einwänden das alte Argument von Mephistopheles herauszuhören: »Drum besser wär’s, dass nichts entstünde.« Ein Hund ist der beste Konter gegen und der beste Schutz vor Nihilismus, den wir kennen. Damit befinden wir uns in recht guter Gesellschaft. Oft haben wir über eine Geschichte Franz Kafkas gestritten. Zu seinen lustigsten, aber auch unauslotbarsten Texten zählt die kurz vor seinem Tod entstandene lange Erzählung »Forschungen eines Hundes«. Man hat sie häufig gedeutet als Parabel auf das Leben der Juden in den europäischen Gesellschaften; auf den Preis der Assimilation; auch auf die Lächerlichkeit menschlichen Erkenntnisstrebens. Restlos überzeugt haben uns diese Lesarten nie. In jedem Fall ist es ein Text, der an die Letzten Fragen rührt: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Kafka erzählt von einem alten Hund, der sich Rechenschaft darüber ablegt, was er eigentlich weiß von der Welt. Er beschreitet alle ihm offenstehenden Erkenntniswege der Wissenschaft, der Kunst und auch der Religion, beobachtet, forscht und denkt, weil er um jeden Preis herausfinden will, wie er seine ihn bedrückende Isolation überwinden und zu einem geglückten Leben finden kann. Doch vergebens: »Immer mehr in letzter Zeit überdenke ich mein Leben, suche den entscheidenden, alles verschuldenden Fehler, den ich vielleicht begangen habe, und kann ihn nicht finden. Und ich muss ihn doch begangen haben, denn hätte ich ihn nicht begangen und hätte trotzdem durch die redliche Arbeit eines langen Lebens das, was ich wollte, nicht erreicht, so wäre bewiesen, dass das, was ich wollte, unmöglich war und völlige Hoffnungslosigkeit würde daraus folgen.« Die Pointe der »Forschungen eines Hundes« liegt unserer Ansicht nach darin, dass dieser nach Glück und Erkenntnis strebende Hund den Menschen vollkommen übersieht – ja buchstäblich ausblendet: »Mich kümmerten nur die Hunde, gar nichts sonst. Denn was gibt es außer den Hunden? Wen kann man sonst anrufen in der weiten leeren Welt? Alles Wissen, die Gesamtheit aller Fragen und aller Antworten ist in den Hunden enthalten.« Für Kafkas Hund bleibt der Mensch so unsichtbar wie Harry Potter unter Ignotus Peverells Tarnumhang. Vielleicht, so überlegten wir, bestand ja, umgekehrt geschlossen, eine Möglichkeit, Kafkas »völlige Hoffnungslosigkeit« zu umgehen, darin, unsere transzendente Blindheit endlich zu überwinden und unsere Augen für einen Hund zu öffnen? Zugegeben, das klingt kompliziert. Heißt aber nichts anderes, als dass wir uns dachten, wir sollten uns am Riemen reißen und endlich den Platz für einen Hund in unserem Leben schaffen.

Schließlich waren wir, Kinder der Nachkriegs-Bundesrepublik und damit des Kalten Krieges, doch mit einem regelrechten Hunde-Konditionierungsprogramm aufgewachsen. Der Kommunismus als Ideologie war für uns in dem Augenblick diskreditiert, als wir mitbekamen, dass Laika an Bord von Sputnik 2 1957 ohne Rückkehrmöglichkeit ins All geschossen worden war. Ein System, das so etwas macht, ist ein Schweinesystem, punktum! Da bedurfte es der späteren Heimleuchtungen von Solschenizyn und Co. schon fast nicht mehr. Und daran änderten auch Belka und Strelka nichts, die drei Jahre danach in Sputnik 5 die Erde umkreisten und denen das sowjetische Raumfahrtprogramm ermöglichte, lebendig zur Erde zurückzukehren. Nikita Chruschtschow schenkte 1961 sogar einen von Strelkas Welpen bei einem USA-Besuch den Kennedys. Als diese Hündin sich mit dem Welsh Terrier Charlie paarte, dem damaligen First Dog im Weißen Haus, nannte John F. Kennedy diese Welpen »Pupniks« – eine wortwitzige Mischung aus Sputnik und »puppy«, dem englischen Wort für Welpe.

Einer der klügsten Sätze, die ich je von einem Interviewpartner gehört habe, stammt von dem kanadischen Autor und Künstler Douglas Coupland, der 1961 in der Nähe von Baden-Baden zur Welt kam und mir einmal sagte: Wo man in der Generation der Babyboomer im Westen seine Kindheit verbracht habe, ob in den USA, in Europa, Australien oder in Kanada, sei eigentlich egal, die Fernsehserien wie »Flipper« oder »Raumschiff Enterprise« seien doch überall dieselben gewesen. Da ist was dran. Für unsere Prägung auf Hunde während unserer Kindheiten waren jedenfalls die fiktiven Hunde der Popkultur, also Pluto, Idefix, Snoopy und Wum, Lassie, Struppi, der rammdösige Rantanplan aus »Lucky Luke« oder Rin Tin Tin mindestens so wichtig wie die realen Hunde unserer Nachbarschaften und die Hunde in den Medien wie die Corgies der Queen oder Helmut Schmidts Jaspis. Nicht zu vergessen die historischen Hunde. Trotz des damals noch nicht existierenden Internets besaßen sie in den Erzählungen, mit denen wir aufwuchsen, eine eigentümliche Geisterpräsenz. Da waren die Windhunde des Alten Fritz, die berühmten Spitze des württembergischen Königs Wilhelm II., die schon erwähnte Laika oder auch Hitlers Schäferhund Blondi, der ein eigenes Kapitel wert wäre. Das hat allerdings schon Günter Grass in seinem Roman »Hundejahre« geschrieben.

Warum will man sein Leben miteinander und dann auch noch mit einem Hund teilen? Die Frage ist falsch gestellt, möchten wir instinktiv darauf antworten. Wie jeder echte Beruf eben kein Job ist, ist auch ein Hund keine Option unter vielen, sondern eine Berufung. Die Frage lautet also nicht: Melde ich mich zur Laufgruppe an, werde ich Mitglied in einem Fitnesscenter oder besorge ich mir einen Labrador? Ein Hund ist nicht Teil des Fun-Angebots unserer Freizeitgesellschaft. Ein Hund ist eine Aufgabe, ein Schicksal. Er wartet darauf, dass wir ihm entsprechen. Der viel geliebte und 2006 viel zu früh verstorbene deutsche Dichter Robert Gernhardt brachte das in seinem Gedicht »Tier und Mensch« einmal wunderbar auf den Punkt:

»Tier und Mensch

So viele Jahre ohne Tier schon:

Kein Klagen an der Tür, kein Grüßen

Kein sehnsuchtsfeuchter Blick, kein Drängen

Kein Streichen um das Bein, kein Schnurren

Kein selbstvergeßnes Mahl, kein Lecken

kein traumverlornes Ruhn, kein Schlummern –

So viele Jahre schon gar kein richtiger Mensch mehr.«

Auch wir fühlten uns als Menschen ohne Hund instinktiv unvollständig und defizitär, litten unter einem inneren Mangel, weil uns ein tierisches Gegenüber fehlte. Wir vermissten einen Hund, weil erst der Hund uns in unserem Menschsein definiert, uns aufzeigt, was uns ausmacht und unterscheidet. Von mangelnden Anlässen zu Spaziergängen mal ganz abgesehen … Dass die moderne Evolutionsbiologe die Geschichte des Homo sapiens sapiens teilweise auch so interpretiert, dass wir erst durch den zum Hund gewordenen Wolf selbst zu echten Menschen wurden, ahnten wir damals noch nicht. Der Umgang mit dem Wolf machte unsere Vorfahren zu kooperationsbereiteren, ihre Aggressivität besser im Griff habenden, mit einem Wort zu netteren Menschen. Zu dieser Zeit kannten wir auch noch nicht das Werk des US-amerikanischen Biologen E.O. Wilson, der den Begriff der Biodiversität prägte und uns Menschen als Spezies über unsere Liebe zum Tier definiert. Tatsächlich ist diese Fähigkeit, Dreiecksbeziehungen zwischen uns und anderen Tierarten aufzubauen, etwas dem Menschen Einzigartiges – und etwas, das uns mindestens so guttut wie dem Tier.

So denken natürlich keineswegs alle Menschen auf der Welt, noch nicht mal im hundeliebenden Deutschland, und erst recht nicht alle deutschen Dichter. Der Schriftsteller und langjährige Hanser-Verleger Michael Krüger vertrat etwa in einem Interview im Frühjahr 2020 die genaue Gegenposition: »Es gibt unterschiedliche Typologien von Reaktionen auf die Welt«, so Krüger. »Die eine ist: immer höher, weiter, schneller. Nichts sei schöner als diese Welt, in der wir alle Chancen haben. Geld, Haus, Job, Aktien und Hund. Aber das sind äußerliche Dinge.« Nein, möchten Christina und ich da widersprechen. Ein Hund ist eben so gar keine Nebensache oder Äußerlichkeit. Ein Hund ist das Gegenteil von Geld, Haus, Job, Aktien. Ein Hund ist essenziell.

Aber die Wahrheit ist: Uns plagten in der Hundefrage Skrupel, vielerlei Skrupel. Ich bin mit einem Vater aufgewachsen, der von einem regelrechten Tierfimmel besessen war und sich gar nicht genug Pferde, Esel, Pfauen, Schafe und Ziegen anschaffen konnte – freilich ohne immer genau zu bedenken, ob er auch über ausreichend Geld, Platz und vor allem Freizeit verfügte, um sich um all das liebe Vieh zu kümmern. Stattdessen spannte er für derartige Knechtsarbeiten gern wehrlose Familienangehörige ein, die er ohnehin wie bessere Leibeigene behandelte und in denen er einen nie versiegenden Pool von gratis arbeitenden Handlangern und Hilfskräften sah, deren einziger Nachteil in ihrer erbärmlichen Qualifikation als Pfostenmacher, Zäuneflicker, Tierpfleger, Heuwender und Ausmister lag. Dass wir aufs schwäbische Land in ein gottverlassenes Kaff gezogen waren, lag im Grunde nur an diesen Gutsherrn- und Dr.-Doolittle-Allüren meines Vaters, der j.w.d. ein Stück Land mit einem Pferdestall gekauft hatte. Doch dann führte Willy Brandt auf dem Höhepunkt der Ölkrise im November 1973 den autofreien Sonntag ein. Pferde wollen aber auch sonntags fressen und saufen. Und dazu waren eben längere Autofahrten nötig – oder man zog sicherheitshalber lieber gleich aufs Land und baute ein Haus. Die Bauplätze waren schließlich unschlagbar billig. Kein Wunder, dass ich diese sagenhafte Ödnis, wo man nur dem Nichts beim Nichten zuschauen konnte, von Kindesbeinen an leidenschaftlich gehasst habe – und die blöden Viecher, die mir das eingebrockt hatten, gleich mit.

Ein Tier, das hatte mich meine Kindheit gelehrt, kann auch eine Fessel sein. Auch Christina war mit diesen Gedanken aufgewachsen, wenn auch unfreiwillig. Als kleines Mädchen in einer idyllisch an einem Kanal gelegenen norddeutschen Kleinstadt durfte sie noch gelegentlich auf dem Kutschbock des Milchmanns mitfahren, der täglich seine Runden durch die Wohnviertel drehte; das Gefühl, mit dem Zügel in der Hand ein Pferd zu kontrollieren, das gut zehn Mal so viel wog wie man selbst, bleibt unvergesslich. Christinas Herzenswunsch als Kind war denn auch ein Hund und ein Pferd, aber das scheiterte am gnadenlosen Pragmatismus ihrer Eltern, die sich ihre Freiheit in der Freizeit- und Urlaubsplanung von keinerlei Haustieren einschränken lassen wollten. Maximal erlaubt war die Betreuung des nachbarlichen Meerschweins während der Ferien, mehr war nicht drin. Später, als junge Frau, folgten einige Jahre als begeisterte Reiterin, wenn auch ohne eigenes Pferd. Aber der Traum vom Leben mit einem Hund blieb.

Wir waren Ende zwanzig und Mitte vierzig, und – so viel introspektive Einsicht immerhin besaßen wir – wie so viele Deutsche in unserem Alter bindungsscheu. So bindungsscheu, dass wir aus Prinzip so wenige Abonnements und Versicherungen wie möglich abschlossen, in keinen Verein und erst recht in keine Partei eintraten. Als fehlte in unserem molekularen Set-up das zum Aufbau von Bindungen entscheidende Valenzelektron. Muss ausgesprochen werden, dass wir über den Kauf einer Wohnung oder eines Hauses zwar gelegentlich nachdachten, die Idee aber angesichts der jahrzehntelangen damit verbundenen Verpflichtungen rasch wieder verwarfen? Ein Immobilienkredit erschien uns wie der Albatros aus Coleridges Rime of the Ancient Mariner – eine untilgbare Schuld, die wir uns definitiv nicht aufladen wollten. Nicht einmal zu heiraten wagten wir, obwohl wir schon jahrelang zusammenlebten. Gemeinsame Kinder, da waren wir uns von Beginn unseres Zusammenseins einig, gehörten aus vielerlei Gründen nicht zu unserer Lebensplanung. Und geschweige denn getrauten wir uns, einen Hund anzuschaffen. Uns störte schon dieses Wort: anschaffen. Die darin implizierte Verfügbarkeit über die vermeintliche Dingwelt war genau das, woran wir Anstoß nahmen. Ein Hund war eben kein Ding, das man sich anschaffte wie ein Auto oder einen neuen Fernseher. In unseren Ohren hatte das einen mehr als halbseidenen Beiklang. Anschaffen, das hörte sich wirklich übel nach Konsumismus und Schlimmerem an, nach der Sphäre, wo der Körper selbst zur Ware wird: nach Prostitution. Man schafft sich keinen Hund an. Genauso wenig wie einen Partner oder Kinder.

Apropos: »Ein Kind ist ein sehr schlechter Hundeersatz!« Wie oft haben wir uns mit diesem ebenso wahren wie witzigen Satz der blitzgescheiten Berliner Intellektuellen Katharina Rutschky verteidigt gegen den Vorwurf, unser Hund diene uns wohl als Ersatzkind. Wer in Deutschland auf Kinder verzichtet, dem wird gern Selbstsucht, verantwortungsloser Hedonismus und Sabotage am Projekt gesellschaftlicher Zukunft vorgehalten. Als wäre das Hauptproblem dieses Landes je gewesen, dass zu wenige mitgemacht hätten … Gern wird dann auch noch das Totschlagargument mit der Rente ausgepackt, deren Sicherung man durch den Kinderverzicht gefährde. Volkswirtschaftlich ist das zwar Unsinn – in westlichen Gesellschaften übersteigen die Kosten der staatlichen Leistungen für die Ausbildung und die Infrastruktur die zukünftigen Steuererträge der neuen Staatsbürger. Auch dass der naheliegendste und nachhaltigste Beitrag jedes Einzelnen im Kampf gegen den Klimawandel der Verzicht auf eigene Nachkommen ist, hört man heute selbst in woken Kreisen selten. Doch die über Jahrtausende praktizierte Gehirnwäsche von Männern auf der Suche nach immer mehr Stammhaltern, Monarchen auf der Suche nach immer mehr Untertanen, Kirchen auf der Suche nach immer mehr Gläubigen, Generälen auf der Suche nach immer mehr Rekruten und Firmen auf der Suche nach immer mehr Kunden ist nicht so leicht auszubügeln. Insbesondere viele Gläubige, ganz unabhängig von ihrer Religion, tun sich schwer mit Menschen, die ihr Leben mit einem Tier teilen wollen – allzu deutlich wird dadurch an der vermeintlich gottgewollten Vorrangstellung des Menschen gekratzt. Es verblüfft uns bis heute immer wieder, wie schnell solche Diskussionen über Mensch und Tier hitzig werden und so manche Charaktermaske fällt. Insbesondere unter deutschsprachigen Intellektuellen gibt es nicht wenige, die die Sehnsucht nach dem Hund wundersam zu interpretieren vermögen. Und zwar ins genaue Gegenteil. Die dieser Argumentation zugrunde liegende Formel ist immer dieselbe. »Einen Hund möchtest du? Echt? Warum bekennst du dich nicht einfach zu deinem wahren Wunsch nach X, Y oder Z!« Wobei die Platzhalter für Kinder, Dominanz, Liebe, Natursehnsucht oder was auch immer stehen können. Wer als mittelaltes Paar für einen Hund votieren möchte, sollte sich ein strapazierfähiges Nervenkostüm zulegen. Wir jedenfalls begegnen derartiger Ablehnung so oft, dass wir uns gelegentlich nach etwas heftigeren Diskussionen beim Abendbrot selbstkritisch befragen mussten: Hatten wir unser Lebensmodell anderen Paaren aufzudrängen versucht? Wir verspürten damals und verspüren bis heute keinerlei Missionierungsdrang. Aber die Frage nach dem Hund dient oft als Katalysator und führt auf sprichwörtlich weite Felder, auf denen ganz andere Fragen diskutiert werden: Fragen nach dem, was einem wirklich wichtig ist im Leben. Wo man Prioritäten setzt. Nach Grundwerten, Prinzipien und Überzeugungen. Nicht zuletzt zu Fragen, die Philosophie, Religion, Ethik berühren. Kein Wunder, dass da manchmal die Fetzen fliegen und man sich am Ende – anknurrt wie übel gelaunte Hunde.

Dabei plagten uns doch schon selbst genug Bedenken. Im Erfinden von Einwänden waren wir ganz groß: Hatten wir denn überhaupt die Zeit für so einen betreuungsintensiven und anspruchsvollen Mitbewohner? Was, wenn unsere Liebe zum Hund rasch wieder erkalten würde, kaum wäre das neue Familienmitglied angekommen? Oder wir seinen Bedürfnissen nicht entsprächen? Würde ein Hund uns nicht schon bald schlicht überfordern? Muteten wir uns mit einem Hund nicht zu viel zu – blieben doch auch so schon in unserem Alltag mit zwei heiß geliebten, aber auch anspruchsvollen Berufen kaum Energie und Ressourcen übrig? Damals war Christina noch Controllerin bei einem öffentlich-rechtlichen Sender, später wechselte sie als Redakteurin ins Programm; ich selbst moderierte zwei Fernsehsendungen über neue Bücher und arbeitete als Literaturkritiker beim Radio.

Doch unsere Sehnsucht nach einem Hund ließ sich von solch rationalen Erwägungen und Einwänden nicht stillen. Schließlich führten wir uns selbst an der Nase herum, indem wir ein vertracktes System von »Hundepunkten« erfanden, das uns über fast zwei Jahre das gute Gefühl vermittelte, zumindest auf dem Weg zu einem Hund zu sein. Kompliziert war das, was wir mit den Hundepunkten ausgeklügelt hatten, eigentlich nicht. Im Gegenteil: peinlicherweise folgte unser System eher der verqueren Logik von »Tutti Frutti«, jener Nonsense-Show mit Hugo Egon Balder, die den verklemmten wiedervereinigten Deutschen Anfang der 90er Softporno im Free-TV nach Hause lieferte. Vermutlich konnte sich noch nicht mal der Moderator der Sendung einen Reim darauf machen, für was in dieser vermeintlichen Spielshow Punkte vergeben wurden – das Dekor einer Quizsendung war lediglich Vorwand für die voyeuristische Lust an den mehr als nur halb nackten Tänzerinnen. Und so ähnlich funktionierte auch unser System der Hundepunkte. Punkte ließen sich durch partnerschaftliches Wohlverhalten erwerben: endlich den auf die lange Bank geschobenen Verwandtenbrief schreiben, den Müll runterbringen, die blöde Geschichte mit dem Einwohnermeldeamt regeln – für all so was konnte man vom Partner einen Hundepunkt erhalten. Das Jiddische kennt den schönen Begriff der Mizwa für eine Wohltat, die man seinem Nächsten angedeihen lässt. Einen Hundepunkt erwarb man durch kleine Mizwas wie Flaschen wegbringen oder Altpapier entsorgen, größere Mizwas wie Steuererklärung vorbereiten, Keller entrümpeln oder das Fertigstellen eines längst überfälligen Beitrags konnten auch mal zum Erwerb von fünf oder gar zehn Hundepunkten auf einmal führen. Wer zuerst tausend Punkte auf seinem Konto hatte, so definierten wir das Ziel unseres Spiels, sollte einen Hund bekommen. Klingt das, im Nachhinein betrachtet, nicht verdammt nach einem Bausparkassenplan der Liebe? Und ob! Natürlich konnte sich so etwas nur ausdenken, wer seinen Adam Smith ein wenig zu eifrig studiert und die protestantische Leistungsethik vielleicht einen klitzekleinen Tick zu sehr verinnerlicht hatte. Weder Christina noch ich würden auf dem Erkenntnisstand unserer heutigen Erfahrung je wieder so lange zögern und zaudern. Andererseits hatten wir, auch im Rückblick betrachtet, doch sehr triftige Gründe für unser Abwarten. Und sahen wir in unserem Bekanntenkreis ringsum nicht Beispiele sonder Zahl von Menschen, die sich blindlings irgendeiner Leidenschaft ergeben und damit übel Schiffbruch erlitten hatten? Das war verblüffenderweise gar nicht so oft der neue Mann oder die neue Frau. Weit häufiger steckte ganz anderes dahinter: Träume von Selbstständigkeit. Schlecht durchdachte unternehmerische Visionen. Fantasien von Autonomie. Auch Erschrecken über den eigenen körperlichen Verfall und gute Vorsätze zur Fitness-Ertüchtigung, die sich mit grausamer Folgerichtigkeit als Debakel erwiesen. Die Weltumseglung oder die Austernbar, der Ultra-Marathon oder die Galerie für chinesische Kunst, der Food-Truck, die Comic-Buchhandlung, die Craft-Beer-Brauerei … waren sie nicht allesamt Ausdrucksformen von Midlife-Krisen? Genauso wie unser Traum vom Hund?

Wir wohnten im zweiten Stock einer Mietskaserne aus den 1920er-Jahren in der Kölner Südstadt direkt am Chlodwigplatz. Das ist jener magische Ort der Millionenstadt am Rhein, wo traditionell an Karneval der Rosenmontagszug startet oder endet. Wo die kölsche Seele am kölschesten ist, denn so, wie ein waschechter Cockney den Glockenklang von Londons St. Mary-le-Bow bei seiner Geburt gehört haben muss, so definieren sich Hardcore-Kölner darüber, in Hörweite der Glocken der Severinskirche geboren zu sein. Unser »abgewaschener«, also leider von seinem einstigen Jugendstilputz an der Fassade befreite 20er-Jahre-Bau hatte zwar den Zweiten Weltkrieg überstanden, war aber alles andere als ein Hundeparadies. Der Innenhof zwischen Vorder- und Hinterhaus besaß den Charme des Todesstreifens an der DDR-Grenze, der Blick aus dem Schlafzimmer ging auf eine Brandmauer, die tiefste Tristesse ausstrahlte.

Wo heute das Severinstor steht, erhob sich vor rund zweitausend Jahren zur Römerzeit das fast 15 Meter hohe Grabmal des Poblicius. Dieser Poblicius war keineswegs, wie man angesichts der Pracht seines Monuments und der aufwendigen Gestaltung mit fast lebensgroßen Figuren denken sollte, ein hoher Offizier. Poblicius war vielmehr ein aus dem Südwesten Italiens stammender einfacher Legionär der V. Legion, der nach seiner zwanzigjährigen Dienstzeit auf die offenbar schon damals ausgeprägte Poppe-kaate-danze-Mentalität der Bewohner Kölns setzte, das unter den Römern noch Oppidum Ubiorum hieß. Als Veranstalter von Gladiatorenspielen machte er hier binnen relativ kurzer Zeit ein Vermögen. Wir haben uns diesen Poblicius immer ein wenig wie Poldi vorgestellt, jenen dauergrinsenden geschäftstüchtigen Ex-FC-Fußballer, dessen Dönerbuden unter anderem am Chlodwigplatz als modernes Ewiges Licht zusammen mit unzähligen anderen Fast-Food-Läden die Luft mit ihren grauslichen Fettmiasmen verpesten. Die Entdeckung und Bergung des Grabmals des Poblicius durch zwei archäologiebegeisterte Schüler in den 60er-Jahren ist eine irre Geschichte, die in mehreren Büchern und Filmen erzählt wurde – und wahrlich kein Ruhmesblatt in den Annalen der Stadt Köln, die damals wie heute ein bemerkenswert laxes und lustloses Verhältnis im Umgang mit ihrer Vergangenheit an den Tag legt. Während der Tunnelarbeiten zu Beginn des Jahrtausends für die Kölner U-Bahn, mit der zu fahren angesichts der Korruption beim Bau uns nicht weniger lebensgefährlich erscheint als der Aufenthalt in einer augusteischen Gladiatorenarena, wurden direkt vor unserer Haustür am Chlodwigplatz zwei prachtvolle Glasgefäße mit den Leichenbränden römischer Offiziere gefunden. Inzwischen zählen die leicht grünlichen Gläser zu den Prunkstücken des Römisch-Germanischen Museums direkt neben dem Dom – für mich bis heute ein Sehnsuchtsort. Die erste längere Eisenbahnreise, die ich als Kind allein unternahm, führte mich Mitte der 70er-Jahre in dieses damals gerade in seinen brandneuen Neubau gezogene Museum direkt am Rhein. Auch die alten Römer hielten neben Wachhunden, an die das berühmte Cave-canem-Mosaik aus Pompeji erinnert, schon Schoßhunde, wie der Fund eines über 1700 Jahre alten Hundeskeletts auf dem Gelände des heutigen Dom-Hotels gegenüber des Römisch-Germanischen Museums belegt. Zur römischen Kaiserzeit war es üblich, die Asche und Knochenüberbleibsel der verbrannten Leiche mit den Resten des Leichenschmauses zusammen zu bestatten. Diese Praxis gibt Auskunft darüber, dass die Römer in Köln damals frische Austern schätzten – deshalb sind sie auch auf dem berühmten Dionysos-Mosaik abgebildet, das 1941 bei Ausschachtungen für einen Luftschutzbunker auf der Südseite des Kölner Doms entdeckt wurde und heute das Prunkstück des Römisch-Germanischen Museums bildet. Die lustigste Darstellung des sehr figurenreichen Mosaiks war für mich immer der Hund ganz am Rand, der auf die Knochen des Banketts zu warten scheint. Bisweilen überkommt mich der Verdacht, die Austern der Römer könnten frischer gewesen sein als die, die der Kölner Fischhandel – ein anderes Wort für Mafia – im Angebot hat. Aber sei dem wie es sei, die Kölner Südstadt war schon damals und ist noch heute ein ganz besonderer Ort. Am Chlodwigplatz fand 1992 das berühmte Konzert statt, bei dem sich hunderttausend Menschen unter dem Motto »Arsch huh – Zäng ussenander« zu einem von Kölner Musikern organisierten Protest gegen rechte Gewalt versammelten. Viele Jahre liebte ich diesen Tag und Nacht quirlig und bunt belebten Platz, der beim Blick aus den Fenstern unserer Wohnung wie das Bühnenbild für Peter Handkes »Die Stunde da wir nichts voneinander wußten« wirkte – das Theaterstück, in dem sich der Großmeister der Sprache seiner größten Stärke freiwillig begibt und zwei Stunden lang Menschen vollkommen stumm, buchstäblich ohne Worte, einen Platz überqueren lässt – und dabei dennoch eine berührende Geschichte erzählt. An solchen Geschichten aus dem Leben einer Großstadt konnte man am Chlodwigplatz rund um die Uhr teilhaben, ohne sich je an ihnen sattzusehen. Ich habe es vom ersten Moment geliebt. Bis ich es zu hassen lernte.

Ein Veedel wie die Südstadt, bundesweit bekannt durch prominente Bewohner wie Heinrich Böll und Trude Herr, Dieter Wellershoff, Wolfgang Niedecken von BAP oder Frank Schätzing, hat eine eigene Seele. Aber Hundefreundlichkeit zählte nicht zu den hervorstechendsten Eigenschaften dieser Südstadt-Seele – dazu liegen auf den spärlichen Grünstreifen, Gehwegen und Rinnsteinen viel zu viele Flaschenscherben, Plastiktüten, Dosen, Kaugummis, Eiswaffeln und Gyros- und Döner-Überbleibsel herum. Das, was der Kölner driss nennt: Müll.

Natürlich auch Hundekot. Wie oft sind Christina oder ich auf unseren Gassirunden bis heute fassungslos, wenn wir kapitale Hunde beträchtliche Haufen hinterlassen sehen, ohne dass ihre Halterinnen und Halter irgendwelche Anstalten machen, ein Plastiktütchen aus der Tasche zu ziehen und die anstößige Hinterlassenschaft aufzusammeln. Ohne mit der Wimper zu zucken oder irgendwelche Anzeichen von Schuldbewusstsein wird einfach weitergegangen. Es müssen dieselben Menschen sein, die nichts dabei finden, ihre ausrangierten Kühlschränke und Waschmaschinen im Wald oder auf freiem Feld abzuladen.

Kölner Südstadt: Einmal im Jahr wird an Weiberfastnacht zum Start des legendären Kneipenkarnevals an der Severinstorburg das herzzerreißend romantische Jan-un-Griet-Spiel am Chlodwigplatz aufgeführt. Dann dringt die unbändige Ich-ben-ne-Räuber-Fröhlichkeit der dicht an dicht stehenden Kampfschunkler aus den Schankräumen bis auf die Straßen. Aber an den 364 anderen Tagen im Jahr behalten die Unfähigkeit der Stadtverwaltung, ein starker architektonischer Wille zur Hässlichkeit und die wohlstandsverwahrloste Schlamperei ihrer Bewohner die Oberhand. Unvergessen der Tag, an dem wir erwachten, um ein neu errichtetes Stehpissoir vor unserer Haustür vorzufinden. Angeblich hatten sich die Fahrer des benachbarten Taxistands die Errichtung eines solchen schon seit Jahren sehnlichst gewünscht. Bis dahin hatten wir in unserer Naivität Stehpissoirs offen gestanden für ein skurriles Relikt aus dem 19. Jahrhundert gehalten. Aber da hatten wir die Rechnung ohne die Stadt Köln gemacht. Erst wer beim morgendlichen Einkauf über den Chlodwigplatz flaniert und dabei durch die großzügig bemessenen Seitenritzen des Stehpissoirs erwachsene Männer vergnügt ihr Wasser abschlagen sieht, weiß, wie derb und sinnenfroh das Leben vergangener Jahrhunderte sein konnte. Es ist keineswegs das einzige historische Déjà-vu-Erlebnis, das die Verwaltung dieser Stadt ihren Bewohnern auf Schritt und Tritt ermöglicht. Seither rechnen wir in Köln täglich mit der Wiedereinführung von Pestkarren, der Rückkehr mittelalterlicher Badehäuser oder dem Aufstellen von Prangern. Auch ans Wiedereröffnen von Schandackern für Selbstmörder wäre zu denken. Doch was, fragte ich mich nach der Aufstellung des Stehpissoirs lange, machen eigentlich die Taxifahrerinnen? Bis heute verfluche ich den Tag, der mir darauf Antwort gab. Denn seit jenem Morgen, an dem ich gerade aus der Haustür trat, weiß ich, dass auch eine Frau im Stehen eine Hauswand anpissen kann … Übung ist alles! Manche Arten von Wissen stimmen eher traurig.

Mit unserem seit gefühlten Ewigkeiten aufgeschobenen Wunsch nach einem Hund kamen wir uns selbst aber immer mehr vor wie Jan und Griet. Das auf eine Sage aus dem Dreißigjährigen Krieg zurückgehende historische Spiel erzählt von einem Reitknecht aus Köln, der sich in eine schöne Obsthändlerin verliebt. Die Maid ist sich aber für einen einfachen Knecht zu schade, sie sehnt sich nach sozialem Aufstieg, den ihr dieser unbedeutende Jan anscheinend nicht bieten kann. Doch als viele Jahre später der einstige Knecht Jan, im Dreißigjährigen Krieg zum lorbeerbekränzten Reitergeneral avanciert, seinen triumphalen Einzug in Köln hält, trifft er seine nach wie vor als Obstverkäuferin arbeitende Griet wieder. »Griet, wer et hätt jedonn!«, ruft er ihr hoch zu Ross auf Kölsch zu: »Griet, wer es damals getan hätte!« Worauf Griet erwidert: »Jan, wer et hätt jewoss!«,