I Kissed Shara Wheeler - Casey McQuiston - E-Book
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I Kissed Shara Wheeler E-Book

Casey McQuiston

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Beschreibung

Quirlig, queer und herrlich romantisch erzählt der Young-Romance-Liebesroman der amerikanischen Bestseller-Autor*in Casey McQuiston von einem unerwarteten Kuss, einem plötzlichen Verschwinden und einer turbulenten Suche. Chloe Green ist fast am Ziel: Bald hat die queere Schülerin die Highschool in der engstirnigen Kleinstadt in Alabama endlich hinter sich. Und zwar als Jahrgangsbeste! Wenn ihr nicht Ballkönigin Shara Wheeler, die rundum perfekte Tochter des Schuldirektors, noch einen Strich durch die Rechnung macht … Doch mit einem einzigen Kuss bringt Shara Chloes Welt ins Wanken – nur, um anschließend wie vom Erdboden verschluckt zu verschwinden. Statt Antworten findet Chloe lediglich kryptische Nachrichten von Shara, die sie auf eine atemlose Suche schicken. Als Chloe Sharas Geheimnissen auf die Spur kommt, beginnt sie zu ahnen, dass hinter dieser kleinen Stadt mehr stecken könnte, als sie dachte. Und vielleicht auch hinter Shara? Auch der #1 New York Times-Bestseller von Casey McQuiston verbindet unnachahmlichen Witz mit Figuren zum Verlieben, bewegenden Themen und einer wunderschönen Botschaft. »›I Kissed Shara Wheeler‹ ist so viel mehr als eine Liebesgeschichte. Es ist romantisch und herzergreifend, witzig und scharfzüngig, bunt und queer. Es ist so laut und doch so leise. Einfach wunderschön.« Bestseller-AutorinLilly Lucas Entdecke auch die beiden anderen unkonventionellen romantischen Komödien von Casey McQuiston: - »Royal Blue« um den Sohn der ersten Präsidentin der USA und den britischen Kronprinzen - »One Last Stop« über eine zauberhafte, unmöglich scheinende Liebe in New York

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Seitenzahl: 474

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Casey McQuiston

I Kissed Shara Wheeler

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Hannah Brosch und Kristina Koblischke

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Chloe Green ist fast am Ziel: Bald hat sie die Highschool in der konservativen Kleinstadt in Alabama endlich hinter sich. Und zwar als Jahrgangsbeste! Wenn ihr nicht Ballkönigin Shara Wheeler, die rundum perfekte Tochter des Schuldirektors, noch einen Strich durch die Rechnung macht …

Doch mit einem einzigen Kuss bringt Shara Chloes Welt ins Wanken - nur, um anschließend wie vom Erdboden verschluckt zu verschwinden. Statt Antworten findet Chloe lediglich kryptische Nachrichten von Shara, die sie auf eine atemlose Suche schicken. Als Chloe Sharas Geheimnissen auf die Spur kommt, beginnt sie zu ahnen, dass hinter dieser kleinen Stadt mehr stecken könnte, als sie dachte. 

Und vielleicht auch hinter Shara?

Inhaltsübersicht

ANMERKUNG VON CASEY McQUISTON

Zitat

1. Kapitel

Kann verbrannt werden

2. Kapitel

Kann verbrannt werden

3. Kapitel

Kann verbrannt werden

4. Kapitel

Kann verbrannt werden

5. Kapitel

Kann verbrannt werden

6. Kapitel

Kann verbrannt werden

7. Kapitel

Kann verbrannt werden

8. Kapitel

Kann verbrannt werden

9. Kapitel

Kann verbrannt werden

10. Kapitel

Kann verbrannt werden

11. Kapitel

Kann verbrannt werden

12. Kapitel

Kann verbrannt werden

13. Kapitel

Kann verbrannt werden

14. Kapitel

Kann verbrannt werden

15. Kapitel

Kann verbrannt werden

16. Kapitel

Kann verbrannt werden

17. Kapitel

Kann verbrannt werden

18. Kapitel

Kann verbrannt werden

19. Kapitel

Kann verbrannt werden

20. Kapitel

Kann verbrannt werden

21. Kapitel

Kann verbrannt werden

22. Kapitel

Kann verbrannt werden

23. Kapitel

Kann verbrannt werden

24. Kapitel

Kann verbrannt werden

25. Kapitel

Danksagung

ANMERKUNG VONCASEY McQUISTON

Liebe Leser*innen,

 

falls ihr aus dem Süden der USA oder mit einem religiösen Hintergrund aus der Southern Baptist Convention oder dem evangelikalen Christentum in diese Geschichte einsteigt, erkennt ihr vielleicht etwas von der Kultur wieder, die sie beschreibt. Eine Menge davon wird mit Humor betrachtet, denn manchmal muss man einfach lachen. Und auch wenn Chloe Green nicht gläubig ist, so ist doch ihre Sichtweise nicht die einzige, die euch in dieser Geschichte begegnen wird. Es gibt Raum für die guten und die schlechten Seiten, die lustigen und schmerzlichen und für alles, was dazwischen liegt, denn so ist das Leben als Teenager – vor allem in Chloes Ecke der Welt. Um all dies auszuloten, finden sich in I Kissed Shara Wheeler Elemente religiösen Traumas und Homofeindlichkeit.

 

Weitere Informationen könnt ihr auf caseymcquiston.com finden.

IT STARTED OUT WITH A KISS …

– THE KILLERS

1

STUNDEN SEIT SHARA WHEELERS VERSCHWINDEN: 12

TAGE BIS ZUM HIGHSCHOOL-ABSCHLUSS: 42

Chloe Green ist kurz davor, mit der Faust ein Fenster einzuschlagen.

Normalerweise steht sie beim Aufkommen solcher Gedanken geistig am Rande des Abgrunds. Aber in diesem Moment, fest an die Hintertür des Hauses der Wheelers gepresst, ist sie tatsächlich körperlich bereit, genau das zu tun.

Ihr Handydisplay leuchtet auf: 11:27 Uhr. Dreiunddreißig Minuten bis zum Ende des Vormittagsgottesdienstes in der Willowgrove Christian Church, wo die Wheelers ihren Morgen damit verbringen, so zu tun, als wären sie nette, normale Leute, deren nette, normale Tochter nicht vor zwölf Stunden auf dem Highschool-Abschlussball ihr eigenes Verschwinden inszeniert hat.

Es muss eine Inszenierung sein. Selbstverständlich geht es Shara Wheeler gut. Shara Wheeler ist auch nicht verschwunden. Shara Wheeler tut, was sie immer tut: eine rehäugige Performance vollkommener Unschuld abziehen, die alle glauben lässt, sie sei ach so tiefgründig und komplex und zauberhaft, während sie, ungelogen, die langweiligste Langweilerin dieser unerträglich langweiligen Stadt ist.

Und Chloe wird es beweisen. Weil sie als Einzige schlau genug ist, ihr Spiel zu durchschauen.

Nachdem sie das ganze Jahr vorzeitigen Abgabefristen und dem Rang als Beste des Jahrgangs 22 hinterhergejagt hatte, hatte sie tatsächlich geplant, ihren Abschlussball zu genießen. Es hatte Wochen gedauert, das perfekte Kleid zu finden (schwarzer Chiffon und Spitze, wie eine sexy Vampir-Assassine), und es hätte der perfekte Abschlussball werden sollen. Nicht der perfekte Abschlussball – kein Date, keine Anstecksträußchen –, aber ihr perfekter Abschlussball. Nur ihre Lieblingsmenschen, die sich in schicken Outfits in Benjys Wagen zwängen, in einem Raum mit Kronleuchter laut Lil Yachty mitschreien und um ein Uhr nachts gemeinsam ins Waffle House einfallen.

Aber dreißig Minuten vor der Verkündung des Ballpaars sah Chloe sie: Shara, ein Wasserfall aus mandelblütenrosa Tüll mit passendem Lipgloss, der in Richtung Tür an der Bar vorbeilief.

Den ganzen Abend über hatte Chloe schon auf eine Chance gewartet, sie allein zu erwischen.

Aber als sie bei der Tür ankam, war Shara verschwunden, und als die Schülerratsvorsitzende Brooklyn Bennett auf die Bühne trat, um sie zur Ballkönigin zu krönen, war sie es immer noch. Niemand hat beobachtet, wohin sie gegangen ist, und niemand hat sie seitdem mehr gesehen, aber ihr weißer Jeep steht nicht in der Einfahrt zu ihrem Elternhaus.

Also steht Chloe jetzt hier, am Morgen danach, mit verschmiertem Augen-Make-up und haarspraysteifen Haaren, bereit, bei ihr einzubrechen.

In einem auffällig glatten Stein, graviert mit Josua 24:15 – Ich aber und mein Haus wollen dem Herrn dienen –, findet sie den Ersatzschlüssel.

Während der ganzen Fahrt in den Country Club hat sie sich Sharas Gesichtsausdruck vorgestellt, wenn Chloe zur Tür hereinkommt. Die grünen Augen aufgerissen, das theatralische Keuchen, als ihr dämmert, dass ihr kleiner aufmerksamkeitsheischender Stunt aufgeflogen ist, weil Chloe schlichtweg zu genial ist, um sich zum Narren halten zu lassen. Die schiere Befriedigung hätte Chloe genug Energie verliehen, um sie durch die Abschlussprüfungen und wahrscheinlich noch durch die ersten zwei Collegejahre schweben zu lassen.

Aber als sie den Kopf durch die offene Tür steckt und sich in der riesigen Küche der Wheelers umsieht, ist Shara nirgendwo zu sehen.

Also tut sie, was alle in ihrer Situation tun würden. Sie schließt die Tür hinter sich und durchsucht das Erdgeschoss.

Shara ist nicht da.

Okay. Kein Problem. Irgendwo ist sie. Wahrscheinlich oben, in ihrem Zimmer.

Der Flur im Obergeschoss gibt durch eine halb geöffnete Tür den Blick in ein Badezimmer frei, das Sharas sein muss. Rosa-cremefarbene Tapete, mit Rosenwasser-Hautpflegeprodukten und einer Flasche ihres Signature-Nagellacks (essie, ballet slippers) auf der Ablagefläche aus Porzellan. Chloe bleibt auf der Schwelle stehen; das hier ist nicht ihr Ziel, aber neben dem Waschbecken liegt ein seidenes Scrunchie mit Blumenmuster, das ihr völlig unbekannt ist, obwohl sie zahllose Schulstunden damit verbracht hat, wütend auf Sharas Hinterkopf zu starren. Shara trägt ihr glänzendes blondes Haar immer offen. Eine Art Markenzeichen. Offenbar bindet sie es hoch, wenn sie sich abends abschminkt.

Unwichtig.

Vor der nächsten Tür bleibt Chloe stehen. Sie ist nur angelehnt, und auf ihr prangt ein handgemaltes rosafarbenes S.

Es wäre eine Lüge – eine riesige, Willowgrove-Christian-Academy-Football-Budget-große Lüge –, zu behaupten, sie hätte sich nie vorgestellt, in welche Art Perfektions-Inkubator Shara Wheeler sich zurückzieht, wenn sie nach Hause geht. Ein Tank voller Schleim, der ihren taufrischen Teint bewahrt? Ein professioneller Hairstylist, der auf Vertragsbasis für sie arbeitet? Wohin geht Shara, wenn sie nicht gerade bei einem fotoreifen Starbucks-Date mit ihrem Quarterback-Freund ist oder verdächtig gute Aufsätze in vergleichender Literatur verfasst? Wer ist sie, wenn ausnahmsweise mal niemand hinsieht?

Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.

Mit dem Fuß stößt sie die Tür auf und –

Der Raum ist leer.

Sharas Zimmer ist, natürlich, ein hübsches, normales Zimmer. Fast schon verdächtig schlicht. Bett, Kommode, Nachttisch, Schminktisch, Regal-Schreibtisch-Kombi, eierschalenfarbene Tischlampe mit silberner Kette. Auf der Fensterbank liegt ein getrocknetes Homecoming-Anstecksträußchen und in einer Muschelschale auf der Kommode eine Tube Burt’s Bees Lippenbalsam neben einer Flasche Flieder-Körperspray und einem Stapel Taschenbücher voller Haftnotizen für die Schule. Die Wände sind in einem einfachen Puderblau gehalten, mit gerahmten Fotos von ihrer Familie und ihrem Freund und ihrer Herde identischer, seidenhaariger Freundinnen mit spitzen Ellbogen und perfekten Glossier-Gesichtern.

Wo ist die Glossier-Gang jetzt? Pflegen ihren Abschlussball-Kater, nimmt Chloe an. Ganz sicher ist niemand von ihnen hier, um nach Hinweisen zu suchen. So ist es nun mal mit den beliebten Kids: Ihnen fehlt das wahre Band der Freundschaft, geschmiedet im Feuer des Nerd- und Queer-Daseins in einer mittleren Kleinstadt Alabamas. Wenn Chloe versuchen würde, ihre Leute so zu ghosten, würde eine Armee von Shakespeare-Gays jede Tür in False Beach eintreten.

Warum ist Shara nicht hier?

Chloe ballt die Fäuste, tritt ein und beginnt mit dem Schreibtisch.

Wenn es schon keine Shara gibt, die man befragen könnte, birgt vielleicht ihr Zimmer ein paar Antworten. Auf der Suche nach Sharas Gone-Girl-Kalender mit den Einträgen »Vorräte besorgen« und »Chloe meine Ermordung anhängen« durchforstet sie vorsichtig den Inhalt des Schreibtischs und der Regale. Alles, was sie findet, sind College-Broschüren und eine Schachtel mit rosafarbenem Briefpapier, das mit Sharas Initialen versehen ist – Dankeskarten wahrscheinlich, bereit für die anstehende Flut der Highschool-Abschluss-Schecks der reichen Verwandten. Im Mülleimer liegen keine belastenden Tagebuchseiten, nur eine Lipgloss-Verpackung aus Pappe.

Schmuckschatulle: nichts Bemerkenswertes. Schrank: Klamotten, ein sorgfältig eingeräumtes Schuhregal, die Kleider von Homecoming- und Abschlussball, ordentlich in Kleidersäcke mit Reißverschluss verpackt. (Wer benutzt denn bitte Kleidersäcke?) Unterwäscheschublade: halb leer, es fehlen genug schlichte blütenzarte Exemplare für ein bis zwei Wochen. Bett: auf der festgesteckten elfenbeinfarbenen Tagesdecke ein ordentlich gefaltetes Harvard-T-Shirt. Gott bewahre, jemand könnte vergessen, dass Shara neben den Angeboten ungefähr jeder Elitehochschule des Landes natürlich an ihrer Wahl-Uni aufgenommen wurde.

Chloe stößt durch zusammengebissene Zähne ein Zischen aus. Das hier ist nur ein Haufen ganz normales Zeug, das auf das ganz normale Leben eines ganz normalen Mädchens hindeutet.

Sie macht kehrt und wendet sich dem Schminktisch zu, öffnet die Schublade. Tuben voller Lipgloss in nahezu identischen Schattierungen von neutralem Rosa reihen sich ordentlich aneinander, die meisten halb leer, die Schrift schon abgenutzt. Am Ende der Reihe liegt eine brandneue, so voll und glänzend, dass sie höchstens einmal benutzt worden sein kann, wenn überhaupt. Sie erkennt, dass sie zu der Verpackung aus dem Mülleimer gehört.

Als sie die Kappe aufdreht, trifft sie der Duft genauso heftig wie beim ersten Mal, als sie ihn gerochen hat: Vanille und Minze.

Das Fenster geht auf.

Chloe flucht, lässt sich auf den Teppich fallen und kriecht unter den Schreibtisch.

Ein Paar schwarze Vans tauchen auf der Fensterbank auf, und mit ihnen die dünne Gestalt eines Jungen in abgewetzten Jeans und Karohemd. Er hält inne – sie kann sein Gesicht nicht sehen, aber sein Körper bewegt sich, als überprüfe er, ob die Luft rein ist – dann lässt er sich ins Zimmer fallen.

Dunkles, lockiges Haar mit karamellfarbenen Strähnen, hellbraune Haut, lange und gerade Nase, die Kieferpartie gleichzeitig markant und filigran wie Porzellanguss.

Rory Heron. Willowgroves Antwort auf die tiefgründigen Bad Boys jedes einzelnen Teen-Dramas der späten 90er. Der begehrteste Junggeselle der Kiffer-Skater-und-Leistungsverweigerer-Liga der sozialen Rangordnung. Sie hatte noch nie einen Kurs mit ihm, hat aber gehört, dass er sowieso nicht oft anwesend ist.

Sie beobachtet, wie sein Blick demselben Weg folgt wie der ihre – die Kommode, das Bett, die Bilder an der Wand. Als er erkennt, dass er das Anstecksträußchen vom Fensterbrett auf den Boden geworfen hat, hebt er es mit sanften Fingern auf und betrachtet die getrockneten Blüten, bevor er es an seinen Platz zurücklegt. Chloe zieht die Augen zusammen. Was macht Rory Heron hier, in Sharas Schlafzimmer, und warum befingert er ihre Blumensträuße?

Er dreht sich zum Schreibtisch um, sieht sie und schreit.

Chloe springt auf und presst ihm eine Hand auf den Mund.

»Sei still!«, zischt sie. Aus der Nähe sind seine vor Schreck weit aufgerissenen Augen fast haselnussbraun. »Die Nachbarschaft könnte dich hören.«

»Ich bin die Nachbarschaft«, sagt er, als sie ihn loslässt.

Chloe starrt ihn an und versucht, Rorys Gesamterscheinung mit der extremen Verklemmtheit des False Beach Country Clubs in Einklang zu bringen. »Du wohnst hier?«

Rory starrt sie finster an. »Was, sehe ich so aus, als könnte ich es mir nicht leisten, hier zu wohnen?«

»Du siehst aus, als würdest du lieber sterben, als hier zu wohnen«, antwortet Chloe.

»Glaub mir, ich habe es mir nicht ausgesucht«, sagt Rory, noch immer mit düsterem Blick, aber leicht verändertem Ausdruck. »Du bist – Chloe, oder? Chloe Green? Was machst du unter Sharas Schreibtisch?«

»Warum kletterst du durch Sharas Fenster?«

»Du zuerst.«

»Ich, äh«, stottert Chloe. Rorys Auftauchen hat ihrer Wut einen Dämpfer verpasst, und plötzlich weiß sie nicht recht, wie sie es erklären soll. Hitze steigt ihr ins Gesicht; sie versucht, es zu unterdrücken. »Ich habe gehört, dass sie gestern Abend abgehauen ist.«

»Das habe ich auch gehört«, erwidert Rory. Er spricht mit derselben einstudierten Unzufriedenheit, die auch seine Körperhaltung ausstrahlt, unbeteiligt, mit hängenden Schultern. »Wusstest du – weißt du, wo sie ist?«

»Nein, ich wollte nur – ich wollte nachsehen, ob sie wirklich weg ist.«

»Also bist du bei ihr eingebrochen«, sagt Rory rundheraus.

»Ich habe einen Schlüssel benutzt!«

»Immer noch Einbruch.«

»Nur, wenn ich was klaue.«

»Okay, Hausfriedensbruch.«

»Und durch ihr Fenster zu klettern? Wie nennst du das?«

Rory hält inne, blickt auf die Spitzen seiner Vans. »Das ist was anderes. Sie hat mir gesagt, dass sie ihr Fenster auflässt.«

»Das ist noch lange keine Einladung.«

»Himmel, ich habe dir doch gesagt, dass ich ihr Nachbar bin. Die Leute bitten die Menschen aus ihrer Nachbarschaft ständig, nach ihren Sachen zu sehen, wenn sie weg sind. Das macht man eben so.«

»Und das ist es auch, was du gerade hier machst?«

»Ich wollte nachsehen, ob es ihr gut geht.«

Chloe verzieht skeptisch das Gesicht. »Ich habe ungelogen nicht ein einziges Mal in meinem ganzen Leben gesehen, wie du mit ihr sprichst.«

»Du kennst sie nicht mal, oder?«, kontert Rory. »Was machst du denn hier? Warum kümmert es dich, ob sie verschwunden ist?«

Warum es sie kümmert? Weil Shara und sie beide jeden Tag ihrer Highschool-Karrieren dem einzigen Ziel gewidmet haben, den Abschluss als Jahrgangsbeste zu machen, und das Einzige, wonach Chloe sich je genauso gesehnt hat wie nach dem Titel, ist das befriedigende Wissen, dass Shara Wheeler ihn nicht bekommt. Weil Shara Wheeler sonst alles hat.

Weil es so wäre wie Aufgeben, sollte Shara wirklich verschwunden sein, und ein Sieg durch Nichterscheinen der Gegnerin ist nicht der Sieg, nach dem sich Chloe Green sehnt.

Weil Shara Wheeler sie vor zwei Tagen nach der vierten Stunde im Aufzug von Gebäude B am Ellbogen zu sich gezogen und sie geküsst hat, bis sie ein ganzes Halbjahr Französisch vergessen hatte. Und Chloe weiß noch immer nicht, warum.

»Warum kümmert es dich?«, faucht sie zurück.

»Weil ich – ich sie verstehe, okay? Die Scheißleute aus ihrem Freundeskreis tun es nicht, aber ich schon.«

»Oh, du verstehst sie.« Chloe verdreht die Augen. »Cool. Super. Das qualifiziert dich also als Anführer des Suchtrupps.«

»Nein –«

»Was ist es dann?«

Wieder eine Pause. Rory verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Dann blickt er zum Schreibtisch, zieht die dunklen Brauen hoch und sagt: »Das da.«

Als Chloe seinem Blick folgt, sieht sie einen Briefumschlag, der harmlos in einem rosafarbenen Briefständer steckt. Vorne prangt in Sharas geschwungener Handschrift Rorys Name.

Rorys Name?

Rory hat längere Arme, aber Chloe ist schneller. Sie schnappt sich den Brief, öffnet ihn mit einem Finger, zieht eine rosafarbene Monogramm-Karte heraus und liest die in Sharas makelloser Handschrift verfassten Worte laut vor.

Rory,

danke für den Kuss. Wenn du gedacht hast, ich hätte dich nie bemerkt, liegst du falsch.

XOXO

Shara

PS: peach100304

PPS: Sag Smith, er soll in den Entwürfen nachsehen. Den Rest sollte Chloe haben.

»Du hast sie geküsst?«, fragt Chloe. Rory sieht so aus, als bereite er sich darauf vor, einem Schlag auszuweichen, was er sich vielleicht für den Moment aufheben sollte, in dem Sharas eigentlicher Freund das Ganze herausfindet. »Sie hat mich geküsst.«

Die Wut kehrt mit aller Macht zurück.

»Wann?«, presst Chloe durch zusammengebissene Zähne hervor.

»Gestern Abend. Vor dem Abschlussball.«

»Wo?«

»Auf … den Mund?«

»Eine Ortsangabe, Heron.«

»Oh. Auf meinem Dach.«

Shara hat Rory geküsst. Und jetzt steht Rory hier, in ihrem Zimmer, und verteidigt sie vor Chloe, weil er – oh Gott.

Sie ist das Mädchen von nebenan, und er ist in sie verliebt. Darum geht es hier. Wie absolut nervtötend vorhersehbar.

»Freu dich nicht zu früh«, sagt Chloe. »Mich hat sie auch geküsst.«

Rory starrt sie an. »Du verarschst mich.«

»Ganz sicher nicht«, erwidert Chloe. »In der Schule, am Freitag.«

Er presst die Augen zusammen, fährt sich kurz mit der Hand durch die Locken, hält dann aber inne, bevor er seine sorgfältig arrangierte Frisur durcheinanderbringt.

»Okay. Immerhin ergibt dann das hier«, er zeigt auf sie beide und das Zimmer, »mehr Sinn.«

Ein peinlich berührtes Schweigen breitet sich im Raum aus wie eine Wolke Sportlerschweiß in der Schulsporthalle am Pep Rally Friday. Chloe bleckt die Zähne, um etwas zu sagen –

Im Erdgeschoss geht die Haustür auf.

»Scheiße«, sagt Chloe. Sie blickt zum Wecker auf dem Nachttisch: 12:13 Uhr. Rorys Anwesenheit hat sie die Zeit vergessen lassen.

»Du wirst die Leiter nehmen müssen«, sagt Rory, der sich bereits in Bewegung gesetzt hat.

»Shara fucking Wheeler«, murmelt Chloe und springt so schnell aus dem Fenster, dass sie beinahe die erste Sprosse verfehlt hätte.

Unten nimmt Rory die Leiter auf eine seiner schmalen Schultern und versucht unbeholfen, sie zurück in Richtung Zaun zu manövrieren. Körperlich betrachtet ist er tatsächlich nicht mehr als ein außergewöhnlich hübsches Gesicht auf einem Besenstiel. Sie versteht, warum so viele Mädchen aus der Zehnten und Elften von diesem Sexy-Weltschmerz-Typ-mit-der-Gitarre-auf-dem-Parkplatz-Charme besessen sind, aber es ist traurig, ihm dabei zuzusehen, wenn er etwas hochhebt.

»Komm«, sagt sie und greift nach der anderen Seite. Er grunzt unzufrieden, beschwert sich aber nicht.

Sie klettern in seinen Garten hinüber, der so üppig und makellos ist wie der Rest des Country Clubs. In Kalifornien hat Chloe noch nie einen Country Club mit eigener Wohnanlage von innen gesehen, ein ausgedehntes Areal mit Wachmann am Tor, einer Art Golfplatz-Türsteher. Sie hatte sich als Babysitterin ausgeben müssen, um eingelassen zu werden.

»Was für ein Scheiß«, sagt Chloe und wischt sich über den Rest ihres Eyeliners. Danach ist ihr Handrücken schwarz. »Was bedeutet diese Sache mit dem peach? Im Brief?«

»Keine Ahnung«, sagt Rory.

»Dann erzählen wir wohl morgen in der Schule alles Smith und schauen mal, ob er es weiß.«

Rory verzieht das Gesicht. Er sieht lächerlich aus, wie er hier in einer bewachten Luxussiedlung steht und sich als abgerockter Indie-Softie ausgibt.

»Wir?«, fragt er. »Du willst Smith Parker erzählen, dass du seine Freundin geküsst hast? Du kommst vielleicht damit durch, aber ich stecke definitiv eine Tracht Prügel ein.«

»Willst du gar nicht wissen, was sie treibt? Wo sie ist?«

»Warum warten wir nicht einfach, bis sie wiederkommt, und fragen sie?«

»Was macht dich so sicher, dass sie so bald zurückkommt?«, fragt Chloe. »Was, wenn sie irgendein – irgendein geheimes zweites Leben in einer anderen Stadt führt oder bei irgendeinem alten Knacker eingezogen ist, der sie aushält, oder so was? Was, wenn sie gar nicht mehr zurückkommt, bevor wir alle auf dem College sind? Was, wenn sie uns alle für immer ghostet? Was, wenn du den Rest deines Lebens damit verbringst, dich zu fragen, warum um Himmels willen Shara Wheeler dich geküsst hat?«

Rory, dessen Augenbrauen immer weiter nach oben wandern, je länger sie spricht, zieht einen Mundwinkel nach innen und sagt: »Bei dir hat sie aber ganz schön was angerichtet, hm?«

»Tschüss«, sagt Chloe und macht auf dem Absatz kehrt. »Ich mach’s alleine.«

»Warte«, ruft Rory ihr nach.

Sie bleibt stehen.

»Wann morgen?«

»Gleich vor der Schule«, sagt Chloe. »Der ganze Football-Trupp hat in der Ersten Physik.«

»Großartig.« Er öffnet ihr das Tor. »Ich mach dann mal mein Testament fertig.«

»Warum hast du nie fürs Schulmusical vorgesungen? Du bist so wunderbar dramatisch.«

»Nicht mein Ding.«

Sie stehen da, Chloe mit ihrem klimpernden Schlüsselbund in der Hand, Rory mit einem Gesichtsausdruck, als würde er gleich damit anfangen, traurige Gedichte über Shara zu verfassen. Oder was auch immer er so tut. Es fühlt sich erschreckend so an, als wäre sie gerade dem schlimmsten Gruppenprojekt der Welt zugeteilt worden, und sie kann sich nicht vorstellen, dass Smith Parker eine Verbesserung der Konstellation darstellen wird.

»Ähm.« Chloe räuspert sich. »Vielleicht … erzählst du es besser sonst niemandem? Dass Shara mich geküsst hat? Ich weiß nicht, ob ich vielleicht … na ja, also, ich denke nicht, dass es in der ganzen Schule rumgehen sollte, wenn sie es den Leuten nicht selbst sagt.«

Rory schüttelt den Kopf. »Ich hatte nicht vor, es jemandem zu erzählen.«

Zufrieden mit der Antwort strafft Chloe das Kinn, dreht sich um und stößt energisch das Tor auf. »Wir sehen uns morgen in der Schule. Wehe, du tauchst nicht auf. Ich weiß jetzt, wo du wohnst.«

»Drohung angekommen«, erwidert Rory mit einem mürrischen Salut, und sie schließt ihn hinter dem Gartentor ein.

 

Sie durchquert den Vorgarten und läuft um die Ecke in Richtung einer kleinen Baumgruppe und eines kunstvollen Brunnens in Form eines sehr hässlichen Delfins zu ihrem Auto.

Erst auf dem Sitz lässt sie zu, dass ihr Körper sich so entspannt, wie er es nur kann, wenn sie wahrhaft und wirklich alleine ist. Ihre Schultern sacken zusammen. Die Schlüssel fallen ihr aus der Hand auf die Fußmatte. Ihr Kopf sinkt aufs Lenkrad. Erstaunt winkt die kleine Glückskatze auf ihrem Armaturenbrett ihr zu.

Sie ist tatsächlich von Shara Wheeler geküsst und dann sitzen gelassen worden. Und damit ist sie noch nicht mal alleine.

Aber … dieser Lipgloss. Vanille und Minze. Es ist absolut einhundertprozentig der Lipgloss, den sie bei ihrem Kuss getragen hat. Diesen Duft würde Chloe nie im Leben vergessen.

Was bedeutet, Shara hat ihn extra gekauft, um Chloe damit zu küssen.

Ein Beweis, dass Shara, wenn sie abends zu Hause in ihrem puderblauen Zimmer sitzt, sich die Haare kämmt, die Nägel lackiert und ein Gummiband dreimal um einen Stapel Karteikarten schlingt, tatsächlich an Chloe denkt.

Und das fühlt sich wie ein kleiner Sieg an.

Kann verbrannt werden

Handgeschriebene Nachricht von Chloe an Georgia

BITTE KEINE REAKTION!!! Falls Madame Clark das hier einsammelt und laut vorliest, wie sie es mit Tanners Mädchenhintern-Rangliste gemacht hat, bring ich dich echt um.

Okay. Also?

Shara Wheeler hat mich gerade geküsst. Also, so richtig, gerade auf dem Weg zur fünften Stunde.

NOCH MAL BITTE: KEINE REAKTION! Du bist ruhig du bist ein stiller See du bist meine Moms nach einer Kanne Hanftee

Ich habe die Abkürzung über den Lehreraufzug genommen, und sie ist eingestiegen und hat mich einfach geküsst EINFACH SO.

Und ich glaube, ich habe sie zurückgeküsst??? Sie ist heiß! Ich hatte Panik! Sie ist vielleicht der Fluch meiner Existenz, aber sie sieht auch so aus, als würde sie ein Landleben in Schweden führen und ihre gesamte Zeit damit verbringen, Blumenmuster auf Leinenröcke zu sticken, wie eine Komparsin in Midsommar. Sie sieht aus, als würde sie gut riechen, und ich kann jetzt berichten, dass sie tatsächlich gut riecht, nach Flieder, bis auf ihren Lipgloss, der riecht nach Vanille und Minze. Ich meine, was soll ich denn machen, wenn so ein Mädchen mich küssen will? Da hätte doch jeder zurückgeküsst.

Jedenfalls hat sie mich geküsst, also richtig geküsst, also GEKÜSST, und dann war sie WEG.

Was bedeutet das??? Shara Wheeler ist die tragischste Heterosexuelle, die sich jemals in ein Brandy Melville Crop Top gezwängt hat. Ganz offensichtlich verarscht sie mich. Das ist fieses Hetero-Mädchen-Verhalten. ODER???

Was soll ich jetzt machen???

Flieder, Geo. FLIEDER.

2

TAGE SEIT SHARA WHEELERS VERSCHWINDEN: 2

TAGE BIS ZUM HIGHSCHOOL-ABSCHLUSS: 41

Das Erste, was Chloe erblickt hat, als der Subaru ihrer Mom die Stadtgrenze von False Beach überquerte, war Shara Wheelers Gesicht.

Und das nicht nur im übertragenen Sinne – auch wenn Shara Wheeler tatsächlich immer und überall zu sein scheint. Aber ihr Gesicht hing buchstäblich zwölf Meter groß über der Autobahn zwischen einem Waffle House und einem Winn-Dixie-Supermarkt im sumpfgrauen Himmel: ein hübsches blondes Mädchen mit einem hübschen Lächeln, einem Stapel Bücher auf dem Arm und einem Winkelmesser in der Hand.

JESUS LIEBT GEOMETRIE!, verkündete das Banner, was Chloe eine recht mutige Behauptung zu sein schien. CHRISTUS IM MITTELPUNKT – BILDUNG AN DER WILLOWGROVE CHRISTIAN ACADEMY!

In False Beach gibt es genau fünf Highschools, und Willowgrove ist die einzige mit einer anständigen Begabtenförderung und einer Theater-AG, deren Budget groß genug für Das Phantom der Oper ist. Als vierzehnjährige Büchernärrin in einer umfassenden Goth-Phase schienen ihr diese beiden Dinge das Wichtigste zu sein, was eine Highschool bieten konnte. Ihre Mom war in den Neunzigern auf die Willowgrove gegangen, und sie hat versucht, sie davor zu warnen, aber Chloe war unbeirrbar. Solange sie keine andere Option hatte, würde sie den Jesuskram schon aushalten.

»Was für ein Name ist denn bitte False Beach?«, hat Chloe an diesem elenden Tag zum fünftausendsten Mal gefragt, als sie unter Sharas Abbild hindurchfuhren. Es war eine Frage, die sie ihrer Mom schon stellte, seit diese den Namen ihrer Heimatstadt zum ersten Mal ausgesprochen hatte.

»Eben ein Strand und doch kein Strand«, antwortete ihre Mom wie jedes Mal, und ihre andere Mom blätterte eine Seite der Canterbury Tales um, während sie weiter aus dem kalifornischen Sonnenuntergang hinaus in die Arschritze Alabamas hineinfuhren.

False Beach liegt an den Ausläufern des Lake Martin, was die schwache Illusion heraufbeschwört, es könnte sich um einen Strandort wie Gulf Shores oder Mobile handeln, die weiter südlich an der Küste liegen, aber so ist es nicht. Es liegt vier Stunden vom Golf von Mexiko entfernt, näher an Atlanta als an Pensacola, fast genau in der Mitte des Staats. Und das Seeufer ist nicht mal sandig, weil es kein echter See ist, sondern nur ein riesiges Reservoir aus den 1920ern, umgeben von sumpfigen Wiesen und Wald und Felsabhängen.

Es ist einfach nur eine kleine Stadt an irgendeinem Gewässer, in der nie etwas Interessantes passiert. Und, wie Chloe mittlerweile weiß, liegt es im Wesen dieser Kleinstädte, dass es, wenn doch mal etwas passiert, sofort jeder weiß. Was bedeutet, dass es am Montagmorgen nur ein einziges Thema gibt: Wo könnte Shara Wheeler sein?

Zugegeben, das ist jetzt kein so drastischer Unterschied zu jedem anderen Tag an der Willowgrove. Hier ist Shara Wheeler eine Art Helena von Troja, jedenfalls wenn sie dafür berühmt wäre, sowohl wunderschön als auch zu entsetzlich und tragisch brillant für ihre kleine Stadt zu sein, oder eine Regina George, wenn es ihr Markenzeichen wäre, das Doppelte der von der Schule verlangten Sozialstunden abzuleisten.

Shara Wheeler ist so hübsch. Shara Wheeler ist so schlau. Shara Wheeler war in ihrem ganzen Leben noch nie gemein zu irgendjemandem. Shara Wheeler kann eigentlich wahnsinnig gut singen, aber sie hat noch nie für ein Schulmusical vorgesungen, weil sie denen, die es dringender brauchen, nicht die Show stehlen möchte. Shara Wheeler ist die Glücksbringerin des Footballteams, und wenn sie bei einem Spiel nicht dabei ist, sind sie dem Untergang geweiht. Letztes Jahr gab es eine ganze Bewegung unter den Neuntklässlerinnen, sich die Armorbögen hochzukleben, um Sharas natürlich volle Oberlippe nachzuahmen. Es ist ein Wunder, dass noch niemand ihr Konterfei auf, sagen wir, eine Margarineverpackung gedruckt hat.

Heute:

»Ich habe gehört, seit dem Abschlussball hat sie niemand mehr gesehen.«

»Ich habe gehört, Smith hat mit ihr Schluss gemacht und sie ist total zusammengebrochen.«

»Ich habe gehört, sie ist abgehauen, um Wohnungen für Obdachlose zu bauen.«

»Ich habe gehört, sie ist heimlich schwanger und ihre Eltern haben sie bis zur Geburt weggeschickt, damit es niemand rausfindet.«

»Das ist eins zu eins eine Plotline aus Riverdale, du Schlaumeier«, ruft Benjy einem vorbeigehenden Zehntklässler zu. Er seufzt und legt sein gefaltetes Sonic-Poloshirt für seine Schicht nach der Schule ganz unten in den Spind.

Chloe starrt finster in den Spiegel an ihrer Spindtür. Wie ätzend, dass sich ihr Leben jetzt auch um Shara Wheeler drehen muss.

»Alles okay, Chloe?«, fragt Benjy.

»Klar ist alles okay«, sagt Chloe und richtet ihre glänzend silbernen Kragennadeln gerade. Georgia beschreibt ihre Interpretation der Schuluniform als »Trying too hard«. Chloe nennt es »Bitte lasst mich einen winzigen Hauch Individualität verspüren, bevor sie bis zum Mittagessen aus mir herausgequetscht wurde«. Beides stimmt. »Warum sollte nicht alles okay sein?«

»Weil du nur ein Auge geschminkt hast.«

»Was?« Sie überprüft noch einmal ihr Spiegelbild. Linkes Auge: präzise gezogener Lidstrich in Revlons blackest black. Rechtes Auge: nackt wie ein neugeborenes Baby. »Oh mein Gott.«

Hektisch zieht sie einen Eyeliner aus der Notfall-Make-up-Tasche in ihrem Spind. Er liegt schon so lange da drin, dass sie erst auf ihrem Handrücken herummalen muss, bis er wieder funktioniert. Sie hätte nie gedacht, dass sie ihn je brauchen würde.

»Jedenfalls«, setzt Benjy ihre Unterhaltung fort, »habe ich Georgia gesagt, dass wir den Filmeabend diese Woche bei ihr machen müssen, weil Ash diesen Labyrinth-Film sehen will, von dem deine Mom erzählt hat, und wenn mein Dad reinkommt und David Bowies Eier in weißem Spandex sieht, stellt er mir Fragen, die ich nur ungerne beantworten würde. Also machen wir –« Er bricht ab. »Äh. Warum kommt gerade Rory Heron zu uns rüber?«

Über Chloes Schulter, gleich unter der abgerundeten Kante ihres Bobs, erscheint eine winzige Gestalt im Spiegel, die schnell größer wird: Rory, der ob der Notwendigkeit, das Schulgelände vor dem Mittagessen zu betreten, schwer mitgenommen wirkt.

»Er schuldet mir Geld für ein Klassengeschenk an Madame Clark«, lügt Chloe schnell, zieht ihren Lidstrich zu Ende und steckt die Kappe auf den Eyeliner.

»Na dann, viel Spaß«, sagt Benjy und macht sich auf den Weg zu seiner ersten Unterrichtsstunde.

Chloe schließt ihren Spind und dreht sich zu Rory um. »Ich bin froh, dass ich nicht noch mal zum Country Club fahren muss.«

Rory blinzelt. »Du weißt schon, dass deine Masche irgendwie … anstrengend ist, oder?«

»Danke«, sagt sie. »Komm mit.«

Sie bahnt sich durch das morgendliche Gedränge einen Weg zum Physiklabor und hält auf den einen zu, um den alle anderen Footballspieler zu kreisen scheinen. Smith Parker: Sharas Freund, Quarterback, Opfer einer tragischen Vorname-Nachname-Nachname-Vornamen-Panne.

Sie erinnert sich an den Tag, an dem Smith und Shara zusammengekommen sind. Es war Homecoming Week in der Zehnten, und die gesamte Schule war von dem bizarren Südstaatenritual besessen, dem Schülerrat einen Dollar zu zahlen, um seinem Schwarm eine Nelke zukommen zu lassen. In diesem Jahr hatte man Chloe dazu verurteilt, mit Shara als Laborpartnerin zu arbeiten, und Shara hatte gerade Chloes chemische Formel durchgestrichen, um ihre eigene aufzuschreiben – Chloes war richtig –, als zwei Dutzend Nelken auf ihre Notizen klatschten, alle von Smith für Shara, und seit diesem Tag sind sie das Willowgrove-Vorzeigepaar schlechthin, wobei, ganz ehrlich? Nelken sind gar keine so schönen Blumen.

Was Chloe betrifft, ist Smith nicht viel besser als der Rest der Football-Ärsche, die sie schon aus Prinzip hassen muss. Schließlich ist im letzten Jahr der Großteil des Schulgelds in die Renovierung des Stadions geflossen, und die Cheerleading-Coachin unterrichtet Gemeinschaftskunde, da sind die Prioritäten an der Willowgrove ziemlich eindeutig. Jedes Spiel, das Smith gewinnt, bedeutet weniger Geld für das Kunstprogramm, den einzigen Ort für die wirklich Begabten der Schule.

Von Nahem ist Smith Parker … nicht ganz so riesig, wie Chloe dachte. Er ist eher konisch als klotzig, mehr wie ein Tänzer als wie ein Footballer. Er ist einer der wenigen Sportler, die Chloe für gut aussehend statt für abtörnend Stiernacken-sexy hält: Hohe Wangenknochen, eindrucksvolle braune Augen mit scharfen Innenwinkeln und geschwungenen Brauen, dunkelbraune Haut, die irgendwie über die ganze Football-Saison makellos bleibt. Er ist groß, sogar noch größer als Rory. Ist er seit der Zeit vor dem Abschlussball irgendwie gewachsen? War sein Kinn immer schon so vier- und er selbst so dreieckig? Er ist eine wandelnde Abitur-Geometrieaufgabe.

»Smith«, sagt sie. Erst reagiert er nicht, weil er immer noch einem seiner Teamkameraden etwas durch den Flur zubrüllt – ernsthaft, die Football-Saison ist seit vier Monaten vorbei, könnte man sich da nicht einen anderen Identitätsfokus zulegen? –, also versucht sie es noch mal. »Smith!«

Als er sich endlich umdreht, fällt ihr auf, dass Smith Parker vielleicht gar nicht weiß, wer sie ist. Klar, er weiß ganz sicher, dass sie das komische queere Mädchen aus L.A. mit den zwei lesbischen Müttern ist, so wie alle anderen, aber weiß er, wer sie ist? Vielleicht ist ihr Ruf als Kult-Anführerin des Quiz-Bowl-Teams an ihm vorbeigegangen. Hat Shara ihm erzählt, dass Chloe ihre einzig rechtmäßige akademische Nemesis ist?

»Was gibt’s?«, fragt Smith. Er blickt zu Rory, der sich neben ihr in seinen Schuluniformpullover verkriecht und kaum merklich mit dem Kinn nickt.

Chloe schürzt die Lippen. »Können wir dich mal kurz sprechen?«

Smith sieht über die Schulter dahin, wo Ace Torres an der Tür zum Physiklabor steht und sich gerade mit einem weiteren Footballtypen abklatscht. Die ganze Schule weiß, dass der Zwölfer-Physikkurs in der ersten Stunde ein Witz ist und mit nach unten angepasster Notenskala bewertet wird, um den verdienten Mitgliedern der Sportteams zu helfen, ihren Notendurchschnitt zu halten.

»Ich muss echt in den Unterricht«, sagt er.

Chloe zischt. »Es ist Football-Physik.«

»Ich weiß«, sagt Smith, »aber –«

»Und es sind die letzten Wochen vor den Ferien«, fährt Chloe fort. »Es interessiert niemanden, ob du zu spät kommst, dich am allerwenigsten.«

»Hört zu, ich hatte ein anstrengendes Wochenende«, sagt Smith und wendet sich ihr zu. Jetzt kann sie den erschöpften Zug um seine Augen erkennen. Sie fragt sich, wie er wohl den Sonntag verbracht hat – wahrscheinlich beim Küheschubsen mit den Jungs oder so. »Könnt ihr nicht einfach –«

»Ich habe Shara geküsst«, platzt Rory heraus.

Smith friert mitten in der Bewegung ein. Rory friert mitten in der Bewegung ein. Ungeschubste Kühe am Stadtrand frieren mitten in der Bewegung ein.

Als Smith wieder etwas sagt, ist seine Stimme leise. »Was?«

»Ich meine, äh«, sagt Rory. Es ist fast schon lustig, wie sich seine komplette Schulschwänzer-Desinteresse-Coolness in Luft auflöst. Jungs sind so peinlich. »Sie, äh, bevor sie abgehauen ist, haben wir, ähm –«

»Er hat Shara geküsst. Und ich auch«, sagt Chloe und tritt vor wie der Spartakus der Menschen, die Smith Parkers Freundin geküsst haben. »Ich meine, um es genau zu nehmen, hat sie mich geküsst. Aber ich habe zurückgeküsst.«

Smith starrt in ihr Gesicht, dann in Rorys, dann wieder in Chloes.

»Findet ihr beide das irgendwie lustig?«, fragt er. »Das ist es nämlich nicht.«

»Ein bisschen lustig ist es schon«, merkt Chloe an.

»Das hier ist kein Witz«, beharrt Rory.

Wenn Smith sich auch nur ein bisschen mit den niederen Rängen der sozialen Schulhierarchie auskennt, sollte er wissen, dass Chloe und Rory sich bislang nicht einmal angeguckt haben, wenn sie im Flur aneinander vorbeigelaufen sind, geschweige denn gemeinsam einen Plan entwickelt hätten, dem Quarterback einen Streich zu spielen. Das gesamte Willowgrove-Ökosystem beruht auf einer strengen Trennung der sozialen Schichten. Smith muss wissen, dass sie die natürliche Ordnung niemals durcheinanderbringen würde, wenn es nicht unbedingt sein müsste.

In Smiths Kiefer zuckt ein Muskel.

»Okay, es ist ziemlich scheiße, das zu hören«, sagt Smith. »Warum erzählt ihr mir das?«

»Weil wir miteinander reden müssen«, versucht es Rory. »Alle drei.«

Chloe schlägt einen direkteren Weg ein. »Rory, zeig ihm die Nachricht.«

»Welche Nachricht?«, sagt Smith.

Rory grummelt, lässt aber seinen Rucksack von der Schulter gleiten und öffnet den Reißverschluss. Das Ding ist voller Thrasher-Patches und prätentiöser Buttons und enthält exakt null Schulbücher.

»Das hat sie uns dagelassen«, sagt Chloe, als sie Smith die Karte überreicht. »Weißt du, was der letzte Teil bedeutet?«

Smith starrt die Nachricht eine lange Minute an, dann faltet er sie zusammen und reicht sie ruhig wieder zurück.

»Du magst sie, oder?«, fragt er Rory. »Immer noch?«

Chloe blickt zwischen den beiden hin und her, vom seltsamen Beinahelächeln auf Smiths Lippen zur unglücklichen Falte zwischen Rorys dichten Augenbrauen. Normalerweise traut sie Teenager-Jungs keine allzu komplizierten Gefühle zu, aber hier gibt es ganz offensichtlich irgendeine Art Geschichte. Der Shara-Vortex.

»Irgendwie schon«, sagt Rory mit der Stimme eines Jungen, der gestern durch Sharas Schlafzimmerfenster geklettert ist.

Smith nickt mit finsterer Befriedigung und wendet sich an Chloe.

»Und was ist mit dir?«

Chloe blinzelt und senkt die Stimme. »Ich kenne sie ja nicht mal richtig. Ich habe keine Ahnung, warum sie mich geküsst hat. Ich will nur Jahrgangsbeste werden.«

Smith denkt darüber nach und nickt erneut. In Chloe wächst die Gewissheit, dass sie Sportler einfach nicht versteht.

»Ich weiß nicht, was sie mit peach meint«, sagt Smith, »aber die Zahlen sind die Kombination von meinem Spindschloss.«

 

In Smith Parkers Spind herrscht Chaos.

Wenigstens riecht er besser als die Schränke der anderen Footballspieler, aber er ist vollgestopft mit Schulbüchern und übervollen Notizbüchern und weiteren Büchern – mehr, als er jemals für einen normalen Englischkurs lesen müsste. Es gibt auch eine überraschende Menge Kosmetikkram: Tuben mit Gesichtscreme, Haargummis, dunkelbrauner Concealer, Granatapfel-Lippenbalsam. Er schiebt die Sachen hinter eine Packung Little Debbies Gefüllte Haferflockenkekse.

»Im Ernst jetzt?«, fragt Chloe und deutet mit dem Kopf auf die Kekse.

Smith zuckt mit den Schultern. »Muss auf meine Kalorienzufuhr achten.«

Während Smith sich durch das Durcheinander wühlt, starrt Chloe auf das Bild an der Spindtür. Es zeigt Smith und Shara beim Homecoming-Ball letzten Herbst, er in einer generischen Button-down-Hemd-Anzughose-Kombi, sie in diesem Kleid.

Chloe war nicht bei dem Ball, aber sie hat, genau wie jedes andere lebendige Wesen hier, Sharas Kleid auf Instagram gesehen. Es war nur ein schlichtes blaues Seidenkleid mit recht züchtigem Ausschnitt, aber es floss wie Wasser über ihren Körper, und sie hatte keinen BH an. Eine komplette Woche lang hat die ganze Schule darüber geredet. Es kam quasi in den BBC-Abendnachrichten, Schlagzeile: GOTTES LIEBSTE TOCHTER GIBT NIPPELEINBLICK.

Sie schaut hinüber zu Rory, um nachzusehen, ob er dasselbe anguckt, aber er konzentriert sich auf Smith, der gerade etwas hinter seinem Gatorade-Vorrat hervorgezogen hat.

»Wartet mal«, sagt Smith. »Das habe ich da nicht hingelegt.«

Es ist eine Tüte voller Süßkram, und an der hübschen rosa Schleife hängt ein zweiter Brief von Shara. Smiths Name steht auf dem Umschlag.

»Pfirsichringe?«, fragt Chloe.

»Sie gibt den Leuten vom Cheerleading immer eine Packung mit, damit sie sie in meine Naschtüte packen«, sagt Smith. »Die mag ich am liebsten.«

»Immer noch?«, fragt Rory.

Smith starrt ihn finster an. »Was?«

»Pfirsichringe sind einfach irgendwie Mittelstufe«, sagt Rory achselzuckend.

»Machst du das jetzt auf oder nicht?«, mischt Chloe sich ein.

Smith seufzt und zieht die Karte aus dem Umschlag, und Chloe überfliegt sie über seine Schulter, bevor er die Chance hat, sie wegzuziehen.

Smith,

ich glaube, das Problem ist vielleicht, dass ich nicht weiß, wie ich dir die Wahrheit sagen soll. Vielleicht musste ich es deshalb tun. Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, aber vielleicht kann ich es dir zeigen.

Ich verspreche dir, mir geht es gut. Sei nicht zu wütend wegen der Küsse. Die beiden konnten nichts dafür.

XOXO

Shara

PS: Ihr seid noch nicht mit dem PS aus dem letzten Brief fertig. Passt auf, dass Rory ihn behält. Sollte nicht allzu schwierig sein.

PPS: Sag Chloe, er wird zu ihr kommen.

»Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll«, sagt Smith und lässt die Karte sinken. Rory legt den Kopf schief, um die Worte entziffern zu können.

»Du glaubst nicht, dass sie ›96-Stunden‹-mäßig entführt wurde, oder?«, fragt Chloe.

»Nein.«

»Dann ist sie also mit Absicht verschwunden?«

»Ich denke schon.«

»Vielleicht flieht sie vom Schauplatz eines Verbrechens? Vielleicht hat sie jemanden umgebracht.«

»Das bezweifele ich.«

Rory richtet sich auf. »Macht es dir überhaupt was aus?«

Uff.

Smith hält inne, dann schließt er seinen Spind.

»Willst du das noch mal sagen?«

»Ich meine, ich weiß nicht«, sagt Rory. »Machst du nicht nach dem Abschluss wegen irgendwelcher SEC-Liga-Groupies eh mit ihr Schluss? Dann wäre das hier ziemlich praktisch für dich.«

»Oha«, entfährt es Chloe.

Smith beißt sich auf die Innenseite seines Mundwinkels und nickt langsam, als sei Rory der schmächtige Kicker eines Auswärtsteams. Dann zieht er sein Handy aus der Tasche, entsperrt es und hält es ihm hin.

Auf dem Bildschirm sieht man seine Anrufliste, und alle Einträge – allein zehn Anrufe in den letzten zwei Stunden – zeigen den gleichen Namen. Shara, Shara, Shara, Shara, Shara.

»Ace und ich sind gestern auf der Suche nach ihr jeden Quadratkilometer von False Beach abgefahren«, sagt Smith. »Wir haben überall nachgesehen, wo sie gerne hingeht, haben geschaut, ob sie vielleicht im Cinemark an der Houghton abhängt oder im Sonic oder im Park mit den ganzen Magnolienbäumen bei Dick’s Sporting Goods, aber sie war nirgendwo. Ich war stundenlang da draußen. Also, ja, es macht mir etwas aus.«

Rorys Gesichtsausdruck ist ein blinkender Cursor in der ersten Zeile eines leeren Word-Dokuments, also springt Chloe für ihn ein.

»Dann brauchst du uns«, sagt sie zu Smith. »Offensichtlich ist das hier eine Art Puzzle, das Shara sich für uns ausgedacht hat, und wir alle haben ein Teil davon. Wenn wir es richtig zusammengesetzt haben, wissen wir, wo Shara ist.«

Smith hört endlich auf, Rory finster anzustarren, und wendet sich Chloe zu.

»Wo ist dein Teil?«

»Ich arbeite daran«, knurrt Chloe. »Aber es hat keinen Sinn, danach zu suchen, wenn wir uns nicht darauf einigen können, dass wir hier zusammen drinhängen.«

Smiths Aufmerksamkeit richtet sich ruckartig wieder auf Rory. »Kommst du damit klar?«

»Hör zu, ich wünschte, mir wäre die ganze Sache scheißegal, ist sie aber nicht«, antwortet Rory, der wieder zu sich gekommen ist. »Wenn Shara uns immer alle drei erwähnt, heißt das wahrscheinlich, dass wir alle hier sein sollen, also, was soll’s. Ich bin dabei.«

»Ich auch«, sagt Chloe. »Was bedeutet, dass du, wenn du wissen willst, wo deine Freundin ist, darüber wegkommen musst, dass sie uns geküsst hat. Und zwar schnell.«

Um sie herum strömt der Rest der Willowgrove in die erste Stunde, und alle starren sie im Vorbeigehen an. Chloe Green, die im College-Zulassungstest unglaubliche 35 Punkte erzielt hat. Smith Parker, der Heilige, dem die Schule zum zweiten Mal in Folge den Sieg in der Landesliga zu verdanken hat. Und Rory Heron, am bekanntesten dafür, dass er letztes Jahr absichtlich das Biologielabor unter Wasser gesetzt hat. Dass sie drei sich an einem Ort aufhalten, reißt ein Loch ins Willowgrove-Raum-Zeit-Kontinuum.

Smith denkt offensichtlich intensiv nach. Es ist eindeutig, dass er und Rory ungefähr alles lieber tun würden, als auch nur eine Sekunde länger in der Gesellschaft des anderen zu verbringen, was bedeutet, dass Chloes Leben sich in einen ständigen Egomanen-Kampf verwandeln wird, aber damit wird sie fertig, solange es ihr einen fairen Sieg verschafft. Es ist ein notwendiges Übel, so wie die Willowgrove Christian Academy.

»Ich denke, ich bin dabei«, sagt Smith. Er wirft Chloe einen Seitenblick zu. »Ich verstehe, was Shara über dich gesagt hat.«

Chloe blinzelt. »Was hat sie über mich gesagt?«

»Mach dir darüber keine Sorgen.«

»Okay«, sagt Chloe und macht sich definitiv Sorgen. »Wenn es irgendetwas gibt, das wir wissen sollten, wenn sie zum Beispiel in letzter Zeit irgendwas Ungewöhnliches getan oder gesagt hat, solltest du mir das erzählen.«

»Uns«, korrigiert Rory sie.

»Uns«, stimmt Chloe zu.

»Das Einzige in letzter Zeit«, sagt Smith schließlich, »war, dass sie ständig gesagt hat, sie hätte keine Zeit, mich zu treffen, weil sie Hausaufgaben machen musste. Und ja, das macht sie sonst auch, aber diesmal waren es wirklich viele Hausaufgaben. Also, ich meine … vielleicht hat sie auch was anderes gemacht.«

»Wirkte sie … unglücklich?«, fragt Chloe.

»Das ist bei Shara manchmal schwer zu sagen«, antwortet Smith. »Manchmal taucht sie einfach irgendwie ab. Antwortet ein ganzes Wochenende nicht auf Nachrichten oder schaltet ihr Handy auf Flugmodus, ohne Erklärung, und zwei Tage später ist es, als wäre nichts gewesen.«

»Und was machst du dann?«, fragt Rory. »Wenn sie abtaucht?«

»Ich musste noch nie irgendwas machen«, sagt Smith. »Sie ist immer wiederaufgetaucht.«

 

Gruppenchat von Chloe Green, Smith Parker und Rory Heron

 

ich schicke das hier nur, um den Chat zu erstellen. Bitte nicht antworten, es sei denn, ihr habt neue SW-Infos

 

Smith

ok

 

Smith, ich habe wortwörtlich gesagt, bitte nicht antworten

 

Smith

sorry

 

Chloe hat den Namen der Gruppe zu »I Kissed Shara Wheeler« geändert

 

Rory

 

Smith

ganz sicher nicht

 

Smith hat den Gruppennamen gelöscht

 

kA warum du sauer bist, wenn es sich doch um eine völlig korrekte Tatsache handelt

Kann verbrannt werden

Inhalt eines von Rorys Tapes, nicht zurückgespult. Markiert mit einem grünen Aufkleber für »persönlich«.

Ich habe Shara Wheeler geküsst.

 

Es war so: Ich halte den Abschlussball an sich für eine überflüssige Veranstaltung, aber er übt trotzdem eine Art morbide Faszination auf mich aus, also bin ich aus dem Fenster aufs Dach geklettert, um dazusitzen und dabei zuzusehen, wie alle vor dem Clubhaus am Golfplatz aus ihren Miet-Limos steigen. Und da hat sie mich gefunden. Sie ist in ihrem Ballkleid hierhergelaufen, über das Spalier am Blüten-Hartriegel aufs Dach geklettert, hat »Hi« gesagt und mich dann geküsst. Und dann war sie wieder weg.

Es hat sich nicht wirklich so angefühlt wie der weltbewegende Moment, den ich mir vorgestellt hatte, in erster Linie war ich einfach nur … verwirrt.

Ich hab dagesessen und zugesehen, wie Smith vor ihrem Haus hält, genau wie ich seit der Zehnten schon eine Million Mal zugesehen habe, wie er vor ihrem Haus hält, mit einem Lächeln so breit, dass ich vom Dach aus sehen konnte, wie weiß seine Zähne sind. Er hat Shara und sich vor ihrem Haus fotografiert, als wäre nichts geschehen.

Brooklyn Bennett hat heute Morgen eine passiv-aggressive Instagram-Story darüber gepostet, wie der Schülerrat sein halbes Abschlussball-Budget für einen Ballonregen zur Krönung der Ballkönigin ausgegeben hat, die nie stattgefunden hat. Jake hat Ace heute Morgen im Sonic getroffen, und Ace hat gesagt, Smith hätte ihm erzählt, er sei losgegangen, um Sharas Handtasche zu holen, und als er wieder auf die Tanzfläche kam, war sie verschwunden. Mittlerweile haben es alle gehört. Aber niemand weiß, wo sie hin ist oder warum sie gegangen ist.

Aber ich habe sie geküsst.

3

TAGE SEIT SHARA WHEELERS VERSCHWINDEN: 3

TAGE BIS ZUM HIGHSCHOOL-ABSCHLUSS: 40

Am Dienstagnachmittag sitzt Chloe im Badezimmer, wickelt sich eine Silberkette um den Finger und denkt an Kalifornien.

Vor der neunten Klasse war Chloe nur ein paar Mal zu Besuch in False Beach gewesen. Sie hatte es immer unerträglich gefunden – kein In-N-Out-Burger, kein Bubble Tea, nur Polar Pop Drinks von der Tankstelle und ein Olive Garden, bei dem man freitags immer zwei Stunden warten musste, weil es das schickste Restaurant der Stadt war. (Seit Jahren gibt es Gerüchte, dass PF Chang’s eine Filiale eröffnen will, aber Chloe denkt immer noch, dass ein chinesisches Restaurant für False Beach ein bisschen zu abenteuerlich ist.)

Aber als ihre Großmutter krank wurde und klar war, dass sie sich nicht wieder erholen würde, hat ihre Mama ihre Anstellung an der Oper in L.A. und Chloe ihre Clique und ihr zweimal wöchentliches Sashimi für False Beach aufgegeben. Das ist vier Jahre her.

Vier Jahre, seit sie in der neunten Klasse ein Mädchen gefragt hat, warum das Kapitel über geschlechtliche Fortpflanzung zugeklebt sei, und so Georgia kennengelernt hat, die schon im Willowgrove-Kindergarten war. Dreieinhalb Jahre, seit sie die Goth-Phase hinter sich gelassen und Georgia ihren gemeinsamen Fünfjahresplan für die Zeit nach der Willowgrove an ihre Spindtür gehängt hat. In diesem Jahr haben Chloe und Benjy ihren Chorleiter Mr Truman endlich dazu überredet, Das Phantom der Oper als Frühjahrsmusical aufzuführen, und die beiden haben Christine und Raoul gespielt.

Und auch vier Jahre, seit Chloe ihr erstes Willowgrove-Klassenzimmer betreten und das Mädchen vom Autobahn-Banner in der ersten Reihe gesehen hat, die Textmarker ordentlich nebeneinander aufgereiht. Am Ende des Tages hatte sie Folgendes gelernt: (1) Das ist Shara Wheeler. (2) Shara Wheelers Dad ist Direktor Wheeler, der Mann, der das archaische Regelwerk der Willowgrove umsetzt. (3) Ihre Familie hat mehr Geld als Gott. (4) Alle – alle – lieben sie.

Sogar Georgia, sonst auf ihre eigene stille Art unbeeindruckt von der Willowgrove, sagte, als Chloe sie in jener ersten Woche fragte: »Nee, ehrlich, Shara ist cool.«

Shara ist nicht cool. Kalifornien war cool. Irgendwo zu leben, wo es keine Rolle spielte, dass alle von ihren zwei Müttern wussten, war cool. Shara ist nur die leere Hülle einer Person, die alle richtigen False-Beach-Kästchen angekreuzt hat, sodass man denkt, ein perfektes Mädchen vor sich zu haben. Was ist daran cool?

(Nein, sie hat ihre eigene Nachricht von Shara immer noch nicht gefunden. Ja, sie hat überall nachgesehen, sogar in der Tasche der Bluse, an die sich Sharas Poloshirt gepresst hat, als sie sich geküsst haben.)

Chloe lässt die zarte Kette zurück in die Schublade gleiten und schließt sie mit einem grimmigen Blick in ihren Badezimmerspiegel. Warum sieht sie dort die einzige Person der ganzen Stadt, die gegen Shara Wheeler immun ist?

»Deine perfekte Urteilsfähigkeit ist ein Fluch«, sagt Chloe zu ihrem Spiegelbild.

Zurück in ihrem Zimmer schiebt sie mit dem Fuß einen Stapel College-Zulassungsunterlagen beiseite, um an ihren Rucksack zu kommen. Die Suche nach ihrer Shara-Nachricht wird ein paar Stunden warten müssen: Sie hat noch ein Date mit ihrem Abschlussprojekt in Französisch, einen mindestens sechsseitigen Aufsatz über die Aufstände in Frankreich zwischen 1789 und 1832, das sie mit Georgia zusammen in drei Wochen abgeben muss.

»Mom, Titania hat schon wieder meine Unterwäsche gefressen«, sagt Chloe, als sie in die Küche gestürmt kommt.

Chloes Mom, die immer noch ihren Arbeitsoverall trägt und gerade irgendetwas Riesiges in den Tiefkühlschrank stopft, grunzt: »Klingt wie ein Problem von jemandem, der seine Unterwäsche auf dem Boden rumliegen lässt, nicht wie meines.«

»Das ist das dritte Mal diesen Monat. Kann ich ein bisschen Geld haben, um morgen bei Target vorbeizugehen?«

Titania, die angesprochene Hauskatze, hockt oben auf dem Kühlschrank und überwacht sie beide wie ein kleiner, unterhosenfressender Lord. Sie ist aufbrausend und rachsüchtig und fast schon so lange Teil der Familie wie Chloe. Chloes Moms geben gerne ihr die Schuld an Chloes Charakter.

»Guck mal in der Wechselgelddose.«

Chloe seufzt und beginnt, Vierteldollarstücke abzuzählen.

»Was ist das?«, fragt sie, während sie dabei zusieht, wie ihre Mom gefrorenes Gemüse umstapelt, um Platz für das mysteriöse eingewickelte Paket zu schaffen. »Hast du jemanden umgebracht?«

»Deine Mutter«, sagt sie, als sie es endlich geschafft hat, das Bündel in die Schublade zu stopfen, »hat ein Südstaaten-Festessen beantragt, wenn sie dieses Wochenende aus Portugal zurückkommt. Ein ganz bestimmtes.« Sie tätschelt kurz den Fleischklumpen und wendet sich dann zu Chloe, eine kurze Strähne schwarzen Haares fällt ihr in die Stirn. Früher hat Chloe ihr immer geholfen, es blau zu färben, aber seit sie umgezogen sind, bleibt sie bei ihrer natürlichen Farbe. »Das hier, mein Kind, ist ein Turducken.«

»Ich bin mir sicher, das ist kein Tier der nordamerikanischen Fauna«, sagt Chloe.

»Es ist ein Truthahn gefüllt mit einer Ente gefüllt mit einem Hühnchen.«

»Igitt. Wo hast du das überhaupt her?«

»Ich kenne da so einen Typen.«

»Das klingt … beunruhigend.«

Ihre Mom nickt und schließt den Tiefkühlschrank. »Meine Frau ist eben ein Mensch von erstaunlicher kulinarischer Raffinesse.«

Weil Chloe und ihre Mom beide unglücklich über den Umzug waren, hat ihre West-Coast-Mutter beschlossen, ihre Erkundung des Südens mit aggressiver Positivität zu betreiben. Sie hat sich ein rotes Bama-Shirt gekauft, um es im Gemüsegarten zu tragen, und ein passendes Set Reisetaschen mit Hahnentrittmuster für ihre Arbeitsreisen ins Ausland. Sie hat sogar ein gerahmtes Foto von Dolly Parton auf das Küchenfensterbrett gestellt. Das ganze Programm.

Aber ihre Lieblingsbeschäftigung ist das Ausprobieren jeder erdenklichen Südstaaten-Spezialität. Zu Hause war das Alabamahafteste ihres Speiseplans die Kanne mit Eistee, die ihre Mutter immer im Kühlschrank aufbewahrt hat. Mittlerweile hat sie darauf bestanden zu lernen, wie man Hähnchenschenkel und grüne Tomaten frittiert, jedes einzelne Gericht von der Bojangles-Karte probiert und sich mit den Betreibenden jedes Südstaaten-Soulfood-Ladens der ganzen Stadt angefreundet.

Und offenbar wird sie Chloe jetzt zwingen, irgendeine albtraumhafte Geflügel-Matrjoschka zu essen, was noch schlimmer ist als damals, als sie ein Hühnchen mit einer Dose Miller Lite im Arsch gegrillt hat.

»Ich kann es kaum erwarten, über diese Bühne zu laufen, mein Abschlusszeugnis abzuholen und einfach weiterzugehen, bis ich eine Stadt mit einem Trader Joe’s erreiche«, sagt Chloe.

»Hey.« Ihre Mom verschränkt die Arme, während sie sie durch die Küche hinweg ansieht. »Ist das die normale Chloe-Baseline-Grummeligkeit, oder vermisst du deine Mutter? Reicht dir eine Mom nicht?«

Chloe geht mit einem Achselzucken darüber hinweg, nimmt ihre Handtasche und ihre Schlüssel vom Tisch neben der Hintertür, der unter einem der abstrakten Busengemälde ihrer Mutter steht. »Mir geht’s gut.«

»Oder ist es das, was dich schon seit letzter Woche irgendwie seltsam macht?«

»Es geht mir gut!«, faucht Chloe. »Versuch du mal, Bikini-Unterteile als Slip-Ersatz zu tragen, und zeig mir, wie umgänglich dich das macht!«

»Okay. Aber du weißt. Wenn du über irgendetwas reden willst. Mädchen, Jungs, was auch immer. Das Ende der Highschool weckt in jedem eine Menge Emotionen. Ich weiß, du bist –«

»Tschüss!«, ruft Chloe und verschwindet durch die Tür. Wenn sie sie schnell genug zuschlägt, kann ihr der Geist von Shara Wheeler sicher nicht folgen.

 

Die Fahrt von Chloes Haus bis ins Zentrum von False Beach dauert fünfzehn Minuten, während derer man an nichts Bedeutsamerem vorbeikommt als einem Dairy Queen Restaurant.

Was die Ortsansässigen »Zentrum« nennen, ist eine einzige Hauptstraße, gesäumt von historischen Rotziegelbauten und zweistöckigen Läden, die sich mit ihren eisernen Balkonen und Südstaaten-Kleinstadtcharme aneinanderdrängen. Die Straße führt auf ein weißes Ratsgebäude zu, das sich mit seinen gusseisernen Säulen hoch über den breiten Marktplatz zu seinen Füßen erhebt, Bürgerkriegsära. Früher stand mitten auf dem Platz ein hässliches Konföderierten-Denkmal, aber vorletzten Sommer hat es jemand mitten in der Nacht abmontiert und in den Lake Martin gerollt, das einzig Coole, was je in False Beach passiert ist. Letztes Jahr hat der Stadtrat einen Wettbewerb abgehalten, um ein neues Stadt-Maskottchen zu wählen, und eine Bronzestatue des Gewinners aufstellen lassen: ein sich aufbäumender Hirsch mit riesigem Geweih namens Bucky der Bock.

Chloe biegt vor dem Platz links ab und parkt genau in dem Moment vor Websters Ice Cream, als der Glockenturm fünf Mal läutet.

Belltower Books, das diesen Namen trägt, weil es im unteren Teil des Turms untergebracht ist, ist so ungefähr der einzige Ort in False Beach, der es wert ist zu existieren. Es ist klein, nur zwei vollgestopfte Räume plus einem dritten, für den man eine Sondererlaubnis und eine Leiter braucht, mit Büchern, die sich auf jeder freien Oberfläche stapeln, nicht zuletzt dem Fußboden, dem Regal über der Toilette oder der Oberseite des Terrariums, in dem ein fetter Leguan wohnt. Pünktlich zu jeder Stunde hallt die Glocke im Turm durch die Wände des Ladens und lässt alles bis hin zur Ladentheke erbeben, an der Georgias Dad mit seiner Fliegerbrille sitzt und die Eagles hört.

Sie findet Georgia ganz oben auf der Leiter mit einem Taschenbuch in der Hand, die untere Hälfte ihrer Schuluniform hat sie gegen hochgekrempelte graue Jogginghosen und ein Paar Teva-Sandalen eingetauscht. Die beiden sehen sich ziemlich ähnlich – braune Augen, dichte Augenbrauen, markanter Kiefer –, aber Chloes Look entspricht mehr der düsteren Welt der Wissenschaft, Georgia dagegen ist eher Backpacker-Müsliriegel-Baby-Butch. Sie haben sogar das gleiche kurze, dunkle Haar, aber Chloe trägt einen streng geschnittenen Pony, während es Georgia egal ist, wer ihre Stirn sieht.

Georgia ist die Art von Person, die einen Raum betritt, als hätte sie ihn schon tausendmal betreten, weiß, wo alles ist, einschließlich der Ausgänge, und nicht besorgt ist, dass sich seit dem letzten Mal irgendetwas geändert haben könnte. Sie ist zu groß, um klein auszusehen, zu sanft, um eindrucksvoll zu wirken, auf eine Art und Weise zu schlau, die nichts mit chemischen Formeln oder unbestimmten Integralen zu tun hat, um sich um ihre Abschlussnote zu kümmern. Einmal hat Chloe in ihrem gemeinsamen Wahlfach Kreatives Schreiben die Aufgabe bekommen, einen Menschen mit einem Wort zu beschreiben. Sie hat sich für Georgia entschieden und »standhaft« ausgewählt, wie ein Baum oder ein Haus.

Es ist ein Wunder, dass jemand wie sie dem Ursumpf Alabamas entstiegen ist. Ohne sie wäre das Leben hier unerträglich.

Chloe streckt den Arm nach oben und klopft zweimal seitlich an Georgias Knöchel. »Was liest du?«

Georgia zeigt ihr kurz das Cover, ohne von der Seite aufzublicken. Emma.

»Austen? Schon wieder?«

»Schau«, seufzt Georgia, die offensichtlich den Absatz beendet hat, den sie gerade gelesen hatte. Sie spricht nie mitten in einem Absatz. »Ich habe eine dieser zeitgenössischen Autorinnen ausprobiert, die Val mir empfohlen hat –«

»Bitte nenn meine Mom nicht Val.«

»– und die Sache mit diesen Büchern von heute ist eben, dass eine ganze Menge von ihnen einfach nicht besonders gut sind.«

»Und trotzdem möchtest du auch eines schreiben.«

»Der Trick ist«, sagt Georgia und schlägt ihr Buch zu, »ich schreibe einfach ein gutes.«

»Ich verstehe diese Sache mit Austen und dir einfach nicht«, sagt Chloe, als Georgia zwischen den Sprossen der Leiter auf den darunterliegenden dicken Teppich gleitet. »Ich fand Emma immer nervig.«

»Das Buch oder den Charakter?«

»Den Charakter. Das Buch ist in Ordnung.«

Georgia geht voran zur Ladentheke, begleitet vom metallischen Scheppern der Wasserflasche, die sie immer mit sich herumträgt und die gegen Regale und Stühle schlägt. Von der anderen Seite des Ladens winkt ihnen Georgias Mom zu, die mit Kopfhörern auf den Ohren Inventur macht.

»Warum ist Emma nervig?«, fragt Georgia.

»Weil sie manipulativ ist«, antwortet Chloe. »Ich finde nicht, dass sie am Ende alles wiedergutmacht, was sie den anderen angetan hat.«