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Casey McQuiston

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Beschreibung

Zwei junge Frauen in New York, eine große Liebe und eine zauberhafte Botschaft: die neue unkonventionelle romantische Komödie von Casey McQuiston Die New Yorker Studentin August glaubt weder an Hellseherei, noch an die Art von Liebe, über die Filme gedreht werden. Und ganz sicher glaubt sie nicht, dass ihre WG voller liebenswerter Nerds daran etwas ändern wird – oder gar ihre Nachtschichten in einem Pancake House, das seit den 70er Jahren Kultstatus genießt. Doch dann ist da in der U-Bahn plötzlich Jane – die ebenso schöne wie unmögliche Jane. Um sie wiederzusehen, fährt August täglich zur selben Zeit mit der Linie Q. Und sie beginnt sich zu wundern: Jeden Tag trägt Jane dieselbe Kleidung, niemals scheint sie aus der U-Bahn auszusteigen. Nur langsam begreift August, dass sie sich für Jane auf ein unmöglich scheinendes Abenteuer einlassen muss … »Casey McQuiston gelingt es wieder, eine Welt zu erschaffen, die man am liebsten gar nicht mehr verlassen möchte – voller wunderbarer Charaktere und mit einem queeren Paar, das man sofort ins Herz schließt.« Meryl Wilsner Wenn die Liebe U-Bahn fährt: einfühlsam, humorvoll und ein kleines bisschen übersinnlich begeistert Casey McQuiston, New-York-Times-Bestseller-Autor*in von »Royal Blue«, auch mit ihrer zweiten romantischen Komödie.

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Seitenzahl: 608

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Casey McQuiston

One Last Stop

Der letzte Halt ist erst der Anfang

Aus dem amerikanischen Englisch von Carina Schnell

Knaur e-books

Über dieses Buch

Die New Yorker Studentin August glaubt weder an Hellseherei, noch an die Art von Liebe, über die Filme gedreht werden. Und ganz sicher glaubt sie nicht, dass ihre WG voller liebenswerter Nerds daran etwas ändern wird – oder gar ihre Nachtschichten in einem Pancake House, das seit den 70er Jahren Kultstatus genießt.

Doch dann ist da in der U-Bahn plötzlich Jane – die ebenso schöne wie unmögliche Jane. Um sie wiederzusehen, fährt August täglich zur selben Zeit mit der Linie Q. Und sie beginnt sich zu wundern: Jeden Tag trägt Jane dieselbe Kleidung, niemals scheint sie aus der U-Bahn auszusteigen. Nur langsam begreift August, dass sie sich für Jane auf ein unmöglich scheinendes Abenteuer einlassen muss …

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. KapitelDanksagung
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Für die queeren Communitys der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft

 

Und für Lee und Essie – kein Platz der Welt würde ausreichen, um eure Liebe in einer Widmung zu beschreiben

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1

Aushang an einem Mülleimer im Fast-Food-Restaurant Popeyes Louisiana Kitchen, Ecke Parkside und Flatbush Avenue:

Suchen Junge*n Mitbewohner*in für Wohnung im 6. Stock. 3 Schlafz., 700 $/Monat. Muss queer- und transfreundlich sein. Darf keine Angst vor Feuer oder Hunden haben. Niemand mit Sternzeichen Waage, haben schon eine. Meldet euch bei Niko.

»Darf ich dich anfassen?«

Das ist das Erste, das der tätowierte Typ sagt, als August sich in die Mitte des abgewetzten braunen Ledersofas setzt – ein ikonisches Möbelstück, das ihr in den letzten viereinhalb Jahren College immer wieder begegnet ist. Es ist diese bestimmte Art von Sofa, wie dazu gemacht, um es unter Lehrbüchern zu begraben, darauf zu pennen oder auf einer Party darauf zu sitzen, während man an einer schalen Cola nippt und mit niemandem spricht. Die unverzichtbare abgefuckte Couch einer WG voller Leute Anfang zwanzig.

Die meisten anderen Möbel sind ebenso abgefuckt wie die abgefuckte Couch – wild zusammengewürfelt und wahrscheinlich aus dem Secondhandladen oder von der Straße reingeholt. Allerdings setzt sich Tattoo-Boy – auf dem Aushang stand, dass er Niko heißt – auf einen überraschend noblen Eames-Stuhl ihr gegenüber.

So ist die ganze Wohnung: eine Mischung aus Altbekanntem und völlig Neuem. Klein und vollgestopft, die Wände in aggressiven Grün- und Gelbtönen gestrichen. Pflanzen hängen von fast jeder Oberfläche, klettern mit dürren Ärmchen an Regalen hinauf, verbreiten ihren erdigen Geruch. Die zugekleisterten Fensterrahmen erinnern August an jene in alten Wohnungen in New Orleans, aber die Scheiben hier sind zur Hälfte mit Zeichnungen zugehangen, sodass das Nachmittagslicht gedämpft und wachsartig hindurchfällt.

In einer Ecke steht eine fünf Fuß große Skulptur von Judy Garland, die aus Fahrradteilen und Marshmallows besteht. Man erkennt sie nicht als Judy, der einzige Hinweis ist das Schild, auf dem steht: HALLO, ICH HEISSE JUDY GARLAND.

Niko schaut sie an, eine Hand ausgestreckt, leicht verschwommen durch den Dampf, der von seinem Tee aufsteigt. Er ist ganz in Schwarz gekleidet, Rockabilly-Style, dunkle Haare, Undercut, hellbraune Haut, energischer Kiefer, von einem Ohr baumelt ein Kristall. Tattoos ziehen sich über beide Arme, klettern unter seinem bis oben zugeknöpften Hemd an seinem Hals hinauf. Seine Stimme ist ein bisschen heiser, als hätte er gerade eine Erkältung überstanden, und aus einem Mundwinkel ragt ein Zahnstocher.

Okay, Danny Zuko, komm mal wieder runter.

»Sorry, äh …« August starrt ihn an, hat keine Ahnung, was sie auf seine Frage antworten soll. »Was?«

»Nicht auf eine komische Weise, falls du das denkst«, sagt er. Auf seinem Handrücken ist eine Ouija-Planchette tätowiert, wie sie für Geisterbeschwörungen benutzt werden. Die Buchstaben auf seinen Fingerknöcheln ergeben VOLLMOND. Heilige Scheiße.

»Ich will nur deinen Vibe empfangen. Manchmal hilft Körperkontakt.«

»Was? Bist du etwa ein …?«

»Ein Medium, ja«, sagt er ganz sachlich. Er grinst breit und entwaffnend, während er den Zahnstocher über seine weißen Zähne gleiten lässt. »Oder Hellseher, Hexer, brujo, wie auch immer du es nennen willst.«

August hätte es wissen müssen. Es war völlig unmöglich, dass ein Zimmer in Brooklyn für 700 $ im Monat keinen Haken hat. Und der Haken ist Marshmallow-Judy-Garland und dieser Möchtegern-Bruce-Springsteen, der ihr wahrscheinlich gleich weismachen will, dass sie ihre Aura linksrum trägt wie eine billige Strumpfhose.

Aber sie kann sonst nirgendwohin, und im Erdgeschoss des Gebäudes gibt es ein Popeyes. August Landry vertraut zwar keinen Menschen, dafür aber Brathähnchen.

Also lässt sie Niko ihre Hand berühren.

»Cool.« Seine Stimme klingt ausdruckslos, so als hätte er gerade den Kopf aus dem Fenster gesteckt, um nachzusehen, wie das Wetter ist. Er tippt mit zwei Fingern auf ihre Fingerknöchel und lehnt sich zurück. »Oh. Oh, wow, okay. Das ist interessant.«

August blinzelt. »Was?«

Er nimmt den Zahnstocher aus dem Mund und legt ihn neben eine Schale voller Kaugummikugeln auf den Schrankkoffer zwischen ihnen, der als Couchtisch dient. Er sieht aus, als würde sich etwas in ihm aufstauen.

»Du magst Lilien?«, fragt er. »Ja, ich werde dir Lilien zum Einzug kaufen. Passt dir Donnerstag? Myla muss erst mal ihr Zeug aus dem Zimmer räumen. Sie hat ziemlich viele Knochen.«

»Ich … was? Meinst du in ihrem Körper?«

»Nein, Froschknochen. Total winzig. Nicht leicht aufzusammeln. Dafür braucht man eine Pinzette.« Er scheint August die Verwirrung vom Gesicht abzulesen. »Sie ist Künstlerin, braucht die Knochen für ein Projekt. Du ziehst in ihr Zimmer. Keine Sorge, ich räuchere es vorher mit Salbei.«

»Ähm, ich hab mir ehrlich gesagt keine Sorgen wegen … Froschgeistern gemacht.« Sollte sie sich etwa Sorgen wegen Froschgeistern machen? Vielleicht ist diese Myla ja eine rituelle Froschmörderin.

»Niko, hör endlich auf, den Leuten was von Froschgeistern zu erzählen«, ertönt eine Stimme aus dem Flur. Eine hübsche junge Schwarze Frau mit einem freundlichen, runden Gesicht und Wimpern bis zum Mond steckt den Kopf aus einer Tür. Umrahmt von ihren dunklen Locken, thront eine Schutzbrille auf ihrem Kopf. Sie lächelt August an. »Hi, ich bin Myla.«

»August.«

»Wir haben unsere Mitbewohnerin gefunden«, sagt Niko. »Sie mag Lilien.«

August hasst es, wenn Leute wie er solche Dinge sagen. Er hat zufällig richtig geraten, mehr nicht. Ja, sie mag Lilien. Sie weiß sogar so viel darüber, dass sie eine ganze Wikipedia-Seite mit ihrem Wissen füllen könnte: Lilium candidum. Wird zwei bis sechs Fuß hoch. Das hat sie aus dem Fenster der kleinen Zweizimmerwohnung ihrer Mom beobachtet.

Niko kann das unmöglich wissen. Also reagiert sie genauso, wie sie zu Hause auf die Handleserinnen unter ihren Strandschirmen auf dem Jackson Square reagiert: Sie hält die Luft an und ignoriert Nikos Worte.

»Also ist das alles?«, fragt sie. »Ich kriege das Zimmer? Du, äh, hast mir ja gar keine Fragen gestellt.«

Er stützt den Kopf in die Hand. »Um wie viel Uhr wurdest du geboren?«

»Ich … weiß es nicht?« August erinnert sich an den Aushang und fügt eilig hinzu: »Ich bin Sternzeichen Jungfrau, falls das hilft.«

»Oh, ja, eindeutig eine Jungfrau.«

August schafft es, ihre Züge neutral zu halten. »Bist du ein professionelles Medium? Ich meine, bezahlen die Leute dich dafür?«

»Halbtags«, sagt Myla. Sie gleitet in den Raum, sehr elegant für jemanden mit einer Lötlampe in der Hand, und lässt sich auf den Stuhl neben Nikos fallen. Der pinke Kaugummi in ihrem Mund erklärt die Schale auf dem provisorischen Couchtisch. »Und die andere Hälfte arbeitet er als ziemlich schlechter Barkeeper.«

»So schlecht bin ich nun auch wieder nicht.«

»Überhaupt nicht«, sagt sie und küsst ihn auf die Wange. »Er hat gedacht, ein Paloma wäre eine Art Tumor«, flüstert sie August übertrieben laut zu.

Während sie sich über Nikos Barkeeper-Qualitäten zanken, nimmt August eine Kaugummikugel aus der Schale und lässt sie fallen, um ihre Theorie über die Bodenbeschaffenheit zu testen. Wie angenommen rollt die Kugel durch die Küche und in den Flur.

Sie räuspert sich. »Also, seid ihr beiden …?«

»Zusammen, ja«, sagt Myla. »Seit vier Jahren. Es war schön, dass jeder sein eigenes Zimmer hatte, aber bei uns beiden läuft es finanziell gerade nicht so rund, also ziehe ich bei ihm ein.«

»Und die dritte Person?«

»Wes. Sein Zimmer ist da drüben, am Ende des Gangs«, sagt sie. »Er ist hauptsächlich nachtaktiv.«

»Die hier sind von ihm.« Niko deutet auf die Zeichnungen an den Fenstern. »Er ist Tätowierer.«

»Okay«, sagt August. »Also liegt die Miete insgesamt bei 2800 $? 700 $ pro Person?«

»Jep.«

»Und auf dem Zettel stand irgendwas von … Feuer?«

Myla wedelt mit ihrer Lötlampe. »Kontrolliertes Feuer.«

»Und Hunde?«

»Wes hat einen«, erklärt Niko. »Ein kleiner Pudel namens Nudel.«

»Nudel der Pudel?«

»Er hat sich an Wes’ Schlafrhythmus angepasst. Ist also eher wie ein Geist in der Nacht.«

»Sollte ich noch etwas wissen?«

Myla und Niko wechseln einen Blick.

»Etwa dreimal am Tag macht der Kühlschrank so ein komisches Geräusch, wie ein Skelett, das ein paar Münzen verspeist hat, aber wir sind sicher, dass es nichts Schlimmes ist«, sagt Niko.

»Eine der Fliesen in der Küche ist lose, und wir kicken sie ständig durch den Raum«, fügt Myla hinzu.

»Unser Nachbar von gegenüber ist eine Dragqueen, er übt manchmal seine Stücke mitten in der Nacht. Wenn du also Patti LaBelle hörst, weißt du, warum.«

»Es dauert zwanzig Minuten, bis das Wasser warm wird, zehn, wenn du nett bist.«

»Es ist unwahrscheinlich, dass die Leitungen von Geistern heimgesucht werden. Aber auszuschließen ist es nicht.«

Myla lässt eine Kaugummiblase zerplatzen. »Das ist alles.«

August schluckt. »Okay.«

Sie wägt ihre Möglichkeiten ab, während sie beobachtet, wie Niko seine Finger in die Tasche von Mylas mit Farbklecksen übersäten Overall gleiten lässt. Sie fragt sich, was Niko wohl gesehen hat, als er ihren Handrücken berührte – oder was er glaubte zu sehen. Vorgab zu sehen.

Und möchte sie überhaupt mit einem Pärchen zusammenwohnen? Mit einem Paar, dessen eine Hälfte ein Fake-Medium ist, das wie der Frontmann einer Arctic-Monkeys-Coverband aussieht, und dessen andere Hälfte ein Feuerteufel mit einem Zimmer voller toter Frösche ist? Nein.

Aber das Frühjahrssemester am Brooklyn College beginnt in einer Woche, und wenn die Kurse erst richtig losgehen, kann sie nicht gleichzeitig nach einer Wohnung und einem Job suchen.

Für eine Frau, die ein Messer mit sich herumträgt, um auf keinen Fall unvorbereitet zu sein, hat August ihren Umzug nach New York nicht sonderlich gut geplant.

»Okay?«, fragt Myla. »Okay, was?«

»Okay«, wiederholt August. »Ich nehme das Zimmer.«

**

August hätte so oder so Ja zu dem Zimmer gesagt, da sie in einer kleineren und hässlicheren Wohnung aufgewachsen ist, die voller noch seltsamerer Dinge war.

»Sieht schön aus«, sagt ihre Mom über FaceTime vom Fensterbrett.

»Das sagst du nur, weil es hier Holzböden gibt und keinen Teppich des Grauens, wie früher in Idlewild.«

»Dort war es doch gar nicht so übel«, antwortet sie, während sie in einer Kiste voller Aktenordner herumwühlt. Mit einem offenen Marker schiebt sie ihre stubenfliegenartige Brille höher auf die Nase, wobei sie einen gelben Streifen hinterlässt. »Wir haben neun tolle Jahre dort verbracht. Und Teppiche können unzählige Sünden verbergen.«

August verdreht die Augen und schiebt eine Umzugskiste durch den Raum. Die Idlewild-Wohnung war ein Dreckloch mit zwei Zimmern, eine halbe Stunde von New Orleans entfernt. So eine richtig trashige Siebzigerjahre-Absteige, die weder den Charme noch den Charakter eines Stadtapartments hatte.

August erinnert sich an den Teppich. Zumindest das bisschen, das zwischen dem Labyrinth aus hoch aufgestapelten Zeitschriften und Kisten sichtbar war. Double Dare 2000: Edition alleinerziehende Mutter. Er hatte eine entsetzlich rußig-beige Farbe, genau wie die Wände. Zumindest an den Stellen, die nicht mit Stadtkarten, Pinnwänden und aus Telefonbüchern gerissenen Seiten vollgehängt waren …

Ja, dieses Zimmer ist wirklich gar nicht so übel.

»Hast du heute mit Detective Primeaux gesprochen?«, fragt August.

Es ist der erste Freitag des Monats, also kennt sie die Antwort bereits.

»Ja, nichts Neues«, antwortet ihre Mom. »Er tut nicht einmal mehr so, als würde er den Fall neu aufrollen wollen. Verdammt schade.«

August schiebt eine andere Kiste in die Ecke neben der Heizung, die lautstark gegen die Januarkälte ankämpft.

Jetzt ist sie näher am Fensterbrett und kann ihre Mom besser sehen. Das gleiche mausbraune krause Haar wie August. Darunter das gleiche runde Gesicht und die großen grünen Augen, die gleichen kantigen Hände, mit denen sie die Dokumente durchsucht. Ihre Mom sieht erschöpft aus. Sie sieht immer erschöpft aus.

»Tja«, sagt August. »Er ist halt ein Arsch.«

»Er ist ein Arsch«, bestätigt ihre Mutter mit einem ernsten Nicken. »Wie sind denn die anderen in der WG so?«

»In Ordnung. Ich meine, irgendwie komisch. Einer gibt sich als Medium aus. Aber wenigstens hab ich nicht das Gefühl, sie könnten jemanden ermorden oder so …«

Ihre Mom summt vor sich hin, hört nur mit halbem Ohr zu. »Vergiss die Regeln nicht. Nummer eins …«

»Wir gegen alle anderen.«

»Und Nummer zwei …«

»Wenn dich jemand töten will, sieh zu, dass du vorher die DNA der Person unter deine Fingernägel bekommst.«

»Gutes Mädchen«, sagt sie. »Hör mal, ich muss jetzt Schluss machen. Gerade habe ich diese Lieferung vom staatlichen Archiv bekommen, und ich werde das ganze Wochenende brauchen, um mich da durchzuarbeiten. Pass auf dich auf, okay? Und ruf mich morgen an.«

Sobald sie auflegen, ist es plötzlich unerträglich still im Raum.

Wenn Augusts Leben ein Film wäre, bestünde der Soundtrack aus den leisen Klängen, die sie mit ihrer Mom verbindet, dem Klicken ihrer Computertastatur, dem kaum hörbaren Murmeln, wenn sie nach einem Dokument sucht.

Selbst als August ihr nicht mehr bei ihrer Suche half, nachdem sie ausgezogen war und diese Geräusche nur noch über das Handy hörte, waren sie immer da. Und jetzt, mehrere tausend Meilen entfernt, ist es, als hätte jemand endlich die Musik ausgeschaltet.

Die beiden haben viel gemeinsam: Sie haben überzogene Bibliotheksausweise, sind ewige Singles, haben eine Vorliebe für scharfe Soßen und enzyklopädisches Wissen über die Vorgehensweise der Polizei von New Orleans bei Fällen von vermissten Personen. Aber der große Unterschied zwischen August und ihrer Mutter ist, dass Suzette Landry hortet, als stünde ein nuklearer Winter bevor, während August mit voller Absicht so gut wie nichts besitzt.

Sie hat fünf Kisten. Mit dreiundzwanzig Jahren braucht sie nur fünf Pappkartons, um ihr ganzes Leben einzupacken. Sie lebt, als wäre sie auf der Flucht vor dem verdammten FBI. Ganz normal eben.

Sie schiebt die letzte Kiste in die noch freie Ecke, sodass nicht alles auf einem Haufen steht.

Ganz unten in ihrer Handtasche, unter ihrem Geldbeutel, den Notizbüchern und einem Ersatzakku für ihr Handy, liegt ihr Taschenmesser. Der Griff hat die Form eines Fisches, mit einem verblassten pinken Sticker in Herzform, den sie daraufgeklebt hat, als sie sieben war – ungefähr zu der Zeit hat sie gelernt, es zu benutzen.

Nachdem sie die Kisten aufgeschlitzt hat, ordnet sie ihre wenigen Habseligkeiten in übersichtlichen kleinen Haufen an.

Neben der Heizung: zwei Paar Stiefel und drei Paar Socken. Sechs Shirts, zwei Pullover, drei Jeans, zwei Röcke. Ein Paar weiße Vans – die sind etwas Besonderes, eine Belohnung, die sie sich letztes Jahr auf einem High, ausgelöst von Adrenalin und Mozzarella-Sticks, gegönnt hat, nachdem sie sich vor ihrer Mutter im Applebee’s geoutet hat.

Vor der Wand mit dem Riss in der Mitte: das einzige gedruckte Buch, das sie besitzt – ein Vintage-Krimi –, daneben ihr Tablet, auf dem sich weit über hundert E-Books befinden. Vielleicht sind es sogar Tausende. Sie ist nicht sicher. Der Gedanke, so viel von einer Sache zu haben, macht sie nervös.

In der Ecke, in der es nach Salbei riecht und vielleicht auch ein wenig nach Fröschen (die alle eines natürlichen Todes gestorben sind, wie man ihr versichert hat): ein gerahmtes Foto eines alten Waschsalons in der Chartres Street, ein Feuerzeug und eine Kerze. August klappt ihr Taschenmesser zusammen, legt es daneben und hängt in Gedanken ein Schild darüber, auf dem Persönliche Dinge steht.

Sie schüttelt gerade ihre Luftmatratze aus, als die Wohnungstür aufgerissen wird. Es folgt ein Kratzen und Schlittern, als hätte jemand eine gigantische, haarige Spinne geworfen, die jetzt, wild um sich tretend, den Flur entlangrutscht. Das Wesen kracht gegen eine Wand, und dann rast etwas in Augusts Zimmer, das man nur als einen Rußbold aus dem Film Chihiros Reise ins Zauberland bezeichnen kann.

»Nudel!«, ruft Niko, der einen Moment später im Türrahmen auftaucht. Er hat eine Leine in der Hand, und sein kantiges Gesicht verzieht sich zu einem entschuldigenden Ausdruck.

»Hast du nicht gesagt, er wäre nur ein Geist in der Nacht?«, fragt August.

Mit wild wedelndem Schwanz schnüffelt Nudel an ihrem Sockenhaufen, bevor ihm auffällt, dass es hier eine neue Person gibt. Sofort wirft er sich auf sie.

»Ist er ja auch.« Niko zuckt leicht zusammen. »Na ja, meistens. Manchmal tut er mir leid, und ich nehme ihn tagsüber mit zur Arbeit. Wir haben wohl vergessen zu erwähnen, was für eine …« In diesem Moment stellt Nudel beide Vorderpfoten auf Augusts Schultern und versucht, seine Zunge in ihren Mund zu schieben. »… Persönlichkeit er hat.«

Myla taucht mit einem Skateboard unterm Arm hinter Niko auf. »Oh, also kennst du jetzt auch Nudel!«

»Ja. Auf sehr intime Weise.«

»Brauchst du Hilfe mit deinem übrigen Zeug?«

August blinzelt. »Das ist alles.«

»Das ist … das ist alles?«, fragt Myla. »Mehr hast du nicht?«

»Jap.«

»Du hast ja gar keine, äh …« Myla schaut sie an, als würde ihr gerade erst auffallen, dass sie nichts über August wusste, bevor sie zugestimmt hat, einen Kühlschrank mit ihr zu teilen. Es ist ein Blick, den August sich selbst oft im Spiegel zuwirft. »Du hast ja gar keine Möbel.«

»Ich bin ziemlich minimalistisch«, erwidert August. Wenn sie sich Mühe gäbe, würde sie ihr Zeug sogar in vier Kisten statt fünf unterkriegen. Das könnte sie sich fürs Wochenende vornehmen.

»Ich wünschte, ich wäre wie du. Niko fängt wahrscheinlich bald an, meinen Kram aus dem Fenster zu werfen, während ich schlafe.« Myla lächelt, nun scheinbar überzeugt, dass August nicht im Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurde. »Wir gehen Pfannkuchen essen, willst du mitkommen?«

August würde sich lieber von Niko aus dem Fenster stoßen lassen, als mit Leuten zu essen, die sie kaum kennt.

»Ich kann es mir nicht leisten, auszugehen«, erklärt sie. »Hab noch keinen Job.«

»Du glaubst doch wohl nicht, dass wir dich bezahlen lassen?« Mylas Brauen schießen in die Höhe. »Das ist dein Willkommensessen.«

»Oh.« Das ist … großzügig. Irgendwo in Augusts Gehirn blinkt eine Warnleuchte. Ihr persönlicher Leitfaden zum Thema Freundschaften schließen passt auf eine Seite und besteht nur aus einem Satz: TU ES NICHT.

»Pancake Billy’s House of Pancakes«, verkündet Myla. »Gehört hier in Flatbush sozusagen zum Inventar.«

»Seit 1976«, fügt Niko hinzu.

August runzelt die Stirn. »Der Laden existiert seit vierundvierzig Jahren, und niemand kam auf die Idee, ihn umzubenennen?«

»Das macht seinen Charme aus«, sagt Myla. »Das Billy’s ist so was wie unser zweites Zuhause. Du bist aus den Südstaaten, oder? Wird dir gefallen. Sehr schlicht.«

Stille tritt ein. Sie starren einander an. Ein Pfannkuchen-Patt.

August würde lieber in ihrem trashigen Zimmer bleiben, wo es sicher ist und sie in gewohnter stiller Trübsal Pop-Tarts zum Abendbrot essen und mit ihren Gedanken allein sein kann. Aber sie schaut Niko an, und ihr wird klar, dass er – auch wenn er bei der Berührung nur so getan hat – irgendwas in ihr gesehen haben muss.

Und das ist ihr schon sehr lange nicht mehr passiert.

Verdammt.

»Okay.« August kommt mühsam auf die Beine, und Myla strahlt wie ein Sternenhimmel.

Zehn Minuten später sitzt August an einem Ecktisch in Pancake Billy’s House of Pancakes, wo alle Niko und Myla zu kennen scheinen. Ihr Tisch wird von einem Schwarzen Mann mit Bart, einem breiten Lächeln und einem verblassten Namensschild an seinem roten Pancake-Billy’s-T-Shirt bedient, auf dem WINFIELD steht. Er fragt gar nicht erst, was Niko und Myla wollen, sondern serviert ihnen einen Kaffee und eine pinke Limonade.

August versteht jetzt, warum das Pancake Billy’s so legendär ist. Das Diner hat diesen typischen New Yorker Flair, wie ein Gemälde von Edward Hopper oder wie das Café aus Friends – nur mit noch mehr Charakter. Das Gebäude befindet sich an einer Straßenecke, die großen Fenster grenzen an beide Straßen. Es ist voller abgenutzter Resopaltische und roter, abgewetzter Vinylsitzbänke voller Risse. An einer Wand gibt es eine Bar, die an die typischen alten Soda-Shops von früher erinnert, die übrigen Wände sind von oben bis unten mit alten Fotos und Titelseiten mit Siegen der New York Mets zugekleistert.

Und da ist dieser ganz eigene Geruch nach unverfälschter moralischer Verderbtheit, der sich über August legt und tief in sie hineinzusickern scheint.

»Wes’ Dad hat sie ihm gekauft, als Wes angefangen hat, Architektur am Pratt Institute zu studieren«, beendet Myla die Geschichte, wie die teuren Eames-Lederstühle in ihre Wohnung gekommen sind. »Die Art von Geschenk, die sagt: ›Toll, dass du die Erwartungen deiner Eltern erfüllst.‹«

»Ich dachte, er wäre Tätowierer?«

»Ist er auch«, erwidert Niko. »Er hat nach einem Semester abgebrochen. Hatte einen … na ja, nennen wir es einen Nervenzusammenbruch.«

»Er saß vierzehn Stunden nur in Unterwäsche auf der Feuertreppe, und sie mussten die Feuerwehr rufen«, fügt Myla hinzu.

»Aber nur wegen der Brandstiftung«, wirft Niko ein.

»O Gott. Und wie habt ihr ihn kennengelernt?«

Myla schiebt einen von Nikos Ärmeln bis über den Ellbogen hoch, um eine Version der Jungfrau Maria auf seinem Unterarm zu zeigen, die auf seltsame Weise sexy aussieht. »Er hat das gemacht. Zum halben Preis, weil er da noch in Ausbildung war.«

»Wow.« August fummelt nervös an der klebrigen Speisekarte herum. Sie kann den Drang, all die neuen Infos aufzuschreiben, kaum unterdrücken. Das ist ihr unattraktivster Instinkt, wenn sie neue Leute kennenlernt: sich Notizen zu machen. »Von Architektur zu Tattoos. Hundertachtziggradwendung.«

»Dazwischen hat er auch mal Torten verziert«, ergänzt Myla. »Wenn er einen guten Tag hat, wird man beim Nachhausekommen manchmal von Vanilleduft und frischen Cupcakes empfangen.«

»In dem kleinen Süßen verstecken sich ganze Universen«, wirft Niko ein. Myla lacht und wendet sich wieder August zu. »Also, was hat dich nach New York verschlagen?«

August hasst diese Frage. Sie ist zu groß. Zu umfassend. Was könnte jemanden wie August, mit einem Haufen Studienkrediten und der Sozialkompetenz einer Pringles-Packung, dazu verleiten, ohne bestehende Kontakte und ohne einen Plan nach New York zu ziehen?

Wenn man sein ganzes Leben allein verbracht hat, ist es tatsächlich sehr verlockend, in eine Stadt zu ziehen, die so groß ist, dass man darin verschwinden kann. Wo es so aussieht, als wäre es eine bewusste Entscheidung, allein zu sein.

»Wollte ich einfach schon immer mal ausprobieren«, sagt August stattdessen. »New York ist … Ich weiß auch nicht. Ich hab in verschiedenen Städten studiert, in New Orleans und Memphis, und alle haben sich irgendwie … zu klein angefühlt. Ich wollte etwas Größeres. Also bin ich aufs Brooklyn College gewechselt.«

Niko mustert sie gelassen, während er seine Kaffeetasse hin und her schwenkt. Sie glaubt zwar, dass er harmlos ist, aber es gefällt ihr nicht, wie er sie ansieht. Als wüsste er Dinge.

»Die Herausforderung war nicht groß genug«, sagt er. Eine weitere sanfte Beobachtung. »Du wolltest ein Rätsel, das schwieriger zu lösen ist.«

August verschränkt die Arme vor der Brust. »Das ist … nicht ganz falsch.«

Winfield taucht mit ihrem Essen auf.

»Hey, wo ist Marty?«, fragt Myla ihn. »Er arbeitet doch normalerweise zu dieser Zeit.«

»Hat gekündigt«, antwortet Winfield und stellt eine Sirupflasche auf den Tisch.

»Nein.«

»Ist zurück nach Nebraska gezogen.«

»Scheiße.«

»Jap.«

»Also bedeutet das«, Myla beugt sich über ihren Teller zu ihm vor, »dass ihr wen Neues sucht.«

»Ja, warum? Kennst du jemanden?«

»Das ist August.« Sie deutet mit einer dramatischen Geste auf August, als verkündete sie die Superzahl im Lotto.

Winfield wendet sich ihr zu, und August erstarrt, die Flasche mit der scharfen Soße, die auf ihre Kartoffelpuffer tropft, noch in der Hand.

»Hast du schon mal gekellnert?«

»Ich …«

»Na klar«, unterbricht Myla sie. »August wurde praktisch in einer Schürze geboren.«

Winfield mustert August skeptisch aus zusammengekniffenen Augen.

»Du müsstest dich bewerben. Lucie trifft die endgültige Entscheidung.«

Mit dem Kinn deutet er in Richtung Bar, wo eine ernst dreinschauende junge weiße Frau mit unnatürlich rotem Haar und starkem Eyeliner die Kasse anfunkelt. Wenn das die Person ist, die August an der Nase herumführen soll, ist es wahrscheinlicher, dass sie mit einem Acrylnagel in der Halsschlagader endet.

»Lucie liebt mich«, sagt Myla.

»Tut sie nicht.«

»Sie liebt mich genauso sehr, wie sie alle anderen Menschen liebt.«

»Da liegt die Messlatte nicht sehr hoch.«

»Sag ihr, ich bürge für August.«

»Eigentlich …«, will August einschreiten, aber Myla tritt ihr auf den Fuß. Sie trägt Springerstiefel.

Allerdings wird August langsam klar, dass das hier kein normales Diner ist. Hier liegt etwas Glitzerndes und Funkelndes in der Luft, das sich warm und willkommen heißend über die Sitzecken und Angestellten legt, von Tisch zu Tisch huscht. Eine Aushilfe eilt mit einer Kiste Geschirr vorbei, und eine Tasse rutscht herunter. Ohne hinzusehen, greift Winfield hinter sich und fängt sie mitten in der Luft auf.

Fast wie Magie.

Und mit Magie hat August nichts am Hut.

»Komm schon, Win«, bettelt Myla, als Winfield die Tasse zurück in die Kiste stellt. »Wie lange sind wir schon jeden Donnerstagabend deine Stammkundschaft? Seit drei Jahren? Ich würde nie jemanden empfehlen, der nicht abliefert.«

Er verdreht die Augen, lächelt aber. »Ich hole ihr eine Schürze.«

**

»Ich hab noch nie in meinem Leben gekellnert«, merkt August auf dem Weg zurück zur Wohnung an.

»Das wird schon werden«, antwortet Myla. »Niko, sag ihr, dass sie großartig sein wird.«

»Ich bin keine Medium-Maschine, die auf Knopfdruck die Zukunft voraussagt.«

»Na klar, zum Beispiel letzte Woche, als ich thailändisch essen wollte und du gespürt hast, dass Basilikum schlechte Energie für uns hatte …«

August lauscht ihren Stimmen, dem neckenden Tonfall und ihren Schritten auf dem Gehweg. Drei Paar Füße. Um sie herum wird die Stadt dunkler, ein Braunorange, fast wie abends in New Orleans. Vertraut genug, dass August denkt, sie hat vielleicht … ganz vielleicht doch eine Chance.

Oben angekommen, schließt Myla die Wohnungstür auf, und sie werfen ihre Schuhe auf einen Haufen.

Niko deutet in Richtung Küchenzeile und sagt: »Willkommen zu Hause.«

Und da fallen August erst die frischen Lilien in einem Glas neben der Spüle auf.

Zu Hause.

Na ja, es ist deren Zuhause. Nicht ihrs. Das da sind deren Kinderfotos am Kühlschrank. Es ist deren Geruch nach Farbe und Ruß und Lavendel, deren löchrige Teppiche, deren Pfannkuchentradition. Das alles war schon da, Jahre bevor August nach New York kam. Aber es ist trotzdem schön anzusehen. Wie ein beruhigendes Stillleben, das sie aus der Ferne betrachtet.

August hat schon in so vielen Zimmern gewohnt, ohne je zu wissen, wie sie sie zu einem Zuhause machen soll. Wie sie sie mit Leben füllen kann wie Niko oder Myla oder sogar Wes, dessen Zeichnungen an den Fenstern hängen. Sie weiß nicht, wie sie das schaffen soll. Dreiundzwanzig Jahre lang ist sie immer nur auf der Durchreise gewesen. Nie hat sie den Drang verspürt, irgendwo zu bleiben.

Es fühlt sich blöd an, es zu denken, aber vielleicht … vielleicht könnte das hier der Ort sein. Vielleicht der neue Studiengang. Vielleicht der neue Job. Vielleicht ein Zimmer, das ihr endlich das Gefühl gibt, genau dorthin zu gehören.

Vielleicht auch eine Person. Aber sie kann sich niemanden vorstellen.

**

August riecht nach Pfannkuchen.

Der Geruch will einfach nicht mehr verschwinden, egal wie oft sie duscht oder ihre Klamotten im Waschsalon um die Ecke wäscht. Sie arbeitet erst seit einer Woche im Billy’s, aber fettige Kartoffelpuffer scheinen auf molekularer Ebene mit ihrem Körper verschmolzen zu sein.

Heute wird sie den Gestank definitiv nicht los. Nicht nachdem sie nach einer Todesschicht gerade mal genug Zeit hatte, die Treppe zur Wohnung hinaufzustürmen, sich ein frisches T-Shirt überzuziehen, es in ihren Rock zu stecken und wieder loszueilen. Selbst ihr Mantel riecht nach Bacon. Mit ihrem Pfannkuchen- und Würstchenduft ist sie der wahr gewordene Traum jeder bekifften Person um drei Uhr morgens. Wenigstens hat sie einen riesigen Kaffee mitgehen lassen.

Es ist der erste Tag an der neuen Uni. Der erste Tag ihres neuen Studiengangs.

Es ist nicht mehr Englisch (ihr erster) oder Geschichte (ihr zweiter). Es ist ein bisschen wie Psychologie (ihr drittes Nebenfach), aber vor allem ist es genau dasselbe wie alles in den letzten viereinhalb Jahren: ein weiteres «Vielleicht klappt es diesmal». Sie hat gerade so genügend Credit Points zusammengekratzt, um ein kleines Darlehen aufnehmen zu können.

Es ist Soziologie.

Montagmorgens beginnt der Unterricht um halb neun, und August hat den Weg dorthin längst auswendig gelernt. Die Straße runter zur Parkside Avenue Station, von dort die Q-Linie Richtung Coney Island, aussteigen an der Haltestelle Avenue H, dann zwei Blöcke laufen. Sie hat das ganze Subway-Netz im Kopf.

Mit Leuten kann August nicht so gut, aber sie wird die Stadt dazu zwingen, ihre gottverdammte Freundin zu sein.

August konzentriert sich so stark auf das Subway-Netz, dass es sich in ihrem Kopf entfaltet und sie die Eisschicht auf dem Asphalt nicht bemerkt.

Sie rutscht aus und stürzt mit den Knien voran zu Boden. Ihre Strumpfhose reißt, mit einer Hand stützt sie sich auf dem Asphalt ab, mit der anderen presst sie ihren Kaffeebecher schützend an ihre Brust. Der Deckel rutscht ab, und Kaffee spritzt auf ihr Shirt.

»Verdammte Kackscheiße«, flucht sie, als ihr Rucksack aufreißt und sich der Inhalt auf dem Gehsteig verteilt. Hilflos sieht sie dabei zu, wie eine Frau in einem Parka ihr Handy in den Rinnstein kickt.

Aber August weint nicht.

Sie hat nicht geweint, als sie Belle Chasse oder New Orleans oder Memphis verlassen hat. Sie weint nicht, wenn sie sich mit ihrer Mom streitet, und sie weint nicht, wenn sie sie vermisst, und sie weint nicht, wenn sie sie überhaupt nicht vermisst. Sie hat überhaupt noch nicht geweint, seit sie nach New York gekommen ist. Aber August kniet blutend am Boden, ihr Shirt ist vom heißen Kaffee durchtränkt, und sie hat seit zwei Tagen nicht geschlafen, und in einem Radius von über tausend Meilen kennt sie keine einzige Person, die sich auch nur im Geringsten darum schert, und ihre Kehle brennt so stark, dass sie denkt: Bitte nicht vor all diesen Leuten.

Sie könnte einfach aufgeben. Sich zurück nach Hause schleppen, die sechs Stockwerke erklimmen, sich auf ihrer Luftmatratze zusammenrollen und es morgen noch einmal versuchen. Das könnte sie tun. Aber sie ist nicht ans andere Ende des Landes gezogen, um sich von einem aufgeschürften Knie und einem durchweichten BH kleinkriegen zu lassen. Ihre Mom würde jetzt sagen: Sei nicht so eine Sissi.

Also schluckt August alles herunter. Sammelt ihre Sachen ein. Setzt sich den Rucksack auf. Schlingt ihren Mantel fest um sich.

Sie wird ihre verschissene Subway kriegen.

Die Parkside Avenue Station liegt überirdisch – große rote Säulen, Mosaikfliesen, Efeu, das an den verklinkerten Hauswänden ringsum hinaufrankt. August braucht vier Versuche, um es durch das Drehkreuz zu schaffen. Sie stolpert gerade auf die richtige Plattform, als die Q-Linie ankommt. Mit ausgefahrenen Ellbogen erkämpft sie sich einen Platz in einem Wagen, in dem es glücklicherweise ein paar freie Sitzplätze gibt. Sie lässt sich auf einen von ihnen fallen.

Okay.

Die nächsten zehn Minuten weiß sie ganz genau, wo sie sich befindet und wohin sie unterwegs ist. Sie muss nur dasitzen und sich dorthin fahren lassen.

Sie stößt scharf die Luft aus. Und atmet tief durch die Nase ein.

Verdammt, hier stinkt es abartig!

Sie wird jetzt nicht weinen – sie wird jetzt nicht weinen. Da fällt ein Schatten auf sie. Die fluoreszierenden Lichter über ihr werden von jemandem verdeckt, die statisch aufgeladene Wärme eines fremden Körpers umhüllt sie, jemand schirmt sie von allem anderen ab.

Das Letzte, das August jetzt gebrauchen kann, ist, von irgendeinem Perversen belästigt zu werden. Vielleicht wird er sie in Ruhe lassen, wenn sie zu heulen anfängt. Ein richtiger Nervenzusammenbruch mit lautem Schniefen, wie Wes ihn hatte, als er die Uni abgebrochen hat. Ihre Hand legt sich von außen auf die Manteltasche, in der sich ihr Messer befindet.

Sie blickt auf, erwartet einen zotteligen Mann, zu dem die langen Beine und die zerrissene Jeans vor ihr passen, aber stattdessen …

Stattdessen …

Die langen Beine gehören zu einer Frau.

Sie ist etwa so alt wie August, höchstens ein paar Jahre älter, mit verboten hohen Wangenknochen, einem fein geschwungenen Kiefer und goldbrauner Haut. Ihr schwarzes Haar ist kurz und würde ihr ins Gesicht hängen, wenn sie es sich nicht aus der Stirn gestrichen hätte, und sie mustert August mit einer erhobenen Augenbraue. Sie hat ein weißes T-Shirt in ihre zerrissene Jeans gesteckt, und eine Lederjacke schmiegt sich um ihre Schultern, als wäre sie darin geboren worden. Ihr verschmitztes Lächeln ist wie der Beginn einer sehr langen Geschichte, die August ihren Freundinnen abends in einer Bar erzählen würde, wenn sie welche hätte.

»Autsch.« Sie deutet auf Augusts kaffeedurchweichtes Shirt, was ungefähr der letzte Grund ist, aus dem August den Blick dieser Frau auf ihren Brüsten spüren will.

Die erste Reaktion des heißesten Mädchens, das August je gesehen hat, auf sie war: »Autsch«.

Bevor August sich eine Antwort überlegen kann, öffnet die Frau ihren Rucksack und kramt darin herum. August schaut stumm zu, wie sie eine Packung Kaugummis und Vintage-Kopfhörer zur Seite schiebt und einen roten Schal hervorzieht.

August kann nicht glauben, dass sie dachte, dieses Motorradjackenmodel wäre ein Perverser. Sie kann nicht glauben, dass dieser große, schlanke Subway-Engel gesehen hat, wie sie beinahe wegen ihrer Kaffee-Titten geweint hätte.

»Hier.« Die Frau reicht ihr den Schal. »Du scheinst was Wichtiges vorzuhaben.« Sie deutet auf ihren Hals. »Du kannst ihn haben.«

August blinzelt zu ihr auf. Sie steht dort vor ihr und sieht aus wie die Gitarristin einer Frauenpunkrockband mit dem Namen Time to give August a heart attack.

»Du … O mein Gott, ich kann doch deinen Schal nicht annehmen.«

Sie zuckt mit den Schultern. »Ich besorg mir einen neuen.«

»Aber es ist kalt.«

»Jap.« Ihr verwegenes Lächeln verwandelt sich in etwas Undefinierbares, ein Grübchen zeigt sich auf einer Seite ihres Mundes. August möchte jetzt sofort in diesem Grübchen sterben.

»Aber ich gehe nicht viel raus.«

August starrt sie an.

»Du kannst ihn nehmen oder es bleiben lassen. Aber dann lege ich ihn auf den Sitz neben dir, wo er für immer vom Subway-Ökosystem verschluckt wird.«

Ihre Augen funkeln. Sie sind warm, so warm und braun, ihr Blick herausfordernd, und August hat keine Ahnung, wie sie ihr etwas abschlagen soll.

Der Schal ist breit gestrickt und weich, und als August ihn mit den Fingerspitzen berührt, bekommt sie einen kleinen elektrischen Schlag. Sie zuckt zusammen, und die Frau lacht leise.

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du nach Pfannkuchen riechst?«

Die Subway fährt in einen Tunnel, der Waggon erzittert, und die Frau hält sich mit einem leisen »Whoa« am Griff über Augusts Kopf fest. Das Letzte, das August sieht, ist ihr leicht schiefer Kiefer und ein Streifen nackter Haut, als das T-Shirt sich aus ihrem Hosenbund löst, dann flackern die Lampen und erlöschen.

Es ist nur wenige Sekunden dunkel, aber als das Licht wieder angeht, ist die Frau verschwunden.

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2

Was stimmt nicht mit der Q-Linie?

 

Andrew Gould und Natasha Brown

29. Dezember 2019

 

Wir in New York sind weit davon entfernt, Perfektion oder gar Pünktlichkeit von unserer Subway zu erwarten. Doch diese Woche gibt es ein weiteres Problem mit der Q-Linie: Elektrische Überspannungen sorgten dafür, dass Lichter ausgingen, Anzeigetafeln ausfielen und sich zahlreiche Züge verspäteten.

Am Montag verkündete die Manhattan Transit Authority (MTA), dass mit einer Stunde Verspätung in beide Richtungen zu rechnen wäre, während sie dem Problem auf den Grund gehe. Am selben Nachmittag wurde der Betrieb wiederaufgenommen, doch Berichten zufolge gibt es immer noch plötzliche Ausfälle.

 

[Die auf dem Foto abgebildeten Personen befinden sich in einem Wagen der Q-Linie, die auf der Manhattan Bridge in Richtung Brooklyn unterwegs ist. Im Vordergrund steht eine junge Frau mit kurzem Haar und Lederjacke, die mit gerunzelter Stirn zu einer flackernden Deckenlampe aufsieht.]

 

Die in Brooklyn lebende Jane Su fährt jeden Tag mit dieser Linie nach Manhattan und zurück.

Tyler Martin, New York Times

 

»Ich habe beschlossen, Detective Primeaux’ Eier in Erdnussbutter zu tauchen und ihn in den Pontchartrain-See zu werfen«, sagt Augusts Mom. »Ich überlasse es den Fischen, ihn für mich zu kastrieren.«

»Das ist mal was Neues«, antwortet August, die hinter einem Wagen mit dreckigem Geschirr hockt – der einzigen Stelle im Billy’s, wo ihr Handy mehr als einen Balken Signalstärke anzeigt. Ihr Gesicht ist knapp zwei Zoll von einem halb aufgegessenen Omelett entfernt. Das Leben in New York ist wirklich zutiefst glamourös. »Was hat er diesmal verbrochen?«

»Er hat seinem Sekretär aufgetragen, meine Anrufe abzufangen.«

»Das hat er dir gesagt?«

»Nein, musste er aber auch nicht. Kann ich mir schon selbst zusammenreimen.«

August kaut auf ihrer Wange herum. »Er ist halt ein Arsch.«

»Ja.« August hört, wie ihre Mom mit den fünf Schlössern an ihrer Haustür kämpft. Sie kommt gerade von der Arbeit heim. »Ist ja auch egal. Wie war dein erster Tag an der Uni?«

»Dasselbe wie immer. Ein Raum voller Leute, die sich schon kennen, und dann bin da noch ich – die Komparsin in einem College-Film.«

»Sind wahrscheinlich sowieso alles Ärsche.«

»Vermutlich.«

August stellt sich vor, wie ihre Mom mit den Schultern zuckt.

»Weißt du noch, als du die Videokassette von Teen Lover von unserer Nachbarin geklaut hast?«, fragt sie.

August kann sich ein Lachen nicht verkneifen. »Du warst stinksauer.«

»Und du hast eine Kopie davon gemacht. Du warst sieben und hast Filmpiraterie für dich entdeckt. Wie oft hab ich dich dabei erwischt, wie du den Film mitten in der Nacht geschaut hast?«

»Mindestens eine Million Mal.«

»Du hast immer Rotz und Wasser geheult, wenn der Song von Peter Gabriel lief. Du hast ein weiches Herz, Kind. Deswegen hab ich mir früher immer Sorgen gemacht. Aber du hast mich überrascht. Bist groß und tough geworden. Du bist wie ich – du brauchst niemanden. Vergiss das nicht.«

»Jap.« Eine peinliche Sekunde lang erinnert August sich an die Frau mit der Lederjacke in der Subway. Sie schluckt. »Du hast recht. Ich komm schon klar.«

Sie hält ihr Handy vom Ohr weg, um auf die Bildschirmuhr zu schauen.

Scheiße. Ihre Pause ist gleich vorbei.

Sie hat zwar Glück, diesen Job überhaupt bekommen zu haben, aber nicht genug Glück, um gut darin zu sein. Vielleicht war sie zu überzeugend, als ihre Chefin Lucie die Fake-Referenznummer auf ihrem Lebenslauf anrief und auf Augusts zweitem Handy landete.

Dank dieses genialen Tricks wurde sie an ihrem ersten Tag sofort ins kalte Wasser geschmissen: kein Welpenbonus, Learning by Doing.

»Ich hatte Bacon dazubestellt«, merkt der Typ an Tisch neunzehn an, als August seinen Teller vor ihm abstellt. Er ist Stammgast, wie Winfield ihr erklärt hat – ein ehemaliger Feuerwehrmann, der seit zwanzig Jahren jeden Tag zum Frühstück herkommt. Wenigstens liebt er das Billy’s zu sehr, als dass er sich an dem plötzlich stark nachlassenden Service stören würde.

»Scheiße, tut mir leid.« August zuckt zusammen. »Sorry, dass ich Scheiße gesagt habe.«

»Das hast du wohl vergessen«, sagt eine Stimme mit starkem tschechischem Akzent hinter ihr. Lucie zaubert wie aus dem Nichts einen Teller mit Bacon für den Kunden herbei und zieht August am Arm hinter sich her in Richtung Küche.

»Danke.« August schreckt nur leicht vor den Nägeln zurück, die sich in ihren Ellbogen graben. »Woher wusstest du …?«

»Ich weiß alles«, erwidert Lucie. Ihr leuchtend roter Pferdeschwanz wirkt unter dem gedämpften Licht noch greller. An der Bar lässt sie August los und widmet sich wieder ihrem Sandwich mit Spiegelei und dem Schichtplan für nächste Woche. »Das solltest du nicht vergessen.«

»Sorry. Du hast mir echt den Arsch gerettet. Oder eher den Speck.«

Lucie verzieht das Gesicht, was sie wie einen gefährlichen Greifvogel mit Eyeliner aussehen lässt. »Du stehst auf Witze. Ich nicht.«

»Sorry.«

»Ich steh auch nicht auf Entschuldigungen.«

August verkneift sich ein weiteres Sorry und wendet sich der Kasse zu. Wie fügt man noch mal im Nachhinein etwas zu einer Bestellung hinzu? Sie hat eindeutig die Kartoffelpuffer für Tisch siebzehn vergessen und …

»Jerry!«, ruft Lucie durchs offene Küchenfenster. »Kartoffelpufferbeilage, aber ein bisschen plötzlich.«

»Fick dich, Lucie!«

Sie brüllt etwas auf Tschechisch zurück.

»Du weißt doch, dass ich das nicht verstehe!«

»Achtung, hinter dir«, warnt Winfield, als er mit vollen Händen an August vorbeieilt, Blaubeerpfannkuchen auf der einen, Butter-Pekannuss auf der anderen Seite. Mit wippenden Braids dreht er den Kopf zur Küche und sagt: »Sie hat dich gerade einen hässlichen Schwanz genannt, Jerry.«

Jerry, der älteste Koch der Welt, lacht schallend und wirft ein paar Kartoffelpuffer in die Pfanne. August ist aufgefallen, dass Lucie Adleraugen und die Gewohnheit hat, ihren Angestellten von der Bar aus hinterherzuspionieren, wenn sie Bestellungen in die Kasse eingeben. Das würde ihr auf die Nerven gehen, wenn Lucie ihr nicht gerade zweimal innerhalb von fünf Minuten den Arsch gerettet hätte.

»Du vergisst ständig was«, sagt sie, während sie mit ihren Plastiknägeln auf dem Clipboard klackt. »Hast du schon was gegessen?«

Angestrengt lässt August die letzten sechs Stunden ihrer Schicht vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Ist ein halber Teller Pfannkuchen auf ihrem Shirt gelandet? Ja. Hat sie selbst welche gegessen? »Äh … nein.«

»Deshalb vergisst du alles. Weil du nichts isst.« Lucie funkelt August an. Dabei sieht sie aus wie eine enttäuschte Mutter, obwohl sie nicht älter als neunundzwanzig sein kann.

»Jerry!«, brüllt sie in die Küche.

»Was denn?«

»Ein Su Special!«

»Hab dir schon eins gemacht!«

»Für August!«

»Für wen?«

»Die Neue!«

»Ach so«, sagt er und schlägt zwei Eier auf, die zischend in die Pfanne tropfen. »Na schön.«

August spielt mit dem Saum ihrer Schürze und verkneift sich ein Danke, bevor Lucie sie noch erwürgt. »Was ist denn ein Su Special?«

»Vertrau mir einfach«, sagt Lucie ungeduldig. »Kannst du am Freitag eine Doppelschicht arbeiten?«

Das Su Special stellt sich als Sandwich heraus, das nicht auf der Speisekarte steht: Bacon, Ahornsirup, scharfe Soße und ein Spiegelei. Und vielleicht liegt es an Jerry, seinem Walrossschnauzer, mit dem er sehr weise aussieht, und seinem Brooklyn-Akzent, der verrät, dass er schon seit sieben Jahrzehnten hier lebt, oder an Lucie, der ersten Person, die sich in diesem Diner an Augusts Namen erinnert hat und der es nicht egal ist, ob sie lebt oder stirbt, oder vielleicht liegt es daran, dass das Billy’s magisch ist, aber es ist das beste Sandwich, das August je gegessen hat.

Es ist fast ein Uhr morgens, als August sich auf den Heimweg macht. Die Straßen sind voller Leute, das Licht dreckig orangebraun, die Stadt sprüht vor Leben.

Mit einem zerknitterten Dollarschein ihres Trinkgelds kauft August sich eine Orange – sie hat das Gefühl, sich bald Skorbut einzufangen, wenn sie so weitermacht.

Während sie einen Fingernagel in die Schale gräbt und zu schälen beginnt, liefert ihr Gehirn hilfreiche Fakten: Erwachsene brauchen fünfundsechzig bis neunzig Milligramm Vitamin C pro Tag. Eine Orange enthält einundfünfzig. Nicht ganz genug, um Skorbut vorzubeugen, aber besser als nichts.

Sie denkt an die Vorlesung heute Morgen und daran, dass sie einen billigen Schreibtisch kaufen möchte. Sie fragt sich, was wohl Lucies Geschichte ist. Ihre Gedanken wandern zu der Frau gestern in der Subway. Schon wieder. Heute trägt August den roten Schal, warm und weich schmiegt er sich an ihren Hals wie ein Versprechen.

Eigentlich hat sie nicht ständig an Subway-Girl gedacht, aber sie würde fünf Doppelschichten hintereinander einlegen, nur um Subway-Girl wiederzusehen.

Gerade geht sie unter einem pink glühenden Neonschild entlang, als ihr bewusst wird, wo sie ist – in der Flatbush Avenue, gegenüber dem Scheckeinlösungsgeschäft. Niko hat gesagt, dass dort der Laden ist, in dem er als Medium arbeitet.

Er befindet sich zwischen einem Pfandhaus und einem Friseur. Über dem Eingang steht in abblätternden Buchstaben: Miss Ivy's. Laut Niko ist die Besitzerin eine kettenrauchende Argentinierin in der Menopause namens Ivy. Der Laden ist nicht sehr beeindruckend, nur eine fettige graue Fabriktür neben einem unscheinbaren Schaufenster, so wie man sie oft in der Fernsehserie Law & Order sieht. Nur ein Neonschild in dem kleinen Fenster weist darauf hin, was hier angeboten wird. Und vielleicht die von der Decke hängenden Kräuterbündel und die … sind das Zähne?

Solange sie denken kann, hasst August Orte wie diesen.

Zumindest fast solange.

Früher war das mal anders. Als sie noch auf Teen Lover stand, hat August ihre Mutter mal zu einem Medium im French Quarter geschleppt. Tücher hingen über allen Lampen, sodass das Licht weich war wie zur Dämmerung. Sie erinnert sich daran, wie sie ihr abgenutztes Taschenmesser zwischen die Kerzen gelegt hat und fasziniert verfolgte, wie die Person hinter dem Tisch ihrer Mutter die Karten las.

Fast ihr Leben lang ist August auf eine katholische Schule gegangen, aber das war das erste und letzte Mal, dass sie an etwas geglaubt hat.

»Sie haben jemanden verloren, der Ihnen sehr wichtig war«, sagte das Medium zu ihrer Mutter, aber das war nicht schwer zu erraten. Dann verkündete sie, er sei tot, und Suzette Landry beschloss, nie wieder zu einem Medium zu gehen, weil die nichts als Bullshit erzählen. Dann kam der Sturm, und die meisten solcher Läden blieben lange geschlossen.

Also hörte August auf zu glauben. Sie hielt sich nur noch an die harten Fakten. Die einzige Skeptikerin in einer Stadt voller Geister. Das war ihr gerade recht so.

Sie schüttelt den Kopf und wendet sich ab, biegt stattdessen um die Ecke in Richtung zu Hause. Orange: verspeist. Skorbut: abgewendet, zumindest für heute.

Auf halbem Weg die Treppe hinauf fällt ihr auf, wie ironisch – und fast schon poetisch – es ist, dass sie mit einem Medium unter einem Dach lebt. Ein Halbtagsmedium. Ein sehr aufmerksamer Typ mit selbstbewusstem und merkwürdigem Charme und einer verdächtig großen Kerzensammlung. August fragt sich, was Myla wohl darüber denkt und ob sie auch daran glaubt. Ihre Netflix-Watchlist und der riesige Haufen Dune-Merch verraten, dass sie ein Sci-Fi-Nerd ist. Vielleicht steht sie deshalb darauf.

Erst als August in ihre Tasche greift, fällt ihr auf, dass sie ihren Schlüssel nicht dabeihat.

»Scheiße.«

Sie versucht es mit Klopfen. Nichts. Sie könnte eine SMS schreiben und sehen, ob noch jemand wach ist … wenn ihr Handyakku nicht kurz vor Schichtende den Geist aufgegeben hätte.

Bleibt also nur das Messer.

Sie klappt es auf und schiebt die Spitze ins Schloss. Das hat sie nicht mehr getan, seit sie fünfzehn war und nicht in die Wohnung konnte, weil ihre Mutter in der Bibliothek mal wieder nicht auf die Zeit geachtet hatte. Aber gewisse Dinge verlernt man nicht.

Konzentriert schiebt sie die Zunge zwischen die Zähne und dreht das Messer, bis es klickt.

Neben Nudel, der sie stürmisch begrüßt, ist doch noch jemand wach. Eine Gestalt werkelt im Flur herum, mit Kopfhörern auf den Ohren und einer Werkzeugkiste vor sich am Boden. Ein brennendes Bündel Salbei schwelt auf der Küchentheke vor sich hin. August hängt ihre Jacke und Schürze neben der Tür auf und spielt mit dem Gedanken, das Feuer zu löschen – sie hatten diese Woche schon einen Brand –, als die Person im Flur aufschaut und einen dünnen Schrei ausstößt.

»Oh«, sagt August, als der Typ sich einen Kopfhörer aus dem Ohr nimmt. »Du musst Wes sein. Ich bin August. Ich, äh, wohne jetzt hier.«

Wes ist klein und kompakt, hat olivfarbene Haut, schlanke Handgelenke und Knöchel, trägt eine graue Jogginghose und ein gigantisches Flanellhemd, dessen Ärmel er mindestens fünfmal umgeschlagen hat. Seine Züge sind fein und zerbrechlich, fast schon engelsgleich, bis sie sich zu einem mürrischen Ausdruck verziehen. Wie August trägt er eine Brille und kneift die Augen hinter den Gläsern zusammen, um sie zu mustern.

»Hi«, sagt er.

»Schön, dich endlich kennenzulernen«, erwidert sie. Er sieht aus, als würde er gleich flüchten wollen. Sie versteht diesen Drang sehr gut.

»Ja.«

»Hast du heute Nacht frei?«

»Hmhm.«

August hat noch nie jemanden getroffen, der einen noch schlechteren ersten Eindruck hinterlässt als sie. Bis jetzt.

»Tja, also …«, sagt sie. »Ich geh ins Bett.« Sie deutet auf die brennenden Kräuter. »Soll ich das ausmachen?«

Wes widmet sich wieder seinen Werkzeugen. Anscheinend war er gerade dabei, an Augusts Türangeln herumzuschrauben. »Mein Ex war da. Niko hat gesagt, dass die ganze Wohnung danach voller Studentenverbindungsenergie wäre. Es wird schon von allein ausgehen. Tut es immer.«

»Natürlich«, sagt August. »Äh, was machst du da eigentlich?«

Er antwortet nicht, schließt nur die Tür und rüttelt am Knauf. Stille. Vorher hat sie gequietscht. Er hat sie für August repariert.

Wes packt Nudel mit der einen und die Werkzeugkiste mit der anderen Hand und verschwindet den Flur hinunter.

»Danke«, ruft August ihm hinterher. Er zieht die Schultern bis zu den Ohren hoch, als gäbe es für ihn nichts Schlimmeres, als wenn sich jemand bei ihm für eine nette Geste bedankt.

»Cooles Messer«, murmelt er noch, bevor er seine Zimmertür hinter sich schließt.

**

Am Freitagmorgen zittert August unter der eiskalten Dusche. Eine Hand unter dem Strahl, fleht sie das Wasser an, endlich warm zu werden. Draußen sind es minus zwei Grad. Wenn sie jetzt auch noch kalt duschen muss, wird ihre Seele endgültig das Weite suchen.

Sie wirft einen Blick auf ihr Handy – in fünfundzwanzig Minuten muss sie ihre Subway erwischen, um es rechtzeitig in die Vorlesung zu schaffen. Keine Zeit, die SMS ihrer Mom über eine nervige Kollegin in der Bibliothek zu beantworten. Stattdessen sendet sie eine Reihe mitfühlender Emojis.

Was hat Myla noch mal gesagt? Es dauert zwanzig Minuten, bis warmes Wasser kommt, zehn, wenn man nett ist? Bis jetzt waren es zwölf.

»Bitte«, fleht August die Dusche an. »Mir ist so kalt, und ich bin hundemüde, und ich stinke wie ein verdammter Riesenkartoffelpuffer.«

Die Dusche zeigt keine Reaktion. Scheiß drauf. Sie dreht das Wasser ab und findet sich damit ab, dass sie einen weiteren Tag mit dem Billy’s-Duft in der Nase verbringen wird.

Myla und Wes krabbeln auf allen vieren über den Flurboden und versehen ihn mit langen Linien aus Klebeband.

»Will ich überhaupt wissen, was ihr da macht?«, fragt August und tänzelt um sie herum.

»Vorbereitungen für Rolly Bäng«, ruft Myla über die Schulter.

August zieht sich einen Pulli über und steckt den Kopf aus ihrer Zimmertür. »Dir ist schon klar, dass du einfach zwei völlig unzusammenhängende Wörter aneinanderreihst, als würden sie was bedeuten, oder?«

»Das hat sie aber noch nie davon abgehalten«, wirft Wes ein, der aussieht und sich so anhört, als wäre er gerade von einer Nachtschicht nach Hause gekommen. August fragt sich, womit Myla ihn bestochen hat, damit er ihr hilft, bevor er sich in seine Höhle verkriecht. »Rolly Bäng ist ein Spiel, das wir erfunden haben.«

»Du sitzt auf einem Schreibtischstuhl mit Rollen in der Küche, und jemand gibt dir einen ordentlichen Schubs«, erklärt Myla. »Zum Flur hin geht es bergab, weißt du?« Natürlich ist es ihnen gelungen, nur so zum Spaß gegen die Gebäuderegeln zu verstoßen. »Dafür steht Rolly.«

»Dann will ich lieber nicht herausfinden, wofür Bäng steht.«

»Das ist das Geräusch, wenn du gegen die Türschwelle krachst.« Wes deutet auf die Schwelle am Eingang zur Küche. »Dabei wirst du voll aus dem Stuhl geschleudert.«

»Wir kleben die Linien auf«, Myla befestigt den letzten Klebestreifen am Boden, »um zu messen, wie weit wir fliegen.«

August macht einen großen Schritt über sie hinweg in Richtung Wohnungstür.

Nudel wuselt um ihre Beine und schnüffelt aufgeregt. »Ich weiß nicht, ob ich beeindruckt oder entsetzt sein soll.«

»Das ist mein Lieblingsgefühl«, sagt Myla. »Fühlt sich fast so an, wie geil zu sein.«

»Ich geh schlafen.« Wes wirft Myla mit seiner Klebebandrolle ab. »Gute Nacht.«

»Guten Morgen.«

August schüttelt den Kopf, als Myla sich mit Nudels Leine zu ihr gesellt.

»Wo gehst du lang?«, fragt sie, während Nudel mit hängender Zunge und flappenden Ohren um sie herumspringt. Er ist so niedlich, dass August sich nicht mal darüber ärgern kann, dass Niko und Myla ihr verheimlicht haben, wie sehr der kleine Hund Teil ihres Lebens sein würde.

»Parkside Avenue.«

»Ooh, ich will im Park mit ihm Gassi gehen. Ist es dir recht, wenn wir dich begleiten?« August merkt so langsam, dass Myla ihre Freundschaft nicht etwa sanft wie einen Samen einpflanzt und sich mit viel Wasser und Sonne seinem Gedeihen widmet, sondern eher in ihr Leben walzt und sagt: Hallo, hier bin ich.

Eine vollumfängliche, komplette Freundin von Anfang an.

Seltsam.

»Klar.« August öffnet die Tür.

Diesmal ist der Gehweg nicht vereist, aber Nudel sorgt trotzdem dafür, dass August sich auf dem Weg zur Haltestelle beinahe langlegt.

»Er ist Wes’ Hund, aber wir teilen ihn uns eigentlich. So sind wir halt«, sagt Myla, während Nudel sie an der Leine hinter sich herzieht. »Mann, als ich noch in Manhattan gewohnt hab, bin ich immer an der Parkside Station ausgestiegen.«

»Echt?«

»Ja, ich bin auf die Columbia gegangen.«

August weicht Nudel aus, als er abrupt stehen bleibt, um den faszinierendsten To-go-Pappkarton der Welt zu beschnüffeln. »Kann man da gut Kunst studieren?«

Myla lacht. »Alle denken immer, ich hätte Kunst studiert.« Sie lässt eine Kaugummiblase zerplatzen. »Ich hab einen Abschluss in Elektrotechnik.«

»Du … sorry. Ich bin nur davon ausgegangen, weil …«

»Versteh schon«, unterbricht Myla sie. »Elektrotechnik ist superinteressant, und ich bin wirklich gut darin. Also, so richtig gut. Aber ein Job in diesem Bereich bringt deine Seele zur Strecke, und in meinem aktuellen Job verdiene ich genug. Im Moment mache ich einfach lieber Kunst.«

»Das ist …« Augusts schlimmster Albtraum. Mit der Uni fertig zu sein und nichts mit ihrem Abschluss anzufangen. Sie kann nicht glauben, dass dieser Gedanke Myla nicht jede Minute eines jeden Tages lähmt. »… irgendwie abgefahren.«

»Danke, finde ich auch«, erwidert Myla fröhlich.

An der Subway winkt sie ihr zum Abschied zu. August geht durch das Drehkreuz, und der vertraute Gestank der Q-Linie empfängt sie wie eine Umarmung.

Niemand, der länger als ein paar Monate in New York gelebt hat, würde verstehen, wie man die Subway lieben kann – so wie August. Das aufregende Gefühl, unter der Erde zu verschwinden, nur um dann irgendwo anders wieder aufzutauchen. Die beruhigende Gewissheit, dass man das größte Rätsel der Stadt gelöst hat, selbst wenn man eine Stunde Verspätung oder unfreiwillig intime Körperteile eines Exhibitionisten gesehen hat. Der Moment, wenn man einen entsetzten Blick mit der Person gegenüber wechselt, weil gerade eine Mariachi-Band eingestiegen ist. Das alles ist Teil des Erlebnisses. In der Subway ist August eine richtige New Yorkerin.

Natürlich ist es trotzdem schrecklich. Sie hat sich schon zweimal fast in mysteriöse Pfützen gesetzt. Die Ratten haben definitiv eine größere Mission. Und einmal, während einer dreißigminütigen Verspätung, hat eine Taube in ihre Tasche geschissen. Nicht auf die Tasche. In die Tasche.

Aber trotz alledem und obwohl sie sonst alles andere hasst, liebt August die wundervolle Abgefucktheit der MTA.

Vielleicht ist das dumm – nein, es ist eindeutig dumm. Vor allem, weil das größtenteils mit der Frau zu tun hat, die August dort getroffen hat.

Subway-Girl ist wie ein Lächeln, das zwischen den Gleisen verloren gegangen ist. Sie ist aus dem Nichts aufgetaucht, hat August den Tag gerettet und ist von einer Sekunde auf die andere wieder verschwunden. Sobald August an der Avenue H ausstieg, war es, als hätte Subway-Girl nie existiert. Sie werden sich nie wiedersehen. Aber jedes Mal, wenn August an die Subway denkt, sieht sie braune Augen und eine Lederjacke und eine Jeans, die bis zu den Oberschenkeln aufgeschlitzt ist.

Nach zwei Haltestellen schaut August von ihrem Pop-Tart-Frühstück auf und …

Subway-Girl.

Diesmal trägt sie keine Motorradjacke, die Ärmel ihres weißen T-Shirts hat sie bis zu den Schultern hochgekrempelt. Sie hat sich zurückgelehnt und einen Arm über die Lehne des leeren Sitzes neben sich gelegt, und … sie hat Tattoos. Ein roter Vogel, der sich von ihrer Schulter nach unten ausbreitet, chinesische Schriftzeichen über ihrem Ellbogen. Und auf ihrem Bizeps prangt ungelogen ein altmodischer Anker.

August kann nicht glauben, was für ein verdammtes Glück sie hat.

Da ist auch die Jacke wieder, über den Rucksack zu ihren Füßen ausgebreitet. August starrt gerade ihre hohen Chucks in ausgeblichenem Rot an, als Subway-Girl die Augen öffnet.

Mit dem Mund formt sie ein überraschtes Oh. »Coffee-Girl.«

Sie lächelt. Einer ihrer vorderen Schneidezähne ist leicht schief. Es macht August fertig. Jedes bisschen Intelligenz verlässt ihren Schädel.

»Subway-Girl.« Sie schafft es gerade so, das Wort herauszubringen.

Subway-Girls Lächeln wird breiter. »Morgen.«

Augusts Mund will ein »Guten Morgen« erwidern, doch ihr Gehirn versucht sich an einem »Hi«. Heraus kommt ein gestammeltes »Geil«. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, unter den Sitz mit der Rattenscheiße zu kriechen.

»Ja, klar, manchmal«, sagt Subway-Girl total cool und gelassen. Sie lächelt immer noch, und August fragt sich, ob alle Rattenscheiße dieser Welt ausreichen würde, um sich darin zu vergraben.

»Sorry, ich bin … Mein Gehirn funktioniert morgens noch nicht richtig. Viel zu früh.«

»Ist das so?« Subway-Girl hört sich aufrichtig interessiert an.

Sie trägt dieselben Kopfhörer wie bei ihrer letzten Begegnung, im Style der Achtziger mit grellorangefarbenem Schaumstoff.

Sie kramt in ihrem Rucksack herum und zieht einen Kassettenrekorder hervor, um die Musik anzuhalten. Einen waschechten Kassettenrekorder. Subway-Girl ist … ein Brooklyn-Hipster? Macht sie das weniger attraktiv?

Doch als sie sich ihr wieder zuwendet, mit ihren Tattoos und ihrem leicht schiefen Schneidezahn, und August ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt, weiß sie: Diese Frau könnte jeden Tag ein Grammophon in die Subway schleppen, und trotzdem würde August sich für sie während der Rushhour mitten auf die Fifth Avenue legen.

»Ja, äh«, stottert August, »ist spät geworden gestern Abend.«

Subway-Girls Augenbrauen schießen in die Höhe. »Warum denn?«

»Oh, ähm, ich hatte Nachtschicht. Ich kellnere im Pancake Billy’s. Der Laden ist vierundzwanzig Stunden geöffnet, also …«

»Pancake Billy’s?«, fragt Subway-Girl. »Das ist … in der Church Avenue, oder?«

Sie stemmt die Ellbogen auf die Knie und stützt das Kinn in beide Hände. Ihre Augen strahlen, und ihre Fingerknöchel sind breit und kräftig, als wüsste sie, wie man Brotteig knetet oder ein Auto auseinandernimmt.

August stellt sich gerade definitiv nicht vor, wie Subway-Girl ihr bei einem dritten Date ebenso begeistert gegenübersitzt. Absolut ausgeschlossen. Und sie ist natürlich auch nicht die Art von Person, die mit einer völlig Fremden in der Subway sitzt, deren Namen sie noch nicht mal kennt, und sich vorstellt, wie sie gemeinsam ein IKEA-Bett aufbauen. Sie hat alles unter Kontrolle.

Sie räuspert sich. »Ja. Du kennst das Billy’s?«

Subway-Girl beißt sich auf die Unterlippe, was natürlich gar nichts in August auslöst. Alles cool.

»Oh … Mann, ich hab da früher auch mal gekellnert«, sagt sie. »Ist Jerry noch in der Küche?«

August lacht. Schon wieder Glück gehabt. »Ja, anscheinend schon seit Ewigkeiten. Ich kann mir den Laden einfach nicht ohne ihn vorstellen. Jeden Morgen begrüßt er mich mit …«

»Morgen, Buttercup«, beendet sie Augusts Satz mit der perfekten Imitation von Jerrys starkem Brooklyn-Akzent. »Ist er nicht süß?«

»Süß? O mein Gott!«

August kriegt sich kaum noch ein vor Lachen, und Subway-Girl schnaubt, und verdammt, dieses Schnauben ist eine Offenbarung. Sie kommen zu einer Haltestelle, die Türen öffnen und schließen sich, und beide lachen immer noch. Und vielleicht … vielleicht passiert da gerade etwas zwischen ihnen. August hat die Möglichkeit noch nicht aufgegeben.

»Aber das Su Special, das ist …«, sagt sie, als sie sich wieder eingekriegt hat.

Subway-Girls Augen leuchten so hell, dass August fast erwartet, sie würde aufspringen. »Moment mal, das ist mein Sandwich. Ich hab’s erfunden!«

»Was? Echt jetzt?«

»Ja, das ist mein Nachname! Su! Jerry musste es so oft für mich machen, dass es irgendwann alle bei ihm bestellt haben. Ich kann nicht glauben, dass das immer noch so ist.«

»Ja, er macht es jeden Tag, und es ist verdammt lecker«, sagt August. »Dank diesem Sandwich bin ich schon ein paar Mal von den Toten auferstanden, also, danke dafür.«

»Gern geschehen«, sagt Subway-Girl. Ihr Blick richtet sich auf einmal in weite Ferne, als wäre die Erinnerung an übel gelaunte Kundschaft, die Pfannkuchen zurückgehen lässt, das Beste, das ihr diese Woche passiert ist. »Gott, wie ich das Billy’s vermisse.«

»Ja, ist dir jemals aufgefallen, dass es irgendwie …«

»… magisch ist?«, beendet Subway-Girl ihren Satz. »Es ist pure Magie!«

August beißt sich auf die Lippe. Für Magie gibt es in ihrem Leben keinen Platz. Aber schon bei ihrer ersten Begegnung wusste August, dass sie alles tun würde, was Subway-Girl ihr sagt, und das scheint sich beunruhigenderweise nicht geändert zu haben.

»Ich bin ja überrascht, dass sie mich noch nicht gefeuert haben«, sagt August. »Gestern hab ich Kuchen auf einen Fünfjährigen fallen lassen. Wir mussten ihm ein Billy’s-T-Shirt schenken.«