Ich bin müde - Anselm Grün - E-Book

Ich bin müde E-Book

Anselm Grün

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Beschreibung

Viele Menschen verdrängen das Gefühl der Müdigkeit – im Beruf, in der Familie, in der Kirche oder im Umgang mit sich selbst. Sie möchten nicht infrage stellen, was und wie sie leben, obwohl es ihnen ihre Lebensenergie raubt. Anselm Grün zeigt in diesem Buch Wege auf, wie wir mit Müdigkeit umgehen können und sie als Chance verstehen lernen, um wieder zu uns selbst zu kommen. Er ermutigt dazu, uns wieder neu dem Wesentlichen zu öffnen, dem Rhythmus der eigenen Seele und des Leibes zu folgen und so zu den Quellen innerer Kraft zu finden.

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Seitenzahl: 154

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Printausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2011/2020

ISBN 978-3-7365-9010-6

Neuausgabe des 2011 erschienen Titels.

E-Book-Ausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024

ISBN 978-3-7365-0593-3

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Erstellung: Sarah Östreicher

Covergestaltung: wunderlichundweigand

Portraitfoto Pater Anselm Grün: © Hsin-Ju-Wu

www.vier-tuerme-verlag.de

Anselm Grün

Ich bin müde

Neue Lust am Leben finden

Vier-Türme-Verlag

Inhalt
Einleitung
Das Gefühl der Müdigkeit als spiritueller Wegweiser
Die Erfahrungen von Müdigkeit
Müde im Sprachgebrauch
Müde werden in Arbeit und Beruf
Müde in der Partnerschaft
Kirchenmüde
Politikverdrossenheit
Müde mit mir selbst
Die Ursachen der Müdigkeit
Medizinische Ursachen
Psychische Ursachen
Lebensmuster
Falsche Selbstbilder
Falsche Sorge
Resignation
Leben gegen den eigenen Rhythmus
Systemische Ursachen
An-sich-Vorbeileben als Ursache der Müdigkeit
Der Umgang mit der Müdigkeit
Die Erfahrung der Müdigkeit in der Bibel
Die Müdigkeit Jesu
Die Müdigkeit der Jünger am Ölberg
Die Müdigkeit des Petrus
Die Müdigkeit des frommen Beters
Die Müdigkeit des Propheten Elija
Maria und Marta
Der Umgang mit der Müdigkeit in der spirituellen Tradition
Der persönliche Umgang mit der Müdigkeit
Das Lob der Müdigkeit in der Philosophie
Schlussgedanken
Gebete in der Müdigkeit
Psalm 69
Hymnus der Laudes
Gebet gegen Resignation
Canticum Jesaia 35,1–10
Canticum Jesaia 38,10–20
Canticum Jesaia 40,12–31
Psalm 40
Psalm 143,1–11
Psalm 6
O Herr, komm bald
Ich glaube an die Sonne
Literatur

Einleitung

Das Thema Burn-out ist heute in aller Munde. Bei vielen Kursen erzählen Manager, dass sie nahe an einem Burn-out sind. Deshalb haben sie sich den Freiraum des Kurses gegönnt. Doch wenn ich genau hinhöre, sind viele nicht ausgebrannt. Sie leiden nicht an einer Erschöpfungsdepression. Es ist vielmehr ein anderes Phänomen. Sie sind einfach nur müde. Sie haben sich in der Firma engagiert. Sie haben sich angestrengt, um die Firma voranzubringen. Sie haben sich um ein menschlicheres Arbeitsklima bemüht. Aber jetzt sind sie des Kämpfens müde. Sie fühlen, es sei ein Kampf gegen Windmühlen. Ihr Körper ist nicht so müde, dass sie gleich einschlafen werden. Doch ihre Seele ist müde. Sie hat keinen Schwung mehr. Die Begeisterung, mit der sie für andere gekämpft haben, ist verflogen. Es ist ein Gefühl chronischer Müdigkeit und innerer Lustlosigkeit.

Aber nicht nur Manager sind müde. Neulich erzählte mir eine Frau: »Ich habe so viel für meine Partnerschaft getan. Ich habe meinen Mann zur Paartherapie mitgenommen und alles versucht, unsere Partnerschaft wieder lebendig werden zu lassen. Aber es hat alles nichts geholfen. Ich bin so müde, mich immer neu um diese Ehe zu bemühen.« Eine andere Frau machte immer wieder Therapie. Doch sie hat den Eindruck, sie sei keinen Schritt weitergekommen. Jetzt sei sie einfach müde, noch weiter an sich zu arbeiten. Sie hat so viele Methoden ausprobiert, die ihr die Zeitschriften anpreisen: Methoden des gesunden Lebens, Methoden der Entspannung, Methoden der seelischen Hygiene. Aber sie ist all dieser Methoden, die so viel versprechen, müde. Sie spürt, dass sie ihr nicht wirklich weiterhelfen. Doch was will sie eigentlich? Was erwartet sie vom Leben? Die Müdigkeit lässt sie innehalten, um zu überprüfen, was sie von all den Therapien und Methoden erwartet, die sie ausprobiert hat.

Müdigkeit ist aber nicht nur ein Phänomen des Einzelnen. Es gibt auch die Kirchenmüdigkeit und die Politikmüdigkeit. Man könnte sagen, einzelne Menschen sind an der Kirche müde geworden. Aber wir finden auch die Müdigkeit als Grundstimmung in der Kirche. Und ebenso gibt es nicht nur die Politikverdrossenheit des Einzelnen, sondern auch die Müdigkeit der Politik, nicht nur einzelner Politiker, sondern der Politik als Ganzes.

Wenn die Menschen von sich sagen: »Ich bin müde«, dann ist das nicht die Beschreibung des Burn-out-Syndroms, über das es in letzter Zeit viele Bücher gibt. Ich selber begleite viele Menschen, die von sich sagen, sie leiden unter Burn-out. Doch sie beschreiben mit diesem Wort eine andere Erfahrung. Burn-out meint eine dauernde Erschöpfung. Die klassische Definition von Burn-out ist: »Zustand physischer oder seelischer Erschöpfung, der als Auswirkung langanhaltender negativer Gefühle entsteht, die sich in Arbeit und Selbstbild des Menschen entwickeln« (Emener, zitiert von Fengler 92).

Und die typischen Merkmale des Burn-out sind: »Großer Widerstand, täglich zur Arbeit zu gehen, Gefühle des Versagens; Ärger und Widerwillen; Schuldgefühle; Entmutigung und Gleichgültigkeit; Negativismus; Isolierung und Rückzug; tägliche Gefühle von Müdigkeit und Erschöpfung« (Cherniss, zitiert von Fengler 94).

»Ich bin müde« ist manchmal ein Teil des Burn-out-Syndroms. Aber meistens ist es einfach ein Grundgefühl, das Menschen haben. Sie leiden nicht an einer Krankheit. Sie haben keine Erschöpfungsdepression, die mit Burn-out ja oft verbunden ist. Sie fühlen sich einfach müde. Sie haben das Gefühl, es habe keinen Zweck mehr zu kämpfen. Manchmal machen sie den Eindruck von Resignation. Oft ist es mehr ein psychisches Gefühl. Doch ich treffe auch immer wieder Menschen, die tatsächlich müde sind. Sie schlafen ein, sobald sie sich hinsetzen, um einen Vortrag zu hören. Sie schlafen beim Fernsehen ein. Ja, oft schlafen sie beim Autofahren ein. Sie sind übermüdet. Manchmal kann diese Müdigkeit auch medizinisch bedingt sein. Da leidet einer an Eisenmangel. Ein anderer ist schlapp, weil er unter einer Virusinfektion leidet. Andere leiden grundsätzlich unter Frühjahrsmüdigkeit. Es gibt viele Formen von Müdigkeit und viele Ursachen, warum wir müde sind.

Am 8. Oktober 2010 hat Christof Kneer in der Süddeutschen Zeitung mit dem damals noch aktiven Fußballer Philipp Lahm über das Phänomen der WM-Müdigkeit gesprochen. Auf die Frage, ob es eher eine körperliche oder eine geistige Müdigkeit ist, antwortet Lahm: »Das kann man nicht trennen. Aber die Reihenfolge ist diese: Erst kommt die psychische Müdigkeit, und daraus resultiert dann die fehlende körperliche Frische.« Lahm begründet die fehlende Frische seiner Mannschaft aufgrund der WM-Müdigkeit einmal mit der mangelnden Pause zwischen der Saison und der Weltmeisterschaft. Dann aber spricht er von dem neuen Problem. Auf einmal steht seine Mannschaft weit hinten in der Tabelle. »Jetzt kommt der Druck, nichts mehr herschenken zu dürfen. Gleichzeitig merkt man, dass es nicht läuft, dann vergibt man vorne mal eine Chance, macht hinten mal einen Fehler, es läuft einfach nicht nach Wunsch, der Druck wird noch größer. Das ist wie eine Kettenreaktion: Am Anfang steht die Psyche, dann kommt der Körper, und dann kommt wieder die Psyche, weil man natürlich an Selbstvertrauen verliert.«

Was der Fußballer hier von seiner Mannschaft sagt, das gilt wohl für viele, die müde geworden sind. Sie sind psychisch und körperlich müde geworden. Und ihre Müdigkeit raubt ihnen ihr Selbstvertrauen. Auf einmal läuft nichts mehr im Leben. Alles geht zäh. Nach außen merkt man oft keinen Unterschied. Und dennoch ist da in der Psyche und im Körper etwas, was einfach nicht präsent ist und was daher auch nicht die richtige Leistung bringt.

Das Gefühl der Müdigkeit als spiritueller Wegweiser

Müde werden Menschen in jedem Lebensalter. Kinder werden müde, wenn sie den ganzen Tag gespielt haben. Jugendliche sind abends müde, vor allem aber morgens, wenn es ans Aufstehen geht. Da haben sie den Eindruck, dass sie weiterschlafen müssten, um ihre Müdigkeit abzuschütteln. Erwachsene Menschen werden müde, wenn sie viel gearbeitet oder zu wenig Schlaf haben.

Die Art von Müdigkeit, die ich in diesem Buch beschreiben möchte, erlebe ich bei vielen Menschen jeden Alters. Besonders oft scheint mir diese Müdigkeit jedoch Menschen zwischen fünfzig und sechzig Jahren zu treffen. Sie haben die Krise der Lebensmitte hinter sich, in der es um Neuorientierung ging. In der Lebensmitte haben sie sich gefragt: »Soll das alles gewesen sein? Geht es beruflich immer nur bergauf? Oder bin ich an der Grenze angekommen? Was zählt jetzt in meinem Leben?«

Die Lebensmitte ist die Herausforderung, von außen nach innen zu gehen. So hat vor allem der Schweizer Psychologe Carl Gustav Jung die Lebensmitte beschrieben. Wenn die biologische Kurve sich nach unten neigt, kann die psychologische Kurve nur dann aufsteigen, wenn der Mensch sich seinem Innern zuwendet, seinem inneren Zent­­rum, dem Selbst.

In dem Alter zwischen fünfzig und sechzig Jahren beobachte ich eine andere Grundstimmung. Man hat viel an sich gearbeitet. Man hat sich der Krise der Lebensmitte gestellt, hat sein Leben verändert und einen neuen Rhythmus für sich gefunden. Man hat die ungesunde Ernährung umgestellt und geht auf Selbsterfahrungs- und Meditationskurse. Man hat viele Formen von Spiritualität probiert und viel gelesen. Doch jetzt macht sich ein Gefühl von Müdigkeit breit. All die Erwartungen, die man in die Bewältigung der Krise der Lebensmitte gestellt hat, all die spirituellen und therapeutischen Wege, die man gegangen ist, all die sportlichen und gesundheitlichen Ratschläge, denen man gefolgt ist, haben einen letztlich nicht glücklich gemacht. Jetzt macht sich das Gefühl breit: »Ich habe so viel an mir gearbeitet. Ich habe so viel probiert. Was soll das alles? Hat es etwas gebracht? Bin ich wirklich glücklich?«

Es ist gut, wenn wir solche Gefühle von Müdigkeit nicht wegdrängen. Denn die Gefahr besteht darin, sich nicht eingestehen zu wollen, dass all das, was man an Wegen gegangen ist, nicht wirklich zum Ziel geführt hat. So will uns die Müdigkeit herausfordern, uns neu zu fragen, worum es in unserem Leben eigentlich geht. Wir haben bewusst gelebt. Wir haben all die spirituellen Ratschläge, die uns die christliche Tradition gegeben hat, befolgt. Wir haben esoterische Wege ausprobiert. Wir haben in östlichen Religionen gesucht und Zen-Meditation geübt. Aber wenn wir ehrlich sind, die letzte Erfüllung hat das alles nicht gebracht.

Manche möchten sich das lieber nicht eingestehen. Sie haben sich ja so angestrengt. Sie möchten nicht in Frage stellen, was sie leben. Daher schwärmen sie von ihrem momentanen spirituellen Weg. Sie haben den Eindruck, jetzt nach allem Suchen das Eigentliche gefunden zu haben. Doch je mehr Menschen von ihrem spirituellen Weg schwärmen, desto skeptischer werde ich. Ich habe dann oft den Eindruck, dass sie ihre Lebensweise rechtfertigen müssen, nicht nur vor anderen, sondern letztlich vor sich selbst. Denn in ihnen selbst sind tiefe Zweifel, ob das alles wirklich weiterführt.

Das Gefühl von Müdigkeit, das viele verdrängen, wäre die Chance, nochmals neu über sein Leben nachzudenken: Worum geht es denn eigentlich? Was möchte ich mit meinem Leben ausdrücken? Welche Erwartungen habe ich an das Leben, welche Erwartungen habe ich an Gott und an mich selbst?

Die Erfahrung des Müdeseins ist nicht neu. Schon der fränkische Dichter Friedrich Rückert (1788–1866) hat in seinem Gedicht »Ich bin müde« das Phänomen beschrieben:

Ich bin müde

Ich bin müde, sterbensmüde;Ich bin müde, lebensmüde;Dieses Bangens und Verlangens,Dieses Hoffens, Bebens müde;Dieses zwischen Erd und HimmelAuf- und Niederschwebens müde;Dieses spinnengleichen Webens,Hirngespinste-Webens müde;Müde dieser Torenweisheit,Stolzen Überhebens müde.Auf, o Geist, in diesen FesselnRing dich nicht vergebens müde!Schwing dich auf zu deinem Äther,Des am Staube Klebens müde.

Friedrich Rückert beschreibt sehr treffend die verschiedenen Arten von Müdigkeit. Der Dichter ist müde zu leben. Er ist es leid, immer wieder neu und vergebens zu hoffen, alle möglichen Träume zu spinnen, die dann doch nicht Wirklichkeit werden. Er ist müde all der menschlichen Weisheit, die sich als Torenweisheit entpuppt und oft genug von überheblichen Menschen verkündet wird, die meinen, sie wüssten, wie Leben gelingt. Die Antwort, die wir auf unsere Müdigkeit geben sollen, besteht für den Dichter darin­, dass der Geist sich zum Äther aufschwingt, dass er sich also innerlich befreit vom Kleben am Staub, von menschlichen Maßstäben, von Lob oder Tadel, dass der Geist zu sich selbst kommt.

Wir könnten das spirituell so ausdrücken: Die Müdigkeit, die wir in der Welt erleben, verweist uns auf einen Bereich jenseits der Welt, auf den inneren Bereich der Seele, in dem wir ganz wir selbst sind, frei von dem Hin und Her dieser Welt, das uns müde macht. Die Müdigkeit fordert uns heraus, diese Welt zu übersteigen und zu unserem wahren Selbst zu finden, über das die Welt nicht mehr bestimmen kann.

So möchte ich in diesem Buch die verschiedenen Arten und Orte der Müdigkeit durchgehen, mich dem Phänomen der Müdigkeit zuwenden und es von verschiedenen Seiten aus betrachten. Ich möchte nach den Ursachen fragen und dann Wege beschreiben, wie wir mit der Müdigkeit umgehen können. Dabei berücksichtige ich die Erfahrungen, die ich selbst mit der Müdigkeit mache, und gehe auf die Erfahrungen ein, die mir andere erzählt haben. Auch die geistliche Tradition – gerade im Hinblick auf ihre Deutung der Bibel – soll uns helfen, die Müdigkeit als Thema des geistlichen Lebens zu erkennen und einen Weg zu finden, sie in das Leben zu integrieren.

Dabei kann ich keine systematische Abhandlung schrei­ben­, sondern bringe einfach die Gedanken zu Papier, die mir zu diesem Thema gekommen sind. Mich haben die Gedanken von Philosophen und Dichtern, die Gedanken von Frommen und weniger Frommen angeregt. Und so hoffe ich, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, durch die Gedanken dieses Buches angeregt werden, selbst über Ihre Müdigkeit nachzudenken und nach Wegen zu suchen, wie Sie kreativ mit der Müdigkeit umgehen können, sodass Sie neue Lust am Leben finden.

Die Erfahrungen von Müdigkeit

Müde im Sprachgebrauch

Wenn wir von der Sprache ausgehen, so sagt uns der Duden: Das altgermanische Wort »müde« kommt vom Wort »müe«, das Mühe und sich mühen bedeutet. Müde ist also der, der sich gemüht hat, der sich angestrengt und geplagt hat. Er hat sein Leben als Mühe und oft als Mühsal erfahren. So hat er sich abgemüht und ist darüber müde geworden. Das Grimm’sche Wörterbuch sagt: »Müde bedeutet demnach im Zustande der Anstrengung und Beschwerde. Er wird in der alten Sprache nicht nur auf das körperliche und seelische Gefühl des Ermattetseins nach der Anstrengung, sondern auch auf Kraftlosigkeit des Wesens, Elend und Gedrücktheit in der Stellung zu anderen bezogen« (Grimm 2616).

Die deutsche Sprache kennt verschiedene Verwendungen des Wortes müde. Da sind nicht nur Menschen müde. Auch die Hände werden müde oder die Knie. Gott verheißt beim Propheten Jeremia, dass er die müden Seelen erquicken werde (Jeremia 31,25).

Ein müdes Herz sehnt sich danach, ausruhen zu können. Man wird von der Arbeit müde, aber auch vom Seufzen und von der Reise. Schiller lässt Maria Stuart sagen: »Ich bin des Lebens und des Herrschens müde.« Manche sind müde vom Leiden, andere sind müde zu leiden, müde, etwas Bestimmtes zu tun.

Wir verwenden das Wort »müde« meist im Sinn der deutschen Sprache. Wir denken an die Mühsal des Lebens, die uns müde macht. Doch die spirituelle Tradition hat Müdigkeit anders verstanden. Sie hat sie als Chance gesehen, nicht nur das Leben zu verändern. Es geht nicht nur um Anstrengung und Mühsal, sondern darum, der Seele Raum zu geben, damit sie empfangen kann. Im Zustand der Müdigkeit ist die Seele aufmerksam und empfänglich für neue Botschaften. Da erkennt sie, dass es nicht um Leisten und Sich-Anstrengen geht, sondern um Sein, um Sein aus Gnade.

So kann die Müdigkeit uns an wesentliche Themen des geistlichen Lebens führen wie etwa die Muße, die Kon­temp­la­tion, das Empfangenkönnen, das Leben aus Gnade und an die Demut, dem Rhythmus der eigenen Seele und des Leibes zu folgen. Die spirituelle Tradition zeigt uns Wege auf, wie wir anders mit Müdigkeit umgehen können, als uns die Ratgeberbücher vorschlagen. Es geht nicht darum, die Müdigkeit zu bekämpfen, sondern mit ihr zu leben und sie als Freundin zu sehen, die uns in die eigene Wahrheit und in das Geheimnis Gottes und des Menschen hineinführt.

Müde werden in Arbeit und Beruf

Oft höre ich – wie schon erwähnt – von Menschen, die sich für ihre Firma lange und mit großem Eifer engagiert haben: »Ich bin müde. Ich habe so viel für die Firma getan. Aber es hilft nicht weiter. Wir bekommen die Firma nicht mehr zum Blühen. Das wirtschaftliche Umfeld wird immer schwerer. Wir haben keine Chance mehr, die Firma zu retten.« Andere haben sich für ein besseres Betriebsklima eingesetzt. Aber sie haben nur Enttäuschung erlebt und ihre Ohnmacht erfahren. Das macht sie müde. Andere haben gemeinsam mit Kollegen Ideen entwickelt, wie die Firma auf Dauer gut weiterarbeiten könnte. Aber sie wurden nicht gehört.

Ein Mann, der jahrelang die Firma gestützt hat, ist müde geworden, weil sein neuer Chef nur noch auf das Geld sieht und die Qualität seiner Mitarbeiter übersieht. Der Mann stand für das gute Betriebsklima. Doch den neuen Chef interessieren die Mitarbeiter nicht. Ihm geht es allein um das Geld. Er sieht nicht, dass das Betriebsergebnis nicht besser wird, wenn er die Mitarbeiter nur antreibt, ohne sie in ihrem Wert zu achten. Der Mann sieht, dass das in die falsche Richtung läuft. Aber all seine Versuche, den Chef darauf hinzuweisen, gingen ins Leere. Das macht müde. Irgendwann hat man dann keine Lust mehr. Man arbeitet noch so viel es sein muss und macht Dienst nach Vorschrift. Aber die Kraft und der Idealismus gehen verloren. Müdigkeit breitet sich nicht nur bei diesem Mitarbeiter aus, sondern bei vielen anderen.

Der Mann, der mir von seiner Müdigkeit dem neuen Chef gegenüber erzählte, der das Betriebsklima so verschlechterte, war fünfundfünfzig Jahre alt. Für mich ist diese Form von Müdigkeit typisch für das Alter zwischen fünfzig und dreiundsechzig. Es ist die Müdigkeit vor der Pensionierung. Man muss noch einige Jahre arbeiten und will auch noch gut arbeiten. Dieser Mann war nicht resigniert. Er hat seine Müdigkeit eingestanden, aber sich trotzdem vorgenommen, weiterhin seine Meinung zu sagen. Er hatte eine innere Freiheit gefunden, das zu sagen, was er für richtig hielt, auch wenn der Chef sich oft darüber ärgerte. Aber seine Müdigkeit hat ihn davor bewahrt, ständig frustriert zu sein oder zu verbittern. Auf der einen Seite fühlte er sich müde in seinen Versuchen, das Betriebsklima zu verbessern. Auf der anderen Seite aber wollte er nicht aufgeben. Für ihn bestand die Lösung darin, seine Müdigkeit zuzugeben, aber dennoch in aller Gelassenheit und zugleich mit Hoffnung, das zu sagen, was er für richtig hielt. In seinen Worten war keine Verbissenheit mehr. Aber er hatte doch die Hoffnung nicht aufgegeben, dass seine Worte eine Wirkung erzielen. Dass sie den Chef nicht umstimmen konnten, hatte er oft genug erfahren. Aber er hoffte immer noch, dass seine Worte wie Samenkörner sind, die doch irgendwann in den Herzen der Menschen aufgehen. Die Müdigkeit hat ihn also nicht zur Resignation oder Bitterkeit geführt, sondern sie hat seine Art, für die Firma zu arbeiten, verwandelt. Sein Handeln atmete mehr den Geschmack von Freiheit, Gelassenheit und Hoffnung.

Oft ist das Gefühl von Müdigkeit nicht von negativen Erfahrungen verursacht. Ein Betriebsleiter sagte mir: »Ich bin einfach müde, täglich die Konflikte zu schlichten, mich immer wieder diesen banalen Problemen zuzuwenden. Ich bin es leid, den täglichen Kleinkram immer wieder neu ordnen zu müssen.« Oder ein Begleiter meint: »Ich bin so müde. Ich möchte die Probleme der Menschen nicht mehr hören. Vor allem die Beziehungsprobleme in der Partnerschaft oder Freundschaft machen mich müde. Ich habe mich so lange auf die Probleme anderer Menschen eingelassen. Jetzt reicht es mir. Jetzt möchte ich mich auch einmal um mich kümmern.«