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Niemand mag es, doch wir alle tun es: scheitern. An uns selbst, aneinander, an der Welt und natürlich an unseren Ansprüchen. Dabei ist es doch ganz einfach: Wenn man mal wieder das Mittelmaß trifft, einfach freundlich grüßen! In diesem Buch lotet Sarah Bosetti auf einer Silvesterparty – der Nacht der gescheiterten Existenzen – die vielen Möglichkeiten aus, sich zwischen Erfolg und Misserfolg genussvoll einzunisten. Sie erzählt von Menschen, die Schauspieler werden, weil sie es als Kellner einfach nicht geschafft haben, vom Versuch, mit Schwimmflügeln an den Füßen über Wasser zu gehen, und von der Einsicht, dass wir alle Gollum sind, wenn man uns neben Scarlett Johansson stellt. Ehrlich, selbstironisch und sehr witzig!
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Seitenzahl: 183
Sarah Bosetti
Ich bin sehr hübsch, das sieht man nur nicht so
Von einer, die auszog, das Scheitern zu lernen
Ihr Verlagsname
Niemand mag es, doch wir alle tun es: scheitern. An uns selbst, aneinander, an der Welt und natürlich an unseren Ansprüchen. Dabei ist es doch ganz einfach: Wenn man mal wieder das Mittelmaß trifft, einfach freundlich grüßen! In diesem Buch lotet Sarah Bosetti auf einer Silvesterparty – der Nacht der gescheiterten Existenzen – die vielen Möglichkeiten aus, sich zwischen Erfolg und Misserfolg genussvoll einzunisten. Sie erzählt von Menschen, die Schauspieler werden, weil sie es als Kellner einfach nicht geschafft haben, vom Versuch, mit Schwimmflügeln an den Füßen über Wasser zu gehen, und von der Einsicht, dass wir alle Gollum sind, wenn man uns neben Scarlett Johansson stellt. Ehrlich, selbstironisch und sehr witzig!
Sarah Bosetti ist eine Erfindung ihrer Eltern. Seit 1984 ist sie anwesend, halb Mensch und halb Frau, studierte zunächst Filmregie in Brüssel und zog dann nach Berlin, wo sie sich seither zur Ersparnis eigener Heizkosten im Scheinwerferlicht der Lese- und Kabarettbühnen wärmt und 2013 deutschsprachige Team-Vizemeisterin im Poetry-Slam wurde. Sie ist bekannt aus «Die Anstalt» im ZDF, «Nuhr im Ersten», der «ARD Ladies Night» sowie als Kolumnistin bei radioeins (RBB).
Für Daniel
«Ich wollte den Durchschnitt aller Dinge erforschen. Doch alle Menschen, Tiere und Pflanzen, die ich durchschnitt, waren sofort tot. Daraus schließe ich, dass Durchschnitt und Sterben nah miteinander verwandt sind.»
– beliebiger Serienmörder
Die Rolling Stones, Rubeus und die Resignation
«Wo ich hinwill? – Nirgendwohin.
Ich weiß nicht, wieso Leute immer meinen, irgendwohin zu müssen. Sie wollen auf den Mond, ans Ende der Welt und unbedingt noch vor Ladenschluss zu Rewe. Sie wollen im Winter in die Sonne und im Sommer in den Schnee. Sie wollen miteinander ins Bett. Sie wollen auf die oberste Sprosse der Karriereleiter. Sie wollen es weiter schaffen als alle anderen. Und ständig erfinden sie neue Arten, ans Ziel zu gelangen. Mein Bruder hat sich als Kind sogar mal Schwimmflügel an die Füße geschnallt, um über Wasser gehen zu können. Natürlich ist er dabei fast ertrunken, aber trotzdem sagte meine Mutter nachher: ‹Na ja, wenigstens hast du es versucht.›
Ich stand daneben und dachte: Wieso muss man es versuchen, wenn man weiß, dass es sowieso nicht klappt? Wieso lobt einen niemand für die so offensichtlich kluge Entscheidung, auf festem Grund zu laufen? Wieso kann man das Aussichtslose nicht einfach aussichtslos sein lassen?
Ich bin zum Beispiel nicht der klügste Mensch der Welt. Das weiß ich. Und ob ich nun Dostojewskis Gesamtwerk lese oder Gebrauchsanweisungen für Staubsauger: Es wird nichts daran ändern. Ich bin auch nicht die schönste Frau der Welt. Ob ich schön bin, hängt immer davon ab, wer gerade neben mir steht. Jetzt gucken Sie mich an und denken: Aha. Eine Frau. Aber stell mich neben Scarlett Johansson, und ich bin Gollum.
Wir sind alle nur so mittel. Und manchmal treffen wir das Mittelmaß, grüßen es freundlich und denken: Wenn ich jemals so werde wie du, nimm einen großen Hammer und hau mich kaputt! Dabei sind wir es längst. Wir sind wandelnde Vergleiche. Ich kann klügere Dinge sagen als Kathrin Oertel – ich habe es versucht, es ist gar nicht so schwer. Ich kann auch ein besserer Mensch sein als Kim Jong-un. Und weniger selbstverliebt als Matthias Schweighöfer. Aber das bedeutet nicht, dass ich auch nur in einem dieser Dinge gut bin. Es gibt bloß immer jemanden, der noch schlechter ist als man selbst. Und leider gibt es auch immer jemanden, der besser ist. Ich bin meinem Freund wahrscheinlich nicht die beste Freundin, die es gibt. Ich bin nur die beste, die er getroffen hat. Natürlich kann ich nicht besser als alle anderen mit ihm küssen, streiten, Serien gucken, schlafen und einschlafen. Es wäre vermessen, das zu glauben. Und im Grunde wissen wir das. Es gibt immer jemanden, der unseren Job besser machen und unsere Rolle besser spielen könnte. Wo sonst kommt sie her, unsere Angst vor dem Verlassenwerden? Es ist der Irrglaube, erst Superlative verliehen den Dingen ihren Wert. Es ist die Angst vor der Austauschbarkeit, die Angst vor dem Scheitern. Und natürlich ist diese Angst berechtigt: Wir alle werden sterben, ohne uns weiter als auf Armeslänge vom Mittelmaß entfernt zu haben. Selbst wenn wir es irgendwann geschafft haben, was immer ‹es› auch sein mag, gilt das nur für heute und nie für morgen. Was wir Erfolg nennen, ist immer von anderen Menschen abhängig, und Menschen sind vergesslich. Wir sind nicht mal im Scheitern außergewöhnlich. Ich habe es versucht. Ich wollte die beste Scheitererin der Welt werden. Ich habe mich Die Scheitererin genannt und hatte damit immerhin den schlechtesten Kampfnamen der Welt. Dann habe ich mit allem, was ich hatte, nichts getan. Ich war die Motte, die den Mond anguckt und sagt: ‹Nee, ich flieg nicht ins Licht, das ist ja doch wieder nur ’ne Lampe.› Aber niemand war beeindruckt. Ich bin im Scheitern gescheitert, das muss man erst mal schaffen! Und jetzt kommen Sie und wollen wissen, wo ich hinwill? Was geht Sie das überhaupt an?»
Der Taxifahrer guckt mich mit großen Augen an. Ich frage mich, ob ich das gerade alles laut ausgesprochen habe.
«Na ja, das ist halt mein Job», sagt er. «Und wenn ich ihn schon nicht besser machen kann als alle anderen, dann kann ich Sie ja wenigstens nach Hause fahren.»
Da hat er auch wieder recht. Kluger Taxifahrer. Ich gebe ihm meine Adresse und verspreche, ab jetzt den Mund zu halten. Dann schnalle ich mich an, halte meine Einkaufstüte fest, und wir fahren los.
Es ist der letzte Tag des Jahres, und ich komme gerade von einem Kinderfußballspiel. Nicht, weil das mein Traum einer Silvesternachmittagsbeschäftigung ist, sondern weil ich Freunde habe, die Kinder haben. Und wenn ich mit ihnen befreundet bleiben will, muss ich ab und zu die Kinder angucken und anerkennende Grunzgeräusche von mir geben.
«Ich glaube, Eltern sind sich nie ganz sicher, ob ihre Kinder wirklich existieren», sage ich. «Deshalb werden die Kinder ständig anderen Leuten gezeigt, und wenn die Leute dann ‹Ooh› und ‹Aah› machen, können die Eltern wieder sicher sein, sich das Geschrei nicht nur einzubilden. Wieso sonst sollte man der Welt immer wieder ihre neuen Menschen vorführen? Einen neuen Computer zeigt man seinen Freunden, weil er mehr kann als der alte. Aber Kinder können ja nix. Sogar noch weniger als ihre Eltern.»
«Sie reden schon wieder», sagt der Taxifahrer.
«’tschuldigung», sage ich. «Manchmal schweigt mein Gehirn, und mein Mund redet trotzdem.»
Ich glaube, ich bin schon ein bisschen betrunken. Bei dem Fußballspiel gab es einen Glühweinstand, an dem die Eltern und ich uns das Spiel interessant trinken konnten. Das war gut für uns, ist jetzt aber schlecht für den Taxifahrer. Alkohol macht mich gesprächig.
«Es wird Sie sicher freuen zu hören, dass mir der Nachmittag auf dem Fußballplatz eine Erkenntnis gebracht hat», sage ich.
Der Taxifahrer guckt auf den Taxameter.
«Solange die Uhr läuft, freut mich alles, was Sie freut», sagt er. Ich beschließe, ihn Rubeus zu nennen. Er erinnert mich ein bisschen an den Harry-Potter-Wildhüter Rubeus Hagrid. Das ist ein Tick von mir. Ich kann mir keine echten Namen merken, also benenne ich Menschen nach fiktiven Figuren. Mein Späti-Mann heißt Doctor Who, weil er immer eine Fliege trägt und aussieht wie eine syrische Version von Matt Smith, und Prinzessin Leia ist meine Bäckerin. Sie sieht zwar nicht aus wie Carrie Fisher, aber ich habe sie mal auf der Straße getroffen, als sie riesige Kopfhörer trug. Da war die Ähnlichkeit plötzlich frappierend.
«Wollen Sie nun meine Erkenntnis hören?», frage ich.
«Unbedingt», sagt Rubeus.
«Manchmal», sage ich, «merkt man erst sehr spät und nur zufällig, dass man an etwas gescheitert ist. Weil man vorher gar nicht auf die Idee gekommen ist, dass man es überhaupt hätte versuchen können.»
«Ach was.»
«Ja», sage ich. «Mir ist heute zum Beispiel aufgefallen, dass ich niemals Profi-Fußballerin sein werde. Das ist ein harter Schlag. Zugegeben, ich wollte auch nie Profi-Fußballerin werden. Ich mag Fußball nicht mal besonders. Aber trotzdem. Es gab eine Zeit, in der ich Profi-Fußballerin hätte werden können, wenn ich denn nur gewollt hätte. Mit sieben oder acht Jahren, als mir noch alle Möglichkeiten offenstanden. Ich hätte bloß anfangen müssen, Fußball zu spielen.»
«Hamse aber nich.»
«Doch, einmal. In der Grundschule war ich eine halbe Stunde lang Jürgen Klinsmann. Er war blond, ich war blond – wir waren quasi dieselbe Person. Deshalb durfte ich sogar bei den Jungs mitspielen. Vielleicht aber auch nur, weil ich kurze Haare hatte und mich sowieso alle für einen Jungen hielten. Trotzdem sagten sie nachher nur: ‹Für ein Mädchen spielst du ganz okay.›»
«Das ist doch nett», sagt Rubeus.
«Nein!», rufe ich. «‹Mädchen› war die krasseste Beleidigung überhaupt! Ich frage mich, wie sich das entwickelt hat. Wie beschimpfen sich die genderpolitisch korrekt erzogenen Kinder von heute? Gibt es auf jedem Bolzplatz eine Mädchenquote? Müssen sich die Mädchen dann rechtfertigen, weil ihnen vorgeworfen wird, sie würden aufgrund ihres Geschlechts bevorzugt? Darf man ‹Mädchen› überhaupt noch sagen? Vielleicht heißt das heute ‹Junge mit Genderhintergrund›.»
«Ich weiß nicht», sagt Rubeus. «Ich hab schon lange nicht mehr Fußball gespielt.»
«Ich auch nicht», sage ich. «Weil ich schon nach dreißig Minuten vom Sportplatz geholt wurde und Blockflöte üben musste. Blockflöte! Das ist nicht nur kein Sport, es ist noch nicht mal richtige Musik. Ich glaube, Blockflöten sind eigentlich gar keine Instrumente, sondern Stöcke im Stimmbruch. Trotzdem werden Generationen hilfloser Heranwachsender dazu gezwungen, ihre Jugend daran zu verschwenden. Haben Sie schon mal Blockflöte gespielt?»
Rubeus schüttelt den Kopf.
«Seien Sie froh», sage ich. «Bei mir hatte die Blockflöte vor allem eines zur Folge: Ich weiß jetzt, wie es ist, keine Freunde zu haben. Meine Eltern müssen mich wirklich gehasst haben. Ich wollte Gitarre spielen. Oder wenigstens Klavier. Oder singen. Aber meine Eltern haben gesagt: ‹Schweig, Kind! Hier hast du ein hohles Stück Holz. Puste da rein, das klingt immer noch besser als deine Stimme!› Also hielt ich mich nicht nur vom Fußball fern, sondern auch vom wahren Musizieren und flötete mich stattdessen in die soziale Isolation. Und als mich mein frühpubertärer Trotz endlich gegen den Willen meiner Eltern aufbegehren ließ, war es längst zu spät. Die Musik wollte mich nicht mehr. Ich war das Küken, das aus dem Nest gefallen und von den schmierigen Händen der Blockflöte besudelt war. Zum Glück muss man nicht unbedingt Musik machen, um ein funktionierendes Mitglied unserer Gesellschaft zu werden.»
Rubeus macht das Radio an.
«Muss man nicht?», fragt er.
«Nein, aber man muss zumindest über Musik reden», sage ich. «Das läuft eigentlich immer gleich ab. Sie sagt: ‹Die Stones sind voll der Hammer!›, er sagt: ‹Aber nur die frühen Alben!›, und dann sagen beide zusammen: ‹Alles ab dem vierten Album ist nur noch Kommerzkacke!› Danach lächeln sie sich selig an, stürzen aufeinander zu und haben sofort Sex. Immer. Nur bei mir hat das nie geklappt. Und das bloß, weil ich auf die Frage, ob ich eine bestimmte Band kenne, immer gesagt habe: ‹Kann sein, keine Ahnung, ich kann mir keine Namen merken.›»
Rubeus gähnt und sucht einen neuen Sender. Es läuft irgendein Lied von irgendeiner Band. You can’t always get what you want, singt das Radio.
«Das war meine erste Begegnung mit dem Scheitern», sage ich. «Dabei mag ich Musik. Ich kann sie hören und gut oder schlecht finden. Ich kann sogar guten Geschmack haben. Musik macht mit mir, was sie mit jedem anderen Menschen auch macht. Ich kann Musik lieben. Aber man liebt nicht mit dem Kopf. Namen merkt man sich mit dem Kopf. Namen von Bands und Alben und Liedern. Und mit dem Kopf lernt man Wörter wie ‹Kommerzkacke›.»
Rubeus dreht das Radio lauter.
– I saw her today at the reception –
«Aber meinen Kopf interessiert das alles nicht», sage ich. «Ich weiß nicht, wie Leute das machen. Musikhören ist wie Vokabellernen. Wenn der Lehrer dich erst mal an die Tafel geholt hat, kannst du nicht sagen: ‹Joa, ham mir gut gefallen, die Vokabeln, die würd ich mir auch mal live anhören.› Du musst sie auswendig aufsagen können, sonst glaubt dir keiner, dass du sie kennst.»
– In her glass was a bleeding man –
«Du kannst klug sein und schön, du kannst ein gutes Herz haben oder wenigstens Herzen sammeln an Supermarktkassen oder in Einmachgläsern, es ist egal: Wenn du keine gute Antwort auf die Frage hast, was für Musik du hörst, ist es vorbei. Menschen ohne politische Meinung sind gesellschaftlich akzeptierter als Menschen ohne Musikgeschmack. Du gehörst nicht dazu, du bist unrockbar.»
– She was practiced at the art of deception –
«Früher war das noch ein bisschen einfacher. Da musste man nur Nirvana kennen. Ich habe immer behauptet, ich würde mich mit siebenundzwanzig umbringen, und alle dachten, ich hätte Ahnung von Musik. Aber jetzt gibt es neue Bands. Und man muss sie alle kennen. Wenn mich jemand fragt, was für Musik ich höre, denke ich mir inzwischen einfach irgendwelche Bands aus: ‹Wie, du kennst die Dreieiigen Zwillingsschwestern nicht? Hattest du keine Jugend, oder was?›»
– Well, I could tell by her blood-stained hands –
«Das Problem ist: Egal, wie bescheuert der Name ist, den ich mir ausdenke, die Bands gibt es alle wirklich. Die abgestorbenen Gehirnhälften, Fötus Gulasch, Trollkotze.Gibt es alle. Es gibt eine Band mit dem Namen Embryo Bombenteppich. Da weiß ein Psychologe doch gar nicht, wo er anfangen soll!»
– You can’t always get what you want –
«Eine nennt sich ganz realistisch 100% Scheiße, eine andere heißt Der Bassist ist ein Arschloch. Ich habe schon überlegt, meine eigene Band zu gründen. Eine Death-Metal-Band, die nur aus einem Blockflötenorchester besteht. Wir könnten uns Die Blockflöte des Todes nennen. Aber die gibt es auch schon.»
– You can’t always get what you want –
«Ich glaube, die Bands denken sich solche Namen aus, um uns zu verhöhnen. Weil Leute nicht müde werden, ihre Plattensammlungen zur Schau zu stellen.»
– You can’t always get what you want –
«Und weil sie genau wissen, dass irgendwann, wenn sie mal richtig berühmt sind, in den Wohnzimmern dieser Welt Menschen einander zuraunen werden: ‹Alter, das ist die Limited Edition der ersten Single von Ultra Vomit! Und ich kannte die Amputated Genitals schon, bevor sie berühmt wurden!›»
– But if you try sometime –
«Sie machen sich über uns lustig. Und zu Recht. Weil wir Dinge und Menschen nicht gut finden können, ohne sie uns zu eigen zu machen.»
– You might find –
«Weil wir einen Teil ihres Ruhms für uns beanspruchen, indem wir ihre Songtexte auswendig lernen und behaupten, sie schon immer gekannt zu haben.»
– You get what you need
Ich gucke Rubeus an, der über seine trommelnden Finger hinweg trübe auf die Heckscheibe des Autos vor uns starrt.
«Langweile ich Sie eigentlich, oder hören Sie mir zu?», frage ich.
«Ich bin da multitaskingfähig», sagt er und dreht das Radio leiser. «Ich kann mich gleichzeitig langweilen und Ihnen zuhören. Das ist meine geheime Superkraft.»
Ich nicke.
«Gute Superkraft», sage ich. «Aber jetzt hab ich den Faden verloren.»
«Irgendwas mit Musik.»
«Genau!», rufe ich. «Wir projizieren den Erfolg der Bands auf uns, um uns nicht in unserem eigenen Scheitern suhlen zu müssen! Zumindest alle anderen tun das. Alle außer mir. Ich würde auch, aber ich kann mir ja keine Bandnamen merken. Ich kann nur Blockflöte spielen, und das hat nun wirklich noch niemandem geholfen. Vielleicht hätte ich doch besser auf dem Fußballplatz bleiben sollen. Aber jetzt ist es zu spät, ich bin zweiunddreißig.»
«Das ist doch nicht alt», sagt Rubeus.
«Nein, aber zu alt, um noch Profi-Fußballerin zu werden. Ich habe die erste Stufe der Unumkehrbarkeit erreicht. In diesem Leben werde ich keine Astronautin mehr, kein Rockstar und eben auch keine Profi-Fußballerin.»
«Sie armes Ding», sagt Rubeus. «Aber haben Sie eigentlich keine Freunde, denen Sie das alles erzählen können?»
«Rubeus!», rufe ich. «Sie sind aber kein guter Zuhörer! Habe ich Ihnen nicht vor fünf Minuten erzählt, dass ich nur noch Freunde habe, die ihrerseits Kinder ihr Eigen nennen? Und können Sie sich nicht denken, dass jungen Eltern rein gar nichts zu erzählen ist, weil sie selbst ständig erzählen müssen – von laufenden und sprechenden und kotzenden Kindern? Wirklich, Rubeus, wozu rede ich überhaupt mit Ihnen?»
«Wer ist Rubeus?», fragt Rubeus.
«Nicht so wichtig», sage ich. «Wichtig ist: Ich werde niemals Profi-Fußballerin.»
«Schade», sagt Rubeus. «Ein bisschen Sport würde Ihnen bestimmt guttun. Zur Entspannung.»
«Ja, vielleicht», sage ich. «Und Sportler faszinieren mich. Für Kinder ist Sport ja völlig normal. Sie müssen sich bewegen, sonst platzen sie. Für Erwachsene ist Sport ein bisschen wie Sex: Er erinnert einen daran, dass man einen Körper hat. Wenn Sport und Sex nicht wären, würde ich längst bloß noch aus Augen und Fingern bestehen, und meinen Schoß gäbe es nur, damit mein Laptop eine bequeme Unterlage hat. Aber leider ist Sport nicht selten die Voraussetzung dafür, überhaupt jemals Sex haben zu können. Weil er dünn und jung hält.»
Ich gucke Rubeus an. Er ist dick und alt.
«’tschuldigung», sage ich.
«Schon gut», sagt Rubeus. «Ich bin gerne dick und alt. Meine Frau ist auch dick und alt. Sogar meine Kinder sind schon dick und alt. Und all meine Freunde sowieso. Da würde ich sonst gar nicht reinpassen.»
«Wie schön», sage ich. «Dann müssen Sie ja gar keinen Sport machen! Die meisten Erwachsenen machen Sport ohnehin nur zur Selbstentpummelung und Selbstentfaltung.»
«Das ist nicht faszinierend, sondern deprimierend», sagt Rubeus.
«Schon», sage ich. «Aber dafür kann der Sport ja nichts, sondern unser übereifriges Schönheitsideal. Und das Faszinierende an Sportlern ist etwas anderes: Ihr Leben besteht aus Training. Die meisten Menschen gehen zur Arbeit und arbeiten – oder hängen acht Stunden auf Facebook rum. Ihr beruflicher Erfolg hängt davon ab, wie gut sie jeden Tag sind. Aber Sportler gehen nicht zur Arbeit. Sie rennen, schließlich sind sie Sportler. Und dann arbeiten sie nicht, sondern trainieren für ihre eigentliche Arbeit, für die wenigen Momente, auf die es ankommt. Für das nächste Spiel oder den nächsten Wettkampf. Und wenn in diesen wenigen Momenten irgendwas schiefgeht, war das ganze Training umsonst. Sie sind wie Theaterschauspieler. Der Alltag ist nur Probe, und dann kommt die Premiere. Und wenn die Premiere nicht läuft, interessiert es auch niemanden, dass die letzte Probe wirklich total gut war.»
«Das ist auch deprimierend», sagt Rubeus.
«Ich weiß», sage ich. «Und Sportler müssen nicht nur gut sein. Sie müssen die Besten sein. Wer nie gewinnt, ist im Sport nichts wert. Deshalb nennt man den ewigen Zweiten ja auch den ersten Verlierer.»
«Hören Sie jetzt bitte auf, mit mir zu reden», sagt Rubeus. «Ich würde gern mein Leben genießen.»
«Schon gut», sage ich. «Nur eins noch! Ich muss Ihnen doch erzählen, wie ich überhaupt darauf gekommen bin! Vorhin auf dem Fußballplatz nämlich.»
Rubeus nimmt die Hände vom Lenkrad und hält sich die Ohren zu.
«Also», sage ich, «da war das Spiel. Vierzehn Kinder sind abwechselnd über den Ball gestolpert. Und als das Spiel vorbei war, jubelte die eine Hälfte, und die andere Hälfte heulte. Und ein Junge, der gefühlte zwanzig Eigentore geschossen hatte, schlurfte vom Platz und ließ sich direkt neben mir in den Schotter fallen. Sein Vater hob ihn hoch, stellte ihn auf die Beine und sagte: ‹Du hast nicht verloren. Du hast den anderen zum Sieg verholfen. Und damit bist du der beste Mensch auf diesem Platz.›»
Rubeus lenkt mit den Ellenbogen, um die Finger in den Ohren lassen zu können. Das Taxi schlingert über die Frankfurter Allee, als hätte es mindestens so viel Glühwein getrunken wie ich.
«Ich fand das eine schöne Form der Resignation», sage ich. «Und ganz unrecht hatte er ja nicht. Wieso will der Mensch überhaupt gewinnen? Gewinnen bedeutet nichts anderes als: die anderen besiegen. Vielleicht ist es also Menschenhass, der uns antreibt. Aber wieso bringt einem ein Sieg dann so viel Ruhm und Lob von anderen Menschen ein? Und wieso wollen wir das? Nach einem funktionsfähigen System klingt es nicht. Vielleicht wäre der Welt geholfen, wenn wir ab und zu einander zum Sieg verhelfen würden, anstatt ständig gewinnen zu wollen.»
Die Autos um uns herum hupen. Rubeus summt mit den Fingern in den Ohren vor sich hin.
«Ich mag die Resignation», sage ich über das Hupen hinweg. «Sie ist so gemütlich. Für sie muss man gar nichts können. Sie war einmal mit dem Ehrgeiz im Bett und hat dann gesagt: ‹Streng dich nicht so an, du bist sowieso nicht gut genug.› Sie ist ein Seufzen, das es nie zum ganzen Wort gebracht hat, der Schluckauf der Evolution, die Hufflepuff unter den Lebenseinstellungen. ‹Sollen die anderen doch›, sagt sie. Und natürlich hat sie recht. Sollen die anderen sich doch zum Affen machen! Die Resignation will nicht gewinnen. Sie zweifelt das Spiel an.»
Rubeus lenkt das Taxi mit den Ellenbogen in eine Seitenstraße und fährt dabei den Rückspiegel eines parkenden Autos ab. Es sieht aus, als würden sich die Autos ein high-five geben. Die Reifen quietschen. Ich halte mich an der Einkaufstüte fest, die auf meinem Schoß steht. Sinnvoller wäre es natürlich, mich am Türgriff festzuhalten, aber der ist mir zu voll mit den Keimen all jener, die ihn heute vor mir angefasst haben.
«Ich mag auch die Gescheiterten», sage ich, als ich wieder aufrecht sitze. «Die Verlierer und die Wahnsinnigen, die Suchtaffinen und Kindheitsverarbeiter, die keine Zufriedenheit, sondern nur Glück und Unglück kennen. Ihr Misslingen hat sie schön gemacht. Es gibt kaum etwas Hässlicheres als einen Vierzigjährigen, der zum ersten Mal begreift, dass er nicht alles bekommt, was er will. Wie ein riesiges Robbenbaby ist er, nur ohne dabei süß zu sein. Und mal ehrlich, was bliebe von einem Robbenbaby, wenn es nicht süß wäre?»
«Knochen und leere Augenhöhlen», sagt Rubeus, nimmt endlich die Finger aus den Ohren und lenkt wieder richtig. Wusste ich doch, dass er mir trotzdem zugehört hat.