Ich bin so gierig nach Leben – Brigitte Reimann - Carsten Gansel - E-Book
SONDERANGEBOT

Ich bin so gierig nach Leben – Brigitte Reimann E-Book

Carsten Gansel

0,0
18,99 €
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die erste große Biographie über die faszinierendste Autorin der DDR  

Wie aktuell wirkt aus heutiger Sicht dieses unangepasste Leben einer Schriftstellerin, die vielen als Femme fatale galt, vor allem aber eine moderne, selbstbestimmte Frau und vielseitige Autorin war. Während ihre Ehen scheiterten, hielt sie auch in schwierigsten Lebensphasen an ihrer schriftstellerischen Arbeit fest. Sie engagierte sich politisch und blieb sich doch stets treu gemäß dem Grundsatz: »nur nicht schweigen, nur nicht schweigend Falsches mit ansehen, und dadurch es billigen«.

Carsten Gansels umfassende Biographie liefert die spannende Neubewertung des Lebens einer Schriftstellerin in seinen Höhen und Tiefen und eines komplexen Werkes, das derzeit international entdeckt und gefeiert wird. 

»Brigitte Reimann gelingt es, die berauschende, unmögliche Verlockung Wirklichkeit werden zu lassen: die eigenen Ideale zu leben.« The New Yorker

 Mit bislang unbekanntem Archivmaterial, auf zahlreichen Interviews mit Weggefährt:innen basierend.

»Eine aufregende, seltsamerweise übersehene Autorin, deren Bücher in Deutschland nie vergriffen waren und die es dennoch neu zu entdecken gilt.« The Guardian 

»Was Reimanns Romane groß und schön und umwerfend macht, sind ihre Frauenfiguren. Die sind so naiv, selbstbewusst, um keine Antwort und Widerrede verlegen, sinnlich und intelligent, dass man nur staunen kann.« FAS


Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1039

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover for EPUB

Über das Buch

Gansels Biographie stützt sich auf bislang nur unzureichend erschlossenes Material und auf völlig neue Funde sowie zahlreiche Interviews mit Familienangehörigen, Weggefährten und Zeitgenossen. So erscheinen Brigitte Reimanns literarisches Werk und das kulturelle Leben in der DDR in einem weit schärferen und durchaus anderen Licht als bisher. Es entsteht das unverstellte, umfassende Bild einer unkonventionellen Frau und Schriftstellerin, die aneckte und zugleich faszinierte. Sie glaubte an die Kraft der Literatur ebenso wie an die Ideale des Sozialismus – und nahm kein Blatt vor den Mund, wo ihr etwas verfehlt, ja zerstörerisch erschien. Konsequent trat sie für die Kunst ein, für freie Meinungsäußerung und das Recht auf Glück. Am allerwenigsten schonte sie dabei sich selbst – gierig nach Leben, nach Liebe und Leidenschaft. Ein bewegendes, inspirierendes Schicksal, das gerade heute hochaktuelle Fragen berührt.

Über Carsten Gansel

Carsten Gansel, geboren 1955 in Güstrow/Mecklenburg, seit 1995 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Gießen. Er arbeitete unter anderem zu Gotthold Ephraim Lessing, Hermann Hesse, Hans Fallada, Johannes R. Becher, Hans Werner Richter, Uwe Johnson, Christa Wolf, Brigitte Reimann und Erwin Strittmatter. Als Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen verantwortete er u. a. die Neuausgabe von Heinrich Gerlachs »Durchbruch bei Stalingrad« (2016), die international für Aufsehen sorgte. Er lebt in Neubrandenburg.

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlage.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Carsten Gansel

Ich bin so gierig nach Leben – Brigitte Reimann

Die Biographie

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

1. : Prolog – wo die Anfänge liegen oder der Bücherschrank der Großmutter

2. : Herkunft kenntlich machen – Spurensuche

3. : »Bei allen genügt das Jahr der Geburt« – hineingeboren in das Dritte Reich

4. : »Es sind schwere Zeiten!« – die Jahre ab 1943

5. : Als der Krieg zu Ende war – ein Neuanfang

6. : Beginnende Normalisierung – der Alltag ab 1947

7. : »Der Lateinunterricht ist fabelhaft bei ihm« – die neue Oberschule

8. : »Vati ist gekommen« – ein Zwischenspiel

9. : »Kinderlähmung ist so ziemlich die schrecklichste Krankheit, die es gibt« – ein Schock

10. : »Ein Satz aus dem Kommunistischen Manifest« – Neustart und beginnende Wende

11. : »Mädchen sind den gleichaltrigen Jungen geistig immer überlegen« – das Laienspiel »Die Probe«

12. : »Ich habe mich entschlossen, die Schriftstellerei zu meinem Lebensinhalte zu machen« – neue Herausforderungen

13. : »Ich bin bloß froh, wenn ich erst einmal das dumme Abitur hinter mir habe« – das letzte Jahr an der Oberschule

14. : »Aus tiefstem Schmerz in himmelhoher Begeisterung!« – neue Ziele

15. : »Abend für Abend spiele ich glänzend die Rolle der Leidenschaftlichen« – zwischen Tanzbar und Schule

16. : »Nur eine flammt auf in gerechter Empörung« – Schreiben ohne Pathos

17. : »Die Denunziantin hat mich manche schlaflose Nacht gekostet« – immer neue Versuche

18. : »Ein verzerrtes Bild jener Zeit« – wie zwei Debüts sich annähern

19. : »So verwirrt und so wankend geworden im Glauben an eine schriftstellerische Begabung in mir« – das Erzählen von weiblicher Emanzipation

20. : »Könnt Ihr verstehen, wie schwer es für mich ist, von meinem Mann abhängig zu sein« – Ehekrise und Schreiben als Aufgabe

21. : »Es geht fast über menschliches Begreifen« – noch einmal fremde Geschichten erzählen

22. : »Er will nicht, daß ich der herrschenden Strömung in der heutigen DDR-Literatur verfalle« – eine »Frau am Pranger«

23. : »Wie die Dinge liegen, bist Du für einige Zeit bei Petersen am allerbesten aufgehoben« – Ratschläge eines geliebten Mannes

24. : »Der Geist bei uns lebt illegal – Herrgott, ist das eine Welt!« – Hoffnung und dann ein Schock

25. : »Ich bin kälter geworden und böse« – die Joe- und Jerry-Geschichten

26. : »Die Zukunft wird lehren, ob dieses System gut und richtig ist« – die Magdeburger Ereignisse und das Ministerium für Staatssicherheit

27. : »Daniel ist der Gesuchte und Gefundene« – ein Ende und ein Neuanfang

28. : »D. ist ein schwerer Schlag versetzt worden« – Diskussionen um die »harte Schreibweise«

29. : »Hoyerswerda ist überwältigend, das Kombinat von einer Großartigkeit, daß ich den ganzen Tag besoffen herumlief« – auf »Bitterfelder Wegen«

30. : »Ich denke aber, daß es auf der Landkarte unserer Gegenwartskunst noch eine Menge weißer Flecken gibt« – Experimentierfeld Schwarze Pumpe

31. : »Schriftsteller sind, scheint mir, ​eine Art Beichtvater für die Menschen« – Ankommen in der harten Realität

32. : »Es ist die Geschichte von drei Oberschülern« – Ankunft in der Ost-Moderne

33. : »Eigentlich ist es die Geschichte meiner Familie« – Trennungen und eine »drahtumgürtete Republik«

34. : »Und nun also doch: Jon K.« – Psychogramm der Irrungen und Wirrungen einer Dreiecksbeziehung

35. : »Die ›Geschwister‹ sind das Beste, was ich bis jetzt geschrieben habe« – die Ost-Moderne und der Westen

36. : »Entdeckung einer schlichten Wahrheit« – Hoffnungen und Engagement

37. : »Mir bereitet es physisches Unbehagen, wenn ich durch die Stadt gehe« – Architekten, das »Mädchen Franziska« und eine Jugendkommission

38. : »Lohnt sich der Tausch? Was gebe ich auf, was bekomme ich dafür?« – zwischen verzweifelter Ratlosigkeit und Engagement

39. : »Wär schön gewesen« – Endzeit einer Ehe

40. : »Das ist harter Kurs, wie er im Buche steht« – das 11. Plenum oder wie Hoffnungen zu Ende gehen

41. : »Alles schmeckt nach Abschied« – das 11. Plenum, die Folgen und ein Abschied

42. : »Überhaupt sind die Leute mächtig stolz auf ihre Stadt« – Neubeginn und Abschied in Neubrandenburg

43. : »Ich würde lieber dreißig wilde Jahre wählen statt siebzig brave und geruhsame« – Schreiben, Schreiben, Schreiben

44. : Epilog – »diese Spur, die man zurücklassen möchte«

Bildteil

Anhang

Anmerkungen

Verwendete Abkürzungen

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

Personenregister

Bildnachweis

Dank

Impressum

Wer von dieser Biographie begeistert ist, liest auch ...

1. 

Prolog – wo die Anfänge liegen oder der Bücherschrank der Großmutter

Brigitte Reimann ist mir früh begegnet – zwar nicht persönlich, wohl aber im Bücherschrank meiner Großmutter. Dort standen »Ankunft im Alltag« (1961) und »Die Geschwister« (1963). Meine Großmutter war eine belesene Frau, die noch bis ins hohe Alter fließend Französisch und Englisch sprach. Auch das Lateinische beherrschte sie. Nach der Flucht aus dem Osten im Herbst 1945 war sie gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter, meiner Mutter, in Güstrow gestrandet, weil ihre Schwägerin hier wohnte. Gerettet hatten sie nichts, verloren alles. Mit den Erzählungen über den Verlust von weit mehr als der eigenen Bibliothek bin ich aufgewachsen. Als ich dann in den 1980er Jahren Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands« las – meine Großmutter war einige Jahre zuvor verstorben –, fühlte ich mich an ihre Berichte erinnert. Weiss schildert ausführlich, wie Bertolt Brecht 1940 angesichts der vordringenden deutschen Truppen die Flucht aus dem schwedischen Exil vorbereitet. Da er nur weniges mitnehmen kann, muss er sich entscheiden: »In eine schwarze Seemannskiste gelegt wurden die wichtigsten Manuskripte, Notizblätter und Journale, sowie eine äußerst gesicherte Auswahl von Büchern«, heißt es.1 Diese gesicherte Auswahl herzustellen bereitet Brecht geistige Qual. Das Problem für ihn besteht darin, dass er sich von zahlreichen Texten nicht trennen mag, viele haben ihn »seit seiner Jugend begleitet«.2 Während Helene Weigel »Kupferschalen, Teekessel, Töpfe und Bratpfannen verstaute, stopfte Brecht noch, wo immer eine Spalte frei war, Bücher, die er aus den Haufen zog, die wir ringsum gelagert hatten«.3

Da meine Großmutter 1946 sofort eine Anstellung als Lehrerin fand, blieb sie in der Sowjetischen Besatzungszone und begann neue Bücher anzuschaffen. So kam es, dass ich in dem kleinen Bücherschrank Literatur fand, die in der SBZ und späteren DDR gedruckt worden war. Dazu gehörten jene Autorinnen und Autoren, die ins Exil zu gehen gezwungen waren, nicht zuletzt weil ihre Bücher am 10. Mai 1933 auf dem Berliner Bebelplatz von Mitgliedern des Nationalsozialistischen Studentenbundes auf einem riesigen Scheiterhaufen verbrannt worden waren: Lion Feuchtwangers »Jud Süß«, seine »Häßliche Herzogin«, die »Josephus-Trilogie«, »Goya«. Von Heinrich Manns ausgewählten Werken in Einzelausgaben hatte meine Großmutter den »Untertan« und »Die Jugend des Königs Henri Quatre«. Sein Bruder Thomas Mann war vertreten mit dem »Zauberberg«, »Doktor Faustus« und zu guter Letzt mit »Ausgewählten Erzählungen«, die mit einer Widmung versehen waren: »Unserer Kollegin Affeldt zum Geburtstag gewidmet. Kollegium der Goethe-Schule. Güstrow, d. 9. 8. 54« stand dort in schöner Schrift.

Das Besondere eines Teils der Bücher im Großmutter-Schrank bestand nun darin, dass es sich durchweg um Erstausgaben des Aufbau-Verlages handelte, den am 16. August 1945 der Journalist Heinz Willmann, der Volkswirt Klaus Gysi, der Verlagsbuchhändler Kurt Wilhelm und der Verlagskaufmann Otto Schiele in der Wohnung von Schiele in Berlin-Dahlem gegründet hatten. Zum Programm des neuen Verlages gehörte auch ein Autor, dem sich der »geistige Gründungsvater« der Unternehmung, Johannes R. Becher, nicht zuletzt aufgrund biographischer Gemeinsamkeiten verbunden fühlte, nämlich Hans Fallada. Die Erstausgabe von »Kleiner Mann – was nun?« (1946) wie auch die zwei Teile von »Wolf unter Wölfen« hatte ich früh in Händen, denn Fallada gehörte zu den besonders wertgeschätzten Autoren meiner Großmutter. Offensichtlich suchte sie in den Jahren nach 1945 einige jener klassischen Bücher wiederzuerwerben, die sie in ihrer eigenen Bibliothek hatte zurücklassen müssen, darunter Franzosen wie Émile Zola mit »Germinal« (1885) und »Die Erde« (1887), Engländer wie Walter Scotts »Ivanhoe« (1820) oder Charles Dickens’ »Oliver Twist« (1838) und »David Copperfield« (1850). Scott und Dickens griff ich mir, da war ich zwölf oder dreizehn, und »Ivanhoe« las ich sogar mehrmals. Dass Scotts Roman um König Richard I., genannt Löwenherz, als ein Geschenk ausgewiesen war, nahm ich damals nicht wahr. Erst viel später interessierte ich mich dafür, warum meine Großmutter den Roman erhalten hatte. »Unsere demokratische Schule wurde zum Vorbild für ganz Deutschland durch die patriotische Tat unserer Volkslehrer. Dank und Anerkennung für zehnjährige Aufbauarbeit in der demokratischen Schule.« Unterschrieben hatten der Schulrat und der Leiter der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung, und es ist das Jahr 1956.

Nach welchen Prinzipien meine Großmutter ihre Bücher in den Schrank gestellt hatte, darüber machte ich mir keine Gedanken. Viel später, beim Lesen von Peter Weiss, wurde mir klar, dass sie ähnlich vorgegangen sein könnte wie Brecht. Der Erzähler in der »Ästhetik des Widerstands« notiert nämlich, dass die Bücher »weder alphabetisch noch nach Fachgebieten geordnet, doch auch keineswegs regellos zusammengestellt gewesen waren, sondern nach Verwandtschaftsbeziehungen, nach einem System gegenseitiger Sympathien oder Zusammengehörigkeiten in Streitgesprächen«.4 Verwandtschaftsbeziehungen und Sympathien, das schien auch ein Kriterium für meine Großmutter gewesen zu sein. Der Blick in ihre neu entstehende Bibliothek belegt den Versuch einer erneuten individuellen Teilhabe an dem, was man kulturelles Gedächtnis nennen kann. Gekauft wurden vor allem jene Bücher, die zum bürgerlichen Kanon gehörten. Wenn man so will, dann handelte es sich um eine individuelle Kanonisierung, meine Großmutter steckte für sich ein bestimmtes Territorium ab, auf das sie ihre Aufmerksamkeit richtete. Theodor W. Adorno hat einmal gesagt, dass bei Kanonisierung fortgelassen werden muss. Daran anschließend, entsteht für Jan und Aleida Assmann jeder Kanon mit einem Trennungsstrich, denn es wird eine Dialektik zwischen dem produziert, »was hineinkommt«, und dem, »was draußen bleibt«.5 Wenn ich unter diesem Gesichtspunkt heute die Bestände des Bücherschrankes meiner Großmutter betrachte – die meisten befinden sich in meinem Besitz –, dann hat es den Anschein, dass ihr Kaufinteresse in den 1960er Jahren deutlich zurückgegangen ist. 1896 geboren, kam sie in dieser Zeit bereits ins Rentenalter. Unterrichtet hat sie allerdings noch, da war sie einige Jahre über 70. Warum? Sie hatte – vermutlich auch durch ihre Erfahrungen mit Erstem Weltkrieg, Inflation, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust, schließlich Flucht und Vertreibung – eine Lebensmaxime. Oftmals zitierte sie einen Spruch des indischen Dichters und Philosophen Rabindranath Tagore, der 1913 als erster asiatischer Autor den Literaturnobelpreis erhielt. »Ich schlief und träumte, das Leben sei Freude«, wird er gern zitiert. »Ich erwachte und sah, das Leben war Pflicht. Ich handelte, und siehe, die Pflicht war Freude.« Pflicht war für meine Großmutter vielleicht auch der Erwerb von Gegenwartsliteratur, die sie eher distanziert-zurückhaltend zur Kenntnis nahm. Es steckte in den Texten, so ihre Aussage, zu viel »Tendenz«, mithin Ideologie, wie sie meinte. Das, was man in der DDR mit dem »neuen Gegenstand« bezeichnete, bereitete ihr Unbehagen. Die DDR-Literatur ab Mitte der 1960er Jahre hat sie dann kaum noch zur Kenntnis genommen. Umso mehr verwundert es, dass sich in ihrem Bücherschrank die zwei Texte von Brigitte Reimann fanden: »Ankunft im Alltag« (1961) und »Die Geschwister« (1963). Vermutlich hat sie an den »Geschwistern« die deutsch-deutsche Thematik interessiert, denn ihr Sohn, mein Onkel, war nach der amerikanischen Kriegsgefangenschaft in den westlichen Besatzungszonen geblieben, und so war die Familie fortan geteilt. Ob meine Großmutter Brigitte Reimann wirklich gelesen hat, vermag ich nicht zu sagen. Gesprochen haben wir darüber nicht.

In den 1970er und 80er Jahren wurde Brigitte Reimann zu einer Art Kultautorin, und zwar mit jenem Roman, der unvollendet blieb und dennoch 1974 erschien, »Franziska Linkerhand«. Im Nachsatz hat Walter Lewerenz, Brigitte Reimanns langjähriger Lektor beim Verlag Neues Leben, festgehalten, warum die Autorin den Roman nicht vollenden konnte. »Am 20. Februar 1973 starb sie – noch nicht vierzigjährig – an Krebs.« Lewerenz konnte aus eigener Erfahrung etwas über die Energie mitteilen, die Brigitte Reimann in dieses Lebensprojekt gesteckt hatte. »Trotz der Krankheit, an der sie die letzten Jahre ihres Lebens zunehmend litt, trotz der Furcht und der schließlichen Gewißheit, daß die außerordentlich hilfreichen Bemühungen der Ärzte das Schlimmste nicht würden verhindern können, setzte sie die Arbeit an dem Roman, dessen Anfänge in das Jahr 1963 zurückgehen, mit großer Willenskraft fort.«6

Mir selbst begegnete Reimanns Roman allerdings erst Ende der 1970er Jahre, als ich im Rahmen eines Sprachpraktikums in der Sowjetunion war, in Belgorod, jener Stadt, deren Name auf die Kalk- und Kreidefelsen verweist, auf denen sie im 13. Jahrhundert erbaut wurde. Hier kaufte ich für einige Rubel ein Exemplar der »Franziska« in einer Buchhandlung, die auch deutschsprachige Literatur vertrieb. Gelesen habe ich es dann Anfang der 1980er Jahre. In meinem Exemplar mit zahlreichen Anstreichungen liegt bis heute eine Besprechung von Christel Berger aus der Wochenzeitung des Kulturbundes »Sonntag«, die zum 10. Todestag der Autorin erschienen war. Sie begann mit einem Zitat der Autorin: »Eine wirklich gute Schriftstellerin – wie ich es früher erträumte – werde ich doch nicht mehr, und alles was ich der deutschen Literaturgeschichte zu bieten habe, ist der dubiose Begriff ›Ankunftsliteratur‹«, hatte sie am 16. Januar 1972, etwa ein Jahr vor ihrem Tod, in einem Brief geschrieben.7 Freilich war ihre Furcht unbegründet. Und so bringt die Rezensentin auch ihre eigenen Erfahrungen mit ins Spiel. Für sie ist Brigitte Reimann eine »ungeheuer beharrliche und sensible Arbeiterin und eine mutige Frau« gewesen. Der »umstrittene Begriff der Ankunftsliteratur« sei »fast vergessen«, während ihre Bücher lebten. »›Franziska Linkerhand‹, obwohl unvollendet geblieben, gehört für mich zu den schönsten und wichtigsten Büchern der DDR-Literatur«, schreibt Christel Berger, um dann zu bekennen: »Ich lese immer wieder darin und entdecke Neues und finde meist eine Verbündete, wenn ich Rat, Beistand oder Ermunterung brauche. Diese Verbündete heißt Brigitte Reimann.«8 Das war 1983!

Ein neues Interesse an Brigitte Reimann ergab sich mit und nach dem Ende der DDR und der Wende des Jahres 1989/90. Nicht zuletzt deshalb, weil die Frage im Raum stand, was aus einer Literatur in dem Fall wird, wenn der Staat, auf dessen Boden sie entstand, nicht mehr existiert. Da fielen als Einstieg in den Streit am Beispiel von Christa Wolf und ihrer Erzählung »Was bleibt« Wertungen wie »Staatsdichtertum«, »machtgeschützte Innerlichkeit« oder »literarisch apokryph«.9 Die Art und Weise der Argumentation provozierte ein vielstimmiges Pro und Contra. Wohl vor allem das Wie und der Zeitpunkt der Kritik wurde von vielen als unannehmbare Provokation oder gar ›Hetzjagd‹ empfunden. Heftige Reaktionen folgten und führten zu dem, was dann übertreibend »deutscher Literaturstreit« genannt wurde.10 »Nicht zu Unrecht«, hatte ich damals im Rahmen der ersten Tagung zu Uwe Johnson 1990 geäußert, »herrschte das Empfinden vor, dass es fast über Nacht zur Demontage gerade jener Autoren kam, die wie Christa Wolf und Stefan Heym über Jahrzehnte im Westen als die moralischen und ästhetischen Leitgrößen DDR-deutscher Literatur gegolten hatten. Nach dem Prinzip pars pro toto wurden sie nun als Legitimationsinstanzen eines ostdeutschen Bewußtseins angesehen und damit als Feigenblatt einer real-sozialistischen Diktatur.«11

Brigitte Reimann spielte in diesen Debatten keine Rolle. Sie stieg stattdessen einige Jahre später, nach Veröffentlichung ihrer Tagebücher, fast wie ein Phönix aus der Asche. Der begründete Erfolg brachte eine Renaissance der Autorin, die bis in die Gegenwart anhält und gerade auch international eine neue Dimension annimmt – im englischsprachigen Raum sind in den letzten Jahren immer mehr Werke übersetzt worden, zuerst ihre Tagebücher, jüngst in der renommierten Modern-Classics-Reihe von Penguin »Die Geschwister«, »Franziska Linkerhand« wird folgen. Bis auf wenige Ausnahmen erfuhren die Tagebücher, die 1997/98 erstmals veröffentlicht wurden, im Osten wie im Westen Deutschlands eine einhellig positive, ja geradezu euphorische Rezeption. Einmütigkeit bestand in der Überzeugung, Reimanns Tagebücher würden ein Stück Alltagsgeschichte der DDR liefern, wie es bisher nicht vorlag.12 In den Tagebüchern liege »einfach die große Kraft des Authentischen«.13 Hier werde die DDR nicht als ein »Konglomerat abstrakter Begriffe« gezeigt, sondern »von innen heraus«, aus der »Perspektive einer Frau, die sich von den Ideen nicht ihre Erlebnisfähigkeit nehmen läßt«.14 Mit den Tagebüchern, heißt es, habe Reimann zugleich eine Analyse des Alltags wie des politischen Systems geliefert. Insofern funktioniere das Tagebuch auch wie ein Nachschlagewerk über DDR-Befindlichkeiten, es stelle ein Kompendium der inoffiziellen Alltagskultur jener Zeit dar.15 Jochen Hiebers Aussage im »Literarischen Quartett«, wonach er aus dem Tagebuch über das Innere in der DDR so viel erfahren habe wie sonst in keinem Buch, trifft eine weit verbreitete Sicht vor allem westlicher Rezensenten.16 Das erkannte man offensichtlich wieder: die Hoffnungen, Sehnsüchte, Widersprüche, Konflikte, Tragödien einer Generation, die in der DDR »ankam« oder in sie »hineingeboren« wurde. Mit einigem Recht verstanden nicht wenige Leser die Tagebücher als ein »Wiederfinden von gelebtem Leben«, von »widersprüchlicher, unverdauter, aber vertrauter Vergangenheit«.

Ein Blick auf die Kritiken unterstreicht, mit welchen Schwierigkeiten sich jede Biographie, aber insbesondere eine zu Brigitte Reimann konfrontiert sieht. Offenkundig wird, wie stark bei der Modellierung des historischen Bewusstseins, bei der Auswahl des Wirklichkeitsmaterials die Tendenz zur Stereotypenbildung besteht und in welchem Maße neben der persönlichen Betroffenheit, Sozialisation, Erinnerung und Erfahrung auch praktische Orientierungs- und Aufarbeitungsbedürfnisse mitspielen. So diente Reimanns Leben fast allen als Beleg für die Enge, die Unattraktivität, Geschlossenheit, Vormodernität der ostdeutschen Verhältnisse, an denen sie gescheitert sei. Wo die DDR einzig als Ort der Tristesse, der Enge, des grauen Alltags, der Zurückgebliebenheit wahrgenommen wird, muss Reimann als »Exotin«, als »Candida des DDR-Sozialismus«17, als »privatistischste Autorin der DDR« gelten.18 Und in dem Maße, wie sie eine späte Würdigung erfährt, ja ihre Tagebücher zum »Besten aus der DDR-Literatur« werden, existieren Stimmen, die den Rest dieser Literatur als weniger künstlerisch, ihn als irrelevant, ja affirmativ aburteilen. Es läge nahe, Reimann vor allem als begeisterte, aber frühzeitig desillusionierte Sozialistin auszuleuchten; als Nymphomanin, die die verlogenen moralischen Konventionen des spießigen DDR-Sozialismus überschreitet; als von der Staatssicherheit bedrohte Systemkritikerin; eine sich vom Dogma des »sozialistischen Realismus« befreiende Autorin. In dieses Bild passt ihr tragischer Tod mit seiner symbolischen Bedeutung. Folgte man diesen Denkfiguren, erscheint es nur logisch, Brigitte Reimanns Leben als ein privates Fiasko anzusehen, das gleichsam wie ein »Spiegelbild« die »tödlich provinzielle« Gesellschaft abbildet, an der die sensible, lebenshungrige, phantasievolle Frau scheitern musste.19

Marcel Reich-Ranicki hatte in seiner Besprechung von Christa Wolfs »Nachdenken über Christa T.« einen Satz formuliert, der den Kern seiner Sicht erkennen lässt. »Sagen wir klar«, hatte er geschrieben, »Christa T. stirbt an Leukämie, aber sie leidet an der DDR.«20 Dieser Satz über eine literarische Figur wurde einer der Gründe für das Zerwürfnis, das sich im Verhältnis zu Christa und Gerhard Wolf ergab, und avancierte zum Muster, vor dessen Hintergrund das Leben und der frühe Tod von Brigitte Reimann seither interpretiert wurden. Folgte man einem solchen Ansatz, würde einmal mehr das viel zitierte Adorno-Diktum festgeschrieben, wonach es kein »richtiges Leben im falschen« gibt. Aber was ist »richtiges Leben«? Und ist es einzig in einer Gesellschaft möglich, die wie die Bundesrepublik vor und nach 1989 als gleichermaßen offen wie modern gilt? Ganz abgesehen davon, dass die BRD der 1950er, 60er und 70er Jahre keineswegs ein Land war, in dem Intellektuelle sich »behaglich fühlen konnten« (Uwe Johnson). Wo die Wertmaßstäbe einseitig und ausschließlich von den gegenwärtigen Verhältnissen bezogen werden, wird schwerlich ein lebendiges Bild von jener »wirklichen Wirklichkeit« (Anna Seghers) zu entwerfen sein, in der Brigitte Reimann lebte.

Wer über Brigitte Reimann schreibt, bekommt es also mit einem seit 1989 nicht nur für die Historiographie existierenden Problem zu tun, der Tatsache nämlich, dass »moralisch-politische Urteile der Gegenwart relativ ungefiltert auf die Interpretationen der DDR-Geschichte durchschlagen«.21 Auf diese Weise liefern ost- wie westdeutsche Kritiker über die Bildung von Stereotypen Bilder von der DDR und ihren Autoren, die – gewollt oder ungewollt – an der Neukonstitution eines spezifischen historischen (neu)deutschen Bewusstseins mitwirken und sich aufgrund ihrer Vereinfachungen in ein solches auch widerstandslos einpassen lassen.22 Gerade weil die Tagebücher umfassend Einblick in die Psyche der Autorin geben und zeigen, auf welche Weise sie »Wirklichkeit« aufnahm, verarbeitete, was sie wegließ, ignorierte, unter einem spezifischen Blickwinkel sah, sind die Gegenstände der Reibung zu rekonstruieren. Dazu allerdings erscheint es notwendig, die in Tagebüchern wie Werk angebotene »Version der Wirklichkeit« (Uwe Johnson) mit anderen möglichen Versionen zu vergleichen. Dies macht eine eigenständige Arbeit am Material, die Verwendung neuer Quellen, die Neubesichtigung gegebener Fakten notwendig. Eine Biographie zu Brigitte Reimann wird durch das Dokumentieren bislang unbekannter, verschwiegener, vergessener Zusammenhänge wie auch durch das positivistische Sammeln von Fakten, Zeitstimmen, Erinnerungen alte Kontexte neu zu sichten haben. Insofern ist die Biographie auch als Versuch zu verstehen, Aspekte von DDR-Geschichte neu zu buchstabieren. Der Blick zurück verlangt eine Grenz-Überschreitung – das Bemühen um einen Blick-Wechsel, der inzwischen eingeschliffene Wertungsraster zu vermeiden sucht.

Das Ende der DDR liegt mehr als dreißig Jahre zurück. Durch Archivarbeit wurde es in den vergangenen Jahrzehnten möglich, in das Innere eines Staatswesens zu schauen, wie es nie zuvor in der deutschen Geschichte möglich war. Was sollte es noch Neues geben können? Wir stehen nicht am Ende der Geschichte, wie Francis Fukuyama mit Blick auf den Sieg der westlichen Demokratien 1989 vermutete.23 Der amerikanische Demokratieforscher glaubte, dass der Sozialismus diskreditiert sei und nunmehr einzig ein Zivilisationsmodell die Zukunft bestimmen würde. Die Gegenwart zeigt, dass dies allem Anschein nach nicht stimmt. Unabhängig davon: Es gibt weiterhin unbekannte und vergessene Zusammenhänge, es gilt, Archivalien zu entdecken, von denen es einige ermöglichen, vermeintlich bekannte Kontexte neu zu ordnen. Es versteht sich von selbst, dass Biographien sich zurückhaltend und tastend einer Person nähern und dort, wo das Nichtwissen beginnt, diese Lücken füllen durch sensibles Umkreisen, letztlich durch das Erzählen von Geschichten. Die Beschäftigung mit Brigitte Reimann soll die Chance bieten, an diesem so kurzen Leben einer faszinierenden Frau und Schriftstellerin möglichst jenseits von »einfachen Wahrheiten« eine Vorstellung von dem zu vermitteln, was ihr Leben und allgemein das Leben nach 1945 in beiden Teilen Deutschlands ausmachte, denn »Biographie ist unwiderruflich«.24 Insofern ist das vorliegende erzählte Leben ganz im Sinne von Uwe Johnson eine Einladung, die eigene »Version der Wirklichkeit zu vergleichen mit jener« von Brigitte Reimann.25

2. 

Herkunft kenntlich machen – Spurensuche

Geboren wird Brigitte Reimann am 21. Juli 1933 in der Bahnhofsstraße 5 in Burg bei Magdeburg. Es ist ein heißer Freitag. Einen Tag später werden Elisabeth und Willi Reimann »in dankbarer Freude« bekannt geben: »Uns ist gestern ein gesundes, kräftiges Töchterchen geboren.«1 Ein Jahr später, 1934, zieht die Familie in die Neuendorfer Straße 2, ein schönes Haus, ja eine Art Villa, mit einem Garten und Kirschbäumen. Bruder Ludwig kommt 1934 auf die Welt, 1941 der Bruder Ulrich und 1943 die Schwester Dorothea. Der Vater stammt aus der Familie »eines Burger Buchdruckers, die Großeltern mütterlicherseits waren um 1910 aus Köln nach Burg gekommen, wo der Großvater eine Goldleistenfabrik eröffnete«, heißt es.2

Burg, 948 das erste Mal urkundlich erwähnt, war seit dem 13. Jahrhundert für seine Tuchmacherei bekannt. Zeitweise existierten in der Stadt über fünfzig Fabriken. Im 15. Jahrhundert galt Burg neben Halle und Magdeburg als die wirtschaftlich bedeutendste Stadt in der Region. Im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) wurde sie stark zerstört. Nach dem Prager Frieden Kursachsen zugesprochen, ging sie später wiederum an Brandenburg-Preußen. 1713 wurde Burg Garnisonsstadt. Allerdings wurden zu diesem Zeitpunkt die Truppenteile des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm I. noch in Privatquartieren untergebracht. Der Bau der ersten Kaserne begann in den Jahren um 1772. In diesem Umfeld ist auch eine für Burg wichtige Persönlichkeit anzusiedeln, Carl von Clausewitz, der 1780 hier geboren wurde und bis zum zwölften Lebensjahr eine Lateinschule besuchte.

Historische Quellen belegen, dass es mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert zu einem wirtschaftlichen Aufschwung kam. Das hing nicht zuletzt mit dem Bau der Bahnstrecke Berlin – Magdeburg im Jahre 1846 zusammen, wodurch die Stadt an das Schienennetz angegliedert wurde und im gleichen Jahr die Einweihung eines Bahnhofs feiern konnte. 1871, im Jahr der Gründung des Deutschen Reiches, wurde der Bau des etwa 30 Kilometer langen Ihle-Kanals abgeschlossen, mit dem Burg besseren Zugang zum Wassernetz der Elbe erhielt. Am nördlichen Kanalufer entstanden zahlreiche Ziegeleibetriebe. Die 1883 gegründete Schuhfabrik »Tack & Cie« galt bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als größte Produktionsstätte, in der täglich bis zu 4000 Schuhe gefertigt wurden. Das Brockhaus-Lexikon von 1894 enthält bereits zu diesem Zeitpunkt einen umfangreichen Eintrag, der die wirtschaftliche Stärke der Stadt ausdrückt:

Kreisstadt zu beiden Seiten der Ihle, die sich unterhalb der Stadt mit dem Kanal vereinigt, der 1865–71 zur nähern Verbindung der Havel mit der Elbe erbaut und kürzlich verbreitert wurde, und an der Linie Berlin – Magdeburg der Preußischen Staatsbahnen. Die bedeutende Industrie erstreckt sich auf die Fabrikation von Tuch (10 Fabriken, die meist Militärtuch liefern), Goldleisten und Rosetten (5), Glacé- und Saffianleder (2), Handschuhen (7), Maschinen (2), Schuhwaren (4), Cigarren (3), Stärke und Parkettfußböden; ferner bestehen 2 Flanellwebereien, 5 Färbereien, Wollwäscherei, 10 Bierbrauereien und Dampfsägewerke.3

Als der Großvater, Wilhelm Besch (1869–1947), 1910 seine Fabrik gründet, gehört Burg zu den wichtigen Städten in Brandenburg-Preußen. Geboren 1869, ist er zu diesem Zeitpunkt 41 Jahre alt und kommt wie seine Frau Franziska, geborene Zabel (1871–1956), aus dem Rheinland.4 Die Familie ist katholisch. Die Tochter Elisabeth wird 1905 geboren, später absolviert sie eine Lehre in einer Bank und lernt hier ihren späteren Mann Willi Reimann kennen. Mit der Produktion von Gold- und Politurleisten für Bilderrahmen setzt Wilhelm Besch auf einen Industriezweig, der Hochkonjunktur hat. In Burg gibt es damals mehrere Betriebe, die sich auf die Fertigung von Tapetenleisten, Gardinenbrettern, Portiergarnituren und Kehlleisten für die Bau- und Möbelindustrie spezialisiert haben. Ein Eintrag in Dennert’s Konversations-Lexikon von 1910, das sich in der Bibliothek der Familie befindet, belegt, wie wichtig die Herstellung von Goldleisten in der Gründerzeit und im Jugendstil war. Ausführlich werden dort die Unterschiede zwischen einer Leim- und einer Ölvergoldung beschrieben.5 Für die Großeltern, die das führen, was man einen bürgerlichen Haushalt nennt, sind Bücher wichtig. Im Herrenzimmer gibt es einen großen Bücherschrank, und es gehört zu den Ritualen, dass beide, Großvater Wilhelm Besch und seine Frau Franziska, in ihrem Haus mit verteilten Rollen aus den Märchen der Brüder Grimm vorlesen.

Der Großvater väterlicherseits, Gustav Reimann (1877–1960), ist Buchdrucker im traditionsreichen Buch- und Zeitungsverlag August Hopfer. Er und seine Frau Elisabeth, geborene Schröder, (1877–1961) stammen aus Burg. Ihr Sohn Willi (1904–1990), Brigitte Reimanns Vater, ist von der Ausbildung her Bankangestellter, aber nachdem er 1930 arbeitslos geworden ist, findet er eine Anstellung als Redakteur und später Schriftleiter bei dem Brotgeber des Vaters. Der Familienbetrieb war von Ernst August Hopfer gegründet worden, der ab 1848 die »Buchhandlung Adolph Volger« in Burg geleitet und sie 1853 gekauft hatte. Seitdem baute er das Geschäft erfolgreich aus, gliederte eine Leihbibliothek sowie eine Schreib- und Papierwarenhandlung an und gründete einen eigenen Verlag, der erfolgreich in ganz Deutschland tätig war. 1874 startete er die erste werktags täglich erscheinende Zeitung, das »Tageblatt für den Jerichowschen und benachbarte Kreise, Burgsche Zeitung« mit einer illustrierten Rundschau als Beilage. 1878 schaffte er es, seine Zeitung mit dem »Burgschen Kurier« zu verbinden. Der Heimatforscher Paul Nüchterlein vermutet, dass es das »meist gelesene Blatt, der wirksamste Anzeiger und der schnellste Nachrichtenbote in den beiden Jerichower Kreisen« war. Nach dem Tod des Firmengründers übernahmen die Söhne die Druckerei als gleichberechtigte Mitinhaber. Nüchterlein schreibt:

Gemeinsam mit seinem Bruder Eugen H. hat Rudolf H. das Unternehmen über die Grenzen seiner Heimat hinaus bekannt gemacht. Die dem Zeitungsverlag angegliederte Werkdruckerei versorgte eine Anzahl großer und größter Verlage mit dem Druck ihrer Verlagswerke, ein eigener kunstgeschichtlicher Verlag schloß sich an. Ab 1885 war Rudolf H. Mitglied des Sächsisch-Thüringischen Buchhändlerverbandes und von 1894 an Vorstandsmitglied.6

Willi und Elisabeth Reimann heiraten 1930. Als Willi Reimann in die Druckerei kommt, leitet der 14 Jahre ältere Paul Hopfer den Betrieb. Beide haben sich im Burger Ruder-Club kennengelernt und sind trotz des Altersunterschiedes befreundet. Zunächst wohnen sie gemeinsam mit ihren Ehefrauen in einer Villa in der Grabower Straße, bis die Reimanns in die Bahnhofstraße ziehen und Hopfers ein eigenes Haus bauen. Im Verlag, der in der Zerbster Straße 28 seinen Sitz hat, ist Paul Hopfer für die Schriftleitung und den politischen Teil verantwortlich. Willi Reimann ist laut Impressum des »Tageblatts für die Kreise Jerichow – Burger Zeitung« sein Stellvertreter mit den Aufgabenbereichen Politik und Unterhaltung. Zudem entwirft er das Layout für Bücher, die im Verlag erscheinen. Dazu gehören verschiedene Serien, u. a. »Deutsche Bauten«, eine kunstgeschichtliche Buchreihe mit Einzeldarstellungen berühmter Bauwerke und ihrer Kunstschätze. Die Herausgabe der einzelnen Bände verantwortet Hermann Giesau, der als habilitierter Kunsthistoriker und außerordentlicher Professor an der Universität Halle ab 1930 Provinzialkonservator war.7

Mit etwa 50 Seiten und 80 Abbildungen erreichten die kunstgeschichtlichen Darstellungen ein größeres Publikum. Die Reihe wurde von Giesau bereits 1924 mit dem Band zum Dom zu Magdeburg eröffnet, an dessen zweiter, veränderter Auflage von 1936 Willi Reimann beteiligt ist.8 Er arbeitet auch an der Reihe »Heimbücher der Kunst« mit, in der Bände zu Raffael, Michelangelo, Rubens, Frans Hals oder Goya erscheinen. Die kleinen Kunstbücher, als Geschenkbände gedacht, kosten 1,50 Reichsmark und werden erfolgreich deutschlandweit vertrieben. Eine Besprechung in der Mittelschlesischen Gebirgszeitung lobt das Konzept wie die Qualität der Bücher. »Zu den aus umfassender Forschung und Kennerschaft des Werkes geschriebenen Texten gesellt sich in allen diesen Veröffentlichungen eine beziehungsvoll zusammengestellte Bildauswahl, so daß dem Leser ein überraschend nachhaltiger Gesamteindruck zuteil wird«, heißt es.9 Hervorzuheben ist der Umstand, dass trotz des fundierten kunstgeschichtlichen Anspruchs Wert auf gute Lesbarkeit gelegt wird und die Texte weitgehend ohne nationalsozialistische Ideologeme auskommen.

Sämtliche der bei Hopfer erschienenen Bände gehören zur Bibliothek von Willi Reimann, dessen Arbeitszimmer mit zwei schweren schwarzen Art-déco-Bücherschränken ausgestattet ist. Auf dem großen Schreibtisch stehen Buchstützen aus schwarzem Marmor mit vernickelten Seehunden, die früh die Blicke der Geschwister auf sich ziehen und die Phantasie anregen. Der Vater liest nicht nur aus Märchenbüchern vor, sondern sucht seine beiden Ältesten früh an jene Verlagspublikationen heranzuführen, an denen er als Macher beteiligt ist. Oftmals wird in der Familie ein Blick auf die Fotografien der Bauten sowie der Gemälde von Michelangelo, Rubens oder Goya geworfen.10

In der Ehe, in der die Partner unterschiedlicher Konfession sind, wird ein »guter Kompromiss« gefunden. Zwar gehen die Kinder Brigitte, Ludwig und Ulrich in den Religionsunterricht und werden evangelisch konfirmiert, aber die Religionsausübung spielt eine nebenrangige Rolle.11 Obwohl die Mutter aus der begüterten Familie eines Fabrikanten stammt und der Vater aus der Arbeiterschicht, gibt es keine größeren Konflikte. Ludwig Reimann, Brigittes Bruder, wird Jahrzehnte später erinnern, dass für die Geschwister keinerlei Spannungen wahrnehmbar gewesen seien. »Für uns waren beide Großelternteile liebevolle Großeltern, zu denen wir immer gern zu Besuch gegangen sind. Brigitte hat sich wohl lieber mit der bürgerlichen Seite identifiziert«, schreibt er.12

Nach den Erinnerungen nicht nur der Brüder hat Brigitte früh begonnen, »hemmungslos zu lesen«.13 2005 berichtet Ludwig, der immer Lutz genannt wurde, wie die Schwester mit acht oder neun Jahren Shakespeare gelesen und ihr entsprechendes Wissen zum Erstaunen der Lehrer im Unterricht angebracht habe. »So sie konnte«, heißt es an anderer Stelle, »saß sie weltabgewandt und möglichst unbehelligt und las. Sie las alle Bücher, die ihr in die Hände kamen.«14 Erika Raudszus, die Tochter einer Freundin der Mutter, hat festgehalten, wie sie nach der Evakuierung Stettins im August 1943 einen Zwischenstopp in Burg machten. Brigitte habe damals einen Spaziergang mit der Familie energisch abgewehrt und dies damit begründet, dass sie »dichten« müsse. Dazu, so heißt es, »zog sie in ihrem Zimmer die roten Vorhänge zu und nahm Platz auf einem niedrigen Polsterwürfel – mit der bedauernden Äußerung, daß ihr zur Anregung ihrer schöpferischen Phantasie eigentlich noch ein fauler Apfel fehle – sie wisse, daß ein solcher bei Goethe immer sehr befruchtend gewirkt hätte«.15 Es ist nicht auszumachen, ob Erika Raudszus die Erinnerung trügt oder ob die Zehnjährige die Affinität für faule Äpfel fälschlicherweise Goethe unterschiebt. Die Episode, die auf Johann Peter Eckermanns Gespräche mit Goethe zurückgeht und auf den 7. Oktober 1827 datiert ist, gehört seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zum festen Bestand des Deutschunterrichts, in dem das »Triumvirat Lessing, Goethe, Schiller« den Kanon bestimmt. In Eckermanns Eintrag wird mitgeteilt, wie ihm Goethe von einem Besuch bei Schiller berichtet. Da Schiller von einem Gang noch nicht zurück gewesen war, hätte Goethe sich an den Arbeitstisch gesetzt, wo ihm nach einer Weile übel geworden sei. Letztlich stellte er fest, dass »aus einer Schieblade« ein »sehr fataler Geruch strömte«. Zu seinem Erstaunen fand er sie »voll fauler Äpfel«. Schillers Frau habe dann mitgeteilt, dass »die Schieblade immer mit faulen Äpfeln gefüllt sein müsse, indem dieser Geruch Schillern wohltue und er ohne ihn nicht leben und arbeiten könne«.16

Die geschilderte Apfel-Episode – egal wie korrekt sie erinnert ist – belegt die früh einsetzende Faszination für Bücher ebenso wie die außerordentliche Belesenheit von Brigitte Reimann, die in die Kindheit zurückreicht. Dabei bevorzugt sie jene Bücher, die sie in der Privatbibliothek des Vaters findet, in der ersten Reihe Lessing, Goethe und Schiller, sodann die Romantiker mit Ludwig Tieck, Joseph von Eichendorff, Clemens Brentano und E. T. A. ​Hoffmann. Von Ludwig Reimann stammt auch jener Hinweis, dass die Achtjährige in Goethes »Faust« gelesen habe und in besonderem Maße von Gretchen fasziniert gewesen sei, deren Monologe sie auswendig gelernt habe. Die väterliche Privatbibliothek war zwar nicht so umfangreich wie jene von Josef Preußler mit »einigen sechstausend Bänden«. Aber auch für Brigitte Reimann gilt das, was der Schriftsteller Otfried Preußler später als frühe Prägung aufgezeichnet hat: dass beide Kinder zu den Büchern »von klein auf unbeschränkt Zutritt hatten. Einzige Bedingung: Jedes Buch wieder an seinen Platz!«17

Diese frühen Lese-Erfahrungen werden später nicht nur in »Franziska Linkerhand« der Protagonistin zugeschrieben. Ludwig Reimann schließlich hat von einem Vorfall erzählt, der in der Familie immer wieder für Belustigung sorgte. »1946 kamen unsere Mutter und ich abends vom Kartoffelstoppeln oder ähnlicher Arbeit nach Hause und fanden Brigitte auf einem Stuhl, den sie auf den Tisch gestellt hatte, völlig ungestört sitzen und lesen, während die Kleinen völlig unbeobachtet, die kleine Schwester mit vollgemachten Windeln, irgendwo herumwuselten.«18 Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat diese Gruppenkonversation (Memory Talk) – hier im Zusammenhang mit der früh sich abzeichnenden Affinität der kleinen Brigitte für Literatur – als grundlegend für den familiären Vergangenheitsbezug und die Herstellung einer kohärenten Gruppenidentität charakterisiert: »Die kommunikative Vergegenwärtigung von Vergangenem in der Familie ist kein bloßer Vorgang der Weitergabe von Erlebnissen und Ereignissen, sondern immer auch eine gemeinsame Praxis, die die Familie als eine Gruppe definiert, die eine besondere Geschichte hat, an der die einzelnen Mitglieder teilhaben und die sich nicht zu verändern scheint«, schreibt er.19

In der Familienbibliothek befanden sich vier Bände der »Ausgewählten Werke« Ernst von Wildenbruchs mit einer Einleitung von Hanns Martin Elster, erschienen im Verlag Grote, Berlin 1919.20 Im Gespräch hat Ludwig Reimann, danach befragt, ob der in Burg zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannte und geschätzte Autor in den Erzählungen der Großeltern oder Eltern eine Rolle gespielt habe, darauf verwiesen, dass eine gut sortierte Sammlung von teilweise vergilbten Heften in einem Fach des Bücherschrankes aufbewahrt wurde. Er erinnere sich, wie der Vater eines der Hefte gezeigt und etwas von Wildenbruch erzählt habe.

Es nimmt nicht wunder, dass Willi Reimann auch Exemplare von Schulprogrammen, denn darum handelt es sich bei den Heften offensichtlich, in der eigenen Bibliothek hatte. Denn: Hopfer hatte eine besondere Textsorte in seinem Programm, die Schulprogrammschriften, auch unter dem Titel »Jahresberichte der Gymnasien« bekannt. Hierbei handelt es sich um eine Publikationsform, die bereits Mitte des 18. Jahrhunderts entstand und mit den Schulneugründungen im höheren Bildungswesen ab 1820 besondere Relevanz erlangte. In Preußen erging mit dem »Circular=Rescript« vom 23. August 1824 an alle höheren Lehranstalten die Verpflichtung, Jahresberichte zu publizieren, und in der Folge organisierten die Schulbehörden landesweit einen Austausch der Schulschriften.21 Der Verlag Hopfer druckte und vertrieb diese Schriften deutschlandweit, zu denen auch Programme des Burger Königlichen Victoria-Gymnasiums gehörten. Und es hat den Anschein, dass Willi Reimann den Kindern ein Heft präsentiert hat, das zu Ostern 1910 gedruckt worden war, genau in dem Jahr, als Schwiegervater Besch seine Goldleistenfabrik in Burg gründete. Ein halbes Jahr zuvor, am 1. November 1909, hatte die Stadt am Haus Jakobistraße 9 eine Gedenktafel mit der Inschrift angebracht: »Hier wohnte Ernst von Wildenbruch in den Jahren 1865–1867«.22 Wildenbruch war zuvor am 15. Januar 1909 in Berlin gestorben. Ludwig Reimann erinnert, dass sie als Kinder mit dem Vater auf dem Weg ins Stadtzentrum öfter an dem Haus vorbeigekommen seien.

Bei dem Heft, das anscheinend eine Rolle gespielt hat, handelt es sich um den Jahresbericht des Königlichen Victoria-Gymnasiums zu Burg. Darin findet sich ein Beitrag des Rektors Otto Tüselmann, der die »Weiherede« zur Enthüllung der Gedenktafel am 1. November 1909 gehalten hat. In der »Weiherede«, zu der Honoratioren der Stadt, Lehrerinnen und Lehrer des Gymnasiums sowie ältere Schülerinnen und Schüler geladen waren, sprach der Rektor über die »literarische Bedeutung Wildenbruchs« und dessen Beziehung zu Burg. Über die Veranstaltung war im »Tageblatt für die Jerichowschen und benachbarten Kreise und Burgsche Zeitung« ausführlich berichtet worden.23 Ein Jahr später nun gibt Otto Tüselmann in seinem Beitrag »Ernst von Wildenbruch in Burg« Auskunft über unbekannte Details der Biographie des damals in Deutschland bekannten Autors.24 Dass er gerade Burg zum Ausgangspunkt der Dichter-Karriere machte, hatte einen interessanten Hintergrund, vom dem eher die Großeltern berichtet haben werden. Es spricht viel dafür, dass es Großmutter Franziska war, die sich für Wildenbruch und seine Biographie interessierte. Von ihr ist überliefert, dass sie die Enkelkinder mit phantasiereichen Geschichten über Weltreisen begeisterte, die sie sich selbst ausdachte. Sie war es auch, die den Enkeln aus Jack Londons Romanen »Ruf der Wildnis« (1903), »Seewolf« (1904) und »Wolfsblut« (1906) vorlas.

Auf den ersten Blick faszinieren musste die Großmutter die Biographie von Ernst Adam von Wildenbruch, der 1845 in Beirut im damaligen Syrien geboren wurde, wo sein Vater den Posten eines Generalkonsuls bekleidete und gleichzeitig Rittmeister im Garde-Kürassier-Regiment war. Mit zwei Jahren kam der kleine Wildenbruch nach Berlin zurück, um mit dem fünften Lebensjahr nach Athen und von dort ein Jahr später nach Konstantinopel zu gelangen. Hier war der Vater als Gesandter immerhin sechs Jahre tätig. Der Unterricht für die Kinder fand im Haus des Konsuls statt, engagiert dafür hatte die Familie einen jungen Lehrer, Otto Frick. Zehn Jahre später hatte ebendieser Otto Frick promoviert und war nun Rektor des Victoria-Gymnasiums in Burg.

1859, da war Wildenbruch erst 14 Jahre alt, begann er seine Ausbildung im Kadettenkorps und schloss sie vier Jahre später im Mai 1863 erfolgreich ab. Nun geschah etwas in der Biographie von Wildenbruch, was sich für die damalige Zeit geradezu abenteuerlich anhörte und wovon Brigitte und Ludwig Reimann aus den Familienerzählungen erfuhren: Der junge Mann hatte nach einem halben Jahr im Militärdienst das Gefühl, dass die Beschäftigung, die ihm der Offiziersstand zuwies, »eine gewisse Unbefriedigtheit« bei ihm hervorrief. »Dies Gefühl steigerte sich im Verlaufe der Zeit«, notiert Wildenbruch, »und nachdem zwei Jahre verflossen waren, konnte ich mich bei ernster Selbstprüfung der Wahrnehmung nicht verschließen, daß ich zu wissenschaftlicher Beschäftigung entschieden größeren Hang als zur militärischen empfand und daß infolgedessen ein längeres Verweilen in einem Berufe, den ich mehr und mehr als einen verfehlten ansehen mußte, für mich die traurigsten Folgen hervorrufen mußte.«25 Er war damals erst zwanzig Jahre alt und fasste den Entschluss, »aus dem aktiven Dienst auszutreten«. Mit der Einwilligung des Vaters nahm er seinen Abschied. »Ich begab mich nun, um mich zur Ablegung des Abiturienten-Examens vorzubereiten, zu Weihnachten desselben Jahres nach Burg«, schreibt er.26

Für Burg entschied er sich, weil er hier bei dem verehrten früheren Hauslehrer Unterricht nehmen konnte. Otto Frick ist 1865 bereits Gymnasialdirektor, und in den folgenden Jahren wurde er zu einem der führenden Vertreter des deutschen Unterrichts, der sich Mitte des 19. Jahrhunderts erst im Aufbau befand. Von ihm stammen gewichtige Arbeiten zu Gotthold Ephraim Lessing sowie zu Goethe und Schiller. Seine Sammlung »Aus deutschen Lesebüchern. Epische, lyrische und dramatische Dichtungen erläutert für die Oberklassen der höheren Schulen und für das deutsche Haus« gehörte in der Folgezeit zu den zentralen Publikationen des sich etablierenden Kanons der deutschen Literatur an den humanistischen Gymnasien.27

Für die Reimann-Kinder ist Wildenbruch neben seiner abenteuerlich anmutenden Biographie auch als Autor präsent. Vater Reimann hat auf Bitten der kleinen Tochter besonders eine Geschichte mehrfach erzählt, die sich in Wildenbruchs Bändchen »Kindertränen« findet, nämlich »Die Landpartie«. In der Erzählung, die ganz im Stil des späten 19. Jahrhunderts einen didaktischen Charakter hat, wird anschaulich gemacht, wie die Kinder ganz praktisch erkennen, was eine Vorsehung ist, von der die Erwachsenen immer wieder sprechen. Den Kinderton treffend, leitet der überschauende Erzähler die Geschichte so ein: »Ein Punkt war es, über den Hänschen nicht zu der Klarheit zu gelangen vermochte, die er sich wünschte, über den ihm auch Fränzchen, sein Schwesterchen, obschon es doch siebeneinhalb Jahre alt und mithin ein ganzes Jahr und zwei Monate älter war als er, keine genügende Auskunft zu geben vermochte; das war die Frage: was eigentlich die Vorsehung sei?«

Inwieweit die Erinnerungen der Geschwister und anderer Zeitzeugen, von denen ich ab Ende der 1990er Jahre mehr als ein Dutzend in langen Gesprächen befragt habe, die damalige Wirklichkeit korrekt wiedergeben, ist nicht auszumachen. Ulrich Reimann hat diese Unsicherheit präzise auf den Punkt gebracht. »Die ersten bewussten Erinnerungen an meine 8 Jahre ältere Schwester sind mit ihrer Kinderlähmung im Jahr 1947 verbunden«, notiert er. »Bei vielem, was davor liegt, vermischen sich die eigenen Erinnerungen mit dem in den Tagebüchern von Brigitte Gelesenen und mit den Erzählungen meiner Mutter.«28 Was der Bruder hier mitteilt, ist ein bekanntes Phänomen, dem Rechnung zu tragen ist: Erinnerungen können immer nur eine teilweise, unvollständige Re‑Konstruktion der Vergangenheit sein. Uwe Johnson spricht gar von »Tricks der Erinnerung« und der Autor Erwin Strittmatter von »Bastarden der Erinnerung«. Beide meinen den Umstand, dass zwischen den ›realen‹ Geschehnissen der Vergangenheit und den entstehenden Erinnerungen eine Kluft existiert. Der zeitliche Abstand zwischen ›realer Vergangenheit‹ und dem aktuellen Moment, in dem diese erinnert wird, führt dazu, dass die früheren Geschehnisse aus dem Blickwinkel der Gegenwart wahrgenommen und bewertet werden. Damit erfolgt bereits eine Art Umbau. Es werden jene Momente als bedeutsam hervorgehoben, die in der aktuellen Gegenwart für das erinnernde Individuum von größerem Gewicht sind. Aber es gibt noch einen weiteren Grund dafür, warum die erinnerte Vergangenheit nicht der ›wirklichen‹ Vergangenheit entspricht: In die Erinnerungen dringen beständig ›äußere Elemente‹ ein, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. So vermischen sich beispielsweise die von anderen erzählten Geschichten, Filmhandlungen oder gar fiktive Romanerlebnisse mit der eigenen Geschichte.29

Unabhängig davon, wie authentisch die Erinnerungen im Einzelnen sind, im Falle von Brigitte Reimann gilt einmal mehr das, was der von ihr geschätzte Autor Franz Fühmann einmal geäußert hat. Auf dem VII. Schriftstellerkongress der DDR, der vom 14. bis 16. November 1973 in Berlin stattfand, lieferte Fühmann in der Arbeitsgruppe »Literatur und Kritik« mit seinem Grundsatzreferat einen der wichtigsten Beiträge des Kongresses. Angesichts des Umgangs mit Autorinnen und Autoren in der DDR und der in Teilen von der Kritik nach wie vor erhobenen Forderung, in der Literatur das Typische zu gestalten und bei der literarischen Darstellung die Gesellschaft in ihrer »Totalität« zu erfassen, verweist er darauf, dass dies nur vom »gesamten Ensemble ihrer Schöpfer« geleistet werden könne. Und zu dieser Gesamtheit leiste jeder Schriftsteller »seinen individuellen Beitrag«.

Damit ist er bei einem Problem, mit dem Brigitte Reimann sich bereits frühzeitig beschäftigen wird, nämlich bei der Frage, welche Rolle dem Einzelnen zukommt. Angesichts der nicht hinreichenden Beachtung der Autorpersönlichkeit bringt Fühmann nunmehr unmissverständlich auf den Punkt, dass der individuelle Beitrag eines Schriftstellers ebenjener ist, »den nur er und kein anderer leisten und den er nicht anders als nach der Gesamtstruktur seiner Persönlichkeit (Herkunft, Werdegang, emotional-geistiger Charakter, Neigung, Erfahrung und ähnlichem) leisten kann«.30 Genau diesen Aspekt gilt es auch für Brigitte Reimann zu beachten, wobei außer Frage steht, dass das gegenüber der Literatur aufgeschlossene Familienklima gerade der ältesten Tochter vielfältige Entfaltungsmöglichkeiten bot. Dass dies so gewesen ist, hat Brigitte Reimann selbst als Abiturientin bestätigt. Es liegt ein bislang nicht bekannter Lebenslauf vor, der im Archiv nicht verzeichnet ist: 2001 habe ich mich mehrfach mit dem Direktor des Burger Gymnasiums, Oberstudienrat Dr. Tack, ausgetauscht, und hatte die Möglichkeit, die Klassenbücher und die Schulchronik ab 1945 einzusehen. Und der Direktor stellte ebendiesen Lebenslauf zur Verfügung, den Brigitte Reimann als Schülerin der 12. Klasse geschrieben hat und dem sie den Titel »Mein Bildungsgang« gab. In dem vierseitigen Dokument heißt es zusammenfassend:

Ich habe meine Kindheit in wohlbehütet-kleinbürgerlicher Atmosphäre verlebt – von sehr guten Eltern mehr liebevoll als pädagogisch einwandfrei erzogen. Wir lebten in einer hübschen, sonnigen Wohnung etwas außerhalb der Stadt und machten bis in die Jahre während des Krieges, als bei uns noch zwei Nachkömmlinge geboren wurden, jährliche Sommerreisen an die See oder ins Gebirge.31

3. 

»Bei allen genügt das Jahr der Geburt« – hineingeboren in das Dritte Reich

Ein Autor, der nachfolgend wiederholt eine Rolle spielen wird, ist Uwe Johnson. Das ist kein Zufall. Johnson war nur ein Jahr jünger als Brigitte Reimann, und er arbeitete wie sie nahezu zeitgleich Mitte der 1950er Jahre an einem Roman, der von einer Klasse an einer Erweiterten Oberschule in der DDR und ihren Schwierigkeiten mit der »Demokratischen Republik« erzählt. In beiden Fällen spielt das eine Rolle, was man Denunziation nennt, allerdings mit gänzlich gegensätzlicher Bewertung. Und auch Stalin taucht jeweils in unterschiedlicher Färbung bei beiden auf. Uwe Johnson verließ – anders als Brigitte Reimann – 1959 die DDR, weil er vermutete, die ostdeutschen Behörden würden unangemessen auf seinen in Westdeutschland erscheinenden Romanerstling »Mutmassungen über Jakob« (1959) reagieren. Diesem Uwe Johnson jedenfalls, von dem mit dem Ende der DDR eine erste von Jürgen Grambow besorgte Sammlung mit dem sprechenden Titel »Eine Reise wegwohin« im Aufbau-Verlag erschien, bin ich bereits Mitte der 70er Jahre begegnet.1 Es gab einen einfachen Grund: Meine Mutter, die nur ein Jahr vor Brigitte Reimann geboren wurde, hat mit ihm die Erweiterte Oberschule »John Brinkmann« besucht und kannte ihn und zahlreiche seiner Klassenkameraden persönlich. Später nahm man wahr, dass aus dem Lockenkopf mit Brille ein bekannter Autor geworden war. In seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen mit dem Titel »Begleitumstände« findet sich nun ganz zu Anfang ein Hinweis, der begründen soll, warum »private Mitteilungen zur Person entfallen werden«. Stattdessen reiche ein Satz: »Wie bei allen, genügt für mich das Jahr der Geburt, 1934.« Und es folgt die Kommentierung: »Mithin war ich fast elf Jahre alt, als ich meinem Staatsoberhaupt Adolf Hitler zum letzten Mal begegnete in einem mecklenburgischen Dorf.«2

Was in den »Begleitumständen« verdichtet in einem Satz zur Sprache kommt, das hatte der Autor 1973 anlässlich einer Lesung aus den »Jahrestagen«, die zwischen 1970 und 1984 entstanden, für seine Figur Gesine so formuliert:

Wie konnten meine Eltern auf die Idee kommen, daß 1933 ein gutes Jahr für Geburten ist? Und da sie damals die Wahl hatten zwischen England und Deutschland: Warum konnten sie auf die Idee kommen, daß Deutschland ein guter Ort ist, in diesem Jahr geboren zu werden?3

Gesine Cresspahl, die Hauptfigur der »Jahrestage«, die Uwe Johnson stets als »Person« bezeichnet, die ihm real begegnet sei, ist – nur wenige Monate vor Brigitte Reimann – geboren, am 3. März 1933 im fiktiven Jerichow, das im Roman zu Mecklenburg und nicht zu Sachsen-Anhalt gehört. Und für sie stellt Johnson die Frage »Woher komme ich und was hat mich zu dem gemacht, was ich bin«.4

Während Johnson also den frühen Prägungen seiner »Person« Gesine im Dritten Reich akribisch auf den Grund geht, hat er sich zu seiner Kindheit im Nationalsozialismus kaum geäußert, ihm abgeforderte, schriftlich fixierte Lebensläufe begann er oftmals erst mit 1945. Reinhard Baumgart hat in einem Gespräch mit ihm darauf aufmerksam gemacht und konstatiert, dass es sich so anhöre, »als hätte damals, 1945, mit 11 Jahren Ihr Leben erst begonnen«. Die Antwort von Johnson deutet an, in welcher Weise er sich mit einer neuen Zeit konfrontiert sah. »Ja, ich fing da an, mit eigenen Augen zu sehen«, sagt er. »Das war der Anfang einer neuen Zeit, der Anfang von ganz neuen Umständen, auf die ich mich würde einzurichten haben, während das andere bloß erlebter Vorrat war.«5 Unabhängig von Johnsons Begründung, deutet die offensichtliche Lücke an, wie bedrängend die Verhältnisse in Nazideutschland für einen Jungen gewesen sein müssen, der »mit der Übungshandgranate bloß auf neun Meter kam«.6

Auch Brigitte Reimann hat über die Jahre unter Hitler, mithin ihre Kindheit, nur wenig mitgeteilt. Rückblickend schrieb die junge Autorin im Zusammenhang mit ihrer gerade erschienenen Erzählung »Ankunft im Alltag« und kurz vor dem Mauerbau am 11. August 1961 an Willi Lewin, der damals Mitarbeiter in der Kulturabteilung des Zentralkomitees (ZK) der SED war: »Ich war bei Kriegsende elf Jahre alt, ich hatte noch gelernt, mit erhobenem Arm zu grüßen und den schwarzen Schlips korrekt zu tragen, wenig mehr. Als ich anfing, mich bewußt mit meiner Umwelt auseinanderzusetzen, hatten schon andere mir und meinen Altersgenossen die neue Ordnung gebracht.«7 Diese Erinnerung ist eine der wenigen, in der Erfahrungen aus der Nazizeit angedeutet sind.

Eingeschult wird Brigitte am 12. April 1939. Zu diesem Zeitpunkt versuchen die Nazis, den Lehrkörper an den Schulen »gleichzuschalten«. Das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« war wenige Monate vor Brigitte Reimanns Geburt am 7. April 1933 erlassen worden. Die Nationalsozialisten hatten sich damit eine Rechtsgrundlage geschaffen, um jüdische Lehrer und Schulleiter zu entlassen. Im Paragraph 3 wurde verfügt, alle Beamten aus dem Arbeitsverhältnis zu entfernen, die nicht »arischer Abstammung« seien. Zudem ermöglichte es der Paragraph 4, Beamte in den Ruhestand zu versetzen, die »nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten«.8 Parallel dazu machten die Nationalsozialisten die Rassenzugehörigkeit zum entscheidenden Kriterium für den Zugang zu Gymnasien und Universitäten. Sogenannte »Nichtarier« durften nur noch in Ausnahmen die höheren Bildungseinrichtungen besuchen.

Einen Tag nach Brigitte Reimanns Geburt wurde durch den Erlass des Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 22. Juli 1933 der Hitlergruß als verbindlich an den Schulen eingeführt. Es ist der »erhobene Arm«, von dem Brigitte Reimann spricht. Noch im September 1933 war begonnen worden, aus den Schulbüchereien »ungeeignete geschichtliche Bücher, marxistische und kommunistische sogenannte wissenschaftliche Schriften, literarische Werke volksfremder Schriftsteller (z. B. Bert Brecht, Erich Kästner, Erich Maria Remarque) und Bücher, die das Lehrer-Schüler-Problem in gehässiger und verzerrender Form behandeln«, zu entfernen.9 Ein halbes Jahr vor Brigitte Reimanns Einschulung, am 9./10. November 1938, kam es mit den Pogromen zur radikalen Zerstörung jüdischen Lebens, die in den Holocaust mündete. Bereits nach dem 10. November begannen die Deportationen der jüdischen Bevölkerung in Konzentrationslager. In der Zeit unmittelbar nach der ›Reichspogromnacht‹ bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 gelang es karitativen Organisationen, an die 10 000 jüdische Kinder im Alter zwischen 7 und 17 Jahren aus Nazideutschland, den besetzten Teilen der Tschechoslowakei und dem annektierten Österreich zu retten und mit Kindertransporten nach Großbritannien zu bringen. Die jüngsten Kinder waren so alt wie Brigitte Reimann. Zu den Ausgewählten gehörte der damals gerade 15‑jährige Walter Kaufmann, den Brigitte Reimann 1963 im Künstlerheim Petzow kennenlernen und zu dem sich eine Freundschaft entwickeln wird. In ihrem Tagebuch notiert sie am 3. Februar 1963:

Wir sind jetzt viel mit Walter Kaufmann zusammen, den wir beide sehr sympathisch finden. Manche seiner Geschichten erinnern an die Jack Londons, und auch in seinem Leben gibt es solche Ähnlichkeiten. Jetzt, über Sonntag, ist seine hübsche Frau hier, Angela Brunner, früher Malerin, jetzt Schauspielerin; sie ist liebenswürdig und gescheit, und wir haben unsere Kaufmann-Sympathie gleich auf sie übertragen.10

Über seine Rettung mit dem Kindertransport erzählte Walter Kaufmann Brigitte Reimann nichts Ausführliches. Es ging eher um seine Jahre in Australien. Bis September 1940 war er in einem englischen Internat, und dann kam es zur Internierung jener jungen Leute, die zu diesem Zeitpunkt über 16 Jahre alt waren. In einem Schiff, das für 500 Personen ausgelegt war, auf dem sich aber 2500 befanden, wurden die Jugendlichen nach Australien in ein Gefangenenlager verschifft. Die Fahrt dauerte zwei Monate. Kaufmann kam 1942 frei, als er sich mit anderen Internierten zur australischen Armee meldete. Bis 1946 tat er Dienst in einer Einheit für rückwärtige Dienste, danach arbeitete er in verschiedenen Berufen, als Hafenarbeiter, Seemann und Hochzeitsfotograf. Daneben schrieb er Geschichten, und 1953 erschien sein erster Roman, »Voices in the Storm«, der ein Erfolg wurde. Brigitte Reimann war von Walter Kaufmann und seinem Lebensweg fasziniert. Sie fühlte sich an die Abenteuergeschichten Jack Londons erinnert.

2018, mit 95 Jahren, sprach er mit mir ausführlich über die traumatischen Erfahrungen, die dem Kindertransport vorangingen und die nie verblasst sind. »Es begann damit, dass vor meinen Augen die Synagoge in Düsseldorf in Brand gesteckt wurde«, erinnert Kaufmann, »vor meinen Augen, weil die jüdische Schule, zu der ich damals ging, neben der Synagoge lag. Ich hörte die Massen grölen; was sie grölten, war kaum zu verstehen, es war ein einziges von Judenhass erfülltes Grölen. Entsetzt erkannte ich, dass die Feuerwehr den Brand gar nicht zu löschen versuchte, sondern nur zusah, dass nicht auch die anliegenden Gebäude Feuer fingen. Das Grölen der Massen werde ich nie vergessen.«11 Zu Hause angekommen, konnte er gerade noch sehen, wie sein Vater von zwei Gestapobeamten in einem Mercedes abgeholt wurde. Danach ging der Schrecken weiter:

Nur kurze Zeit später begann die SS unser Haus zu stürmen. Die Haustür wurde aufgebrochen. Wir, meine Mutter und ich, wurden in den Keller beordert: »Verschwinden Sie!« Wir hörten Glas splittern und Holz krachen, stampfende Füße und knallende Türen. Ich wollte nach oben, um zu erfahren, was da vorging. Doch meine Mutter klammerte sich an mich: »Bleib hier, bleib hier, du bist das Einzige, was ich jetzt habe.« Als der Lärm nachließ, ging ich dann doch hoch und sah als erstes die Verwüstung im Zimmer meines Vaters. Sämtliche Bücherregale waren umgestürzt, der Roman von Leo Tolstoi »Krieg und Frieden« lag zerrissen auf dem Boden neben dem Band »Deutsche Justiz«. Alle Möbel waren zertrümmert, die Gemälde zerschnitten, bis auf eines, das noch an der Wand hing. Das nahm ich und warf es zu den anderen. Denn es bedeutete mir nichts mehr – zwei Frauen im Regen. Meine Mutter hörte den Aufprall und eilte aus dem Keller: »Sind sie wieder da?« »Nein, Mutti, sie sind weg.« »Was war denn das eben?« »Ich hab das Bild von den Frauen im Regen weggeschmissen. Was soll schon so ein Bild in diesen Zeiten?«12

1944 wurden die Eltern nach Theresienstadt verschleppt und dort ermordet. Das Trauma hat der Sohn über Jahrzehnte unterdrückt, vergessen hat er es nie. »Die Nachricht von der Ermordung meiner Eltern wirkt bis heute in mir nach – der Vater und die Mutter auf dem Transport nach Auschwitz und auf der Schwelle zu den Gaskammern. Die Vorstellung hat sich in mir mit den Jahren verstärkt«, bekennt er. »In Australien war das anders – mein Leben in diesem riesigen Kontinent verdrängte die Vergangenheit. In Deutschland bin ich fast täglich an Auschwitz erinnert. Da bleibe ich verwundbar. Dabei war das Leben gut zu mir. Ich habe ein hohes Alter erreicht, viel von der Welt gesehen, feste Freundschaften erlebt, und meine Familie ist mir nah – einst gehörte ich zu den Verfolgten, ein Opfer war ich nicht.«13 Genauso lernte ihn Brigitte Reimann 1963 kennen, als selbstbewussten und faszinierenden Menschen. Die Kindertransporte 1938/39 spielten da keine Rolle mehr, und bei Brigitte Reimann waren die Jahre im Dritten Reich in ihrer Erinnerung verblasst. Das hängt auch damit zusammen, dass das Kind, das sie damals war, noch nicht wissen konnte, was geschah, als Walter Kaufmann am 18. Januar 1939, einen Tag vor seinem fünfzehnten Geburtstag, nach Großbritannien entkam. Das Mädchen ist zu diesem Zeitpunkt voller Erwartungen auf den ersten Schultag.

Als Brigitte zu Ostern 1939 in die Schule kommt, sind bereits zahlreiche Fächer auf die Vermittlung nationalsozialistischer Inhalte ausgerichtet.14 Im Biologieunterricht werden »Vererbungslehre« und »Rassenkunde« unterrichtet. Vor allem in den sogenannten »gesinnungsbildenden« Fächer wie Deutsch und Geschichte geht es um die Vermittlung nationalsozialistischen Ideenguts anhand von Texten, die Deutschtum, Heroismus, vaterländische Größe verklären und Leitbilder von Jugend, Gemeinschaft, Fahrt, Lager, Naturverbundenheit, Trommel, Fahne, Feuer, Himmel, Kameradschaft, Führer und Gefolgschaft proklamieren. Geschickt knüpft der Nationalsozialismus an die Jugendbewegung vom Beginn des 20. Jahrhunderts an, die einen emanzipatorischen Ansatz hatte und mit dem Verweis auf Selbstbestimmung eine Art Gegenprogramm zu Leitbildern des sogenannten wilhelminischen Obrigkeitsstaates darstellte. Emanzipatorisch waren die Forderungen auf dem ersten »Freideutschen Jugendtag« im Jahre 1913 geäußert worden. Jugend müsse in »eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung und in innerer Wahrhaftigkeit« ihr Leben gestalten.15 Dieser Anspruch stand freilich in einem Gegensatz zum »konservativen und neoromantischen Charakter« des inhaltlichen Konzepts, das nicht zuletzt in einem »antiintellektualistischen Zug« von Teilen der Jugendbewegung zum Ausdruck kam.16 Zivilisationskritische Einstellung und Überbetonung des Nationalgedankens waren mit dem »Bekenntnis zum Deutschtum« verbunden. Zu diesen Traditionen gehörten auch Ideen von Führerprinzip und Gefolgschaftstreue.

Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, konnten sie an eine »völkisch« ausgerichtete Deutschkunde anschließen und eine »nationale Ethik« forcieren. Ebendiese Momente finden sich im sogenannten nationalen Gesinnungsbuch. Bereits in der Fibel, mit der Brigitte das Lesen und Schreiben lernt, geht es um Brauchtum, Heimat und Volk. Schon auf den ersten Seiten der Fibel werden allein durch die bildliche Gestaltung konkrete Bezüge zur nationalsozialistischen Ideologie hergestellt. Nicht nur dort, wo es um gemeinschaftliche Tätigkeiten wie Gruppennachmittage, Singen, Musizieren, Ausflüge oder Marschieren geht, stellen die Illustrationen Kinder in der Kleidung des Jungvolks oder der Hitlerjugend dar. Bei den Inhalten gibt es in der Fibel durchweg Sequenzen, die auf nationalsozialistische Rituale orientieren wie »Jungvolk auf dem Marsch nach dem Dorf«, »Marschierende Soldaten«, »Heimabend« oder »Gute Kameraden«. Ganze Kapitel erzählen von Ereignissen, die Elemente nationalsozialistischen Gedankenguts enthalten. »Aus unserer Volksgemeinschaft« heißt ein Kapitel, ein anderes »Familie und Heimat«. Bei der Einführung des Buchstabens T wird den Grundschülern folgender Text angeboten:

Tra ri tra ra – tra ri tra ra!

Trom pe ter  sind  da.

Tra ra tra ri.

trom pe ten  sie.

Trom pe ter  wer den  wir,

im  Takt  mar schie ren  wir.17

Illustriert ist die Sequenz mit einer marschierenden SA‑Truppe und darunter zwei Jungen in HJ‑Uniform samt Trompete. Das H ist mit folgendem Text und einer bildlichen Illustration verbunden, die vier HJ‑Pimpfe in Uniform lesend an einem Tisch zeigt: