Kind einer schwierigen Zeit - Carsten Gansel - E-Book

Kind einer schwierigen Zeit E-Book

Carsten Gansel

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Beschreibung

Wie das Schreiben beim Überleben hilft – die bewegende Lebensgeschichte eines der berühmtesten Kinder- und Jugendbuchautoren. Otfried Preußler war ein deutscher Junge wie viele. Außer, dass er mit 17 anfing zu schreiben. Er kam mit 19 Jahren an die Ostfront und geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Dort rettete er sich – nicht zuletzt – durch das Schreiben. Was er dort erlebte, wie ihn diese Zeit prägte und welche Kämpfe Otfried Preußler mit sich selbst ausfocht, erzählt Carsten Gansel anhand aufsehenerregender Archivfunde und autobiographischer Texte. Carsten Gansel zeigt, auf welche Weise seine Eltern und die böhmische Landschaft mit ihren Mythen, Sagen und Legenden, und wie Krieg und Gefangenschaft Otfried Preußler prägten und in spätere Werke wie etwa Krabat eingingen. Bei der biografischen Spurensuche hat er zahlreiche Dokumente aus schwer zugänglichen russischen Archiven aufgespürt und gänzlich unbekannte Texte von Otfried Preußler zutage gefördert.  Auch Teile eines Jahrzehnte später entstandenen Autobiografie-Projektes und eines unveröffentlichten Romanvorhabens liefern neben unbekannten Gedichten, Briefen, Notizen, Berichten ein eindrucksvolles Bild eines Autors, der wie viele andere seiner Generation auf existenzielle Weise in die Zeitläufte des 20. Jahrhunderts geriet und seinen eigenen Weg fand.

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Seitenzahl: 716

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Carsten Gansel

Kind einer schwierigen Zeit

Otfried Preußlers frühe Jahre

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Carsten Gansel

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Statt einer Vorbemerkung

I. Wohin die Spuren führen

II. Herkunft kenntlich machen

III. Josef Syrowatka und das Sudetenland

IV. Otfried Preußler – die frühen Prägungen

V. Vom Verlust des kulturellen Gedächtnisses

VI. »Im Namen der Republik!«

VII. Josef Preußler und die Jahre ab 1938 

VIII. »Verlorene Jahre?«

IX. Otfried Preußlers Spur führt nach Prag

X. Ein junger Autor, der »mit beiden Beinen im Leben steht«

XI. Erzählen über Jugend im Dritten Reich

XII. Eine Postkarte aus der DDR

XIII. »Eine Woche nach dem Abitur rückte ich ein«

XIV. Stationen einer Kriegsbiografie

XV. »Bessarabischer Sommer«

XVI. »Haltet mir einen Platz frei in eurer Nähe drüben«

XVII. »Bei Leoba am Pruth brach alles zusammen«

XVIII. »Den Rest des Weges mußte ich barfuß zurücklegen«

XIX. »Schreib das auf, Preußler! Schreib das unbedingt auf!«

XX. Zwischen Agitation und Kunst

XXI. Ein Biedermeierschauspiel

XXII. »Ein frohes Herz und ein unbeugsamer Wille sind alles in der Gefangenschaft«

XXXIII. Vom »Versuch, ein Problemstück zur Debatte zu stellen«

XXIV. »Aber Pläne sind da und das ist schließlich die Hauptsache«

XXV. »Zuerst bin ich stempeln gegangen«

XXVI. »Dieses dauernd in Zwiespalt geraten – mit sich selber – und seinem Gewissen«

XXVII. »Mit Ausnahme von Briefen schreibe ich immer noch ziemlich viel«

XXXVIII. »Der Krabat nimmt langsam Gestalt an«

XXIX. »Ich bin auf Urlaub gewesen«

Danksagung

Verzeichnis der Abbildungen

Register der wichtigsten Personen

Inhaltsverzeichnis

Statt einer Vorbemerkung

Schreiben, um zu überleben

Als Otfried Preußler im Jahr 2013 mit 89 Jahren verstarb, trauerten Menschen verschiedenster Jahrgänge und sozialer Herkunft um ihn. Der Autor hatte Generationen von jungen Lesern geprägt – aber auch Generationen von älteren Vorlesern, die von seinen Büchern genauso fasziniert waren wie ihre jungen Hörer. Der Erfolg hängt sicher damit zusammen, dass Otfried Preußler nie darauf geschielt hat, vorgefertigte Erwartungen zu bedienen. Für ihn waren Kinder ein »ganz besonderes Publikum«, eines nämlich, das sich »nicht manipulieren« und »nicht für dumm verkaufen (läßt). Es kennt keine von außen gelenkten Lese-Trends, keine Bestsellerei«.[1] Seinen Ansatz bringt er so auf den Punkt: »Was ich für richtig halte, daß ich es Kindern erzähle – und was ich vor ihnen und meinem Gewissen verantworten kann, das erzähle ich ihnen«, so sein Credo, und er hat sich daran auch nicht von jenen beirren lassen, die mit »ideologischen Scheuklappen« glaubten, dem »herrschenden Zeitgeist Rechnung zu tragen.«[2]

Im »Spiegel« notierten Leser eindrucksvoll ihren Dank an den Autor, mit dem sie groß geworden waren: »Mit seinen Geschichten bin ich aufgewachsen. Mit ihm hab ich lesen gelernt«, heißt es. »Ein wirklich grosser Mensch ist gegangen, er möge ruhen in Frieden. Um Otfried Preussler trauere ich wirklich«, oder: »Der Räuber Hotzenplotz, der Kleine Wassermann, die kleine Hexe. Ich habe sie geliebt und bin mit ihnen groß geworden.«[3] Durchweg finden sich in Nachrufen und Kommentaren Verweise auf Otfried Preußlers Menschlichkeit und seine Zivilcourage, die er auch in Zeiten unter Beweis gestellt habe, da er sich »schlimmen Anfeindungen« und einer heftigen Ideologiekritik ausgesetzt sah. In den 1970er Jahren nämlich wurde ihm abwechselnd das »Entwerfen einer heilen, anachronistischen Welt zwischen Weiher und Hexentanzplatz« zur Last gelegt oder auch das »Schildern einer magisch grundierten Atmosphäre.«[4] Diese Eskapismusvorwürfe haben dem Werk des Autors allerdings nichts anhaben können. Auch konnte man damals bestenfalls ansatzweise ahnen, welche dramatischen Erlebnisse im Leben des Autors eine Grundlage für seine Texte waren. Andeutungen hat Otfried Preußler zwar gemacht, aber wie bei vielen seiner Zeitgenossen waren es keine Themen, über die er schreiben wollte.

Einen Hinweis, der zum Kern von Preußlers Werk führt, hat die Literaturkritikerin Roswitha Budeus-Budde gegeben, wenn sie betont, dass der Autor seine Texte letztlich aus der »Erinnerung an die eigene Kindheit« geschrieben habe.[5] Otfried Preußler betonte mehrfach, dass sein Partner beim Schreiben das Kind ist, »das ich selber einmal gewesen bin. Ich, der Schriftsteller Otfried Preußler, und ich, das Kind jener frühen Jahre, damals in Reichenberg, weit entfernt von hier, weit entfernt von der Gegenwart dieses Tages – und dennoch stets gegenwärtig in meiner Seele, in meinem Bewußtsein«.[6] Wer also den Schlüssel zu Otfried Preußlers Werk sucht, der wird die frühe Kindheit und Jugend mit einbeziehen müssen. Und in jedem Fall auch seine Erfahrungen in Krieg und Gefangenschaft.

Doch gerade über diese Phasen ist bislang so gut wie nichts bekannt gewesen.[7] In den Nachrufen heißt es entsprechend knapp: »Schon mit zwölf Jahren schrieb er seine ersten Geschichten. Er wollte später als Schriftsteller in Prag leben. Doch nach dem Abitur 1942 wurde er zur Wehrmacht einberufen und kam nach fünf Jahren russischer Gefangenschaft 1949 ins oberbayerische Rosenheim.«[8] Tilman Spreckelsen ist einer der wenigen, der in seinem Nachruf in der FAZ etwas tiefer geht, er macht auf das Tempo aufmerksam, mit dem »Männer seiner Generation erwachsen werden mussten, als sie von der Schulbank weg in den Krieg zogen und, wenn sie ihn überlebten, nicht selten auf lange Jahre in Gefangenenlagern zurückblickten – Preußler kam 1949 aus russischer Gefangenschaft nach Bayern, und dass er dort seine Reichenberger Verlobte wieder fand, ist ein mittleres Wunder.«[9]

Otfried Preußler kam mit 17 Jahren zur Wehrmacht und geriet mit 20 in Kriegsgefangenschaft. Man kann erahnen, mit welchen Traumata der junge Mann umzugehen hatte. Freilich war er damit nicht allein. Ein anderer großer Autor, der für Kinder und Erwachsene geschrieben hat, nämlich Peter Härtling, hat seine entsprechenden Erfahrungen so auf den Punkt gebracht:

Es gab ja hier einmal einen Kongress in Frankfurt für Kriegskinder. Das fand ich ganz drollig, dass man die Kriegskinder sozusagen ›zusammentreibt‹. Die lassen sich nämlich ungern zusammentreiben. Traumatisiert sind alle. Es kommt bloß darauf an, wie man mit dem Trauma umgeht. Wie man sozusagen die Wundbehandlung lernt. Das habe ich versucht Schritt um Schritt zu tun, ganz langsam.[10]

Peter Härtling ist allerdings um die zehn Jahre jünger als Otfried Preußler, der das Erlebte eher mit jenen Jahrgängen teilt, die zwischen 1921 und 1926 geboren wurden und aus denen das Dritte Reich »die jungen Soldaten des Zweiten Weltkrieges« rekrutierte. Es waren schließlich jene, »die mindestens in der zweiten Kriegshälfte an allen Fronten im Einsatz waren.«[11]

Weil dies so ist, vergleiche ich in diesem Buch auch immer wieder die Schicksale kriegsgeprägter Autorenkollegen wie Alfred Andersch, Heinrich Böll, Hans Werner Richter, Erwin Strittmatter oder Heinrich Gerlach mit dem von Otfried Preußler und eben auch seiner Generationsgefährten wie etwa Franz Fühmann, Johannes Bobrowski, Erich Loest, Dieter Wellershoff oder Günter Grass[12].

Bei allen spielen die Erfahrungen von Kindheit und Jugend sowie von Krieg und Gefangenschaft eine große Rolle. Auch Otfried Preußlers Texte haben durchaus etwas mit dem zu tun, was man Selbstheilung durch Schreiben nennen kann. Das trifft ebenso für die – in diesem Buch zum großen Teil erstmals präsentierten – Texte aus seiner Gefangenschaft zu, die ich in schwer zugänglichen russischen Archiven fand, wie auf Preußlers Jahrzehnte später entstandenen, zeitlebens unveröffentlichten großen autobiografischen Erinnerungen, nämlich »Bessarabischer Sommer« und »Verlorene Jahre?«. Aus diesen Zeugnissen wird in diesem Band ebenfalls erstmals ausgiebig zitiert. Bezug zu nehmen ist aber auch auf seine bekannten und berühmten Bücher, etwa den »Krabat«. Für die Spurensuche in diesem Buch konnte ich nicht nur diese eindrucksvollen Materialien erstmals nutzen, sondern auch gänzlich unbekannte Dokumente, Briefe und Zeugnisse aus verschiedensten anderen Archiven.

 

Otfried Preußler hat »im Lauf der Jahre und Jahrzehnte einige zehntausend Briefe von Kindern bekommen« und, »wohlbemerkt, auch beantwortet«, wie er schreibt.[13] Zahlreiche dieser Briefe habe ich im Laufe der Arbeit gesichtet, und einer ließ mich besonders aufhorchen. »Lieber Onkel Otfried« beginnt der Brief, den ein Vorschulkind namens Angelika um Weihnachten 1962 schreiben lässt, das Schreiben ist mit einer Schreibmaschine verfasst. »Meinem Papa habe ich gesagt, daß er Dir einmal schreiben möge. Er liest mir fast jeden Abend etwas aus deinen Büchern vor. Aus dem ›Kleinen Wassermann‹ oder aus der ›Kleinen Hexe‹ (…). Heute Abend hat mir der Pappi von Dir erzählt. Es war genau vor 18 Jahren. Da war mein Pappi gefangen gehalten worden. Und an dem Tag hat er mit Dir im selben Lazarett gelegen. Ich kann den Namen gar nicht behalten, er ist so schwer, ›Jelabuga‹ oder so ähnlich. Pappi hat mir erzählt, daß ihr beide krank wart. Ihr habt in einem grossen Saal gelegen. Ein Bett neben dem anderen. Und da hast Du damals schon so schöne Geschichten geschrieben.«[14] Und es geht weiter: »Damals hast Du ihm zu Weihnachten ein Büchlein aus Packpapier gemacht. Es war ganz braun und zerknittert. Aber was daraufstand war so schön, dass mein Pappi immer daran denken muss. Es soll Weihnachtstriologie genannt worden sein. Er hat mir auch gesagt: dass jedes Lied einen Namen gehabt hat. Der erste Schnee. – Der Maronimann. – Sankt Niklas. – Barbara. – Weihnachtsbäckerei. – Das Krippenspiel. – ›Es duftet aus der Küche – Es zieht durchs ganze Haus. – Die herrlichsten Gerüche strahlt unser Ofen aus.‹« Und die Erinnerung geht weiter: »wie ihr Euch Kerzen gedreht habt. Du hattest doch noch eine grosse, runde Wachskugel. Und aus Holzscheiten, die zum Anmachen des Ofens waren, habt ihr Krippenpuppen geschnitzt.« Schließlich wird erzählt, welche Überraschung dem Vater zu Weihnachten widerfuhr. Auf einem Holzbrettchen aus Birke lagen viele schöne Sachen:

Ein grünes Hemd, zwei Portionen Brot (einmal graues, aber einmal auch weisses Brot), eine selbstgebastelte Pfeife. Ein Päckchen Machorka, 20 Zigarettenplättchen aus russischem Zeitungspapier, zwei Portionen Zucker und Butter, ein Paar selbstgestrickte Pulswärmer. Da hat mein Pappi sich aber sehr gefreut. Genau so, wie er sich über Dein Büchlein gefreut hat. Er hat es bis heute nicht vergessen. Als mein Pappi aus Russland zurückkam, war die Mutti sehr froh und nun sind wir zu dritt. Er hat auch ein kleines Gedichtchen behalten, das hat er mir vorgetragen. Es heisst so:

Verlassen sein in fremdem Land/ Es ist ja über mir/ Derselbe Himmel ausgepannt,/ Grad wie zu Haus bei Dir.// Und auch dieselben Sterne steh’n/ Wohl über Deinem Haus./ Du brauchst ja nur hinaufzusehen/ Und kennst Dich wieder aus.//[15]

Wenn die kleine Verfasserin oder deren erwachsenes Alter Ego nun fragt: »Erinnerst Du Dich noch daran?«, dann trifft dies den Kern von Otfried Preußlers Schreiben. Er hat sich ein Leben lang an diese Zeit erinnert, sie hat ihn nie losgelassen. Und die Beschäftigung mit dem Erlebten führte letztlich zu den »veritablen Meisterwerken«, von denen Tilman Spreckelsen spricht.[16] Dazu gehört auch sein Roman »Krabat«, dessen erste Ideen in das Jahr 1950 führen, wie ich in diesem Buch zeigen werde. Schreiben konnte Otfried Preußler den »Krabat« wie auch die vielen Geschichten, angefangen mit dem »Kleinen Wassermann« bis zum »Räuber Hotzenplotz«, nur, weil er in den schweren Jahren etwas erfahren und gelernt hat, das für ihn zu einer Lebensmaxime wurde:

Zu meinen Devisen gehört eine ganz einfache: Mit Anstand über die Runden! Ich weiß, daß es schwierig ist, moralische Urteile abzugeben oder gar zu fällen. Man muß, wenn man moralisch urteilen oder gar verurteilen will, das Ganze einer Situation kennen. Anderen gegenüber habe ich soviel Verständnis wie nur irgend möglich, und im Zweifelsfall lasse ich immer mildernde Umstände gelten. Der Mensch ist ein angefochtenes und anfechtbares Wesen, und er wäre kein Mensch, wenn er sein ganzes Leben ohne den Schatten irgendeiner Fehlleistung hinter sich bringen könnte. Und da wiederum vertraue ich ganz entschieden darauf, daß der liebe Gott kein Buchhalter ist, und auch kein Jurist. Und das beruhigt mich ungemein.[17]

Dieser Lebensmaxime folge ich auch in diesem Buch, das eine biografische Spurensuche ist. Und ich versuche dabei, »das Ganze« von Otfried Preußlers Situation zu sehen. In der Hoffnung, dem Autor und den vielen Leserinnen und Lesern damit gerecht zu werden.

Inhaltsverzeichnis

I. Wohin die Spuren führen

Es begann in der früheren Sowjetunion. Dass ich gerade hier dem Autor Otfried Preußler wiederbegegnen würde, hätte ich nie geahnt – im Russland des 21. Jahrhunderts und in Städten wie Moskau, Kasan und Jelabuga. Persönlich getroffen habe ich Otfried Preußler leider nie, und dies, obwohl ich seit vielen Jahren Gespräche mit Autorinnen und Autoren führe.[18] Wer sich mit Literatur beschäftigt, sollte – so meine Auffassung – auch mit jenen im Austausch stehen, die Urheber dieser einzigartigen Form der Weltaneignung sind. Meine Buchbekanntschaft mit dem Autor Preußler reicht dafür in die 1960er Jahre, und es ist eigentlich eine deutsch-deutsche Geschichte. Denn: Die fantastische Erzählung vom »Kleinen Wassermann«, die Otfried Preußler 1956 den Durchbruch als Autor brachte, fand in einem Paket den Weg in den Osten. »Geschenksendung, keine Handelsware« stand in großen Buchstaben auf der Verpackung.[19] Und ich weiß noch heute, dass mir damals die Episode, in der es zum Streit zwischen dem kleinen Wassermann und dem Menschenmann kommt, am besten gefallen hat. Erst viel später wurde mir klar, dass die gewisse Entgegensetzung von Kinder- und Erwachsenenwelt im »Kleinen Wassermann« romantisch motiviert ist. Schon in Ludwig Tiecks »Die Elfen« (1812) oder auch E.T.A. Hoffmanns »Das fremde Kind« (1817) fungieren die kindlichen Protagonisten als Grenzgänger, die zwei Welten miteinander in Verbindung bringen, eine real-fiktive und eine phantastische. Im Rahmen romantischen Selbstverständnisses wird einzig Kindern die Eigenschaft zugeschrieben, in beiden Welten heimisch zu sein; Kinder sind es, die noch nicht das Rationale favorisieren, sie nehmen das Wunderbare an, sind sensibel und offen gegenüber anders gearteten Wirklichkeitserfahrungen. Genau das findet man auch bei Otfried Preußler.

Jahre später, während des Studiums in den späten 1970er Jahren, fiel erneut der Name Otfried Preußler. Egon Schmidt, Professor für deutsche Literatur, machte ihn in einer speziellen Vorlesung mit der deutschen Kinder- und Jugendliteratur von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts bekannt.[20] Dabei ging er mehrfach auch auf die böhmische Literatur für junge Leser ein und stellte Bezüge zur tschechischen her, die zunächst stark aus der Folklore, also der mündlichen Überlieferung, gespeist wurde. Wir wunderten uns, woher seine Kenntnisse im Tschechischen kamen, dann deutete Egon Schmidt nebenher irgendwann an, dass er in Nordböhmen geboren worden war. Durchaus mit etwas Stolz in der Stimme verwies er, der selbst erfolgreich Kinderbücher schrieb, auf die böhmischen Märchen und Sagen und darauf, dass Böhmen allem Anschein nach eine Region sei, die die schriftstellerische Phantasie in besonderer Weise anregen würde. Und er nannte auch zwei Namen: Franz Fühmann und Otfried Preußler. Fühmann war in der DDR eine anerkannte literarische Größe, aber Otfried Preußler aus Westdeutschland kannten nur wenige. Ich gehörte zu denen, die mit seinem Namen etwas anfangen konnten, denn auch der »Räuber Hotzenplotz«, dessen erster Band 1961 erschien, hatte es über die innerdeutsche Grenze geschafft. Das Buch wurde – wie man damals sagte – »vergesellschaftet«, also vielfach ausgeliehen. Ich weiß noch ganz genau, wie penibel ich den Freunden einschärfte, pflegsam mit dem Buch umzugehen.

Egon Schmidt, Jahrgang 1927, übrigens stammte aus Klein Priesen, dem heutigen Malé Březno, etwa 150 Kilometer von Reichenberg (Liberec) entfernt, dem Ort, wo Otfried Preußler geboren wurde. Daher Schmidts ausgezeichneten Kenntnisse der böhmischen und tschechischen Literatur.

Einige Jahre später führte mich ein eher trauriger Anlass erneut in die Wohnung der Familie Schmidt. Mein früherer Lehrer war verstorben, und seine Frau wollte eine kleinere Wohnung beziehen, weshalb sie mir anbot, Bücher aus der umfangreichen Bibliothek zu erwerben. Ich sagte sofort zu, wohl wissend, dass es dort zahlreiche Bücher gab, an die man in der DDR auf normalem Weg nie gelangen würde. So kam es, dass ich mich über mehrere Wochen in der Bibliothek von Egon Schmidt lesend in Texte vergrub. Ich entschied mich vor allem für Bände, deren Publikationsorte im Westen lagen. Dazu gehörten Bücher des Germanisten Hans Mayer (1907–2001), der an der Universität Leipzig gelehrt hatte und 1963 von einem Besuch in der Bundesrepublik nicht zurückgekehrt war. Meine Wahl fiel beispielsweise auf »Thomas Mann. Werk und Wirkung« (1950) und »Von Lessing bis Thomas Mann« (1959). Damals wusste ich nur wenig vom legendären Hörsaal 40, in dem er seine Vorlesungen gehalten hatte, unter den Zuhörern waren Uwe Johnson und Christa Wolf, Hans Joachim Schädlich und Fritz Rudolf Fries. Ich entschied mich auch für das Standardwerk »Der Geist der Goethezeit« (1923–1953) von Hans Mayers Kollegen Hermann August Korff (1882–1963). Auch Karlheinz Deschners »Kitsch, Konvention und Kunst« (1958), Walter Muschg »Die Zerstörung der deutschen Literatur« (1956) und Friedrich Sengles »Arbeiten zur deutschen Literatur 1750–1850« (1965) standen auf der Liste. In der Bibliothek gab es zudem zahlreiche Texte mit Widmungen von Kollegen aus der Bundesrepublik, die zur Kinder- und Jugendliteratur arbeiteten. Darunter waren Alfred Clemens Baumgärtner und Heinz Pleticha, ein Freund von Otfried Preußler. Letztlich hatte ich es auf das abgesehen, was man Kontingentliteratur nannte. Dazu gehörte erstaunlicherweise auch Otfried Preußlers »Krabat«. In der Gegenwart weiß kaum noch jemand, was der Begriff Kontingentliteratur bedeutet. Der mit Otfried Preußler bekannte Autor Erich Loest hat in seinem wichtigen Roman »Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene« (1978) eindringlich beschrieben, was darunter zu verstehen ist. Er lässt nämlich seinen Ich-Erzähler, der den bezeichnenden Namen Wolfgang Wülff trägt, in den sogenannten »Giftturm« der deutschen Bücherei in Leipzig vordringen.[21] Dort, hoch über den Dächern, gibt es einen kleinen Lesesaal, den man nur mit einer Sondergenehmigung betreten kann und in dem es möglich ist, ansonsten verbotene, also kontingentierte Literatur zu studieren. Hier finden sich jene Zeitschriften und Texte, von denen staatliche Instanzen in der DDR annahmen, dass man sie nicht lesen sollte, weil sie andere als die offiziell verfügten Werte, Normen, Codes und Ideen transportierten. Untergebracht waren hier auch jene Wissenschaftler und Schriftsteller, die – wie Hans Mayer und Uwe Johnson – die DDR verlassen hatten.[22]

 

Wiederum Jahre später kam ich erneut mit Otfried Preußler in Berührung, diesmal im Kinderbuchverlag Berlin. Der Verlag wollte unbedingt Michael Endes »Unendliche Geschichte« in der DDR veröffentlichen. Wegen der Episode mit den Yskalnari gab es aber Probleme. Die Yskalnari kennen bekanntlich das Pronomen »Ich« nicht; was zählt, ist einzig die Gemeinschaft. In der DDR wurde diese Episode als Angriff auf einen gesellschaftlichen Grundansatz gesehen. Dabei hatte der Prosatext »Abendlicht« von Stephan Hermlin bereits Anfang der 1980er Jahre eine Diskussion in Gang gebracht, in der es um die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ging. Hermlin wendet sich in autobiografisch angelegten Episoden der eigenen Biografie zu und erinnert, wie sein Lehrer Hermann Duncker Vorlesungen über das »Kommunistische Manifest« von Karl Marx und Friedrich Engels gehalten hat. Sich seiner Sache sehr sicher, macht Hermlin im fünfzigsten Lebensjahr eine – wie er sagt – unheimliche Entdeckung. »Unter den Sätzen, die für mich seit langem selbstverständlich geworden waren, befand sich einer, der folgendermaßen lautete: ›An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden ist‹«, so Hermlin. Er hatte sich den Satz aus dem Manifest in dieser Weise eingeprägt. Aber nun macht er eine erstaunliche Entdeckung: »Wie groß war mein Entsetzen, als ich nach vielen Jahren fand, daß der Satz in Wirklichkeit gerade das Gegenteil besagt: ›worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.‹«[23] Die Debatte, die mit Hermlins Text losgetreten worden war, kam freilich nicht überall an.

Joachim Schmidt, einer der profiliertesten Kinderbuchlektoren des Landes, hatte mich eingeladen, weil er wusste, dass ich mich mit dem Phantastischen in der deutschen Literatur beschäftige, und bot mir an, einen Aufsatz zu Endes Roman zu schreiben. Wenn ein wissenschaftlicher Beitrag vorliege, sei es einfacher, eine Druckgenehmigung vom Ministerium für Kultur zu bekommen. Lektoren in Verlagen waren – so meine Erfahrung – hochgebildete und qualifizierte Literaturkenner, von denen man lernen konnte und denen es darum ging, gute Bücher zu machen, und nicht darum, sie zu verhindern. Jochen Schmidt etwa hatte eine Studie zur »Volksdichtung und Kinderlektüre in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts« (1977) vorgelegt, damals ein Meilenstein der historischen Forschung zur Kinder- und Jugendliteratur.[24] Ich sagte also sofort zu, auch deshalb, weil es bei den eingeschränkten wissenschaftlichen Publikationsmöglichkeiten ausgesprochen schwierig war, in so hochkarätige Publikationsorgane zu kommen. Bei einem der nachfolgenden Treffen brachte ich einige Einwände gegen Michael Endes Roman vor. Joachim Schmidt nahm diese ernsthaft zur Kenntnis, meldete behutsam Widerspruch an und stellte mir dann eine verblüffende Frage. »Sollte man nicht«, gab er zu bedenken, »bei einem literarischen Text zunächst danach suchen, was der an Neuem, an Interessantem, vielleicht an Innovativem bietet, was also für den Autor und den Roman spricht und nicht gegen ihn?« Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, würde man sagen, obwohl die Praxis von Literaturkritik in der Gegenwart mitunter das Gegenteil belegt. Auf jeden Fall hat dieser Impuls eines kenntnisreichen und erfahrenen Buchmachers sich tief in meinem Gedächtnis eingegraben und der Austausch mit ihm motivierte eine nochmalige Lektüre einiger Texte von Otfried Preußler. Entsprechend konnte ich in meinem Aufsatz begründen, warum »Der Kleine Wassermann« und die »Kleine Hexe« frühe Höhepunkte der phantastischen Geschichte in der bundesdeutschen Kinderliteratur waren. Der »Krabat« kam dann 1988 auch wirklich heraus, allerdings nicht in einem Kinderbuchverlag, sondern im Verlag Neues Leben: »KRABAT UND DER SCHWARZE MEISTER. Lizenzausgabe für die DDR. Einband und Schutzumschlag von Karl Fischer, Illustrationen von Herbert Holzing. 256 Seiten. Verlag Neues Leben, Berlin (Ost): 1989«, so das Impressum, in dem auch vermerkt war: »Der Vertrieb in der Bundesrepublik Deutschland, in Berlin (West) und im Ausland ist nicht gestattet, ausgenommen die sozialistischen Länder«. Eine breite Rezeption ergab sich bis zum Herbst 1989 nicht mehr.

 

Nach meiner Berufung an die Universität Gießen 1995 spielte Otfried Preußler in meinen Seminaren und Vorlesungen durchweg eine Rolle. Immer wieder gab es also über die Jahre Begegnungen mit dem Autor. Und dann, zu einem Zeitpunkt und an einem Ort, an dem ich es nie vermutet hätte, nämlich Moskau, taucht plötzlich sein Name in einer verfremdeten Form wieder auf, nämlich in kyrillischen Buchstaben: Пройслер, Гoтфрид Йозеф.

 

Es ist Februar 2012, mein Mitarbeiter Norman Ächtler und ich, wir befinden uns im Russischen Staatlichen Militärarchiv in Moskau. Aber es geht uns gar nicht um Otfried Preußler. Wir sind auf der Suche nach der Urfassung von Heinrich Gerlachs Stalingradroman »Durchbruch bei Stalingrad«.[25] Da Gerlachs Geschichte an vielen Stellen das Schicksal von Otfried Preußler kreuzt, sei sie hier in Grundzügen erzählt: Wir suchten in Russland nach der Urfassung eines Buches, dessen vom Autor in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik aus dem Gedächtnis rekonstruierte zweite Fassung 1957 ein Bestseller und internationaler Erfolg geworden war. Gerlach, der nach der Schlacht um Stalingrad Anfang Februar 1943 als Oberleutnant der geschlagenen 6. Armee in sowjetische Gefangenschaft geriet, hat jenen Roman vom Herbst 1943 bis zum Mai 1945 in der Kriegsgefangenschaft geschrieben, im Offizierslager Susdal und im Lager 27 in Krasnogorsk, etwa 25 km von Moskau entfernt. Zu dem Lager gehört das Sonderlager Lunjowo, das der sowjetische Geheimdienst kontrolliert.[26] Hier kommt es am 12. Juli 1943 zur Gründung des Nationalkomitees »Freies Deutschland« (NKFD) und zwei Monate später, am 11. und 12. September 1943, zur Gründung des Bundes Deutscher Offiziere (BDO). Beide Organisationen schließen sich im Kampf gegen das Hitlerregime zusammen und suchen hohe Offiziere der deutschen Wehrmacht zu bewegen, die Kriegshandlungen einzustellen und sich an die Grenzen des Deutschen Reiches zurückzuziehen. Heinrich Gerlach wird nicht nur Mitglied des Vorstandes des Bundes Deutscher Offiziere, sondern arbeitet auch in der Redaktion der eigens für Kriegsgefangene herausgegebenen Zeitung »Freies Deutschland«.

Im Nationalkomitee arbeiten kriegsgefangene deutsche Offiziere mit Exilkommunisten zusammen. Gerlach hat hier die Möglichkeit, nach der Tätigkeit in der Redaktion am späten Abend eine Schreibmaschine zu nutzen. Und so entsteht in den Nachtstunden sein Roman, der das Grauen im Kessel von Stalingrad beschreibt. Mit dem Schreiben schafft sich der Autor die Möglichkeit, sich seinem Trauma wenigstens ansatzweise zu stellen. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzt für Gerlach eine Odyssee durch verschiedene Gefangenenlager ein; sein dickes Manuskript versteckt er im Rucksack und kann es vor dem Zugriff des sowjetischen Geheimdienstes bewahren. In freien Minuten arbeitet er im Geheimen weiter, er streicht, verbessert und ergänzt die Darstellung. Doch im Mai 1949 wird das Manuskript vom Geheimdienst beschlagnahmt, alle Versuche, den Roman zurückzuerhalten, scheitern.[27] Als Heinrich Gerlach dann endlich am 21. April 1950 aus der Gefangenschaft entlassen wird, kommt er ohne das Manuskript, das ihn am Leben gehalten hat, in Deutschland an.

Heinrich Gerlach hat nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft wiederholt versucht, über verschiedene Briefe an das sowjetische Innenministerium sein Manuskript zurückzuerhalten, vergebens. Deshalb macht er sich daran, den Roman neu zu schreiben. Doch es gelingt ihm nicht, das bereits einmal im Sinne einer Bewältigung des Stalingrad-Traumas Geschriebene erneut zu erinnern. Jahre später bestätigt Gerlach, wie ihm davor graute, sich »das Buch noch einmal in dieser Weise abringen zu müssen«, und wie er fast daran verzweifelt.[28]

Aber der Zufall kommt ihm zu Hilfe. Durch einen Beitrag in der Illustrierten »Quick« erfährt er, dass es in München einen Arzt und Psychologen namens Schmitz gebe, der sich mit Hypnose beschäftigt und damit verlorene Gedächtnisinhalte wieder rekonstruieren könne. Gerlach wendet sich an Schmitz und gemeinsam überzeugen sie die »Quick« für die Rechte an dem Bericht, das Experiment zu finanzieren. Letztlich begibt sich Heinrich Gerlach in Behandlung bei Dr. Schmitz. Über Hypnose werden Sätze und Teile des vergessenen Manuskripts rekonstruiert. Aber was noch wichtiger ist: Es gelingt über Hypnose, die Schreibblockade zu lösen.[29]

 

Das alles wussten wir, als wir im Russischen Staatlichen Militärarchiv in Moskau das Ur-Manuskript suchten, das wir dann mit der neuen Fassung vergleichen wollten. Es dauerte lange, in dem schier unendlich erscheinenden Inventarverzeichnis voranzukommen. Wir stießen auf interessante Fonds, etwa Vorträge, die vor kriegsgefangenen deutschen Offizieren gehalten wurden, Briefe von Kursanten der Antifaschulen, Materialien aus dem bekannten Lager 27, Grußadressen von Stalin an die Kursanten antifaschistischer Lehrgänge oder Dankschreiben von Kriegsgefangenen der einzelnen Lager an Stalin. Endlich kamen wir bei einem Fond an, der Auskunft über die Kulturarbeit in den Lagern gab. Und da fanden wir dann wirklich den Hinweis auf jenen Text, den wir gesucht hatten. In russischer Sprache nicht sofort erkennbar, war dort zu lesen: Gerlach, Heinrich: Roman »Durchbruch bei Stalingrad«! Wir sahen uns an und blieben nach außen ruhig. Nach einer Wartezeit, die endlos schien, erhielten wir alle fünf Dokumente, die wir bestellt hatten. Unsere Furcht war groß, dass Heinrich Gerlach vielleicht doch nicht dabei sein würde. Aber wir waren am Ziel: »Durchbruch bei Stalingrad« lag vor uns! Nun hatten wir noch andere Dokumente vor uns liegen, darunter Gedichte, Lieder und Geschichten, die Rückschlüsse über die Kulturarbeit in den Kriegsgefangenenlagern zuließen und die später Grundlage für eine Ausstellung zu deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion wurden.[30] Zu den Dokumenten gehörte auch eine Kriegsgefangenenakte, die unsere Neugier extrem erregte – die von Otfried Preußler. Doch wir waren in Zeitdruck und mussten uns entscheiden: entweder Heinrich Gerlachs Riesentext oder die verschiedenen Dokumente, die uns sehr diffus erschienen. Es war klar, wie das Votum ausfiel: »Durchbruch bei Stalingrad«!

Als wir Moskau verließen, hatten wir 614 Fotos im Gepäck. Otfried Preußler blieb – wenn man so will – in der Gefangenschaft zurück. Das war ein Fehler! Dies umso mehr, als die notierte Signatur nicht stimmte. Es dauerte dann Jahre und kostete viel Zeit, bis die Kriegsgefangenenakte von Otfried Preußler endlich wieder vor mir lag. Doch davon später mehr. Widmen wir uns zunächst der Herkunft Preußlers, die für die dramatischen Ereignisse der Kriegs- und Nachkriegszeit und Otfrieds Preußlers Geschichte von großer Bedeutung ist.

Inhaltsverzeichnis

II. Herkunft kenntlich machen

Die Eltern Ernestine und Josef Syrowatka

Otfried Preußler gehörte nicht zu jenen, die darauf aus waren, sich durch Statements zum Privatleben in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit zu verschaffen, seine Töchter berichten sogar, dass »seiner Maxime folgend … Privates aus dem Familienleben weggelassen«[31] wurde.

Gleichwohl ist die Frage nach der Herkunft eine maßgebliche für das Entstehen seines Werks. Und bei einem Welterfolg, den eine Auflage von mehr als 50 Millionen Exemplaren ausweist, darf nach der Familie gefragt werden. Zumindest, wenn jene Herkunft für das Werk so entscheidend ist wie in diesem Fall. Deshalb wird auch ausführlicher auf diese so prägende Zeit eingegangen. Dabei steht nicht zuletzt die Frage, wie aus dem Familiennamen Syrowatka Preußler wurde.

 

Geboren wird Preußler am 20. Oktober 1923 in Reichenberg (Böhmen) als Sohn von Ernestine und Josef Syrowatka. Seine Schwester Liselotte ist bereits bei der Geburt am 5. Mai 1922 gestorben. Der jüngere Bruder Wolfhart, den später alle nur Wolfi nennen, wird am 23. März 1927 geboren, er verstirbt am 27. Januar 1981 in München.

In Reichenberg geboren wurde auch schon sein Vater Josef (am 27. Mai 1891); die Mutter Ernestine Tscherwenka in Schluckenau (Nordböhmen, am 14. Januar 1897). In Reichenberg findet auch die Heirat der Eltern statt (am 30. Juni 1921). Hier lebt die junge Familie zuerst in der Heinrich-Liebig-Straße 11, dann von 1935 bis 1945 im eigenen Haus in der Pestalozzistraße 18, die zum Ortsteil »Schieferdörfel« gehört. Das Reiheneckhaus hat eine Wohnfläche von ca. 85 und ein Grundstück von 500 Quadratmetern.

Beide Eltern sind literarisch tätig, die Mutter veröffentlicht unter dem Pseudonym Tina Kilian Zeitungsartikel. Raimund Palaczek hat in seinen »Anmerkungen zur böhmischen Herkunft von Otfried Preußler« zusammenfassend zu den Eltern Folgendes herausgestellt:

Seine Eltern waren Lehrer. Die Großeltern väterlicherseits stammten aus einem rein tschechischsprachigen Umfeld und haben sich erst Ende des 19. Jahrhunderts in Reichenberg niedergelassen. Diese Vorfahren gehörten überwiegend der bäuerlichen Schicht an oder übten Handwerksberufe aus. Es war der Mädchenname seiner Großmutter Agnes, geb. Praitzler, die Josef Syrowatka in der ursprünglich deutschen Form PREISSLER/PREUßLER für sich und seine Familie 1941 annahm.[32]

Raimund Paleczek geht davon aus, dass Josef Syrowatka im Zusammenhang mit der Verfügung, einen sogenannten »Ariernachweis« beizubringen, wozu er nach dem Münchener Abkommen vom 29. September 1938 und dem Abtritt des Sudetenlandes an Nazi-Deutschland als Lehrer verpflichtet war, genealogische Nachforschungen anstellt. Aber der Vater Syrowatka war Heimatforscher, und er hat keineswegs erst in Verbindung mit nationalsozialistischen Forderungen Ahnenforschung betrieben. Es war vielmehr sein lebenslanger Traum hinter die Genealogie der Familie zu kommen. Diese kontinuierliche Spurensuche hat sich in verschiedenen Beiträgen niedergeschlagen, in denen er – literarisch beschlagen – in Berichten zum Entstehen verschiedener Sagen um das Isergebirge der eigenen Familiengeschichte nachgeht.

So erscheint im November 1934 ein Beitrag, der unscheinbar mit »Allerseelen an der Iser« überschrieben ist und den der befreundete Maler Eduard Enzmann mit Handzeichnungen versehen hat.[33] Die Tatsache, dass Josef Syrowatka einen Maler-Freund für die Illustration des Textes gewinnt, ist kennzeichnend für den kulturgeschichtlichen Ansatz des Heimatforschers, den er seit der Übernahme der Schriftleitung der Zeitschrift »Deutsche Jugend« seit 1924 konsequent umsetzt. Dem Aufsatz »Allerseelen an der Iser« geht ein in der Heimatforschung viel beachteter Aufsatz zur »Nacht auf dem Wolfsnest« voraus. Gemeinsam mit Enzmann ist Josef Syrowatka an einem Herbstabend in Klein-Iser unterwegs. Mit dem Maler will er zum Wolfsnest hinauf. In die Geschichte von der abenteuerlichen Wanderung integriert der literarisch versierte Heimatforscher verschiedene Erzählungen über Sagen aus dem Isergebirge, darunter die Sage vom Großen-Junker.[34] Der Aufsatz »Allerseelen an der Iser« setzt so ein:

Den lieben langen Herbst hatte es mich an die Iser hinauf ins Gebirge gezogen. Aber jeder freie Tag wehrte mit anderer Forderung. Schmerzlich mußte ich ihr nachgeben und die Wanderung von einem Sonntag auf den anderen verschieben. Schon zweifelte ich, den bunten Herbst am Rande der Isermoore noch anzutreffen. Da wurde die Sehnsucht in den Tagen vor Allerseelen übermächtig. Bei uns hatte der Winter schon seine erste Mahnung an die Hänge geschrieben. Buchen und Birken fahlten. Jetzt hieß es schleunigst handeln. Schon stand Allerseelen vor der Tür. Die Menschen sammeln sich an den Gräbern ihrer Vorfahren. Soll ich nicht ein Gleiches tun?[35]

Letztlich ruft es den Erzähler mit »unbeschreiblicher Gewalt« ins Isergebirge, und er macht sich auf den Weg. Mit dem Zug fährt er am frühen Morgen nach Polaun, das heute Polubný heißt, die Entfernung von Reichenberg beträgt rund 30 Kilometer. Auf der Straße nach Wazelsbrunn liegt bereits feuchter Schnee. Und während der Wanderer weiter ausschreitet, erinnert er sich an die Aufschrift an einem Polauner Häuschen: »Preußler stand darauf zu lesen.«[36] Josef Syrowatka wird sich bewusst, wie oft man auf diesen Namen im Umkreis des Gebirges stößt, und dann geschieht etwas Unvorhergesehenes:

Im Herzen spüre ich, warum ich heute ins Gebirge herauf mußte. Preußler: das ist der Mädchenname meiner Großmutter. Sie entstammte einer Seitenlinie der alten Glasmacherfamilie, die neben den Schürern von Waldheim, den Wandern von Grünwald sich das Gebirge erobert hatten und mit ihrer Arbeitsunrast bis an die Südhänge des Gebirges vorstießen, selbst von Reiditz hinaus bis über die Sprachgrenze. Und nun ist mir, als sähe ich die ersten dieses Namens über die Kämme in die Niederungen an der Iser steigen. Wald fiel, wo sie hinkamen, mächtige Glashütten tauchten auf, und in die Nächte hinein warf der Glasofen seinen gespenstischen Schein. Schleifmühlen surrten an den Wasserläufen und Druckhütten quetschten sich in jeden passenden Winkel.[37]

Bei den Druckhütten handelt es sich um kleine Nebengebäude, in denen aus Sicherheitsgründen die Produktion von einfachem Glasschmuck ausgegliedert war. Da die Temperatur von geschmolzenem Glas mehrere Hundert Grad beträgt und die Öfen mit Holz aus den Wäldern geheizt wurden, war die Feuergefahr groß. Josef Syrowatka jedenfalls fragt sich, was ihn wohl zu den »Allerseelen im Gebirge« getrieben hat, um dann von der fast schon mythisch erinnernden Ebene in die Wirklichkeit zurückzukehren und von den Begegnungen mit Freunden zu berichten, die wiederum etwas von der Familiengeschichte preisgeben. In der Tat ist Josef Syrowatkas Vermutung, dass die Preisslers bzw. Preußlers aus der Seitenlinie einer Glasmacherfamilie stammen, durchaus plausibel.[38] Die Linie führt zurück auf eine Glasmacherfamilie Preußler, die ursprünglich aus dem Erzgebirge stammt. Darunter befanden sich sehr wohlhabende Hüttenbesitzer, die auch in Böhmen ansässig waren. Hier ist es vor allem das Hüttengut von Wolfgang Preußler in Witkowitz, das er und seine drei Söhne bis 1616 betreiben. Später siedeln sie nach Schreiberhau um und leiten dort ab 1654 eine neue Hütte. Eine andere Linie führt auf die Brüder Christoph und Mathias Preußler, die als Söhne der Weißbachtalhütte nach dem Tod des Vaters nach Böhmen zurückkehren und in Blottendorf und Langenau einen Glashandelsbetrieb gründen, der sehr erfolgreich ist.[39]

 

In einem späten Text aus dem Jahr 2003 verweist Otfried Preußler auf eine weitere Verwandtschaftslinie, er macht auf die erstaunliche Ähnlichkeit des Vaters mit dem Maler und Kupferstecher Johann Daniel Preisler aufmerksam, der das Amt des »Nürnbergischen Kunst-Mahler-Academie-Directors« innehatte. Von ihm gibt es ein um 1730 entstandenes Porträt, auf das der Vater Josef bei seiner genealogischen Spurensuche gestoßen war. Leider sei dem Vater der »lückenlose genealogische Nachweis unserer Verwandtschaft mit der Nürnberger Künstlerfamilie« verwehrt geblieben, so der Sohn Otfried. Immerhin kann der Vater belegen, dass die Künstler-Preislers wiederum von deutschen Glasmachern aus Böhmen abstammen. Otfried Preußler notiert überzeugt: »Das Porträt des Herrn Johann Daniel, neben das Bild meines Vaters gehängt, wiegt alle fehlenden Einträge in den Matrikeln durch Augenschein auf.«[40]

Abb. 1: Porträt Johann Daniel Preisler, Direktor der Nürnbergischen Kunst-Mahler-Academie, um 1730 

Und schließlich benennt auch der Sohn die Vorfahren, die im Iser- und Riesengebirge beheimatet waren. »Kaum eine Glashütte hüben wie drüben (und Glashütten gab es zahlreich dort, in den großen Wäldern), wo nicht, zumindest vorübergehend einer von ihnen gearbeitet hätte. Als Glasmeister sind sie ausgewiesen, als Schmelzer und Schürer, als Spiegelschleifer, Gravierer und Glasmaler.«[41]

Mit Blick auf die Genealogie, die Josef Syrowatka im Rahmen seiner Heimatforschungen zu Böhmen und dem Riesen- und Isergebirge betreibt, ist die Namensänderung von Syrowatka in Preußler durchaus konsequent. Hätte Vater Preußler allerdings abgesehen, welche Folgen sich aus der Namensänderung später für ihn selbst ergeben werden, er hätte mit Sicherheit darauf verzichtet. Das kann er im Jahre 1941 nicht ahnen, und so werden auf diese Weise auch die Söhne Otfried und Wolfhart zu Preußlers. In dem Dokument, das mit dem 16.12.1941 gezeichnet ist, heißt es:

Der Hilfsschullehrer Josef Syrowatka in Reichenberg, Pestalozzistraße 18, geboren am 27.5. in Reichenberg führt an Stelle des bisherigen Familiennamens den Familiennamen Preußler. Diese Änderung des Familiennamens erstreckt sich auf die Ehefrau und diejenigen minderjährigen Kinder des Genannten, die unter seiner elterlichen Gewalt stehen.[42]

Otfried Preußler schreibt in einer späteren Darstellung zum Vater, dass der den »ursprünglichen Familiennamen« abgelegt und »gegen den seiner Großmutter Agnes eingetauscht« habe, »die einer im Vorland des Iser- und Riesengebirges weitverzweigten Sippe von Glasmachern, kleinen Bauern und ländlichen Handwerksleuten entstammte. Die Preußlers und Preißlers (die Schreibweise hat früher bisweilen sogar im Zusammenhang mit ein und derselben Person gewechselt) haben den Vater immer wieder beschäftigt, er ist ihren Spuren zeitlebens nachgegangen.«[43]

Von Ernestine Preußler, der Mutter, ist bekannt, dass sie das älteste von sechs Kindern des k. u. k. Steuerbeamten Josef Tscherwenka war und im nordböhmischen Schluckenau, dem heutigen Šluknov, geboren wurde. Die ersten Schuljahre verbringt sie in Braunau (Broumov). Im Zuge der Versetzung des Vaters nach Reichenberg zieht die Familie um. Ernestine besucht dort die Bürgerschule und danach für vier Jahre eine Lehrerinnenbildungsanstalt. 1920 erwirbt sie die Lehrbefähigung für das Lehramt an Volksschulen und tritt in den Schuldienst ein.[44] Nach der Heirat mit Josef Syrowatka 1921 bleibt sie zunächst weiterhin Lehrerin. In einem handschriftlichen Lebenslauf, der aufschlussreich in Hinblick auf ihre Persönlichkeit ist, fasst Ernestine Preußler nach der Vertreibung aus Reichenberg ihren »beruflichen Lebenslauf« im Juli 1947 so zusammen:

Ich erwarb mir nach Absolvierung der Volks- u. Bürgerschule u. der 4 jähr. Lehrerinnenbildungsanstalt in Reichenberg (Böhmen) daselbst das Zeugnis der Reife mit Auszeichnung (i. Jahre 1915). Nach 2 jähr. praktischer Tätigkeit an der Volksschule zu Harzdorf bei Reichenberg legte ich die Lehrbefähigungsprüfung für Volksschulen an der staatl. Lehrerbildungsanstalt in Reichenberg mit gutem Erfolge ab. 1920 erwarb ich die Befähigung für das Lehramt an Hauptschulen (Bürgerschulen) durch die vor einer staatl. Prüfungskommission abgelegte Fachprüfung aus deutscher Sprache, Geografie u. Geschichte. Diese Fächer unterrichtete ich dann an den Bürgerschulen zu Ruppersdorf, Rosenthal u. Maffersdorf (Vororte v. Reichenberg) bis zum Jahre 1926. Dieses Jahr brachte infolge Überschusses an Lehrkräften an den reduzierten deutschen Schulen in der Tschechoslowakei einen starken Abbau derselben. Auch ich wurde als verheiratete Fachlehrerin aufgefordert, auf die Ausübung meines Berufes zu verzichten unter ausdrücklicher Zuweisung einer lebenslänglichen Pension. Nach Einrechnung der Kriegsjahre zählte meine anrechenbare Dienstzeit 12 Jahre u. ich erhielt eine Pension von 650 Kč [Kronen] nach Anschluß an Deutschland i.J. 1938 erhielt ich 85 RM [Reichsmark] monatlich. Als Kriegseinsatz sollte ich meinen Beruf wieder ausüben, war aber körperlich daran behindert. Ich hatte nach einem Scharlach im Wochenbett bei der Geburt meines dritten Kindes eine schwere Venenentzündung in beiden Beinen u. behielt davon Venen-Erweiterungen, die immer wieder zu Entzündungen führten, wenn ich längere Zeit stehen mußte. Nach ärztlichem Gutachten konnte ich meinen erlernten Beruf nicht mehr ausüben. Ich bezog eine Pension bis zum Zusammenbruch im Mai 1945. Bei der Aussiedlung verlor ich Hab u. Gut und sämtliche Dokumente u. Zeugnisse wurden mir von tschechischen Revolutionsgardisten weggenommen. Ich konnte mir nur meine Kennkarte vom 1. Juni 1943 retten, aus der meine Berufsbezeichnung (Fachlehrerin i.R.) zu ersehen ist.[45]

Abb. 2: Handgeschriebener Lebenslauf von Ernestine Preußler

Otfried Preußler erinnert in einem kleinen Text mit der Überschrift »Tinte, Feder, Tafelschwamm« die eigene Kindheit und Schulzeit, und er hebt die Persönlichkeit der Mutter Ernestine hervor, die in der Tat zur »ersten Generation jener jungen Frauen gehört hat, die sich noch zu Kaisers Zeiten emanzipiert und einen selbständigen Beruf ergriffen hatten«. Der Sohn bringt dann allerdings den Verzicht der Mutter, ihren Beruf als Lehrerin auszuüben, stärker mit den politischen Verhältnissen in der Tschechischen Republik in Verbindung:

Nach der Geburt meines jüngeren Bruders, also gegen Ende der Zwanzigerjahre wurde sie im Rahmen der staatlichen Einschränkungsmaßnahmen für das deutsche Schulwesen zwangspensioniert, damals hieß das: Sie wurde abgebaut. Ihre Pension war nicht groß, sie entsprach einem besseren Taschengeld. Dennoch war meine Mutter bis zuletzt stolz darauf, daß sie sich bereits in jungen Jahren das Anrecht auf eigene Versorgungsbezüge erworben hatte, die ihr auch nach der Vertreibung ausbezahlt wurden.[46]

Nach der Zwangspensionierung konzentriert sich Ernestine Syrowatka auf die Familie und ordnet die eigenen künstlerischen Ambitionen der Arbeit von Josef Syrowatka unter, den sie nach Möglichkeit in seinem Engagement unterstützt. Der Vater, der in der Familie letztlich die dominante Rolle einnimmt, publiziert bereits 1911 erstmals heimatliche Skizzen in der »Reichenberger Deutschen Volkszeitung«. Im Ersten Weltkrieg ist er an der Front beim Schützenregiment Eger in Serbien und den Karpaten eingesetzt, und im Februar 1915 wird er schwer verletzt. Ein Oberschenkelschuss zertrümmert den Oberschenkelknochen, das Bein ist in Folge etwas verkürzt, Josef Syrowatka hinkt ein wenig und wird frontdienstuntauglich geschrieben. Ab März 1916 leistet er seinen Dienst im Kriegsarchiv in Wien. Später wird er in die literarische Abteilung des Archivs versetzt. Im März 1919 kehrt er nach Reichenberg zurück und arbeitet zunächst als Lehrer an einer sogenannten Hilfsschule, einer Einrichtung, die sich auf lernschwächere Schüler konzentriert. Neben seiner beruflichen Tätigkeit als Lehrer engagiert er sich in der Heimatforschung. Er gehört zu einem Kreis von Heimatkundlern aus Reichenberg, Friedland und Gablonz, die sich um den Bürgerschuldirektor Josef Fischer bildet. Zu der Gruppe gehört auch der Germanist Erich Gierach, der 1921 als Nachfolger von Primus Lessiak als Professor für ältere deutsche Philologie an die Universität Prag berufen wird. 1936 erhält er einen Ruf an die Ludwig-Maximilians-Universität München auf einen Lehrstuhl für Germanistik.[47] Ebenfalls in dem Kreis engagieren sich der Stadtarchivar Prof. Dr. Volker Lug, der Geologe Dr. Bruno Möller sowie die Oberlehrer Franz A. Ressel, Franz Spatzal, Franz Runge sowie Dr. Stransky. Josef Syrowatka konzentriert sich auf die heimische Schrifttumsgeschichte sowie die Mundartdichtung. Darüber hinaus beschäftigt er sich umfassend mit dem Bereich der Volkskunde im Jeschken-Isergau. In einem unbekannten Bericht, den Josef Preußler um 1961 mit dem Titel »Für meine Söhne« geschrieben hat, versucht er wichtige berufliche Stationen zu markieren, seinen volkskundlichen Ansatz zu beschreiben und das damit in Verbindung stehende didaktische Konzept zu umreißen, besonderes Gewicht legt er auf die Darstellung der heimatkundlichen Aktivitäten.[48] Otfried Preußler hat den stark verblassten Abzug des Berichts später abschreiben lassen.[49]

Zu den zahlreichen Publikationen des Vaters gehört schon 1922 der Band »Sudetendeutsche Heimatgaue. Reichenberg«, ein Heft, das Einblick in die Geschichte der Stadt Reichenberg gibt. Aus verschiedenen historischen Quellen stellt Josef Syrowatka Stadtbilder zusammen, die im Jahr 1500 ansetzen und mit den Stationen 1604, 1650, 1774 bis in die Zeit um 1830 reichen. Aus der Schrift »Böhmen« von Johann Gottfried Sommer (1782–1848), der zu den bekannten Schriftstellern und Sachbuchautoren gehört, wird ein Ausschnitt aufgenommen, der ein Bild der Stadt und ihrer Bedeutung um 1830 liefert:

Die Stadt sammt der Vorstadt (›Christiansstadt‹) hat gegen 2 St. im Umfange, und ist in Rücksicht und Größe und Volkszahl in Böhmen die erste Stadt nach Prag, und eine der ersten Manufakturstädte in der österreichischen Monarchie. Die Stadt ist in 4 Viertel eingetheilt; die altgebräuchliche Einteilung ist die in die Altstadt und die Neustadt; sie hat 7 Plätze, 95 größere und kleinere Gassen, welche fast durchaus gepflastert sind, und Nachts durch 125 Laternen erleuchtet werden. Die Häuser sind meist von Stein, aber von Ziegeln, 2 Stockwerke hoch, mehrere sehr schön und palastähnlich aufgeführt, mit Schiefer oder Ziegeln, auch wohl mit Kupfer gedeckt; doch giebt es auch noch viele niedrige, unansehnliche, von Fachwerk erbaute Häuser, deren Zahl sich aber, so wie die Schindeldächer, von Jahr zu Jahr verringert. Die Straßen und Gassen sind munter enge und winklich, auch hat die Stadt eine unebene Lage.[50]

Im weiteren Teil des Heftes finden sich Beiträge, die einen Einblick in die Historie von Reichenberg geben. Darunter ist ein eigener Aufsatz des Editors zur »Geschichte der Reichenberger Tuchmacherei«, der ins letzte Drittel des 13. Jahrhunderts führt. Besonders wichtig ist Josef Syrowatka, das wird bereits zu diesem Zeitpunkt erkennbar, das Sammeln von Sagen, Legenden, Kinderreimen und Weihnachtsbräuchen rund um das Riesen- und Isergebirge.[51] 1925 bringt Josef Syrowatka dann den Band »Aus Alt-Reichenberger Winkeln« heraus, der ebenfalls im Sudetendeutschen Verlag Franz Kraus in Reichenberg erscheint. Besonders erfolgreich sind seine »Wanderungen in der Heimat«, die im ersten Heft der »Heimatkunde des Bezirkes Reichenberg« in einer Auflage von 3000 Exemplaren publiziert und von Gustav Leutelt, der als »Dichter des Isergebirges« gilt, besonders gelobt werden, was für Josef Syrowatka eine Bestätigung seiner Arbeit ist. Ende der 1930er Jahre erscheinen noch mehrere von ihm verantwortete Bücher, 1938 unter Mitarbeit von Rudolf Kauschka ein »Führer durch Reichenberg«, sodann 1939 ein »Führer durch den Heimartort«, bei dem es um die Präsentation der ortsgeschichtlichen Sammlung der Stadt Reichenberg geht.[52] Für die Söhne fasst er die Intentionen seiner Arbeit so zusammen:

Mit der Heimatforschungs- und Heimatdarstellungstätigkeit verband sich untrennbar die Betreuung des Heimathortes, wie man die ortsgeschichtliche Sammlung Reichenbergs nannte. Sie wurde vom Baurat Prof. Gustav Lahn noch während des ersten Weltkrieges gegründet und in den Räumen der Reichenberger Sparkasse in der Schloßgasse untergebracht. Nach dem Tode des Gründers am 2. Oktober 1922 wurde mir die Fortführung und der Weiterausbau dieser Sammlung amtlich übertragen.[53]

Durch eine Schenkung von Heinrich Jakob erhält die Sammlung 1938 ein eigenes Haus in der Kranichgasse. Das Konzept, das Josef Syrowatka skizziert, folgt einem musealen Ansatz, wie er sich im deutschsprachigen Raum seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ausbildet. Den Museen wird in diesem Konzept eine besondere Rolle im nationalen Einigungsprozess zugeschrieben. Diese Zielorientierung gilt nicht nur für das kulturhistorische Heimatmuseum, sondern auch für jene Einrichtungen, die sich auf die Bildende Kunst oder die Literatur spezialisieren.[54]

Inhaltsverzeichnis

III. Josef Syrowatka und das Sudetenland

Heimatforschung als Lebensaufgabe

Das Sudetenland, in dem Reichenberg liegt und dem die Familie Syrowatka/Preußler sich zugehörig fühlt, ist seit 1918 in einer besonderen Situation. Es handelt sich um ein Gebiet, das an der Grenze zur Tschechoslowakei, Deutschland und Österreich liegt und in dem überwiegend die deutsche Sprache und Kultur gepflegt wird. Das Sudetenland besitzt kein zusammenhängendes Territorium. Bei dem Kompositum »sudetendeutsch« handelt es sich um eine eher pragmatische Begriffsbildung mit dem Ziel, eine Art Pendant zu den »damals in geographisch-ethnologischen Diskursen üblichen Bezeichnungen ›Alpendeutsche‹ und ›Karpatendeutsche‹ zu schaffen«.[55] Letztlich war es nach der Gründung eines tschechoslowakischen Staates notwendig geworden, »eine geeignete Bezeichnung für die im Land verbliebene deutsche Minderheit einzuführen«. Zu diesem Zeitpunkt wurde der Begriff »Sudetendeutsche« bevorzugt, weil er »am wenigsten auf nationalpolitische Ansprüche hindeutete«.[56] Der ursprünglich neutrale Terminus bekommt nach den dramatischen Ereignissen rund um die Vertreibung der Sudetendeutschen in den Jahren 1945 und 1946 infolge der sogenannten Beneš-Dekrete sukzessive einen anderen Bedeutungsgehalt – darüber später mehr. Wegen seiner »identifikationsstiftenden Funktion« wurde er als Sammelbegriff weiter genutzt, »wobei er wegen revanchistischer Forderungen einzelner Interessengruppen und Institutionen zeitweise ebenso in Verruf geriet wie aufgrund seiner pauschal diffamierenden Gleichsetzung mit reaktionärer Gesinnung.«[57]

 

Doch diese Entwicklungen ab 1938 sind in jener Zeit, da Josef Syrowatka in den Schuldienst einsteigt und mit seinen Heimatforschungen beginnt, nicht abzusehen. Seine Aktivitäten zielen in den 1920er Jahren auf den Aufbau eines sudetendeutschen Museums, in dem sich historische Dokumente und Darstellungen zur Regionalgeschichte finden, wobei die Übergänge zum literarischen Museum fließend sind.[58] Entsprechend richtet er die Räume so ein, dass die »einzelnen Gegenstände ihrem Zwecke und zugunsten ihrer Wirkung« betrachtet werden können.[59] Vater Preußler bezieht seine Söhne, Otfried und Wolfhart, schon früh in diese heimatkundlichen Arbeiten ein und verweist in seiner Darstellung darauf:

Nun, meine lieben Söhne, davon brauche ich Euch ja nicht mehr viel zu erzählen. Das habt Ihr alles selber noch gut in Augenschein nehmen können, und Otfried hat darin schon als kleiner Krabblich den Museumsführer gespielt, zum Ergötzen, aber auch zur Bewunderung seiner Zuhörerschaft.[60]

Da Josef Syrowatka von der Profession Lehrer ist, hat er eine genaue Vorstellung von der Ausbildung der zukünftigen Pädagogen. Über Jahresarbeiten aus der Volkskunde will er die »junge Lehrerschaft« an die praktische Beschäftigung mit der heimatlichen Kultur und Literatur heranführen und gleichzeitig empirisches Material erheben. Dahinter steht ein didaktisches Konzept, das darauf aus ist, für alle Lehrerbildungsanstalten im damaligen Sudetenland Rahmenpläne zu erarbeiten, in denen »jahrgangsweise vereinbarte Gebiete der Volks- und Heimatkunde« bearbeitet werden.[61] Josef Syrowatka verfügt nicht nur über ein umfangreiches Wissen zur Kultur und Literatur der Sudetendeutschen, sondern auch zu den Sagen und Mythen der Region. Darüber hinaus ist er – ganz in der Tradition der Brüder Grimm – ein Sammler von mundartlicher Dichtung. In dem Lebensbericht schreibt er:

Hinzufügen möchte ich noch, daß es mir besonders auch das hohe und einsame Isergebirge angetan hat. Ich bin den Sagen um den alten Hennrich nachgegangen und habe die Geschichten um den ›Großen Junker‹ vom Groß-Iser das erste mal zusammenfassen können. Bei dieser Arbeit stieß ich auch auf den ersten Roman aus dem Isergebirge ›Die Raubjäger im Isergebirge‹, eine Art Nachfolge der Schauerromane und Räubergeschichten des Christian Spieß. Aber ich merkte beim Lesen dieses Buches, wie der Verfasser nicht nur im Gebirge ortskundig war, sondern auch gewisse überlieferte Begebenheiten geschickt zu verwenden wußte, so daß man dieses Buch, das vor 1850 erschienen ist und mit farbigen Bildern des Verlages Gustav Kühn in Neuruppin ›geschmückt‹ war, immerhin mit gewisser Kritik als willkommenen Beitrag zur Volkskunde des hintergründigen Isergebirges ansehen kann.[62]

Zum Profil von Josef Syrowatka gehört nicht zuletzt seine Aktivität als Herausgeber einer Reihe von »Büchern für das Klassenlesen«, die er bereits als Junglehrer nach dem Ersten Weltkrieg verantwortet und anhand derer sich erkennen lässt, in welchem theoretischen wie didaktischen Kontext sich seine Anschauungen bewegen. Er selbst überschreibt einen Abschnitt seines Berichtes mit »Kunsterziehung und Jugendschrifttum«. Damit ist explizit ein Bezug hergestellt zu einer in Deutschland wichtigen Bewegung um Heinrich Wolgast, der mit seiner Schrift »Das Elend unserer Jugendliteratur« von 1896 bis in die 1920er Jahre einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Bildung und Erziehung in allen deutschsprachigen Gebieten hatte.[63]

Bei Wolgast wird der von Josef Syrowatka genutzte Begriff »Jugendschrift« ausführlich entwickelt. Wolgast fasst unter »Jugendschrift« bzw. Jugendliteratur keine literarischen Texte, die speziell für junge Leser geschrieben sind, sondern solche, die ihrem Fassungsvermögen entsprechen, daher als eine mögliche Kinder- und Jugendlektüre zur Verfügung stehen und von den entsprechenden pädagogischen Instanzen auch als solche ausgewiesen und damit legitimiert sind.[64] Insofern macht der junge Lehrer sich für das stark, was man heute mit dem Begriff der intentionalen Kinder- und Jugendliteratur versieht, Texte wie Jonathan Swifts »Gullivers Reisen« (1726), Miguel de Cervantes »Don Quichotte« (1605) oder Daniel Defoes »Robinson Crusoe« (1719). Bücher also, die ursprünglich nicht an Kinder adressiert waren, die ihnen im Lauf der Jahre und Jahrhunderte aber – oft in auf sie zugeschnittenen Bearbeitungen – zum Lesen empfohlen wurden.[65] Josef Syrowatka sympathisiert mit Heinrich Wolgasts Ablehnung der spezifisch für Kinder geschriebenen Literatur. Das Verdikt von Wolgast gegen eine spezielle Literatur für junge Leser hat allerdings durchaus einen reformerischen Hintergrund, dem Josef Preußler folgt.

Auch das Konzept einer »nationalen Erziehung«, die einen Kern von Wolgasts Argumentation bildet, ist Josef Preußler nahe. Man kann dieses Konzept durchaus als »spätromantisch-national« bezeichnen. Nur in der Aufnahme »echter« Kunstwerke könne der Einzelne sich selbst in seinem individuellen Wesen erfassen und zugleich als Teil des großen Ganzen, nämlich der Nation. Was bei Wolgast auf die ganze Nation ausgerichtet ist und über alles Trennende hinweg zu einer kulturellen Einheit der verschiedenen sozialen Gruppen und Lebensalter führen soll, wird bei Josef Preußler auf die Sudetendeutschen übertragen.[66] Dahinter steht – wie bei Wolgast – eine durchaus sozialutopisch zu nennende Vision, wonach es darum geht, eine einigende Kultur zu etablieren. Letztlich ist auf diese Weise auf eine »nationale Kunst« bzw. auf das gezielt, was man »Nationalliteratur« nennen kann. Die Qualität einer solchen Literatur, ja Kultur wird in ihrer »einheitsstiftenden Funktion« gesehen, weshalb Wolgast fordert: »Die Jugendschrift in dichterischer Form muß ein Kunstwerk sein.«[67] Weil nun einmal »literarische Kunstwerke« zur »allgemeinen Literatur« gehören, hat eine eigens für junge Leser geschaffene »spezifische Jugendliteratur« schlichtweg »keine Existenzberechtigung«.[68]

Josef Syrowatka folgt der Absolutheit dieser Auffassungen nicht, aber sehr wohl schließt er sich an ähnliche Positionen aus der deutschen Romantik an, wie sie sich bei Jacob Grimm finden, der im Kontext mit den Kinder- und Hausmärchen fragt, »ob man überhaupt für Kinder etwas eigenes einrichten müsse«, weil doch das, was man als Volksliteratur besitze, »Alte wie Junge (ertragen).«[69] Noch wichtiger für Vater Syrowatka ist jener Autor, den Wolgast zur Absicherung seiner Argumentation ins Feld führt, nämlich Theodor Storm. Der habe eine literaturästhetische Faustregel vorgegeben, wenn es um das Schreiben für Kinder geht. »Wenn man für die Jugend schreiben will, so darfst du nicht für die Jugend schreiben«, heißt es bei Storm im Zusammenhang mit seiner »köstlichen Novelle«, dem »Pole Poppenspäler«, den er »für die ›Deutsche Jugend‹ schrieb.« Es ist dies ebenjene Novelle, die Josef Syrowatka dann in seiner Reihe »Bücher für das Klassenlesen« herausbringt. Was der junge Lehrer hier bedenkt, ist eine Problematik, die auch bis in die Gegenwart eine Rolle spielt. Es geht nämlich um die Frage, ob es Grenzen in der literarischen Darstellung für Kinder und Jugendliche gibt, geben kann und geben soll. Bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts ist diese Position gesetzt. Erst mit den 1970er Jahren werden frühere Tabubereiche mit sozialkritischem Anspruch zum Gegenstand literarischer Darstellung für junge Leser, dazu gehören Behinderung, Sterben, Tod, Scheidung, Alkoholismus und Drogen, Arbeitslosigkeit der Eltern, Dritte Welt oder die damals sogenannte Gastarbeiter- und Ausländerproblematik. Otfried Preußler sieht diese Entwicklungen eher kritisch, weil er Forderungen, die darauf hinauslaufen, dass Schriftsteller im Schreiben für Kinder »dem herrschenden Zeitgeist Rechnung zu tragen« haben, nicht folgen mag. »Kinder mit Themen zu konfrontieren, deren Bewältigung doch wohl Sache der Erwachsenen sein müßte«, das ist nicht sein Ansatz.[70] Anders gesagt: Otfried Preußler, und deswegen erscheint der Exkurs in diesem Zusammenhang wichtig, verfolgt nicht nur in den damaligen Umbruchszeiten ein eigenes Konzept, und das hat seine Grundlage in den Erfahrungen von Kindheit und Jugend sowie den Überlegungen des Vaters Josef.[71]

 

Was Josef Syrowatka in den 1920er Jahren am Konzept von Wolgast interessiert hat, sind nicht zuletzt die Folgerungen für den Leseunterricht und die freie Lektüre, es findet seine Entsprechung in der Praxis von Vater Syrowatka. Er teilt Wolgasts kritische Sicht auf den Leseunterricht, der nicht hinreichend Voraussetzungen für das schafft, was man literarische Bildung und die Fähigkeit nennt, »poetisch zu genießen«. Wie Wolgast richtet auch Josef Syrowatka daher seine Konzentration auf die Volksschule. Hier sieht er größere Defizite, weil nur wenige Texte der klassischen Literatur angeboten werden. Im Sinne einer Vertiefung der »ästhetischen Geschmackskultur« müsse zudem der Literaturunterricht im Lehrplan eine gewichtigere Rolle spielen. Damit wird an Entwicklungen im Schulwesen in den deutschsprachigen Ländern angeschlossen, die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Stärkung des Faches Deutsch anstreben und dabei auf einen sich ausbildenden Kanon an deutschen Autoren setzen. Der in diesem Rahmen hergestellte Bezug auf die »nationale Klassik« ist damals verbunden mit einer Polemik gegen die Übermacht des lateinischen Unterrichts. Wie Wolgast schlägt Josef Preußler sogar die Einbeziehung der klassischen Literatur in deutscher Übersetzung auch für die Volksschule vor.[72]

 

Noch als junger Lehrer bekommt Josef Syrowatka die Möglichkeit, als Herausgeber einer Reihe mit dem Titel »Bücher für das Klassenlesen« bei Paul Sollors Nachf. in Reichenberg einzusteigen, ein Haus, das sich aus »einem kleinen Provinzgeschäfte zu einer der größten deutschen Buchhandlungen der tschechoslowakischen Republik« entwickelt hat. Als verlegerischer Grundansatz gilt: »Das Hauptaugenmerk der Leitung des ganzen Geschäftsbetriebes war und ist immer darauf gerichtet, in allen Abteilungen nur Gutes und Bestes zu bieten und dadurch Minderwertiges, das meist verderblich wirkt, mit allem Nachdruck zu bekämpfen, um wahrer Volksbildung den möglichst besten Dienst zu leisten.«[73]

 

Syrowatkas Konzept enthält ganz im Sinne von Wolgast keine spezifische Kinder- und Jugendliteratur, sondern er wählt Kanonautoren und Texte, deren dichterische Qualität bewiesen ist – wir können davon ausgehen, dass gerade diese Texte auch bei der Erziehung seiner Kinder eine Rolle spielten. Dazu gehören die von ihm besorgten Editionen von Adalbert Stifters »Hochwald« (1919), Clemens Brentanos »Das Märchen vom Witzenspitzel« (1920), Gottfried August Bürgers »Des Freiherrn von Münchhausens Abenteuer in Rußland und dem Türkenkriege« (1921), Gustav Schwabs »Die Schildbürger« (1921). Hinzu kommen Ausgaben zu Theodor Storm, Gustav Leutelt oder Frank Karl Ginzkey. Für das jüngere Lesealter verfolgt der Herausgeber einen anderen Ansatz. Dies belegt »Der Jugend Liederborn«, der in der ersten Auflage 1923 erscheint und für die allgemeinen Volksschulen herausgegeben wird. Adressiert ist der Band für das 1., 2. und 3. Schuljahr. Im Vorwort zur ersten Auflage verweist Josef Syrowatka darauf, dass es sich um ein »neugeschaffenes Liederbuch« handelt, das seine »eigenen Wege geht« und »hauptsächlich nur das gute Volkslied« berücksichtigt. Damit ist der Anspruch verbunden, »eine Volksliedsammlung über die Schule hinaus für das Leben« vorzulegen. Ganz im Sinne der Brüder Grimm werden jene Texte abgedruckt, die »vom Volke gesungen« werden.[74] Umdichtungen vermeidend, heißt es: »Was sich jahrhundertlang bewährt hat, aber durch die bisher üblichen Schullieder verdrängt worden ist, das soll wieder zu frischem, gesundem Leben aufwachen. Reime, die das Kind selbst erfunden oder sich zurecht gelegt hat, echter, natürlicher Kindersinn, soll wieder in die Kinderstube, auf die Tanzwiese und auf den Kinderspielplatz einziehen.«[75] Die Auswahl hält das Versprechen, sie beginnt mit »Gut’n Morgen, Herr Spielmann!«, es folgen »Bin gar wohl zu Fuß bestellt« und »Hoppe, hoppe, Reiter«, »Schön ist die Welt«, »Der Bauer«, »Der beste Trank« und schließlich das »Lied von der Mühle«, »Die Mühle« und »Meine Mühle«.

Was Josef Syrowatka hier sammelt, kann man unter dem Stichwort Literatur für Anfänger zusammenfassen. Dazu gehören bis in die Gegenwart Texte, die – wie in historisch vergangenen Kulturstufen – ihren Sitz im Leben haben und die ganz bewusst als Gebrauchsliteratur konzipiert sind, Gute-Nacht- und Geburtstagsgeschichten, Geschichten zu Jahreszeiten oder zu Festtagen (Weihnachten, Silvester, Ostern). Auch aus diesem Grunde sind Texte dieser Art mit dem Spiel verbunden und bleiben dem geselligen Alltagsleben verpflichtet. Sie erweisen sich durchweg als singbar, vorlesebar, nacherzählbar und darstellbar.[76] Daher finden sich im Band auch Schattenbilder. Auffällig ist, dass Josef Syrowatka auch ein Gedicht abdruckt, das aus der späten Aufklärung stammt und von Mozart vertont wurde, nämlich »Komm, lieber Mai!«. Anders als zumeist üblich weiß der Herausgeber, wer der Autor ist, nämlich Christian Adolf Overbeck, ein Autor, der dazu schrieb: Meist höre man »in den Liedern für Kinder … den herablassenden Lehrer, zwar meist im Ausdruck der Kinder, aber doch mit den Ideen eines Erwachsenen«, doch bei ihm spreche »wenn ich’s gut gemacht habe, wirklich ein Kind.«[77] Das Gedicht »An den May« bringt die Wünsche der Kinder exemplarisch zum Ausdruck und erreicht Bekanntheit vor allem durch Wolfgang Amadeus Mozarts Vertonung. In der Folgezeit setzt eine Art »Folklorisierung« des Textes ein, wobei der Autor Overbeck in Vergessenheit gerät und zumeist gar nicht mehr gekannt wird. Lediglich die erste Strophe bleibt im Bewusstsein, die nachfolgenden werden wegen ihres antiautoritären Gestus gestrichen, ja gewissermaßen zensiert. Der Herausgeber Josef Syrowatka, und dies ist die Ausnahme, geht auf die vergessene Quelle zurück und bringt neben der ersten eine weitere Strophe, durch die der von Overbeck angeschlagene Kinderton offenbar wird.[78]

 

Ab 1925 verantwortet Josef Syrowatka als Hauptschriftleiter der Jugendzeitschrift »Deutsche Jugend«, die monatlich in einer Auflage von 20000 Exemplaren herauskommt. Sonderausgaben wie das Heft zu Johann Wolfgang Goethe oder zu Albrecht Dürer erscheinen sogar in einer Auflage von 60000.[79] Das Engagement für die Schülerzeitschrift ist hervorzuheben, weil es sich hier um einen nicht unstrittigen Gegenstand handelt. Ab Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es im Kontext mit den »Vereinigten Deutschen Prüfungsausschüssen für Jugendschriften« harte Auseinandersetzungen um die Funktion von Jugendschriften.[80] Im Aufbau der Zeitschrift geht der Editor in Kenntnis der Debatten neue Wege, die ihre Grundlage in seinem didaktischen Ansatz haben. »Ich wollte durch die Schülerzeitschrift den jugendlichen Leser nicht mehr ›zerstreuen‹, indem ich ihm ein Sammelsurium von Beiträgen aus allen möglichen Gebieten vorsetzte«, schreibt er, »sondern ich gruppierte Aufsätze und Geschichten eines jeden Heftes um einen führenden Gedanken.«[81] Einen Schritt weiter geht er 1928 zum 400. Gedenkjahr von Albrecht Dürer, indem nicht nur jedes Heft auf dem Titelblatt mit einem Werk von Dürer eingeführt wird, sondern auch Bilder, Kupferstiche, Holzschnitte, Radierungen und Handzeichnungen als Illustrationen genutzt werden. Darüber hinaus steht jedes der Hefte des Jahrgangs unter einem Leitmotiv.

Das Engagement des Vaters Josef in der Heimatforschung prägt das Familienleben der Syrowatkas, und nach der frühen Pensionierung unterstützt die Mutter Ernestine seine regionalgeschichtlichen Forschungen nach Kräften. Sie verantwortet zudem gemeinsam mit der Schwiegermutter Dora, die bei ihnen lebt, den Haushalt. Im Winter bricht die Familie zum Skifahren ins Isergebirge auf, im Sommer mieten sie sich – die finanziellen Verhältnisse erlauben dies – im nahe gelegenen Ferdinandsthal bei einer Bauersfamilie ein.

Abb. 3: Der siebenjährige Otfried Preußler auf einer Wanderung im Riesengebirge, 1931 

Beide Elternteile haben in Reichenberg zahlreiche Künstlerfreunde, sie gehen regelmäßig in Konzerte und zu Theateraufführungen ins renommierte Stadttheater. Josef Syrowatka agiert in diesem Rahmen auch als Theaterkritiker, wobei er sein Engagement für die Söhne rückblickend so zusammenfasst:

Der Bühne war ich ja seit meinen Jünglingsjahren zugewendet, hatte es nicht allein mit Hans-Sachs-Spielen bei allen möglichen Gelegenheiten versucht, wohl auch durch Vorlesungen mit verteilten Rollen in kleinen Kreisen, sondern hatte auch versucht, die Bühnenkunst in all ihren theoretischen Erfordernissen zu erfassen. Von der Lessingschen Dramaturgie über Bulthaupt, Wilhelm von Scholz, Ihring bis zu den neuesten Dramenführern, nebenbei auch Herman Behrs Kritiken im Bande ›Wiener Theater‹, wobei mir auch die Monographie über das Wiener Burgtheater von Dr. Rudolf Lothar, die ich in der unvergessenen Bücherei des Gewerbemuseums vorfand, gute Anschauungshilfe leistete, ja selbst Otto Ludwigs Shakespeare-Studien und Vischers ›Kritische Gänge‹, einige Schauspieler-Monographien nicht ausgeschlossen.[82]