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55 Jahre lang hat Sabine Estner im Körper eines Mannes und in der Gemeinschaft der Kirche gelebt, 14 Jahre davon als Mönch. Dabei fühlte sie sich von klein auf als Mädchen. Der Vater versuchte, das aus ihr herauszuprügeln. Ohne den Glauben, sagt sie, hätte sie nicht überlebt. Wie ist das, wenn jemand zutiefst an Gott und Jesus Christus glaubt, die Institution, die diese repräsentiert, allerdings versucht, diese Identität auszulöschen? Wie schafft man es, dem massiven Druck von außen standzuhalten und trotzdem den eigenen Glauben nicht zu verlieren? Indem man die Kraft findet, kirchliche Dogmen zu überwinden und zu dem Gott zu finden, der einen liebt, wie man ist. In "Ich bin, wie Gott mich schuf" erzählt Sabine von ihrem schweren Weg als Transperson im Schoße der Kirche und in einer Gesellschaft, die (noch) nicht gewillt war, über das Modell Mann/Frau hinauszudenken.
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Seitenzahl: 300
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Sabine Estner
mit Claudia Heuermann
Ich bin, wie Gott mich schuf
Eine Transfrau erzählt ihre Geschichte
Bilder im Innenteil: © privat
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: ZeroMedia GmbH, München
Umschlagmotiv: © Nadine Keilhofer, Herzflimmern, Bischofswiesen
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster
ISBN Print: 978-3-451-39739-4
ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-83217-8
ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-83374-8
Hinweis
Die in diesem Buch beschriebenen Geschehnisse haben so stattgefunden, wenngleich die Chronologie zugunsten der Dramaturgie gelegentlich abweicht. Auch sind dem Erzählfluss und der Spannung zuliebe ein paar Zeitabschnitte gestrafft und einige Ereignisse zusammengefasst worden. Die Namen fast aller Personen wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre geändert, die Namen einiger Institutionen, ihre Standorte und Erscheinungsbilder zum Schutz der Beteiligten verfremdet.
Prolog
Kapitel 1: Wer den Zorn reizt
Kapitel 2: Alle Register
Kapitel 3: Geist der Furcht
Kapitel 4: Zu den Waffen
Kapitel 5: Der Weg, die Wahrheit und das Leben
Kapitel 6: Licht und Finsternis
Kapitel 7: Was dein Herz begehrt
Kapitel 8: Mit Leib und Seele
Kapitel 9: Himmel und Hölle
Kapitel 10: Jünger
Kapitel 11: Schein und Heiligkeit
Kapitel 12: Gottes Worte, Gottes Orte
Kapitel 13: Hiobs Botschaften
Kapitel 14: Durch Feuer und Flamme
Kapitel 15: Ausgebrannt
Kapitel 16: Suchet, so werdet ihr finden
Kapitel 17: Glaube, Liebe, Hoffnung
Kapitel 18: Bis in alle Ewigkeit
Kapitel 19: Lebens Wandel
Kapitel 20: Offenbarung
Kapitel 21: Über Grenzen
Kapitel 22: Von Zeit und Raum
Epilog
Danke
Textnachweise
Über die Autorinnen
Ich widme dieses Buch allen, die sich nach Liebe, Anerkennung und Annahme sehnen.
Ich widme dieses Buch dem, der die Liebe ist.
»Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.« Johannes 6,371
Ich wünsche allen, die dieses Buch lesen, dass ER ihnen mit seiner Liebe begegnet, dass sie seine Liebe erfahren.
Sabine Estner
Eine gespannte Ruhe liegt in der Luft, eine stumme Erwartung, wie jedes Jahr an diesem besonderen Datum: Der 24. Dezember 2017 ist ein Wintertag wie aus dem Bilderbuch. Sonnig blau strahlt der Himmel, und Schnee bedeckt die Sträucher im Gärtchen unserer Erdgeschosswohnung – jener Wohnung in Wasserburg nahe Rosenheim, in die meine Partnerin Theresia und ich vor Kurzem gezogen sind, um ein ganz normales Leben zu führen. Ein Leben als Mann und Frau.
Einen Teil des Tages haben wir draußen verbracht, auf einem langen Spaziergang am Inn entlang, haben dabei die klare Luft eingesogen, auf den Fluss geschaut, die winterliche Kälte gespürt: Nun ist es umso schöner, es sich zu Hause gemütlich zu machen. Wir zünden Kerzen an, verteilen Plätzchen auf bunte Teller, arrangieren sie im Wohnzimmer auf Tischen und Schränken. Ich habe vor ein paar Tagen sogar selbst noch eine Fichte geschlagen, einen stolzen Zwei-Meter-Baum aus dem Wald hinter dem Haus meiner Mutter in der Nähe von München, der nun mitten im Zimmer aufgestellt und mit grünen und goldenen Kugeln geschmückt ist. In der Wärme unseres Heims entfaltet der Baum seinen unverkennbaren Duft – es riecht nach Harz und frischen Nadeln, nach dem Wald hinter dem Haus meiner Kindheit, und das intensive Aroma vermischt sich mit dem von Zimtsternen und Pfeffernüssen und brennenden Kerzen. Lichterketten und Scherenschnitte mit Wintermotiven hängen in den Küchenfenstern, von denen aus ich in unser Gärtchen blicke. Die Sonne senkt sich bereits, als wir gemeinsam das Abendessen vorbereiten – es gibt Kartoffelsalat mit Würstchen, ganz traditionell. Weihnachten, wie es sein soll.
Doch ich kann die festliche Stimmung nicht genießen. Im Gegenteil. Ich bin fahrig und unruhig, und plötzlich rutsche ich in diesen altbekannten Gefühlsstrudel, der immer um dieselbe Frage kreist: »Gott, warum hast du mich so geschaffen, wie ich bin? Warum nur bin ich mit dem falschen Geschlecht geboren?«
An diesem Tag, der für die meisten Menschen mit himmelhochjauchzender Freude verbunden ist, stürze ich ins tiefste Unglück und spüre nichts als abgrundtiefe Verzweiflung. Jesus Christus! Warum? Warum bin ich so verkehrt? Ich hab mir das doch nie gewünscht! Ich wollte das nicht und will es nicht! Warum bin ich trotzdem so?
Die Fragen begleiten mich schon fast mein Leben lang, doch heute ist etwas anders, das merke ich deutlich – heute stehe ich vor einem Scheideweg, unausweichlich, und kann mich nicht länger verstecken.
Nach dem Essen versuchen Theresia und ich, Bescherung zu feiern, wir beschenken uns, doch mein Zustand wird immer unerträglicher, wird so übermächtig, dass er mich in die Knie zwingt. Ich sinke auf unsere Couch, kauere mich dort zusammen wie ein Baby, Theresia muss ohne mich zur Christmette gehen. Jesus, was soll aus mir werden, was soll ich nur tun?
Allein und bitterlich weinend liege ich im Wohnzimmer, und mein Blick fällt auf den Weihnachtsbaum und die Krippenszene darunter, die Theresia heute Morgen aufgebaut hat – die kleinen, aus Holz geschnitzten Figuren hat sie von ihren Eltern geschenkt bekommen: Maria und Joseph in einem einfachen Stall, ein Ochse, ein Esel und das Jesuskind in seiner Krippe, schön arrangiert mit etwas echtem Heu und Stroh. Ich kann meinen Blick nicht abwenden von der kleinen Gruppe: Vater, Mutter, Kind, das Idealbild einer christlichen Familie … Oh Jesus! Ich passe da nicht rein! Niemals werde ich hineinpassen, und nie habe ich gepasst! Es gibt keinen Platz für solche wie mich!
Ich spüre, dass ich am Ende des Weges angelangt bin. Nachdem ich jahrzehntelang alles versucht habe, um meine Transidentität loszuwerden, kapituliere ich an diesem Tag, kapituliere ich vor Jesus Christus: Entweder lebe ich als Frau – oder gar nicht mehr. Und in diesem Moment der vollkommenen Zerrissenheit, im Augenblick meiner allergrößten Not, entscheide ich mich für das Leben. Es ist ein überwältigendes Weihnachtsgeschenk!
Am nächsten Morgen rede ich mit Theresia, nicht zum ersten Mal, über meine unbezwingbare Sehnsucht nach einem weiblichen Körper, und wie zuvor bringt sie mir so viel Verständnis entgegen, wie sie es vermag. Doch dieses Mal ist etwas Unumkehrbares in Gang gesetzt worden, und es gibt kein Zurück: Ich spüre, wie sich langsam die letzten männlichen Anteile von mir verabschieden. Und am Silvesterabend, als ich mit Theresia in der Wasserburger Altstadt unterwegs bin, um das Feuerwerk anzuschauen, geht schließlich auch der letzte Rest. Um genau zehn vor zwölf bleibt meine Armbanduhr plötzlich stehen, für fünf Minuten: Als hätte Gott kurz die Luft angehalten, als wäre das Universum eingefroren, ist in jenen Momenten das letzte bisschen Mann aus mir verschwunden.
Jetzt bin ich hundert Prozent Frau, allerdings noch immer in einem Körper mit falschem Geschlecht. Doch nun habe ich beschlossen, das Problem in die Hand zu nehmen, mich aktiv darum zu kümmern. Und so ist das Ende des Weges gewissermaßen auch der Anfang: Denn jetzt geht es erst richtig los, und die vielleicht schwierigste Wegstrecke liegt vor mir.
Aber ich bin so weit. Ich fühle mich ohne jeden Zweifel bereit, als ich ein paar Wochen später vor den Spiegelschrank unseres Badezimmers trete. Die späte Wintersonne scheint tief durchs kleine Kippfenster und taucht alles im Raum, auch mich, in ein schmeichelhaftes Licht. Die sterilen Kacheln schimmern golden, die Reflexionen lassen auch die hintersten Ecken aufleuchten, und wie ein Fingerzeig Gottes lenken die Sonnenstrahlen meinen Blick.
Ich muss daran denken, wie oft mir im Laufe meines Lebens schon geraten wurde, mich vor den Spiegel zu stellen, mein Spiegelbild mit Vornamen anzureden und zu sagen: »Ich liebe dich« – eine therapeutische Maßnahme, die Selbstbewusstsein und Selbstakzeptanz fördern und stärken soll. Besonders während meiner Jahre als Mönch im Kloster habe ich diese Übung wieder und wieder exerziert.
Jetzt sehe ich mir in die Augen: »Sabine …« Ich spüre Wärme. »Sabine. Ich liebe dich …«, sage ich zu mir selbst, ein wenig zögerlich zuerst, doch dann bestimmt und laut und deutlich. Und plötzlich durchströmt mich eine überwältigende, eine nie gekannte Freude, ein unbeschreibliches Glück, das jede Faser meines Körpers erfasst, während ich mit der Sonne um die Wette strahle.
»Sabine ich liebe dich!«
Es begann schon früh, oder vielleicht begann es gar nicht, sondern war schon immer da, aber bereits als Kind fühlte ich mich nicht wie der Junge Simon, der ich laut meiner Geburtsurkunde aus dem Jahr 1966 war. »Mama, wie nähst du diesen Saum um?«, fragte ich zum Beispiel und ließ mir von meiner Mutter an der alten Singer-Nähmaschine erklären, wie man Hosen kürzt oder den Saum auslässt oder Borten an die Hosenbeine näht. Wenn die zerschlissenen Knie meiner Jeans mit Bügelflicken versehen werden mussten, wählte ich lieber die roten als die blauen Motive, und ich suchte mir Erdbeeren, Sonnenblumen oder Schmetterlinge aus. »Ist das nicht eher was für Mädchen?«, fragte meine Mutter einmal, »willst du nicht lieber eine Rakete oder einen Planeten wie dein Bruder?« – »Zeigst du mir, wie das Aufbügeln geht?«, fragte ich, statt ihr zu antworten, und sie zeigte es mir.
Mädchenfarben, Mädchenspielzeug und Mädchenkleider gefielen mir schon immer besser, ebenso wie die Tätigkeiten, denen meine Mutter nachging: Ich sah ihr lieber zu als meinem Vater, half ihr lieber beim Backen, Bügeln und Wäschefalten, als mich mit »Männerdingen«, wie wir sie damals nannten, zu beschäftigen.
Dabei lebte ich, wie ich mich fühlte, und machte mir keine Gedanken darüber, wie ein Junge oder wie ein Mädchen zu sein hatten. Ich war ich und niemand sonst, und genauso benahm ich mich eben.
Und so folgte ich auch schlicht meinen Gefühlen an jenem Tag in den Sommerferien des Jahres 1976: Ich war gerade zehn geworden, und wie so oft half ich meiner Mutter mit der Wäsche – gerade hatten wir die trockenen Sachen von der Leine genommen, und nun standen wir nebeneinander vor dem Kleiderschrank im Flur und verstauten die fertig gefalteten Kleidungsstücke. Dabei fiel mir dieser wundervolle gelb geblümte Sommerrock meiner Mutter ins Auge, der ganz oben auf ihrem Stapel lag. Ich beobachtete, wie sie den Rock auf einen Bügel und diesen dann an die Kleiderstange hängte. Ich griff nach dem Stoff und befühlte ihn, er war ganz dünn, leicht und weich. Ich war mir sicher, den Rock noch nie zuvor gesehen zu haben, er musste neu sein, und ich konnte meine Augen nicht von ihm abwenden.
Sobald meine Mutter in der Küche verschwunden war, nahm ich ihn von seinem Bügel und schwenkte ihn hin und her, sodass die Blumen darauf wie im Wind wehten. Ich hielt mir den Bund vor den Bauch, dann vor die Brust, damit die Länge stimmte, dann drehte ich mich um mich selbst, und die gelben Blüten wirbelten um mich herum und umschlossen mich.
Als Nächstes stülpte ich mir den Stoff über den Kopf, und nun roch ich die Blumen sogar, doch als ich schon halb in den Rock hineingeschlüpft war, vernahm ich ein Geräusch aus dem Wohnzimmer: Es war mein Vater, ich hörte, wie er sich räusperte. Vielleicht hatte er Schulklausuren korrigiert oder in seinen Musikpartituren geschrieben, jedenfalls klang es jetzt so, als wäre er aufgestanden, denn ich hörte seine Schritte. Und nur eine Sekunde später, bevor ich den Rock wieder ausziehen konnte, stand er in der Tür und blickte mich an. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er hatte einen seltsamen Ausdruck auf seinem sonst oft strengen Gesicht, fast so, als würde ihm übel werden, denn er wurde ganz weiß, doch als sein Gesicht dann blutrot anlief, ahnte ich, dass er sehr wütend war. Er sah aus, als würde er gleich platzen. Aber warum? Weil ich mir ungefragt etwas genommen hatte, was mir nicht gehörte? Meine Mutter hätte bestimmt nichts dagegen gehabt, und es war schließlich ihr Rock. Schmutzig gemacht hatte ich ihn auch nicht, ich wusch mir vor dem Wäschefalten immer die Hände, und ganz sicher hatte ich nichts kaputt gemacht.
Während ich mich noch wunderte, spürte ich, wie mich die Hand meines Vaters derb im Nacken packte. Ich verlor den Boden unter den Füßen und wurde gewaltsam ins Wohnzimmer geschleift, vorbei am Steinway-Flügel und den Violinen an der Wand darüber, vorbei am Panoramafenster, durch das man die Alpen bei Föhnwind sehen konnte, bis zur erstbesten Sitzgelegenheit: einem unserer antiken, golddurchwirkten Polsterstühle. Ich war starr vor Angst. In diesem Zimmer, das ich wegen seines barocken Flairs so liebte, ließ sich mein Vater nun auf den prunkvollen Sessel fallen, warf mich brutal über sein Knie und begann, mir die Seele aus dem Leib zu prügeln: »Guter Gott! Du benimmst dich wie ein Mädchen!«, schrie er dabei, und mit voller Wucht sauste seine kräftige Hand auf mich nieder. »Das werd ich dir schon austreiben!« Die Hiebe kamen schneller und fester. »In Gottes Namen! Du bist ein Junge! DU WIRST EIN MANN!«
Und während die Schläge auf mich niederprasselten und ich nur noch aus Angst und Schmerz zu bestehen schien, geschah etwas Seltsames: Ich merkte, wie ich meinen Körper verließ. Ich trat aus mir heraus, betrachtete die Szene für einen Moment von außen, sah diesen wütenden Mann, der mit aller Kraft auf sein Kind einschlug, dann zog sich meine Seele in mein Kinderzimmer zurück, brachte sich in Sicherheit und entkam der Brutalität meines Vaters – etwas, das mein Körper nicht konnte.
Als ich wieder zu mir kam, sah ich geradewegs in die besorgten Augen meiner Mutter. Mit der linken Hand hielt sie meinen Oberkörper, mit der rechten tätschelte sie mein Gesicht. Ich merkte, wie Tränen meine Wangen hinunterliefen. Ein unbeschreiblicher Schmerz zog durch meinen Rücken und durch meine Beine, und ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen.
»Du warst weg!«, sagte meine Mutter, dabei strich sie mir die Haare aus der Stirn, die verschwitzt über meinen Augen und an meinen Schläfen klebten. »Dein Vater hat mich gerufen, weil du dich nicht mehr bewegt hast. Ich war draußen im Garten, hab erst gar nichts gehört, meine Güte, er dachte, du seist tot! Aber du warst nur weg. Ich habe dich zurückgeholt.«
Meine Seele war in meinen Körper zurückgekehrt. »Was ist passiert?«, stotterte ich schluchzend, während mein Vater wortlos den Raum verließ. Ich konnte mich an die schmerzhaften Schläge erinnern, doch was genau ich nun eigentlich falsch gemacht hatte, das verstand ich immer noch nicht. Auch während der folgenden Tage, die ich humpelnd, mit geschwollenem Gesäß und tiefblauen Flecken auf dem Rücken zubrachte, war ich mir nicht sicher. Ganz bestimmt wusste ich nur, dass es volle zwei Wochen dauerte, bis ich wieder richtig sitzen, rennen und unbeschwert draußen spielen konnte.
»Da kommt sie«, hörte ich eines Nachmittags kurze Zeit später meinen Freund Udo rufen. Seine Stimme schallte durch den Wald, und als ich ihn und die anderen Kinder erreichte, schmetterte seine Stimme abermals: »Na endlich, sie ist da!«
Die Ferien neigten sich dem Ende entgegen, und wie gewohnt trafen wir uns zum Spielen draußen hinter den Häusern, tobten, bauten an unserem Staudamm am Bach, kletterten und spielten Fangen. »Gut, dass du da bist, du bist dran!« Ich spürte Udos Hand auf meiner Schulter. »Sie ist jetzt dran!«, rief er in die Runde, den anderen beiden Mädchen und den zwei Jungs zu, unserer Clique, und obwohl mich das »sie« ein wenig irritierte und ich nicht wusste, wie er das meinte, schien es die anderen überhaupt nicht zu stören: Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, setzten sie das Spiel fort – und ich spielte mit.
Ich benahm mich, wie ich mich fühlte, und ich spielte, wie ich mich fühlte – auch wenn ich zu dieser Zeit bereits ahnte, dass ich kein normaler Junge war, dass da etwas in mir war, dieses Weibliche, was dort offensichtlich nicht hingehörte. Meine Eltern hatten es bemerkt. Udo hatte es bemerkt. Ich selbst war nun auch darauf aufmerksam geworden, obwohl ich nicht wusste, was genau das nun eigentlich zu bedeuten hatte, was es für mich bedeutete. Doch ich hatte mitbekommen, dass mein Vater es aus mir herausschlagen wollte, also musste es etwas Schlechtes sein.
Die Selbstverständlichkeit, mit der Udo mich als Mädchen ansprach, zeigte mir außerdem, dass es immer noch in mir drin war – und das versetzte mich in Angst.
Was sollte ich jetzt tun? Wie sollte ich sein? Wie meinem Vater fortan gegenübertreten? Diese Fragen wirbelten für den Rest der Ferien in meinem Kopf herum, bis ich beschloss, mich zu fügen. Ich musste versuchen, genauso zu sein, wie er es wünschte, damit ich nie wieder so geschlagen würde wie an jenem Tag – und ich wusste nun, wie er, mein strenggläubiger Vater, mich haben wollte: »Enthalte einem Knaben die Züchtigung nicht vor; denn wenn du ihn mit der Rute schlägst, wird er nicht sterben. Schlägst du ihn mit der Rute, so wirst du seine Seele von der Hölle retten.«2 Ich hatte gehört, wie er das einmal laut aus seiner alten Bibel las – und er schien das wörtlich zu nehmen. Und weil es ihm nicht gelungen war, mir diese Unart, mein augenscheinlich verkehrtes Sein auszutreiben, musste ich nun selbst alles tun, um es loszuwerden, es zu unterdrücken oder zumindest zu verstecken – auch wenn ich in der Bibelstunde im Kommunionsunterricht noch etwas anderes gelernt hatte: »Ihr Väter! Reizet eure Kinder nicht zum Zorne, damit sie nicht mutlos werden.«3 Das waren Paulus’ Worte an die Christen in Kolossä.
Und Paulus hatte recht, denn genauso war es nun geschehen: Ich war angstvoll und mutlos geworden. Und obwohl mein Vater schon zu etlichen früheren Gelegenheiten die Rute oder den Teppichklopfer hervorgeholt hatte, um mich und meinen Bruder zu bestrafen, so hatten die Prügel an jenem Tag doch etwas mit mir gemacht, was so noch nie geschehen war: Obwohl meine Knochen heil geblieben waren, fühlte ich mich zerbrochen – und lebte fortan in abgrundtiefer Angst vor meinem Vater, lebte in ständiger Panik, etwas falsch zu machen. Die Angst erdrückte mich fast und war kaum auszuhalten, und so fing ich an, bei Jesus Hilfe und Zuflucht zu suchen.
Bitte, bitte sei bei mir und beschütze mich!
Ich zog mich zurück und duckte mich, lief mit gesenktem Kopf, sobald mein Vater in der Nähe war, und sah ihm nicht in die Augen. Ich gehorchte, kleidete mich jungenhaft und versuchte, mich so männlich wie möglich zu benehmen.
»Du bewegst dich wie ein Mädchen!«, behauptete Udo trotzdem, als ich ihn ein halbes Jahr später fragte, warum er mich immer noch wie ein Mädchen behandelte und auch immer noch wie eines anredete. Ich fand, dass es wahrlich nicht an meinen Klamotten oder an meinem strohblonden Pilzkopf liegen konnte, immerhin hatten Udo und auch mein Bruder dieselbe Frisur, und an diesem Nachmittag war sowieso alles unter Mützen und Schals versteckt, denn es war Winter, und wir hatten uns zum Schlittenfahren auf dem Rodelhügel außerhalb unseres Dorfes getroffen, wie die meisten anderen Kinder auch.
»Und du denkst wie eines!«, fuhr Udo fort.
»Ja? Wie denkt denn ein Mädchen?«
»Na ja, wie du eben!«
»Kapier ich nicht!«
»Siehst du?« Er warf mir eine Handvoll Schnee ins Gesicht, was ich erst recht nicht verstand, aber sicher machte er nur Spaß, immerhin waren wir beste Freunde. Ich bückte mich, griff in den Pulverschnee und formte einen Ball, den ich mit voller Wucht auf Udo warf, allerdings fiel er schon in der Luft wieder auseinander, weil der Schnee nicht pappte. Wir lachten beide, und ich warf mich auf meinen einfachen Holzschlitten, um Udo zu beweisen, dass ich schneller war als er, schneller als die anderen Jungs – der schnellste Junge von allen.
Ich zischte den Hang hinab, zwischen ein paar Fichten hindurch, über den Spazierweg hinüber, bis zum kleinen Bach ganz unten, rasend schnell, sodass mir der feine Schnee in die Augen flog und mich blinzeln ließ, und dennoch war Udo schneller und fuhr mir mit Vollkaracho hinten drauf, bevor ich am Bachbett zum Stehen kam. Da er einen dieser etwas größeren Hörnerschlitten besaß, einen Gebirgsrodel mit runden Vorderbügeln, glitt er nahezu ungebremst auf meine niedrigere Sitzfläche und krachte in mein Steißbein, dass mir Hören und Sehen verging.
Von nun an wurde ich bei bestimmten Bewegungen immer wieder daran erinnert, dass Udo schneller war als ich, obwohl sein Tempo natürlich durchaus an seinem professionelleren Schlitten gelegen haben könnte.
Ich dachte an Udo, wenn ich beim Klavierüben mit gestrecktem Rücken auf der Holzbank saß und mein Steißbein spürte, und ebenso, wenn ich besonders lange in der Schule saß – seit dem Sommer ging ich aufs Gymnasium im Nachbardorf –, doch hier tat nicht nur mein Hinterteil weh: Es schmerzte mich außerdem, dass ich nun nach der Schule immer ins angegliederte katholische Tagesheim gehen musste. Ich fühlte mich abgeschoben von meinen Eltern, denn niemand sonst aus meinem Freundeskreis ging ins Tagesheim, auch nicht mein Bruder, der nachmittags zu Hause sein durfte.
»Habt ihr mich denn nicht mehr lieb?«, fragte ich mehr als einmal, und natürlich glaubte ich, dass alles irgendwie zusammenhing, mein weibliches Sein, meine Sanftheit, meine Zartheit, der Tag, an dem mein Vater mich halb totschlug, und die Ratlosigkeit meiner Mutter. »Doch natürlich!«, antwortete sie zwar stets, und manchmal strich sie mir über den Kopf oder reichte mir eins von den Plätzchen, die sie – ohne mich – gebacken hatte, aber ich zweifelte, fühlte mich unglücklich, ungeliebt und überfordert. Ich kam in der Schule nicht klar, schrieb schlechte Noten und litt unter der ständigen Angst, in meiner Klasse auf dieselbe Ablehnung zu stoßen wie zu Hause.
Ich war schüchtern – und ich war eingeschüchtert. Trotzdem gab ich mir auch in der Schule Mühe, möglichst männlich zu erscheinen und mich anzupassen, doch ich merkte von Anfang an, dass ich nicht dazugehörte, dass ich mich mit den Jungen in meiner Klasse überhaupt nicht identifizieren konnte.
Aber ein Mädchen war ich schließlich auch nicht. Also, was war ich denn nun? War ich vielleicht schwul? Immerhin hatte ich einmal einen meiner Mitschüler sagen hören, dass feminine Jungen immer schwul seien. Konnte das wahr sein? Oh Gott. Bitte nicht! Auf gar keinen Fall wollte ich schwul sein, denn die Klassenkameraden rissen schwulenfeindliche Witze, machten sich über Homosexualität lustig, und nichts wollte ich weniger, als mit »Ey, du Schwuchtel« oder »Hey, du schwuler Waschlappen« angepöbelt und gemobbt zu werden – zumal mein Vater Lehrer an derselben Schule war: Was, wenn ihm das zu Ohren käme? Da litt ich lieber weiter stumm, und ich verspürte eine fürchterliche Scham, die mit der Zeit immer größer wurde.
In jenem Jahr, zu Beginn meiner Gymnasialzeit, dachte ich erstmals an Suizid, und als ich in die Pubertät kam, wurden diese Gedanken meine ständigen Begleiter. Wie schön wäre es doch, wenn dieses Unglück ein Ende haben könnte!
Aber immer wieder hielt mich etwas ab. Immer wieder halfen mir meine Gespräche mit Jesus, half mir mein Glauben, zu leben und zu überleben.
1975 bei der Erstkommunion
»Um Gottes Willen, was ist denn mit dir passiert?«, vernahm ich die erschreckte Stimme meiner Mutter schon von Weitem, als ich eines regnerischen Herbstnachmittags nach Hause kam. Blut tropfte von meinem linken Arm, rann mein Handgelenk hinunter bis zu meinen Fingerspitzen. »Geschnitten«, antwortete ich kurz, als sie mir mit Pflaster und Verbandszeug zu Hilfe eilte. »Wie? Wie ist das passiert?«, drängte sie, doch ich antwortete ihr nicht.
Zwölf Jahre war ich alt, als ich an jenem Tag begann, mir die Haut zu zerschneiden und mich selbst zu verletzen. Ich wusste nicht, warum ich das tat, aber an diesem Herbsttag konnte ich dem Verlangen nicht widerstehen, mir auf dem Nachhauseweg eine Glasscherbe zu suchen und sie auf die Innenseite meines Unterarms zu drücken. Ich stand draußen auf dem Schotterweg im Regen, nicht weit von unserem Haus entfernt, und mit angehaltenem Atem presste ich fester und immer fester, bis ein Blutstropfen erschien. Erst jetzt stieß ich meinen Atem aus. Ich starrte auf das leuchtende Rot, das sich sofort mit den Regentropfen vermischte und von diesen an meinem Arm heruntergespült wurde. Ich fühlte mich erleichtert, jedenfalls für kurze Zeit.
Doch dann begannen die Albträume, diese fürchterlichen grellen Visionen.
Und kein Mensch konnte mir hier helfen, weder meine Mutter noch sonst irgendjemand, denn zu furchtbar waren die Träume, zu schlimm, um darüber zu reden – oder selber drüber nachzudenken: Wann immer ich die Bilder im Geiste zu fassen versuchte, fiel ein dunkler Vorhang in meinem Kopf hinunter, denn die Grausamkeit, die ich erblickte, die brutale Gewalt an mir, an meinem Körper, war unerträglich.
Natürlich fragte ich mich, wo diese Bilder herkamen. Ich hatte keine Ahnung, hatte keine Erinnerung, doch ahnte ich, dass irgendetwas passiert sein musste, etwas, das diese Träume auslöste, die zudem auf eigenartige Weise mein Bedürfnis nährten, mir Wunden zuzufügen, mir wehzutun.
Jedes Mal verschaffte mir der Schmerz Erleichterung. Jedes Mal nahm er den Druck von meiner Seele, als wären die Wunden ein Ventil, und gleichzeitig wurde meine Aufmerksamkeit, wurde mein Fokus woanders hingelenkt – weg von meinen diffusen verdunkelten Gedanken, die um die Träume kreisten, ohne sie je zu erreichen, hin zum konkreten Schmerz und der zerstörten blutigen Haut, die ich sehen, spüren und anfassen konnte und über die ich die alleinige Kontrolle besaß. Die Verletzung meines Körpers praktizierte ich ungefähr einmal im Monat, und mittlerweile tat ich es so, dass niemand etwas merkte, an Körperstellen, die niemand sah.
Und so ahnte weder zu Hause noch in der Schule oder im Tagesheim irgendjemand etwas von meinem Schmerz. Auch in unserer Pfarrei, in der mein Vater den Chor leitete und die Orgel spielte und in der ich selbst als Ministrant viel Zeit verbrachte, wusste kein Mensch davon.
Der barocke Innenraum unserer Dorfkirche war prächtig, hell und mit vielen goldbesetzten Details ausgestattet, sogar ein Deckengemälde gab es. Meistens hing der Duft von Weihrauch in der Luft, den ich liebte, und alles glänzte und leuchtete, vor allem der Altar mit seiner plastischen Darstellung von Jesus am Kreuz: Dieses Herzstück unserer Kirche war besonders prunkvoll, von goldenen Schnörkeln und Cherubinen umsäumt, mit Kerzen bestückt, und die Jesusfigur war so detailgetreu geschnitzt und bemalt, dass sie beinahe lebensecht wirkte: Ihr Kopf mit dem fein gestalteten Gesicht neigte sich nach rechts zur Seite, als hätte sie eben noch auf die Wunde unterhalb ihrer Brust geschaut und auf das Blut, das daraus sickerte. Sorgfältig gemalte Blutstropfen waren auch unter den derben Nägeln zu sehen, die Hände und Füße ans Kreuz fixierten, ebenso auf der Stirn, unterhalb der Dornenkrone.
Jedes Mal, wenn ich den Hauptgang Richtung Altar hinunterschritt – und das tat ich als Messdiener oft – war mein Blick fest auf Jesus gerichtet, und ich war so voller Ehrfurcht, dass ich eine Gänsehaut bekam. Wenn ich dem Priester dann die Bücher oder liturgischen Geräte zum Altar reichte, wenn die Gemeinde zum Gebet aufstand, wenn wir sangen oder ich das Weihrauchfass schwenkte, dann spürte ich Jesus ganz nah, spürte sein Wohlwollen und seine Güte, und manchmal war das Gefühl so stark, dass es überall in meinem Körper kribbelte.
Ich war sehr gern in dieser Kirche, es war ein wunderschöner, stiller und friedlicher Ort, in dem ich mich viel weniger verloren fühlte als anderswo, und die stetige Nähe zu Jesus gab mir ein Gefühl der Sicherheit. Dennoch kam der Punkt, an dem ich mich auch hier überfordert fühlte, denn die Aufgaben, die ich – oder besser: die mein Vater – mir aufgebürdet hatte, waren kaum alle zu bewältigen: Neben meinem regulären Ministrantendienst half ich mit der Orgel, zog und schob die Register, blätterte die Noten um oder spielte selbst, in der Christmette und zu anderen besonderen Gelegenheiten. Außerdem sang ich im Chor – und musste daneben natürlich noch zur Schule, ins Tagesheim, zum Musikunterricht, musste Hausaufgaben machen, lernen und Klavier üben. Dazu spielte ich Geige im Schulorchester – für meinen Vater, den Musiklehrer, eine Selbstverständlichkeit: Sein Erwartungsdruck lastete so schwer auf meinen Schultern, dass ich mich noch tiefer duckte, als ich es in meinem Bemühen, jungenhaft zu erscheinen, ohnehin schon tat. Doch ich gab alles, um den Wünschen und Erwartungen dieses Mannes gerecht zu werden, ganz so, wie ich es mir vorgenommen hatte, auch wenn es immer schwieriger wurde. Wie beneidete ich insgeheim meinen Bruder Armin, der die Hauptschule besuchte, an den keine astronomisch hochgesteckten Erwartungen gestellt wurden und der sich so ein schönes Leben machen konnte! Wie gern hätte ich mit ihm getauscht, hätte ich unbesorgt in den Tag gelebt und getan, wozu ich Lust hatte! Stattdessen blieb für meine eigenen Bedürfnisse immer weniger Zeit. Obwohl ich zu gern einfach mal was gelesen, Musik gehört oder mir Bilder angesehen hätte, ohne dabei gleichzeitig etwas leisten zu müssen, blieben diese Wünsche unerfüllt.
Vielleicht träumte ich deswegen so viel. Nicht nur nachts, sondern auch tagsüber. Ich träumte im Unterricht, konnte mich immer weniger konzentrieren und schrieb dementsprechend immer schlechtere Noten – und die waren ja seit der Grundschule ohnehin schon nicht mehr gut gewesen.
»Simon!«, riss mich schließlich auch am 6. Dezember 1978 die strenge Stimme unseres Klassenlehrers aus meinen Tagträumen. Die erste Schulstunde war gerade angebrochen, und draußen war es noch nicht ganz hell. Ich hatte durchs Fenster ins Zwielicht gestarrt und meinen Blick an kahlen farblosen Bäumen vorbei in die trostlose winterliche Leere driften lassen, als Herrn Eckarts Stimme mich in die harsche Realität des neonbeleuchteten Klassenzimmers zurückholte. Der Lehrer neigte den Kopf, sah mich über seine halbrunden Brillengläser hinweg an, und ein halb amüsiertes, halb gehässiges Grinsen erschien auf seinem Gesicht: »Komm her und stell dich vor die Klasse!«
Oh nein, bitte nicht! Wie jedes Jahr war es Zeit für die Gaben des Nikolaus, eine Prozedur, die mich sowohl in der Schule als auch zu Hause mit Grauen erfüllte, hatte ich doch über die Jahre schon allzu oft mit Ruprechts Rute Bekanntschaft machen oder andere Demütigungen über mich ergehen lassen müssen. Vor allem in der Schule wurden diese ausführlich zelebriert, und mit seinen wilden grauen Haaren und einem ebensolchen Bart entsprach Herr Eckart zwar eigentlich dem Klischee des genialen Professors, er konnte aber durchaus auch als der heilige Sankt Nikolaus durchgehen – oder als Knecht Ruprecht, wenn man sich seinen bösen Blick und die schiefen Zähne so ansah. Mir rutschte das Herz in die Hose, ich fühlte mich ertappt und wusste genau, dass ich kein schönes Geschenk erhalten würde.
»Du hast dir in diesem Jahr wahrlich keine Belohnung verdient, mein lieber Simon, wenn ich mir so deine Noten ansehe …«, sprach dann auch sogleich Herr Eckart, »Latein fünf, Mathe vier minus …«, er schüttelte missbilligend den Kopf, »aber ist es denn ein Wunder? Du bist ja gar nicht wirklich hier! Wer weiß, wo dein Geist wandelt, doch sicher nicht in unserem Klassenzimmer!« Er sah sich um, als erwarte er zustimmendes Lachen – was nicht lange auf sich warten ließ. »Was auch immer du während deiner Träumereien siehst, muss sehr spannend sein. Vielleicht willst du es ja beizeiten mit uns teilen?« Mir wurde heiß und kalt und ich merkte, wie mir das Blut in den Kopf schoss, als ich langsam nach vorn ging und mich vor die Klasse stellte.
Während ich dort wortlos verharrte, füllte Herr Eckart ein großes Glas mit Wasser, dann reichte er mir ein Rohr, ähnlich einem Fernrohr oder einem Kaleidoskop, durch das ich hindurchschauen sollte. Das Rohr war völlig hohl, ohne Glas oder Linsen darin, und ich wunderte mich noch darüber, als ich auch schon das kalte Wasser in meinem Auge spürte – Herr Eckart hatte es aus dem Glas ins andere Ende des Rohrs gekippt, und der Strahl schoss mit solcher Wucht auf meine Pupille, dass ich das Lid nicht rechtzeitig schließen konnte. Ich zuckte vor Schreck und Schmerz zusammen, schnappte nach Luft, und so geriet Wasser in meinen Mund, was zu einem fürchterlichen Hustenkrampf führte – ich dachte, ich müsse jämmerlich ersticken. Das Wasser lief dann über mein Gesicht und weiter hinunter, über meinen Wollpullover, meine Hose, bis auf die Schuhe: Schließlich war ich klatschnass und stand neben dem Lehrerpult wie ein begossener Pudel, sehr zur Erheiterung der gesamten Klasse, deren schallendes Gelächter man bestimmt noch zwei Räume weiter hören konnte.
Am liebsten wäre ich im Boden versunken oder tot umgefallen, doch ich schlich schweigend und tropfend zu meinem Platz zurück und setzte mich. Das einzig Tröstliche war, dass es zwei meiner Mitschüler, die besonders unordentlich gewesen waren, noch schlimmer traf: Auf sie wartete die Schweinebox, eine mit Mist gefüllte Viehtransportkiste, in die sie hineinkriechen mussten und nach der sie für den Rest des Tages stinken würden.
Nach dieser Schulstunde stahl ich mich, wie schon oft zuvor, in die Schulkapelle. Die Kapelle war kleiner und einfacher als unsere Dorfkirche, aber sie lag direkt neben dem Schulgebäude, und es gab sogar einen Seiteneingang, den man direkt vom Schulflur aus erreichen konnte. So konnte man nahezu unbemerkt abtauchen, kurz verschwinden, und wann immer ich es nicht anders aushielt, kam ich hierher – in der Kapelle fühlte ich mich geschützt vor der Welt, geborgen wie in einem Kokon: Alle irdischen Probleme fühlten sich weit weg an, sie reichten nur gedämpft an mich heran, sodass ich verschnaufen und mich etwas ausruhen konnte.
Doch an diesem Tag kam ich nicht zur Ruhe, und alles fühlte sich besonders unerträglich an. Warum nur war mein Leben so schlimm? Warum war es so schwierig? Und warum war ich denn so, wie ich war? Tränen standen in meinen Augen, den Schmerz der Wasserattacke spürte ich auch noch darin, und ich fragte mich, wie ich so ein Leben überhaupt aushalten sollte – ich war doch erst zwölf, und es schienen noch so unendlich viele Jahre des Schreckens vor mir zu liegen, dass ich mir nichts sehnlicher wünschte als das Ende von allem.
An diesem Tag blieb ich länger in der Kapelle als sonst, ich blieb so lange, dass ich die nächste Schulstunde verpasste, was mir sicher einen Eintrag ins Klassenbuch und eine weitere schlechte Note bescheren würde. Doch ich konnte nicht anders. Ich kniete nieder und betete, sprach mit Jesus und konnte gar nicht mehr aufhören: »Jesus, ich brauche dich!«, flüsterte ich zwischen den Gebeten, »bitte sei bei mir! Steh mir bei!« Ich schloss meine Augen. »Was willst du, dass ich mache? Sag es mir! Was soll ich tun?« Ich atmete mehrere Male tief durch. »Jetzt bin ich ruhiger.« Ich wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln. »Ich fühl mich besser.« Und so fand ich Zuversicht – Jesus wollte nicht, dass ich tot war, das jedenfalls spürte ich ganz deutlich, als ich schließlich die Kapelle verließ.
Ein halbes Jahr später hatte ich dennoch keine Antworten auf die wichtigsten Fragen meines Lebens erhalten. Wer oder was war ich eigentlich? Immer wieder antwortete mir mein Kopf: ein Junge. So sagten es meine Lippen, so sagte es mein Vater, und so sagte es auch die Beule in meiner Hose – mein Penis und meine Hoden – derer ich mich mehr und mehr schämte. Denn mein Herz und mein Gefühl sagten etwas anderes – obwohl ich versuchte, nicht hinzuhören.
Aber auch die Leute sagten ja etwas anderes, sollte ich auf sie denn gar nicht hören? Es war schließlich nicht nur Udo – auch andere, vor allem die Jugendlichen aus den höheren Klassen meiner Schule, stellten mir manchmal eigenartige Fragen. Einmal zum Beispiel, als ich vor meinem Spind im Keller unseres Schulgebäudes stand, um mich für den Sportunterricht umzuziehen, da schlenderte ein Oberstufengrüppchen vorbei, und ein Mädchen aus der Gruppe lächelte mich an. Der junge Mann neben ihr grinste ebenfalls, aber auf einmal kam mir sein verzogener Mund überhaupt nicht mehr freundlich vor: »Bist du nun ein Junge oder ein Mädchen?«, fragte er, dabei warf er seine Haartolle nach hinten und steckte die Daumen lässig in die Gürtelschlaufen seiner eng sitzenden Jeans. Er sah so übermächtig stark und männlich aus! Ich hingegen …
Ich senkte meinen Kopf und sah an mir hinunter, sah meinen dünnen Bauch und weiter unten meine schlabbrige Sporthose, aus der meine Beine wie fehl am Platz hervorguckten, und alles schien irgendwie unförmig und unproportional zu sein. Ich wusste nicht, was ich dem älteren Jungen antworten sollte, er war ohnehin schon weitergegangen, doch das Mädchen an seiner Seite, eine schlanke wohlproportionierte Schönheit mit langen blonden Haaren und tollem Hüftschwung, drehte sich noch einmal zu mir um, und plötzlich wurde mir klar, dass ihr Lächeln voller Mitleid war.