Ich brauche euch zum Leben - Annette Rexrodt von Fircks - E-Book

Ich brauche euch zum Leben E-Book

Annette Rexrodt von Fircks

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Beschreibung

Ein wichtiges Buch über die Bedeutung von Zusammenhalt und Vertrauen Wenn ein Mensch die Diagnose Krebs erhält, bricht nicht nur für ihn eine Welt zusammen. Nein, auch für seine Freunde und Angehörigen ändert sich vieles. Umso wichtiger, dass man nun zusammensteht – dass man eine Krebstherapie nicht als individuelle Leidenszeit betrachtet, sondern als Gemeinschaftsprojekt mit einem gemeinsamen Ziel: der Erkrankte soll wieder gesund werden. Anhand ihrer eigenen Erfahrungen erzählt Anette Rexrodt von Fircks davon, worauf es für Krebskranke und ihre Vertrauten ankommt, um die bleierne Zeit der Therapie gemeinsam zu ertragen und wie wichtig es ist, miteinander zu reden: über Wünsche und Ängste, über Möglichkeiten und Grenzen.

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Das Buch

Auf vielen Lesungen und Vorträgen erfuhr Annette Rexrodt von Fircks, dass die Angehörigen und Freunde von Krebskranken oft noch verzweifelter sind als die Patienten selbst. Sie wissen nicht, wie sie wirklich helfen können, haben zuweilen das Gefühl, völlig nutzlos zu sein, und natürlich Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren. In diesem wichtigen Buch zeigt die Autorin anhand ihres eigenen Beispiels, wie man es mit Hilfe der Familie und von Freunden schafft, mit dem Krebs zu leben. Der Weg dorthin mag nicht einfach sein, aber je mehr man sich bemüht, einander zu verstehen und mit Liebe zu begegnen, desto eher wird man auch gelegentliche Missverständnisse und das Gefühl der gegenseitigen Überforderung überwinden. Ein Buch, das allen Betroffenen Hoffnung macht in einer schwierigen Situation.

»Annette Rexrodt von Fircks schenkt Krebskranken neuen Mut.«

Bild der Frau

Die Autorin

Annette Rexrodt von Fircks, geboren 1961 in Essen, ist diplomierte Übersetzerin und Dolmetscherin für Englisch, Französisch und Spanisch. Mitten im Leben und als Mutter von drei kleinen Kindern erhielt sie die Diagnose, sie habe Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Die Ärzte gaben ihr eine Überlebenschance von 15 Prozent. Seither sind 18 Jahre vergangen – und es geht ihr gut. Heute schreibt Annette Rexrodt von Fircks Bücher und referiert im In- und Ausland, um einen Teil dazu beizutragen, den Krebs überwindbar zu machen. 2005 gründete sie die Rexrodt von Fircks Stiftung für krebskranke Mütter und ihre Kinder. 2006 wurde sie von Bild der Frau für ihr Engagement zur »Frau des Jahres« gewählt. Für ihr Stiftungsprojekt gemeinsam gesund werden erhielt sie mehrere Auszeichnungen.

Von Annette Rexrodt von Fircks sind in unserem Hause bereits erschienen:

… und flüstere mir vom Leben

… und tanze durch die Tränen

Dem Krebs davonleben

Annette Rexrodt von Fircks

ICH BRAUCHE EUCH ZUM LEBEN

Gemeinsam den Krebs besiegen

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1211-8

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016Die Originalausgabe erschien 2004 im Rowohlt Taschenbuch VerlagUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: Carmen Lechtenbrink

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für meine Liebsten

Inhalt

Über das Buch und die Autorin

Titelseite

Impressum

Widmung

Anmerkung der Autorin

Ein Morgen im Frühling

Mit dem Krebs leben lernen?

Den Diagnoseschock überwinden

Ich habe Krebs

Familie und Freunde erfahren von der Diagnose

Was wir glauben, über Krebs zu wissen

Ängste und Bedürfnisse zeigen

Überlebenswichtige Entscheidungen treffen

Ich lebe – jetzt!

Auf der Suche nach kompetenten Medizinern

Teamarbeit im Kreis der Angehörigen

Die erste Zeit im Krankenhaus – Gefühle und Reaktionen

Wir wagen keine Tränen

Gemeinsames Gespräch beim Arzt

Warum wir unsere Gefühle verbergen

Meine Freundin Carmen macht mir Mut

Abschied von meiner Brust

Mein Mann ist bei mir

Tränen wollen fließen

Die Entscheidung, selbst aktiv zu werden

Was besagt mein Befund, und was bedeutet Statistik?

Mein Mann und ich verlieren uns

Extrem gegensätzliche Verhaltensweisen

Heilung unterstützen

Mein Wille zur Selbsthilfe

Erster Besuch von Familie und Freunden

Lebensqualität im Krankenhaus

Wenn sich die Familie körperlich und seelisch überfordert fühlt

Die Therapie annehmen

Chemotherapie macht Angst

Die Therapie als Freund?

Die Aufklärung durch den Arzt

Nebenwirkungen treten ein

Einander helfen

Wieder in den Alltag finden

Mein Mann und ich kommen uns näher

Kinder brauchen Wahrheit

Sexualität während der Erkrankung

Zweifel und Ängste nach der Therapie

Über das Sterben reden

Hat der Krebs gestreut?

Carmen ist jeden Tag an meiner Seite

Ich muss über den Tod nachdenken

Leben leben

Ein Morgen im Frühling – elf Jahre oder viertausendfünfzehn Morgen später

Es grünt so grün …

Adressen, die weiterhelfen können

Literaturempfehlungen

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Liebe Leserin, lieber Leser,

dieses Buch hat ein so großes, positives Echo gefunden, dass ich mich über diese neue, von mir überarbeitete Ausgabe sehr freue. Das überwältigende Feedback meiner Leser zeigte mir deutlich, wie groß der Einschnitt auch heute noch ist, wenn Krebs uns trifft: «Plötzlich hört die Erde einfach auf, sich zu drehen. Es wird still. Es gibt kein Oben und kein Unten mehr …» Fast jeder Betroffene beschreibt den Moment der Diagnosemitteilung in dieser Weise. Auch für die Partner und andere engste Angehörige steht die Welt erst einmal Kopf, wenn der geliebte Mensch lebensbedrohlich erkrankt. Vieles wird in Frage gestellt, die Liebe ist nicht mehr «selbstverständlich», gemeinsame Pläne zerbrechen. Von jetzt auf gleich gilt es, eine ganz neue Sprache, nämlich die der Krebserkrankung und der Therapie, zu verstehen und ein gänzlich fremdes Land zu betreten: die Krebsstation in der Klinik, das onkologische Zentrum am Ort; aber auch ein Land der Ängste, der Ungewissheit und Hilflosigkeit, der Traurigkeit und Einsamkeit.

Umso wichtiger ist es, mit diesen zumeist neuen und verwirrenden Gefühlen umgehen zu lernen, aber auch, die Bedeutung der Hoffnung zu erfahren, sie zu pflegen und zu bewahren sowie eine heilsame Sprache zu erlernen und füreinander da zu sein. Auch der mitfühlende Arzt und die Menschlichkeit im Klinikalltag tragen einen erheblichen Teil dazu bei, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern, was wiederum den Heilungsprozess unterstützen kann. Gemeinsam ist es möglich, eine solch schwere Lebenskrise zu überwinden. Hierfür gibt es zwar keinen allgemeingültigen Leitfaden, aber wir können voneinander lernen, uns gegenseitig stärken, Mut und Zuversicht weitergeben und, ja, auch Leid teilen.

Zum besseren Verständnis dieser Neuausgabe: Wenn ich in einigen Textpassagen von «heute» erzähle, dann befinde ich mich im Jahr 2004 – dem Jahr, in dem auch dieses Buch das erste Mal veröffentlicht wurde. Über die wichtigsten Ereignisse der vergangenen elf Jahre meines Lebens schreibe ich im letzten Kapitel.

Annette Rexrodt von Fircks,

Ein Morgen im Frühling

Es ist das Singen der Vögel, das mich in den letzten Wochen schon frühmorgens aufweckt. Wenn die ersten Sonnenstrahlen sich mit dem Dunkel der Nacht unter dem Horizont vermischen, es allmählich heller wird, setzt ein unüberhörbares Konzert ein. Ich meine, einige Stimmen wiederzuerkennen, einen Dialog in ihrer Musik zu finden. Es ist schön, sie zu hören, und ich verspüre Lust, aufzustehen und den Tag zu begrüßen. Auf Zehenspitzen schleiche ich nach unten. Jo schläft noch, und ein Blick ins Kinderzimmer zeigt einen kleinen Haufen ineinander verschlungener, selig schlummernder Kinder. Meine drei wollten vergangene Nacht in Schlafsäcken auf dem Fußboden schlafen. Ich erlaubte es, und sie haben gejubelt.

Wie so häufig morgens, gehe ich hinaus in unseren Garten. Ich habe es mir angewöhnt, nach dem Aufwachen die erste Zeit des Tages bewusst zu nutzen: für Meditationen, Atem­übungen, aber auch für das Nachdenken über meine Wünsche, Ziele und Pläne. Manchmal lasse ich mich nur einfangen von dem, was ist. Auch heute ist mir wieder, als würde die Natur mich zu ihrem einzigartigen Schauspiel einladen, um ein Teil von ihr zu sein. Ich stehe mittendrin, im munteren Gesang der in den Bäumen verborgenen Vögel. Nebelschwaden ruhen in dünnen Schichten über der Wiese. Das Licht ist milchig, alles wirkt ein bisschen unwirklich. Kühle Luft füllt meinen Atem, und ihre Feuchtigkeit legt sich wie ein seidener Mantel auf meine Haut. Barfuß betrete ich den taunassen Rasen und setze ganz langsam einen Fuß vor den anderen. Abertausende Tautröpfchen an den Grashalmen lassen alle Schläfrigkeit der Nacht verschwinden und klären meine Sinne. Ich bin jetzt ganz wach. Ein Glücksgefühl kribbelt in mir hoch – unbeschreiblich –, dabei ist gar nichts Außergewöhnliches passiert.

»Tee ist fertig«, höre ich auf einmal meinen Mann Jo aus unserer Küche rufen. In Bademantel, Hausschuhen und mit einem großen Humpen schwarzem englischem Tee in jeder Hand kommt er mir entgegen.

»Ah, ich sehe, du kneippst schon wieder.« Ein Kuss landet auf meiner Wange, ein Teebecher in meiner Hand. »Das gönn ich mir jetzt auch«, flachst er, und seine Schlappen fliegen auf die Terrasse.

Barfuß stehen wir auf dem nassen Rasen und trinken heißen Tee an einem ganz gewöhnlichen Morgen eines ganz normalen Wochentages.

Heute schreibe ich die ersten Zeilen dieses Buches.

Mit dem Krebs leben lernen?

Jeder Mensch hat zu jeder Zeit in seinem Leben, ganz gleich, wie alt er ist, ein gewaltiges Lernpensum absolviert. In der Schule stehen Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Sprachen und vieles mehr auf den Unterrichtsplänen; außerdem wird uns Benehmen und soziales Verhalten beigebracht. Wir lernen, um uns in dieser Welt zurechtzufinden, um alleine auszukommen oder eine Familie gründen und ernähren zu können. Was wir aber nicht lernen, ist, große Lebenskrisen zu bewältigen, wenn zum Beispiel wir oder der Partner lebensbedrohlich erkrankt oder wir den Verlust eines geliebten Menschen durch Unfall oder Krankheit überwinden müssen. Weder in der Schule noch an der Universität oder im Beruf hat man uns Wege aufgezeigt, solche Situationen auszuhalten und zu meistern.

Viele Jahre ist es nun her, als das Leben meiner Familie und mir seine uns bisher verschlossenen Türen des Leids öffnete und uns gnadenlos herausforderte. Ich erfuhr, dass ich Krebs im weit fortgeschrittenen Stadium hatte. Völlig unvorbereitet wurden wir aus dem vertrauten Alltag gerissen. Wer hatte auch schon damit gerechnet, dass der Tod seine Krallen nach mir, die ich gerade erst 35 Jahre alt war, ausstrecken wollte? Krebs in solch jungem Alter? Unter diesen Kandidaten hatte ich mich nie vermutet. Doch Krebs macht vor keinem Alter Halt und hat vor niemandem Respekt.

Insgesamt leben rund fünf Millionen krebskranke Menschen in Deutschland. Ungefähr 360 000 erkranken jährlich neu, das bedeutet, alle anderthalb Minuten erfährt ein Mensch in Deutschland die Diagnose Krebs. Das sind schreckenerregend hohe Zahlen. Aber nicht nur die fünf Millionen Erkrankten sind davon betroffen, ebenso sehr zählen die Angehörigen und Freunde dazu, also Aber- und Abermillionen mehr Menschen. Krebs geht uns alle an! Fast jeder hat jemanden in seinem Familien- oder Freundeskreis, der an dieser Erkrankung leidet.

Seit Veröffentlichung meines ersten Buches »… und flüstere mir vom Leben« im Jahr 2001 halte ich in ganz Deutschland Vorträge und Lesungen. Ungefähr gleich viele Angehörige wie Betroffene sind unter den Zuhörern. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Angehörigen, die Partner und Freunde verzweifelter sind als die Kranken selbst. Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit höre ich in ihrer Frage: »Wie kann ich bloß helfen?« Ihre Äußerungen sind alle ähnlich: »Ich fühle mich alleingelassen mit diesen Problemen«, »Man hat das Gefühl, völlig nutzlos zu sein«, »Ich fühle mich wie ein Versager«, »Ich tu alles, aber nichts kommt an«, »In mir ist grenzenlose Leere«, »Ich habe wahnsinnige Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren«. Angehörige und Freunde sind in hohem Maße einem ganz besonderen Druck ausgesetzt. Auf der einen Seite verspüren sie das innere Bedürfnis, dem Kranken unbedingt helfen zu wollen, weil die Liebe so groß ist und das Verantwortungsbewusstsein sie dazu treibt. Auf der anderen Seite hindert sie Unsicherheit, was denn nun angesichts der Schwere und Bedrohlichkeit der Erkrankung wirklich helfen könnte, daran, die richtigen Entscheidungen zu treffen sowie Hilfe anzubieten oder auch andere Menschen um Hilfe zu bitten. Viele wollen helfen, stark sein, wissen aber meistens nicht, wie. Manche tun auch zu viel des Guten, wollen alles managen und meinen, in jeder Hinsicht bestens Bescheid zu wissen. Häufig jedoch stellen Angehörige ihre eigenen Ansprüche völlig zurück, leiden im Stillen, weil sie sich als Gesunde ja nicht beklagen wollen, übernehmen sich irgendwann, brennen aus, werden selbst krank und können dann dem Kranken nicht mehr helfen. Ihre Belastungen, Sorgen und Nöte sind immens. Dabei benötigen wir, die Erkrankten, in jeder Phase des Leidens so dringend die Hilfe von Familie und Freunden. Sie sind alle unentbehrlich, um wieder gesund werden zu können.

Ich weiß nicht, ob ich es ohne meine Familie und meine Freundin Carmen geschafft hätte, die zahlreichen durch die Erkrankungen hervorgerufenen Krisen zu bewältigen und vor allem: wieder stark zu werden. Als man mir damals die niederschmetternde Diagnose mitteilte, waren wir zunächst erst einmal alle wie erstarrt. Schock, Verwirrung und Ungläubigkeit bestimmten unseren Tag, und es hat einige Zeit gedauert, bis wir wieder klare Gedanken fassen und Entscheidungen treffen konnten. Es war wohl die härteste Schule des Lebens, durch die wir haben gehen müssen. In ganz kleinen Schritten, schließlich über Jahre, haben wir Lösungen für die vielen Probleme und Sorgen, die der Krebs ausgelöst hatte, gefunden. Wo lasse ich mich behandeln? Wie finden wir einen Spezialisten? Wer betreut die Kinder? Was sagen wir ihnen? Wie gehen wir mit unseren Gefühlen um, mit Angst, Traurigkeit, Verzweiflung? Wer macht wann Besuche im Krankenhaus, wer bringt was mit? Wer kocht, wer kauft ein? Wie können wir uns gegenseitig trösten, uns Mut machen? Nur mit der Zeit sind wir ein Team geworden, unterstützen uns gegenseitig, sind füreinander da. Wir haben gelernt, uns zu organisieren, Aufgaben zu verteilen, Gefühlen Ausdruck zu geben, sie einzugrenzen, und wir haben von neuem erlernt, uns wieder freuen zu können und den Augenblick zu leben. Wenn jeder Einzelne aktiv wird, das Geschehene akzeptiert und Verantwortung übernimmt, dann vergeht auch allmählich das Gefühl des Ausgeliefertseins, verringert sich die Angst vor dem Ungewissen, und gleichzeitig verstärkt sich die Zuversicht, eine Richtung zu haben und das Schicksal mitbestimmen zu können. Dann kann Leben wieder lebendig werden und für den Erkrankten und die Angehörigen ein heilsames Klima entstehen.

Mein Wunsch ist es, mit diesem Buch Mut und Hoffnung zu vermitteln. Zu selten hören wir von Überlebenden, dabei können wir gerade von ihnen viel lernen.

Natürlich gibt es kein Patentrezept. Jeder Mensch ist anders und auf seine Weise einzigartig. Jeder lebt in einer anderen, ganz persönlichen Familienkonstellation, in einem anderen sozialen Gefüge. Doch eines ist uns gemeinsam: Ein jeder braucht Liebe, Rückhalt und Verständnis. Werden diese Grundbedürfnisse beachtet und erfüllt, können wir eher nach Lösungen suchen und Entscheidungen für das Leben treffen.

Ich möchte von den Erfahrungen erzählen, die meine Familie, Freunde und ich gemacht haben, aber auch von den Menschen, die ich auf meinen Lesereisen kennengelernt habe. Wegfindungen, die weitergegeben werden müssen, weil sie zahlreiche Richtungen aufweisen, wie wir aus der vermeintlichen Sackgasse Krebs hinausfinden können. Gemeinsam.

Den Diagnoseschock überwinden

Ich habe Krebs

Im März 1998 musste ich mich wegen immer wiederkehrender Hüftgelenksentzündungen in einer Klinik an der Ostsee, weit entfernt von meinem Heimatort, behandeln lassen. Ich war 35, hatte eine junge Familie und einen interessanten Halbtagsjob. Die Ärzte versprachen, mir sollte es bald wieder besser gehen. Meine Eltern hatten die Gelegenheit genutzt, um mit meinen Kindern, sie waren drei, fünf und sieben Jahre alt, im Sauerland Urlaub zu machen. Mein Mann Jo war zu Hause geblieben, er musste arbeiten.

In der Klinik bekam ich plötzlich heftige, stechende Schmerzen in der rechten Brust.

An einem sonnigen, frühlingshaften Tag im März, nach einer Vielzahl von Untersuchungen, fiel am späten Nachmittag die Diagnose. Drei Worte. Anderthalb Sekunden. Und die Erde blieb stehen.

Ich habe Krebs.

Nicht einen kleinen Tumor, sondern einen ungemein teuflischen, der wie ein gedehntes Netz meine ganze rechte Brust umspannte. Teuflisch, weil er trotz Mammographie und Ultraschalluntersuchung unerkannt geblieben war. Teuflisch, weil er größer war als ein Tennisball und trotzdem kaum tastbar. Tödlich, weil er bereits in die Lymphknoten gestreut hatte? Tödlich, weil ich erst 35 war? Die Ärzte waren betroffen, schauten zu Boden, sprachen leise und meinten, ich müsse so schnell wie möglich behandelt werden.

Ich muss sterben, dachte ich.

Erstarrt vor Todesangst wurde ich in mein Zimmer gebracht. Ich saß auf meinem Bett und bewegte mich nicht; ich konnte nicht wirklich sehen, nicht wirklich hören, weder klar denken noch normal fühlen. An der Wand mir gegenüber stand ein Wickeltisch, darüber bewegte sich langsam im Luftzug des geöffneten Fensters ein kleines Mobile aus gelben Papierenten. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte meine Tochter Charlotte auf einer Wickelkommode gelegen und fasziniert die kreisenden Teddybärchen eines Mobiles mit großen Kuller­augen verfolgt. Erinnerungsblitze der Vergangenheit – unendliche Traurigkeit. Auf dieser Frauenstation wurde auch Leben geboren … Noch nie in meinem Leben hatte ich mich derart verlassen und einsam gefühlt. Ärzte und Schwestern glaubten mich gefasst, weil ich so ruhig war. Geschäftig, freundlich, aber wortkarg kamen sie herein und gingen wieder, ließen mich allein mit dieser schrecklichen, mir selbst völlig fremden Stille. Ich wollte sie festhalten, schreien: »Bitte, bleibt, bleibt doch, nehmt mich in den Arm, redet mit mir, holt mich raus aus diesem Zustand, ich will leben, ich will doch leben! Bitte, sagt mir, dass ich es schaffen kann! Ich habe doch Kinder!« Aber ich konnte es nicht. Die ganze Zeit verharrte ich in dieser Lähmung und war nicht einmal in der Lage, meine Familie anzurufen.

Für die Nacht erhielt ich, als Präventivmaßnahme sozusagen, eine Valiumtablette.

Noch nie zuvor hatte ich derart Schreckliches erlebt. Ein Unfallverletzter wäre mit »meinen« Symptomen sicherlich mehr überwacht worden. Man hätte sich um ihn gekümmert, mit ihm geredet. Aber mir war ja eigentlich nichts passiert, nichts »Akutes« zumindest; so war auch niemandem aufgefallen, dass ich unter schwerem Schock stand. Hätte mich doch nur jemand in den Arm genommen oder meine Hand gehalten, dann hätte ich vielleicht weinen können.

In den meisten Kliniken ist Zeit Mangelware. Dafür sorgt der drastische Stellenabbau zur Kostenreduzierung im Gesundheitswesen. Auch haben viele Ärzte Gesprächsführung und Mitteilen von lebensbedrohlichen Befunden nicht gelernt. Das ist kein Pflichtfach im Studium. Wir können also kaum erwarten, psychologisch aufgefangen zu werden, wenn die Diagnose Krebs fällt. Umso wichtiger ist es für jeden, der sich zur diagnostischen Abklärung begibt – wo immer auch diese stattfinden mag –, einen Angehörigen, Freund oder eine Freundin mitzunehmen.

Familie und Freunde erfahren von der Diagnose

Erst am Morgen »danach« rief ich Jo, Carmen und meine Eltern an. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe, und kann mich auch kaum an die Reaktionen meiner Familie erinnern. Ich war immer noch wie betäubt, alles erschien mir so unwirklich, wie in einem Albtraum. Ich erinnere mich nur noch, dass Carmen anfing zu weinen, dann den Hörer auflegte und mich kurze Zeit danach zurückrief. »Ich bin immer für dich da«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme, »ich bin immer für dich da.« Mir war, als weinte sie mit ihren Tränen auch die meinen, die einfach noch nicht fließen konnten.

Meine Eltern dagegen – ich hatte nur meinen Vater gesprochen – standen so sehr unter Schock, dass sie zunächst, genauso wenig wie ich, ihre Gefühle zum Ausdruck bringen konnten.

Mein Vater erzählte mir später, wie der Tag war, bevor ich anrief, und was dann passierte:

»Nach einem gemütlichen, ausgiebigen Frühstück waren wir gerade dabei, den Abwasch zu machen. Die Kinder sangen fröhlich Lieder; Sebastian spielte mit dem Spüli-Schaum, bauschte ihn auf seinen Handrücken zu Bergen auf, die durch die Sonnenstrahlen, die durch das kleine Küchenfenster hin­einfluteten, glitzerten bzw. ›diamanten‹, wie Sebastian es nannte. ›Alle Vögel sind schon da‹ stimmten wir gerade an, als dein Anruf kam und uns alles fortnahm. Deine Stimme war fremd. Tonlos und im Telegrammstil sagtest du mir, du müsstest sterben. Brustkrebs im Endstadium. Und immer wieder: Papa, Papa, ich muss sterben.«

Meinem Vater brach es schier das Herz, und er verstummte einfach. Meine Mutter fing an zu weinen, und Sebastian fragte sie: »Oma, warum weinst du? Hat die Mama angerufen? Weinst du wegen ihr?« Mit großen Augen schaute er zu ihr auf und versuchte, sie zu trösten: »Ach, Oma, der Mama geht es doch gut da. Sie wird ganz gesund nach Hause kommen und wieder richtig laufen können.«

»Genau, Oma«, bekräftigte Lionel, »du brauchst nicht zu weinen. Mamas Hüfte wird wieder heil gemacht.«

Charlotte hatte gar nichts mitbekommen und sang weiter.

Das war der traurigste, schrecklichste Moment im Leben meiner Eltern.

Das Telefongespräch mit Jo war kurz und knapp. Seine Re­aktion war anders als die meiner Eltern. Jo zeigte keinerlei Gefühle, weder Entsetzen noch Angst oder Traurigkeit. »Dann komm nach Hause oder lass dich direkt in eine Klinik hier vor Ort verlegen«, war sein praktischer Rat. Viel mehr sagte er nicht. Als hätte ich nur eine Blinddarmentzündung oder eine ähnlich harmlose Erkrankung. Ich stand zu sehr unter Schock, als dass ich hätte schreien können: »Jetzt komm zu mir! Ich habe Krebs!«, was ja eigentlich eine normale Gegenreaktion gewesen wäre. Jo verleugnete die Schwere der Diagnose, und umso mehr fühlte ich mich alleingelassen, ganz und gar nur auf mich gestellt.

Was wir glauben, über Krebs zu wissen

Bei der Diagnose Krebs fallen die meisten Menschen, ähnlich wie meine Familie und ich es erlebt haben, in einen schockähnlichen Zustand, der sich häufig durch Verwirrung, Erstarrung oder Verleugnung äußert. Krebs überfällt uns und schürt unbändige, nie gekannte Ängste.

Wie kommt es, dass Krebs unser Leben derart aus den Angeln heben kann, wo es doch zahlreiche andere lebensbedrohliche Erkrankungen gibt? Es sterben statistisch gesehen weitaus mehr Menschen an einem Herzinfarkt.

Was geschieht in einem solchen Moment mit uns? Erstarren wir, weil wir bei dieser Diagnose zum ersten Mal über den eigenen Tod nachdenken und uns mit ihm auseinandersetzen müssen, da er plötzlich so nah zu rücken scheint? Weil wir mit Krebs unendliches Leid verbinden, nämlich Operationen, Schmerzen, Verstümmelung, Chemo-, Strahlentherapie, Verlust der Berufstätigkeit, Siechtum und Sterben? Weil wir glauben, dass Krebs eine unheilbare Krankheit ist, die unweigerlich zum Tode führt? Woher kommen diese festen Vorstellungen?

Zum einen entstehen sie aus den Erfahrungen, die wir selbst in unserem Leben mit krebskranken Menschen gemacht haben, zum anderen aus Erzählungen von Freunden und Bekannten, aber auch aus den Medien, die fast täglich darüber berichten.

Was waren »meine« Erfahrungen mit Krebs? Mein Groß­vater war qualvoll in jungen Jahren an Krebs gestorben; ­meine Großmutter hatte Eierstock- und Gebärmutterkrebs mit nachfolgenden schmerzvollen Operationen – sie hat den Krebs aber überlebt und lebt heute noch; meine Mutter hatte in jungen Jahren Brustkrebs im Frühstadium – auch sie hat überlebt. Mit dem zusätzlichen Wissen aus Medienberichten hatte ich dann folgendes Verständnis: Krebs entsteht aus unseren eigenen Zellen, die plötzlich verrücktspielen, mutieren und sich unaufhörlich teilen. Bis heute weiß man noch nicht, warum unser Immunsystem versagt, wo die Kette der Abwehr nicht mehr funktioniert. Niemand hat so richtig die Kontrolle über die Krankheit. Krebs ist lautlos, schleichend und unheimlich. Er wächst im Verborgenen und wird oft erst sichtbar, wenn es bereits zu spät ist. Die Therapie kann qualvoll und langwierig sein, vielleicht sogar nicht einmal wirksam. Je früher der Krebs diagnostiziert wird, desto besser sind die Heilungs­chancen. Wenn die Erkrankung weit fortgeschritten ist, ist sie nicht mehr heilbar, der Tod steht sozusagen vor der Tür.

Was ich damals aber nicht wusste, war, dass es über hundert verschiedene Krebsarten gibt, die Wissenschaft in der Krebstherapie enorme Fortschritte gemacht hat, viele Krebserkrankungen geheilt werden können und es auch im fortgeschrittenen Stadium Chancen auf Heilung gibt. Dass bei Versagen einer Chemotherapie eine andere eingesetzt werden kann – vielleicht mit Erfolg. Ich wusste nicht, dass Chemothera­pien auch gut vertragen werden, ebenso Strahlen, dass ich selbst den Heilungsprozess unterstützen und die Krankheit überleben kann! Und dass Krebs meinem Leben, in winzig kurzen Augenblicken, ungeahnte, noch nie gekannte Lebendigkeit zu schenken vermag.

Wenn Betroffene erzählen, dass sie Krebs als Chance für ein neues Leben begriffen haben, wirkt das auf viele Zuhörer zunächst befremdlich, aber genau das geschieht häufig, wenn der Tod unangemeldet anklopft: Man überdenkt sein Leben und erkennt, was man ändern möchte. Manche treffen tiefgreifende Entscheidungen, wechseln den Arbeitsplatz, ziehen an einen anderen Ort, trennen sich vom Partner. Andere verändern nur eine scheinbare Kleinigkeit wie zum Beispiel ihre Einschätzung von dem, was wichtig und was unwichtig im Leben ist. Auch ich kann heute – sechs Jahre nach der Diagnosestellung – sagen, dass mein Leben ein anderes geworden ist. Nicht schlag­artig, sondern allmählich, im Laufe der Zeit. Den Krebs möchte ich natürlich auf der Stelle abgeben, nicht aber mein jetziges Leben. Jedoch betrachte ich diese Krankheit, gerade weil sie doch sehr bedrohlich und unberechenbar ist, nicht als Chance, sondern vielmehr als einen Hinweis, das Leben als Chance zu begreifen.

Ängste und Bedürfnisse zeigen

Nun ist uns der Blick in die Zukunft verwehrt. Meine Prognose war so schlecht, dass ich glaubte, nicht einmal hoffen zu dürfen, die nächsten zwei Jahre zu überleben. Umso schrecklicher war es, nach der Diagnoseeröffnung mutterseelenallein zu sein. Keiner meiner Angehörigen konnte mir beistehen, niemand mich in den Arm nehmen und mit mir weinen. Aufgrund unserer Entfernung von Hunderten von Kilometern war ich auf mich selbst angewiesen und nicht in der Lage, meine Gefühle auszudrücken.

Meinen Eltern erging es ähnlich. »Es war die Hölle auf Erden«, sagen sie. »Wenn das eigene Kind tödlich erkrankt, dann zerbricht man. Dann ist einem, als müsse man selber sterben.« Voneinander getrennt und doch mit einem Teil von mir – meinen Kindern – durchlebten sie eine Zeit, die sie nie vergessen werden. Traurigkeit in dunkelsten Schattierungen. Weinen ohne Tränen. Schreien ohne Stimme. Fühlen ohne Worte – in nicht enden wollenden Momenten verdeckt, ob sie nun zusammen aßen, im Wald spazieren gingen, Verstecken spielten oder abends Geistergeschichten erzählten. Die Kinder sollten nichts erfahren. Weitere drei Wochen blieben sie noch gemeinsam im Sauerland. Als sie zurückkamen, war ich schon längst operiert. Als ich viel später einmal danach fragte, wie sie das so lange aushalten konnten, antwortete meine Mutter: »Wie hätten wir dir denn anders helfen können? Die beste Lösung erschien uns, dass wir und die Kinder weiterhin Urlaub machen. So brauchtest du dir keine Sorgen um sie zu machen, und wir hatten das Gefühl, wenigstens etwas für dich tun zu können.«

Tief in meinem Innern aber hatte ich mir damals gewünscht, die Familie würde sich in den Wagen setzen und sofort zu mir kommen. Ich brauchte Geborgenheit, Halt und Wärme, wollte mich einkuscheln und getragen werden wie ein kleines Kind. Allerdings nur von einer starken Familie, ein Zusammenbrechen meiner Liebsten hätte ich wohl kaum ertragen können, ebenso wenig wie Hysterie oder hektische Betriebsamkeit. Viele Betroffene erzählen mir nach meinen Lesungen, wie furchtbar es war, als sie ihre Angehörigen nach der Diagnosemitteilung auch noch trösten oder beruhigen mussten. Schmerz und Trauer sollten zugelassen werden, dennoch sollten die eigenen Ängste dem Betroffenen nicht zusätzlich aufgebürdet werden, denn der Erkrankte braucht viel Kraft und Energie für sich selbst und die volle Unterstützung von seiner Familie und seinen Freunden.

Im Nachhinein betrachtet, hatten mir meine Eltern durch ihre Entscheidung, mit den Kindern in den Ferien zu bleiben, tatsächlich eine große Sorge abgenommen, denn Jo konnte sich zu der Zeit beruflich keine freien Tage nehmen. Auch für die Kinder war diese Entscheidung sicherlich richtig.

Ich denke, dass man Kinder – besonders wenn sie noch klein sind – vor solchen Ausnahmezuständen in der Familie unbedingt schützen sollte. Erst wenn man einigermaßen gefestigt ist, können Kinder häppchenweise die Wahrheit vertragen. Der richtige Zeitpunkt, Art und Weise, wie viel und was man ihnen sagt, sollten gut überlegt sein. Dieses Thema werde ich noch ausführlich in dem Kapitel »Kinder brauchen Wahrheit« beleuchten.

Frage ich meine Kinder heute, welche Erinnerung sie an diesen Urlaub haben, antworten sie freudestrahlend: »Da möchten wir noch mal hin!« Sie verbinden die ganze Katastrophe nicht mit der Ferienzeit im Sauerland. Lionel sagte mir noch vor kurzem, als wir darüber redeten: »Wir haben geglaubt, was uns Opa gesagt hat. Die Oma weint, weil sie Bauchschmerzen hat.« – »Das haben sie aber gut vor uns verheimlicht, dass du Krebs hattest«, fügte Sebastian hinzu. Charlotte sind nur noch die vielen Eichhörnchen, die gemütlichen Schlafkojen und die leckeren Apfelpfannkuchen von ihrer Oma in Erinnerung geblieben.

Ich weiß, wie glücklich ich bin, wenn meine Racker ausgelassen mit mir schmusen wollen, am liebsten alle drei zugleich, oder wenn beim Spazierengehen ihre klebrigen Händchen meine Hand suchen, um Halt zu finden, Charlotte begeistert versucht, einem Häschen nachzulaufen, Sebastian voller Stolz auf den höchsten Ast klettert, Lionel hartnäckig um eine neue Geschichte über die Römer bettelt, sie abends nach Shampoo und Zahnpasta duftend für eine Gutenachtgeschichte ins Wohnzimmer stürzen, wenn alles gerade voller Liebe und Leben ist und einem plötzlich unendliche Traurigkeit den Atem abschnürt. Ich weiß, wie es für meine Eltern gewesen sein muss – ähnlich qualvoll, weil sie ihre Ängste, ihre Traurigkeit nicht zeigen durften. Sie hatten keinen »Raum«, um darüber zu sprechen, um zu weinen oder sich gegenseitig zu trösten. Heimlich hatten sie geweint, nachts, wenn die Kinder schliefen, oder wenn sie mit meiner Schwester in einem anderen Zimmer telefonierten. Mein Vater sagt, dass es manchmal kaum noch zum Aushalten gewesen sei und dass er dann am liebsten einen Arzt angerufen hätte, um von ihm – dem Experten – zu hören, dass es Hoffnung gibt.

Das wäre möglicherweise eine gute Lösung für meinen Vater gewesen. Wenn man einen einfühlsamen Hausarzt hat, kann dieser – auch ohne Befunde – beruhigen und Mut machen. Von vielen Angehörigen habe ich erfahren, dass ein Erste-Hilfe-Gespräch mit dem eigenen Hausarzt sehr nützlich sein kann.

Obwohl es für meine Eltern fast unerträglich gewesen ist, ihre eigene Traurigkeit vor meinen Kindern zu verheimlichen, haben sie sich ganz bewusst für diesen Weg entschieden, in der Absicht, mir damit zu helfen, und vielleicht spürten sie auch, dass die vielen Aktivitäten mit ihren Enkeln sie ablenken würden. Sie machten weiter und schafften sich eine Alltagsroutine, die manchmal vergessen ließ.

Grundsätzlich ist es in dieser ersten Zeit der Auseinandersetzung wichtig, den Gefühlen der Angst und Traurigkeit freien Lauf zu lassen. Häufig funktioniert das aber nicht, schon gar nicht im Alleingang. Es ist gut, wenn der Erkrankte, seine liebsten Angehörigen und enge Freunde das Leid miteinander teilen können, indem sie zusammentreffen und ihren Gefühlen Ausdruck verleihen. Dies muss nicht durch Reden geschehen, viele Worte sind sowieso zunächst zu belanglos für das, was wir empfinden. Unsere Gedanken sind noch so konfus, dass sie sich im Kreise drehen. Verzweifeltes und machtloses Zureden mit Muss-Ratschlägen wie »Du musst jetzt positiv denken«, »Da musst du jetzt durch«, »Du musst kämpfen«, »Du musst stark sein, hörst du!« ist wenig hilfreich. Genauso schlecht ist es, in der ersten Panik mit Vorwürfen auf den Erkrankten loszustürmen: »Siehst du, das hast du jetzt davon, du hast dich jahrelang nur gestresst», »Das kommt vom Rauchen, ist ja ganz klar«, »Hättest du nur auf mich gehört und vernünftig gegessen« und so weiter. Hinter solchen Vorwürfen steht einerseits das Bedürfnis, sich die Erkrankung, die so plötzlich zugeschlagen hat, erklären zu können – irgendetwas, irgendjemand muss ja Schuld daran haben –, andererseits äußert sich darin nicht selten die Angst der Angehörigen, selbst an Krebs zu erkranken. Durch die Umkehrwirkung des Gesagten versuchen sie, sich zu entlasten: »Ich habe keinen Stress«, »Ich rauche nicht«, »Ich ernähre mich gut, also bekomme ich keinen Krebs«. Besonders furchtbar für den Erkrankten ist es, wenn ihm Angehörige und Freunde die traurigen Geschichten der Menschen auftischen, die an Krebs gestorben sind. Ehr­liche, bedingungslose Anteilnahme dagegen tut gut. Worte, wie die von Carmen beispielsweise: »Ich bin immer für dich da.« Noch heute höre ich, wie sie diesen Satz wiederholte, der eine so klare, helfende Botschaft vermittelt: Du bist nicht allein. Mein Unterbewusstsein hatte diese Worte aufgenommen und verstand die Liebe, die darin zum Ausdruck kam. Eine andere Art, Gefühle zu zeigen, finden wir in der Berührung. Eine Umarmung, ein Streicheln oder das Halten der Hand kann sehr heilsam sein, Gefühlsblockaden und Verwirrung lösen, Dämme brechen und Tränen zum Fließen bringen. Leider sehen gerade Männer Tränen immer noch als ein Zeichen der Schwäche – als etwas Unmännliches – an und schämen sich dieser; dabei ist Weinen eine der menschlichsten und natürlichsten Reaktionen, die es gibt. Dadurch entsteht Raum für Klarheit, eine Bedingung für einen wachen Verstand, den wir brauchen, um über die Dia­gnose, über Therapie, Ängste, Sorgen und Wünsche reden und lebenswichtige Entscheidungen treffen zu können!

Für viele ist es eine fast unüberwindbare Hürde, die Diagnose Krebs zu akzeptieren. Es gibt Menschen, die sie zunächst leugnen, so wie Jo es getan hat. Seine ersten Gedanken waren: »Nein, das darf nicht sein. Es ist nicht. Ich fühle nicht und erleide dann auch keinen Schmerz.« Jo wollte die Situation verdrängen, weil er seiner Meinung nach damit am besten überleben konnte in dieser Welt, in der er weiterhin funktionieren musste – als Familienernährer und Vater von drei Kindern. Durch Verleugnung schützte er sich, um sich nicht selbst zu verlieren. Er hat den Gedanken, dass ich vielleicht bald nicht mehr da sein könnte, nicht ertragen, deswegen schob er ihn lieber beiseite.

Auch manche Erkrankte leugnen zunächst die Diagnose. Sie wollen nicht wahrhaben, dass es Krebs ist, denn sie fühlen sich gesund, haben keine Schmerzen, keinerlei Symptome. »Ich doch nicht. Da liegt ein Irrtum vor.« Sie mutmaßen vertauschte oder fehlerhafte Befunde, suchen verschiedene Ärzte auf, in der Hoffnung, diese mögen etwas anderes sagen und sie aus dem Albtraum holen. Andere tun so, als wären sie gar nicht betroffen, ziehen sich zurück und wollen niemanden sehen und mit keinem Menschen sprechen. Bekommen sie im Krankenhaus Besuch, drehen sie sich weg und kehren ihm den Rücken zu, um zu signalisieren: »Ich schaff das auch allein, ich brauche euch nicht.« Dahinter steckt häufig die Angst, genau auf diese Menschen eines Tages angewiesen, von ihnen abhängig zu sein. Das verstärkt sich umso mehr, wenn der Erkrankte ein sehr eigenständiges Leben geführt hat.

Reaktionen der Verleugnung sind völlig normal und bedürfen gegenseitigen Verständnisses und viel Einfühlungsvermögens. Jeder braucht seine Zeit, die Tatsache, an Krebs erkrankt zu sein, zu verarbeiten. Nur – heilsam ist Verleugnung nicht, vielleicht eine Erste-Hilfe-Maßnahme; auf Dauer aber sind eine Auseinandersetzung, das Miteinanderreden unabdingbar, um die Krankheit zu akzeptieren und nicht an ihr zu zerbrechen.

Ein Patentrezept, um diesen Diagnose-Ausnahmezustand möglichst schnell zu überwinden, gibt es nicht. Wenn der Erkrankte nicht gerade in einem akut lebensbedrohlichen Zustand ist, sollten er und die Angehörigen sich ein paar Tage – die haben wir! – Zeit nehmen, um den anfänglichen Schock zu verdauen. Hierfür sind Ehrlichkeit und Offenheit aller eine wichtige Voraussetzung.

Wir müssen füreinander da sein. Angehörige und Freunde sollten versuchen, in die Haut des Erkrankten zu schlüpfen und zu spüren, wie er sich fühlt, wie zerrissen seine Welt jetzt wohl sein mag und was er jetzt braucht. Möchte er erst einmal allein sein und Ruhe haben oder im Kreise der Liebsten über seine Ängste und Sorgen reden? Wünscht er Ermutigung, oder möchte er einfach in den Arm genommen werden, um weinen zu können? Es sind die Augen, die erzählen, Mimik und Gestik, die betonen, es ist der Klang der Stimme, der verrät. Sehr hilfreich ist es, dem Erkrankten zu sagen, dass er nicht allein ist, dass er den Weg nicht allein gehen muss, weil man für ihn da sein wird.

Überlebenswichtige Entscheidungen treffen

Ich lebe – jetzt!

Noch am selben Morgen, nachdem ich meiner Familie und Carmen am Telefon von meiner Diagnose erzählt hatte, mir aber keiner helfen konnte und niemand zu mir kam, wollte ich mir Hilfe und Unterstützung von außen holen. So rief ich eine mir bekannte Psychologin an. »Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben«, flehte ich.

Sie erwiderte nicht allzu viel, aber mit einem Satz, der zunächst wie ein Allerweltssatz klang und doch, beim »Hineinhören«, tief im Innern Wurzeln für das Leben zu schlagen vermochte, erlöste sie mich aus meiner Erstarrung: »Entscheiden Sie sich für das Leben.«

Ein Satz, der in meinem Bewusstsein von dem Moment an seinen Platz eingenommen hat und dessen Aufforderung sich wie ein Leitfaden durch mein weiteres Leben zieht, bis zu diesem heutigen Tag.

Leben! Als ich dort ganz allein in meinem Krankenzimmer war, fühlte ich sehr intensiv, dass ich doch gerade jetzt lebte! Ich ging zum Fenster, dessen Ausblick ich zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Der Himmel war wolkenlos, strahlend blau. Ich schaute auf Linden, die bereits den Frühling verrieten; hörte Vogelgezwitscher; sah die belebte Straße, die Menschen, die auf und ab gingen, Kinder, die Ball spielten; vernahm Autogeräusche, Stimmengewirr; atmete die frische Luft. Leben! Ja, ich lebte! Ich schaute hinaus und hinein in eine ganz gewöhnliche Alltagsszene, wie sie gestern und vorgestern war – und auch morgen und übermorgen noch sein würde? Ein sonderbarer Gedanke berührte mich. Nein, diese Alltagsszene war einzigartig und zerbrechlich, ständig im Wandel und würde nie mehr so wie jetzt gerade – eben? – sein. Schon gleich würde die ­Sonne einen anderen Stand haben, die Temperatur eine andere sein, der Wind sich ändern, die Autos, die Menschen woanders sein. Der Augenblick ist lebendig, die Sekunde davor schon nicht mehr, die Sekunde danach ist ungewiss. Ich habe Krebs, aber deswegen muss ich nicht sterben. Jetzt sowieso noch nicht – zumindest nicht an Krebs! Ich habe Zeit. Ich werde sie nutzen. Ich werde sie leben!

»Entscheiden Sie sich für das Leben.« Dieser Satz rüttelte mich regelrecht wach, ordnete meine Sinne, schaffte Platz für Mut und Hoffnung.

Auf der Suche nach kompetenten Medizinern

Ich brauche den besten Chirurgen, den besten Onkologen, meine Familie und Freunde. Gemeinsam können wir es doch schaffen. Ich werde alles dafür tun. Ich muss jetzt handeln, jetzt sofort!

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