Ich bring dich um! - Nahlah Saimeh - E-Book + Hörbuch

Ich bring dich um! E-Book und Hörbuch

Nahlah Saimeh

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Beschreibung

Ein Mann rast mit dem Lkw in eine Menschenmenge, eine Schülerin legt in ihrem Zimmer ein Waffenarsenal an, ein Altenpfleger tötet seine Patienten. Woher kommt der Hass? Nahlah Saimeh weiß, dass aus scheinbar »normalen« Menschen Mörder werden können, dass die Anlage zur Gewalt in jedem steckt, und was das für eine immer brutaler werdende Gesellschaft bedeutet. Als forensische Psychiaterin kennt die Autorin die verschiedensten Arten von Gewalt. In faszinierenden Fallbeispielen spannt sie den Bogen von Gewalt im sozialen Umfeld bis zu Gewalt und Terror im öffentlichen Raum und regt jeden dazu an, an, sich zu fragen, wo er selbst steht.

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Seitenzahl: 262

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Zeit:7 Std. 49 min

Sprecher:Ursula Berlinghof
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NAHLAH SAIMEH

ICH BRING DICH UM!

Hass und Gewalt in unserer Gesellschaft

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältigerBearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage© 2017 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing,eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Gesetzt aus der Palatino, Aachen Std und Helvetica Inserat

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:Red Bull Media House GmbHOberst-Lepperdinger-Straße 11–155071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.ATPrinted in SlovakiaISBN: 978-3-7110-0136-8eISBN 978-3-7110-5208-7

INHALT

Prolog

Vorwort: Woher kommt der Hass?

Kapitel 1: Gewalt und psychische Krankheit

Kapitel 2: Sexuelle Gewalt

Kapitel 3: Gewalt im sozialen Nahraum

Kapitel 4: Amok und School Shooting

Kapitel 5: Radikalisierung und Terror

Kapitel 6: Kann man »das Böse« behandeln?

Kapitel 7: Die Therapie der Täter – überflüssig oder Chance für den Rechtsstaat?

Ausblick

Quellen und weiterführende Literatur

PROLOG

»Ich bring dich um!«

»Die müsste man alle erschießen!«

Solche Sätze äußern Menschen immer wieder, sogar in persönlichen Auseinandersetzungen oder in den Kommentarspalten sozialer Medien. Obwohl wir im weltweiten Vergleich in einer der friedlichsten und bislang stabilsten Gesellschaften leben, hat man das Gefühl, dass Gewaltbereitschaft als Problemlösung wieder gesellschaftsfähig wird.

Ich bin forensische Psychiaterin und befasse mich damit beruflich ausschließlich mit Menschen, die Straftaten begangen haben: Körperverletzung, Mord, Totschlag, Brandstiftung, Vergewaltigung und Ähnliches. Ich untersuche dabei, welche Bedingungen in einer Person dazu beitragen, dass sie gewalttätig wird oder Gewalt bejaht. Ich habe nicht nur mit psychisch kranken Menschen zu tun, sondern auch mit vielen Menschen, die im engeren Sinne keine Krankheit haben. Mit diesem Buch werde ich Sie mitnehmen in meinen Alltag und Ihnen viele Menschen vorstellen.

Da ist zum Beispiel Martin P., 38, der mit seinem ansonsten ziemlich geordneten Lebenslauf kein Mann mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung ist. An einem Abend jedoch brach etwas aus ihm heraus, er vergewaltigte eine Frau. Auf meine Frage »Wann kam Ihnen denn der Gedanke, dass Sie die Situation zum Sex nutzen wollten?« antwortete er: »Eigentlich so richtig erst auf der Landstraße. Ich war erst noch innerlich sauer auf meine Freundin. Dann war da die nette Frau im Auto, und ich wollte den Abend auch nicht so beenden, ich wollte ja auch noch ein bisschen Spaß haben …«

Oder Christoph S., 28 Jahre alt, der ausschließlich explizit sexuell motivierte Straftaten beging: »Was ist das denn genau, was für Sie interessant ist an Ihren Fantasien?«

»Ja, die Gewalt an sich. Dass die Frauen das nicht wollen, dass sie Angst im Gesicht haben, dass sie sich unterwerfen müssen, wehrlos sind. Also dieser Kampf mit dem Gegenüber.«

Oder der sehr höflich auftretende, gepflegte Carlo F., ein 53 Jahre alter Sport- und Mathematiklehrer an einer Hauptschule, der eine massive sexuelle Präferenzstörung hat und über Jahre hinweg Jungen sexuell missbrauchte.

»Haben die Kinder Angst vor Ihnen gehabt?«

»Nein, um Gottes willen. Nie! Die waren ja bei mir zu Hause und haben sich wohlgefühlt. Ich habe ja nie was mit Zwang oder Druck … Deswegen war mir ja lange Zeit nicht klar, dass das falsch ist, was ich tue. Pädophile waren für mich immer Leute, die Kindern Gewalt antun. Also das geht gar nicht!«

Oder auch Carsten D., erst 19 Jahre alt und ein psychisch schwer kranker junger Mann: Weil er gegen seine Mutter gewalttätig geworden ist, wurde er in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Die Ärzte vermuteten, dass es sich um eine akute psychotische Episode handele, und warnten, dass sich eine Schizophrenie entwickeln könne. Da Carsten D. sich auf der Station aber sehr ruhig und vor allem friedlich verhielt, scheiterte der Versuch, ihn per Gerichtsbeschluss dortzubehalten, als er entlassen werden wollte. Drei Wochen später ist die Mutter tot. Ihr Sohn hat sie mit einem Fleischermesser erstochen.

Die Menschen, die ich Ihnen in diesem Buch vorstelle, sind mir in meiner täglichen Praxis begegnet. Sie und die Dialoge sind natürlich anonymisiert und verfremdet, sodass Rückschlüsse auf die konkret dahinterstehende Einzelperson nicht möglich sind. Selbst jemandem, der sich in dem einen oder anderen Fallbeispiel wiederzuerkennen meint, würde ich sagen: »Schließen Sie nicht auf sich persönlich, ich kenne noch viele andere Menschen mit Ihrem Problem und einem vergleichbaren Werdegang.« Die geschilderten Muster hinter den Fällen entsprechen aber stets der Wirklichkeit.

Warum dieses Buch? Voyeurismus zu bedienen liegt mir fern. Deshalb verzichte ich auch auf besondere Details der Tathandlungen. Ich möchte Sie vielmehr dafür sensibilisieren, dass Gewalt in all ihren Facetten aus ganz unterschiedlichen Gründen in unser Leben eintreten kann, aber wir Gewalttätigkeit frühzeitig, mutig und entschlossen begegnen müssen: als Gesellschaft, als Einzelpersonen und als rechtsstaatliche Aufgabe. Wenn man die Beweggründe von Gewalttätern und die Bedürfnisse versteht, die Menschen dazu bringen, anderen Gewalt anzutun, dann kann man auch wirksam handeln – und zwar sowohl auf politischer Ebene als auch im sozialen Umfeld. Hinter Gewalttaten verbergen sich oftmals Bedürfnisse, die eigentlich einer gewaltlosen Befriedigung zugeführt werden könnten, aber der Täter entscheidet sich für die Gewalt, weil er weder sein darunterliegendes Bedürfnis verstanden hat noch andere Lösungsansätze sieht.

Muss man nicht verrückt sein, um einem anderen Menschen massiv Gewalt anzutun? Die Frage höre ich vor allem bei Tötungsdelikten und vor allem immer im Zusammenhang mit Terroranschlägen. Die kürzeste Antwort lautet: Nein, muss man nicht. Die längere Antwort gibt Ihnen dieses Buch.

Es liegt an uns, in der richtigen Art und Weise auf Fehlentwicklungen des Einzelnen zu reagieren und sehr aufmerksam zu sein gegenüber einer gewalttätigen Aufladung öffentlicher Diskussionen: um uns und unsere Gesellschaft zu schützen, um Opfern und Tätern gerecht zu werden und vor allem, damit Hass und Gewalt weder unseren Alltag noch unsere Gesellschaft bestimmen können.

Ich wünsche Ihnen eine zur Diskussion anregende Lektüre!

VORWORT:

WOHER KOMMT DER HASS?

Am 20. April 2006 versuchte ein Mann, nennen wir ihn Jonas Z., in einem norddeutschen psychiatrischen Großklinikum, kurz nach seiner Festnahme und Einweisung in eine Klinik für Forensische Psychiatrie, den ihn behandelnden Oberarzt zu erstechen, und verletzte zwei Krankenpfleger durch Messerstiche lebensgefährlich.

Am 20. November 2006 schoss ein ehemaliger Schüler an der Geschwister-Scholl-Realschule in Emsdetten auf Lehrer, Schüler und den Hausmeister und verletzte sieben Personen zum Teil schwer.

Am 22. Juli 2016 erschoss der 18 Jahre alte Schüler David S. in München bei einem Amoklauf neun Menschen, bevor er sich selbst durch einen Kopfschuss hinrichtete.

Am 19. Dezember 2016 tötete der mehrfach vorbestrafte 23 Jahre alte Tunesier Anis Amri auf dem Berliner Weihnachtsmarkt mit einem gekaperten Lkw elf Menschen und verletzte 55 weitere.

Aber nicht nur physische Gewalt ist in den letzten Jahren stärker geworden, auch verbale Gewalt greift immer mehr um sich. Die Frage, wie mit Hate Speech im Internet umzugehen ist, hat mittlerweile die politische Ebene erreicht, und wer die Kommentare zu Artikeln der Onlinemedien liest, weiß, warum das notwendig ist. In einem bis vor Kurzem kaum für möglich gehaltenen Ausmaß wird man täglich Zeuge von Respektlosigkeit, Verachtung und Hass.

Erst kürzlich saß ich in einem Gefängnis einem wegen Kindesmissbrauchs verurteilten Straftäter gegenüber, der im Laufe des ruhigen und freundlichen Gesprächs äußerte, allen Politikern hierzulande müsse man eigentlich eine Kugel in den Kopf jagen. Auf meine Frage nach dem Grund für seine Ansicht erklärte er, »der Staat« weigere sich, ihm 5.000 Euro für den Führerschein zu geben.

Als 2015 in zweifelsohne schwer überschaubarem Ausmaß Hunderttausende Menschen aus arabischen und afrikanischen Ländern nach Deutschland kamen, wurde 26 Jahre nach dem Mauerfall der erneute Einsatz von Schusswaffen an der Landesgrenze vorgeschlagen.

Im Zusammenhang mit dem Fall des Gustl Mollath, der als Psychiatrie-Skandal in die öffentliche Wahrnehmung eingegangen ist, benötigte der Chefarzt der Klinik für Forensische Psychiatrie, in die das Gericht Gustl Mollath eingewiesen hatte, über mehrere Wochen Polizeischutz.

Auf Autos findet sich der Aufkleber »Stoppt Tierversuche – nehmt Kinderschänder«.

Der Eindruck vieler Menschen ist: Ist die Welt denn völlig aus den Fugen geraten? Sind denn alle völlig »verrückt« geworden?

Diese eher willkürliche und zufällige Aufzählung von Gewalttaten im sozialen Nahfeld, im öffentlichen Raum und die Beispiele für die Aufladung politischer und gesellschaftlicher Diskussionen mit Hass-Rhetorik lassen befürchten, dass die Basis unseres jahrzehntelangen weitgehend friedlichen Zusammenlebens weit weniger stabil ist, als wir bislang dachten. Das auf gegenseitigem Respekt und grundsätzlicher Wertschätzung jenseits inhaltlicher Meinungsdifferenzen beruhende Zusammenleben in einem freiheitlich-demokratischen Staat, der getragen ist von einigen unveräußerlichen, grundlegenden Werten – was bislang so selbstverständlich schien –, wird sowohl durch den internationalen Terrorismus bedroht als auch durch eine Verschärfung des gesellschaftspolitischen Diskurses von innen. Hinzu kommen jene individuellen Gewaltstraftaten, die ihren Ausgangspunkt in Konflikten im sozialen Nahbereich oder – nicht zuletzt – in psychischen Erkrankungen haben.

Hass und Gewalt bestimmen täglich unsere Nachrichten. Immer dann wenn eine schwere Gewalttat zu beklagen ist, klingeln bei meinen forensischen Fachkollegen und mir die Telefone: »Wie kann ein Mensch so etwas tun? Sind Terroristen nicht irre? Was geht in School Shootern vor? Was sind Sexualstraftäter nur für Menschen?«, wollen nicht nur Journalisten wissen.

Die Ursachen und Bedingungen von Hass und Gewalt sind vielfältig. Es gibt nicht die eine Fachrichtung, die die Phänomene, die so alt sind wie die menschliche Gesellschaft selbst, hinreichend erklärt. Dazu bedarf es der Historiker, Kulturwissenschaftler, Politikwissenschaftler, Soziologen, Verhaltensforscher, Ökonomen und sogar der Theologen. Gerade politisch beziehungsweise ideologisch motivierte Gewalt im internationalen Zusammenhang ist ohne die Politik- und Gesellschaftswissenschaften nicht einzuordnen.

Mit diesem Buch möchte ich der Diskussion über Hass und Gewalt in unserer Gesellschaft eine weitere Facette hinzufügen. Ich bin forensische Psychiaterin, das heißt, ich habe mich spezialisiert auf den Zusammenhang von Psyche und Gewaltbereitschaft. Forensische Psychiater wie ich haben stets mit dem individuellen Täter zu tun. Hinter jedem Aufruf zur Gewalt und hinter jeder einzelnen Tat steckt immer eine konkrete Person, ein Mensch mit seiner Entwicklungsgeschichte, seinen Denkmustern und Annahmen zu Leben und Gesellschaft.

Nur manchmal spielen psychische Erkrankungen dabei eine Rolle. In der Regel sind auch Menschen, die sehr extreme Ansichten vertreten, nicht psychisch krank. Und wenn wir die Mechanismen und Denkmuster von Gewalttätern genau anschauen, dann entdecken wir manchmal sehr ähnliche Prinzipien in der gesellschaftlichen Diskussion. Wut, Hass, die Bejahung von Gewalt ist noch nicht dasselbe wie eine Gewalttat zu begehen. Aber Hass und das Gutheißen von Gewalt spalten die Gesellschaft und wenden sich grundlegend gegen das Leben.

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir gemeinsam jede Anstrengung unternehmen müssen, in zivilisierter Weise an der Weiterentwicklung demokratischer Gesellschaften in einer immer enger vernetzten und komplexen Welt mitzuwirken. Wir dürfen das Feld nicht den Hass-Rhetorikern überlassen, die mit einfachen Parolen Lösungen versprechen, die es in einer komplexen und vielschichtigen Welt nicht geben kann.

Aus der Komplexität unserer Welt erwächst ein verständliches, aber dennoch gefährliches Bedürfnis nach Reduktion von Vielschichtigkeit. Es ist jedoch wichtig, dass wir die stets hinter dem Hass liegenden individuellen Bedürfnisse der Menschen verstehen und ernst nehmen. Wir müssen auf diese Bedürfnisse reagieren, andere Lösungen anbieten, angemessene Antworten finden. Nur so kann ein gesellschaftlicher Konsens erzielt werden, der dennoch in der Lage ist, ein möglichst breiteres Meinungsspektrum zu integrieren. Offenbar gibt es eine wachsende Gruppe von Menschen, die sich nicht mehr durch den freiheitlichen Rechtsstaat vertreten sieht, sondern glaubt, dieser vertrete nur die Rechte der »anderen«. Wir müssen alles dafür tun, dass ungeachtet persönlicher Lebenskrisen wir als Gesellschaft begreifen, dass jeder bei uns vom Rechtsstaat profitiert.

Es gibt natürlich rote Linien in der Diskussion, die nicht übertreten werden dürfen, weil jeder freiheitlich-demokratische Rechtsstaat, der auf der Unantastbarkeit der Würde des Menschen beruht, automatisch eine Grenze gegen menschenverachtende Prinzipien von Staat und Gesellschaft zieht und ziehen muss.

Wenn dieses Buch einen kleinen Beitrag leisten kann zum Verständnis individueller Mechanismen, die Hass und Gewalt befördern, und den Diskurs somit um eine wichtige Facette bereichert, vielleicht sogar einen Bogen schlagen kann zwischen weit auseinanderliegenden Positionen, dann hätte es seinen Zweck erfüllt.

Nahlah Saimeh

Im Herbst 2017

KAPITEL 1:

GEWALT UND PSYCHISCHEKRANKHEIT

Ein junger Mann, nennen wir ihn Carsten D., verändert sich kurz vor dem Abitur deutlich: Er zieht sich zurück, wird zunehmend wortkarg, vernachlässigt sich äußerlich und liegt auffällig viel im Bett in einem auch tagsüber ständig abgedunkelten Zimmer. Er wirkt fahrig, unkonzentriert und fällt der Familie durch eine unerklärliche, bisher nicht gekannte Reizbarkeit auf. Zunächst schieben die Eltern das auf Prüfungsstress, aber auch in den Ferien ändert sich nichts zum Guten.

Eines Abends kommt es zu einem ersten massiven Übergriff auf die Mutter, als die Familie sich gemeinsam am Esstisch einfindet. Die Mutter stellt eine Schüssel mit heißer Suppe auf den Tisch, Carsten D. ergreift sie und schleudert der Mutter den Inhalt ins Gesicht. Er schreit: »Das ist das letzte Mal, dass ihr mir so kommt! Das muss aufhören, das hat ein Ende, hier und jetzt!« Er tritt seinen Stuhl um und rennt aus dem Raum. Der Vater alarmiert den Notarzt und die Polizei. Als Letztere eintrifft, hat sich Carsten D. so weit beruhigt und unter Kontrolle, dass er den Beamten erklärt, er sei im Prüfungsstress, und er beteuert, dass ihm derlei nie wieder passieren werde und es ihm leidtue. Er sei aber bereit, sich wegen des Prüfungsdrucks beim Arzt vorzustellen.

So bleibt der junge Mann zunächst zu Hause bei den Eltern. Am nächsten Tag ist von einem Arztbesuch keine Rede mehr. Keine zwei Wochen später wird die Polizei erneut gerufen, weil Carsten D. seiner Mutter in der Küche an den Hals gegangen ist. Nun wird er mit dem Verdacht auf eine akute psychische Erkrankung in die nahe gelegene Psychiatrie gebracht und zunächst auf freiwilliger Basis aufgenommen. Die Eltern sind erleichtert, haben aber gleichzeitig auch ein schlechtes Gewissen, den Sohn, der doch so kurz vor dem Abitur steht und wichtige Klausuren verpasst, in die Psychiatrie gebracht zu haben. Auch sorgen sie sich, der Sohn könne womöglich starke Medikamente bekommen.

Die Ärzte stellen die Verdachtsdiagnose einer akuten psychotischen Episode und befürchten, es könne sich eine Schizophrenie entwickeln. Da Carsten D. sich auf der Station aber wieder sehr ruhig, schweigsam, zurückgezogen und vor allem friedlich verhält, scheitert der Versuch, ihn per Gerichtsbeschluss dortzubehalten, als er sich selbst entlassen will. Drei Wochen später ist die Mutter tot. Ihr Sohn ersticht sie in der Küche mit einem der dort liegenden Fleischermesser, schleppt die tote Mutter hinauf ins Bad und legt sie in eine vollgelaufene Badewanne. Vater D. entdeckt das Geschehen aufgrund der martialischen Blutspuren, als er von der Arbeit nach Hause kommt. Sein Sohn ist da, wo er immer ist: in seinem Zimmer im Bett bei zugezogenen Vorhängen.

Sie werden sicher erahnen, dass der junge Mann psychisch schwer krank war. Er tötete seine Mutter, weil er zunehmend der wahnhaften Überzeugung war, dass sie ihn mit radioaktiven Substanzen vergiften würde. Schon in der Suppe, die er ihr in seinem ersten Anfall ins Gesicht schüttete, vermutete er Plutonium. Die tote Mutter legte er schließlich in die Badewanne, weil er dachte, die mit Plutonium hantierende Frau auf diese Weise unschädlich machen zu können. Carsten D. tötete seine Mutter aufgrund einer schizophrenen Psychose.

Wie aber steht es um den Täter im folgenden Fallbeispiel? Ein junger Mann, der zwei Lehren abgebrochen hatte, in den Tag hineinlebte und auch Kontakte ins kriminelle Milieu unterhielt, verliert seinen Vater, mit dem er sich recht gut verstand, durch ein Lungenkarzinom. Das Verhältnis zur Mutter war von jeher schwierig und kühl. In der Folgezeit wird ihm ein Teil seines Erbes ausbezahlt, das er schnell mit Partys, Drogen und vielen Freundinnen durchbringt. Als das Geld aufgebraucht ist, will er mehr. Außerdem fühlt er sich von der Mutter um einen Teil seines Erbes übervorteilt. Vor allem aber nimmt er ihr übel, dass sie sich kurz nach dem Tod ihres Mannes wieder neu gebunden hat. Dieser neue Partner macht dem jungen Mann, den ich hier Kevin S. nenne, schnell klar, dass er ihn für einen Taugenichts hält. Eines Abends taucht Kevin bei seiner Mutter und ihrem neuen Partner auf, der ihn sogleich wieder vor die Tür setzt und ihm klarmacht, dass für ihn hier nichts mehr zu holen sei.

Daraufhin besorgt sich Kevin S. eine großkalibrige Waffe, dringt nachts in das Haus der Mutter ein und erschießt das Paar im Bett.

Kevin S. war nicht psychisch krank. Er war ein junger Mann mit einer beträchtlichen kriminellen Energie, Kaltblütigkeit, Selbstgerechtigkeit und der ziemlich anmaßenden Grundhaltung, über das Leben und Tun der Mutter entscheiden zu dürfen. Er duldete zu seinem höchst persönlichen Gerechtigkeitsempfinden keinen Widerspruch und erlebte die Ablehnung durch die Mutter und ihren neuen Partner als schwere Kränkung, die aus seiner Sicht gewissermaßen die »Todesstrafe« verdiente. In der Psychiatrie beschreiben wir solche Persönlichkeiten als narzisstisch gestört. Daraus begründet sich aber zumeist keine Schuldfähigkeitsminderung. So wurde Kevin S. wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.

Muss man nicht verrückt sein, um einen anderen Menschen schwer zu schädigen, ihm massiv Gewalt anzutun? Die Antwort ist einfach: Die weitaus größere Zahl der Gewaltstraftäter ist nicht psychisch krank. Es sind Menschen wie Sie und ich – aber in besonderen Lebenssituationen.

Das zeigen die Zahlen aus dem Bericht des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz aus dem Jahr 2015. Demzufolge wurden im Jahr 2013 5 961 662 Straftaten (ohne Verkehrsdelikte) bekannt. 3 249 396 Straftaten konnten aufgeklärt, 2 094 160 Tatverdächtige ermittelt und davon 754 226 Personen verurteilt werden. Eine Freiheitsstrafe oder Jugendstrafe ohne Aussetzung zur Bewährung mussten nur 37 828 Personen antreten. Die meisten Sanktionen bestehen aus einer Geldstrafe oder bei Jugendlichen beziehungsweise Heranwachsenden aus Erziehungsmaßregeln. Diese Zahlen lassen bereits den Rückschluss zu, dass wirklich schwerwiegende Gewaltstraftaten gegen das Leben oder gegen die sexuelle Selbstbestimmung glücklicherweise nach wie vor nur einen geringen Prozentsatz aller bekannt gewordenen Delikte ausmachen. 2013 wurden insgesamt 2 951 Fälle von versuchten oder vollendeten Tötungsdelikten verzeichnet, 46 793 Fälle von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zur Anzeige gebracht. Über 46 000 angezeigte Sexualstraftaten – das klingt viel. Dennoch ist es nicht einmal ein Prozent der angezeigten Kriminalität insgesamt, und die Zahl der Sexualmorde bleibt von Jahr zu Jahr auf einem Niveau zwischen 20 und 25 Taten. Damit hat sich die Häufigkeit dieser schwersten Delikte seit den 1960er- und 1970er-Jahren auf ein Viertel des Ausgangswertes reduziert.

Die reinen Zahlen einer Kriminalstatistik vermögen das individuelle Leid der Opfer und ihrer Angehörigen natürlich nicht zu erfassen, und schon weit unterhalb der Schwelle von Mord und Totschlag können die Betroffenen erheblich traumatisiert sein. Gerade Opfer von Einbruchskriminalität und von Stalking sind mitunter schwer psychisch belastet, nachhaltig verunsichert und in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt. Deshalb haftet dem Umgang mit nackten Zahlen immer etwas unfreiwillig Zynisches an.

Wie viele Straftäter sind tatsächlich psychisch krank? 2013 wurden nur 815 Menschen nach § 63 StGB in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen, weil sie infolge einer psychischen Erkrankung Straftaten im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit oder gar Schuldunfähigkeit begangen hatten. 2 457 Personen wurden in eine Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB eingewiesen, weil ihre Straftaten im Zusammenhang mit einer bestehenden Suchterkrankung gesehen wurden. Das bedeutet: Mehr als zwei Drittel der versuchten und vollendeten Tötungsdelikte werden von psychisch gesunden Personen begangen, und ein noch viel größerer Teil derjenigen Täter, die gegen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verstoßen, ist psychisch gesund.

Welche Rolle schwerwiegende psychische Erkrankungen bei der Begehung von Gewalttaten im Einzelfall spielen können, zeigte schon das erste Fallbeispiel von Carsten D. Solche tragischen Fälle sind typische Gewalttaten psychisch kranker Täter.

Lassen Sie uns einen weiteren Fall ansehen: Ein junger, etwas ungepflegt wirkender Mann mit Stoffbeutel steigt in eine Straßenbahn. Wegen seines eigentümlich grimmig-angespannten Gesichtsausdrucks und seines stechenden Blicks bleibt die Sitzbank ihm gegenüber zunächst eine Weile leer. Die Mitfahrer halten unwillkürlich Abstand zu der etwas sonderbar und unheimlich wirkenden Gestalt. Zwei Haltestellen weiter steigen jedoch zwei Schulkinder in die Bahn und setzen sich kichernd, einander schubsend und herumalbernd auf die Sitzbank gegenüber.

Dann geht alles sehr schnell. Der Mann greift unvermittelt in seinen Beutel, holt einen Hammer heraus und springt auf die ihm fremden Schulkinder zu, holt aus, trifft mit seinem Hammer ein Kind mehrfach am Kopf und verletzt es schwer. Dabei schreit er hochgradig erregt etwas von »Teufel« und »Satan«. Rasch springen Fahrgäste hinzu und versuchen, den Mann zu überwältigen. Sie können weitere Schläge von dem verletzten Kind abwenden und rangeln mühsam mit dem rasenden Mann, bis sie ihn schließlich überwältigen und bändigen können. Beim Eintreffen der Polizei schreit er noch immer: »Teufelskind, ich kriege dich, Satan!« Nur durch großes Glück erleidet der angegriffene Junge keine schwere Schädel-Hirn-Verletzung.

Als ich den Mann in einer Klinik aufsuche, um ihn auf Schuldfähigkeit zu untersuchen, bitte ich ihn, mir zunächst seine Biografie und dann den Beginn seiner Krankheitssymptome zu schildern. Allerdings begreift er selbst seine Gedanken in Bezug auf einen Satan gar nicht als Krankheit.

Er berichtet mir, dass er schon seit Jahren vom Satan und vom Teufel verfolgt wird. Beide seien hinter ihm her und würden seine Seele wollen, die er ihnen aber nicht überlassen werde. Satan und Teufel arbeiteten mit allen Tricks. In wechselnder Gestalt würden sie ihn heimsuchen, draußen vor dem Haus herumlaufen, auch im Haus selbst könne er Schritte über seiner Wohnung hören, die ganz eindeutig von einem Klumpfuß des Satans stammten. Auf meine Frage, woran er denn merke, dass Satan und Teufel ihn verfolgten und auf seine Seele aus seien, erklärt er: »Das sehe ich an den Augen und an der breiten Fratze. Satan und Teufel haben breite Fratzen und böse Augen. Das erkenne ich. Und sie können sich wandeln, sie nehmen immer andere Gestalt an.« Und woran merke er, dass man seine Seele rauben wolle? Manchmal sei der Kopf ganz leer, versichert er mir. Er könne dann gar nicht richtig denken und spüre einen großen Druck im Kopf. Manchmal merke er auch, dass man in seinem Kopf die Gedanken stehlen wolle mit »satanisch-telepathischer Technik«. Ob ich auch Gestalt des Satans sei? »Nein, Sie nicht. Sie sind ja Ärztin.« Aber die Kinder in der Straßenbahn seien ganz klar Teufelskinder gewesen, sie seien ihm so nah gekommen. Da hätte er sich wehren müssen.

Vergleichbar ist auch der folgende Fall: Ein Mann mittleren Alters, ursprünglich aus Ägypten stammend, lebt seit einigen Jahren in einem Männerwohnheim und schießt eines Tages aus völlig unverständlichen Gründen auf seine Mitbewohner. Einen Mann verletzt er schwer. Wie sich in seiner Vernehmung durch die Polizeibeamten herausstellt, glaubt der Mann, dass seine Mitbewohner ihm seit geraumer Zeit Gift ins Essen mischen und dass man ihn in seinem Zimmer durch versteckte Kameras beobachtet. Außerdem erklärt er sich seine Konzentrations- und Auffassungsstörungen, die sich im Gespräch durch unvollendete Sätze und Gedanken bemerkbar machen, mit einer Fernsteuerung, mit der ihm Gedanken aus dem Kopf abgezogen würden. Um die Geräte, die ihn schädigen, zu entfernen, hatte der Mann bereits seit Wochen immer wieder in seinem Zimmer randaliert, den Putz abgeschlagen und vergeblich versucht, die Kameras in den Wänden zu finden. Mehrfach waren Polizei und Ordnungsamt ausgerückt, aber oftmals hatte sich dann vor Ort die Situation wieder so weit beruhigt, dass man keinen Grund zu weiterem Handeln sah, oder der Mann wurde zwar kurzfristig in die Psychiatrie gebracht, am nächsten Tag jedoch mangels eindeutiger rechtlicher Grundlage wieder entlassen. Die sämtlich männlichen Mitbewohner des Heims hatten mittlerweile Angst vor ihrem Hausgenossen, vermochten aber keine Abhilfe zu schaffen. Woher der Täter die Waffe hatte, blieb auch im nachfolgenden Gerichtsverfahren letztlich ungeklärt.

Da der dringende Verdacht bestand, dass die Straftat mit einer psychischen Erkrankung zusammenhing, beauftragte mich die zuständige Staatsanwaltschaft mit einem psychiatrischen Gutachten, um die Schuldfähigkeit abzuklären. Als ich den kleinen, recht schmächtig wirkenden Mann kurze Zeit später in der Untersuchungshaft aufsuchte, gestaltete sich das Gespräch schwierig, weil der Mann zwischen Englisch, Arabisch und Spanisch hin und her wechselte, gedanklich ausgesprochen sprunghaft war und viele biografische Fragen zu seiner Herkunft, Abstammung und zur zeitlichen Abfolge seines Lebenslaufs nicht beantworten konnte. Er wusste nicht mehr, wer seine Eltern waren und ob er selbst eigentlich er selbst war. Der Arabisch-Dolmetscher erklärte, der Mann rede wirr durcheinander.

Es ließ sich mühsam herausfinden, dass er wohl in seiner Heimat Architektur studiert und einige Jahre in Spanien gelebt hatte, wo er in einem großen internationalen Architekturbüro angestellt gewesen war. Als Grund für seinen Wechsel nach Deutschland gab er an, er sei in Spanien von Kriminellen verfolgt worden. Seit er in Deutschland lebte, hatte er nicht mehr Fuß gefasst, nicht gearbeitet, war zeitweilig obdachlos.

Als ich ihn wegen seiner schlechten Konzentration und unterschwelligen Reizbarkeit ein zweites Mal aufsuchte, war er mittlerweile davon überzeugt, dass ich mit dieser spanischen kriminellen Organisation unter einer Decke stecken müsste und dass mich diese zu ihm in das Gefängnis geschickt hätte. Ich sei keine Gutachterin, und ich solle machen, dass ich wegkomme, sonst wisse er nicht, was er tun werde. Aufgrund der ziemlich bedrohlich wirkenden Situation und seiner hochgradigen emotionalen Anspannung beendete ich das Gespräch sehr schnell und ließ mich von den Justizvollzugsbeamten rasch aus dem Raum bringen. Menschen mit einer akuten Psychose können in äußerste emotionale Anspannung geraten, die in plötzliche schwere Erregungszustände übergehen kann. Sie wirken dann ausgesprochen bedrohlich, und man tut gut daran, diese Wahrnehmung ernst zu nehmen.

Die Diagnose im Hinblick auf die konkrete Fragestellung zur Schuldfähigkeit ist dabei eindeutig: Der Mann leidet an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Vieles spricht dafür, dass die bis dato unbehandelte Krankheit schon seit einigen Jahren besteht und dass die zunehmenden Symptome die Ursache für den Verlust der bürgerlichen Existenz waren.

Die in diesen letzten beiden Fallbeispielen beschriebenen Männer sind schwer psychisch krank und waren es auch bei ihren Taten. Jeder litt bereits vor der Tatbegehung an den akuten Symptomen einer Schizophrenie, und jeder erlebte zur Tatzeit in seiner nicht mehr an die Realität gekoppelten Wahrnehmung eine für ihn selbst bedrohliche Situation. Diese subjektiv erlebte Bedrohung und die damit verbundene Angst führten zu dem gefährlichen fremdaggressiven Handeln.

Der erste Mann berichtete, dass er die Kinder als »Satanskinder« wahrgenommen und ihr harmloses Rangeln und Kichern als Bedrohung auf sich bezogen hatte. Die Kinder schienen ihm keine sehr jungen Menschen zu sein, die unseres besonderen Schutzes bedürfen, sondern bedrohliche Wesen, die Übles im Schilde führten. Menschen, die eine akute schizophrene Episode erleben, nehmen oft ihre Umgebung und andere Menschen verändert wahr. Sie können Mimik und Gestik nicht mehr im herkömmlichen Sinne interpretieren. Aus Gesichtern werden hämische oder bösartige Grimassen, und das Verhalten anderer Menschen wird zumeist als Bedrohung umgedeutet.

Das zweite Fallbeispiel zeigt einen Mann, der bereits seit Jahren unter Verfolgungswahn litt und sich vor einer Organisation fürchtete, die er nicht genau fassen konnte, deren Präsenz für ihn aber stetig in einer bedrohlichen Art und Weise fühlbar war.

Auf die etwas verkürzte Frage, ob solche Täter »verrückt« sind, kann man also antworten: Ja, wenn »verrückt« bedeutet, dass man aus der Realität »ver-rückt«, also herausgerückt, verschoben ist, dann sind solche Täter »verrückt«. Wir sprechen von Schizophrenie oder von Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis. Dabei handelt es sich um eine Gruppe von Erkrankungen, die der Laie am ehesten mit dem Begriff der »Geisteskrankheit« oder dem »Verrücktsein« assoziiert.

Schizophrenie, um die es in diesem Kapitel in erster Linie geht, kommt in allen menschlichen Kulturen vor und ist – neben Manien und Depressionen – gewissermaßen die klassische psychische Erkrankung.

Die Symptome bestehen zumeist aus dem Erleben von Sinnestäuschungen, insbesondere akustischen Halluzinationen, die für den Betroffenen absolute Realität sind, sowie aus Wahngedanken, die für den Erkrankten ebenfalls unverbrüchlich wahr sind. Dazu gehören zum Beispiel Überzeugungen, vergiftet, verfolgt, bestrahlt oder telepathisch beeinflusst zu werden oder anderweitig obskuren Beeinträchtigungen ausgesetzt zu sein. Menschen mit einer schizophrenen Psychose leiden unter einem übersteigerten Misstrauen gegen ihre Umwelt, hören befehlende oder kommentierende Stimmen im Kopf, und die vermeintlich gegebenen Anweisungen können durchaus auf die Handlungsebene durchschlagen. Die Betroffenen haben das Gefühl, dass ihnen durch ihre Umwelt Gedanken abgezogen oder eingegeben werden, sie fühlen sich auf verschiedene Arten ferngesteuert. Wird die Erkrankung chronisch, kommen vor allem sozialer Rückzug, Interessenverlust, bizarre Verhaltensweisen und ein vermindertes Antriebsniveau hinzu. Bei der sogenannten paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie stehen Wahnerleben und Sinnestäuschungen im Vordergrund, bei der Hebephrenie sind diese Symptome eher flüchtig, und es überwiegt eine ausgeprägte Veränderung von Stimmung und Antrieb. Das Verhalten ist enthemmt, mitunter auch sexuell distanzlos, die Stimmung ist gehoben und eigentümlich unpassend oder verflacht. Es gibt noch weitere Unterformen schizophrener Psychosen, bei denen vor allem Antriebsstörungen oder eine Verflachung der Persönlichkeit im Vordergrund stehen.

Häufig finden die Erkrankten keinen Schlaf und keine Ruhe mehr, verlassen ihre Wohnung, weil sie es darin wegen der vermeintlichen Bestrahlung oder Einleitung von Giftgas nicht mehr aushalten. Nicht selten spüren die Betroffenen solche feindseligen Beeinträchtigungen auch körperlich, obwohl es in der Realität überhaupt keine Drangsalierung gibt. Ihr Handeln wird aber von diesem inneren Erleben, das für die Betroffenen eben unverbrüchliche Realität darstellt, geprägt. Stellen Sie sich vor, Ihr Nachbar glaubt, dass Sie ihn mit heimlich verbauten Laserkanonen ständig bestrahlen, und er fängt nachts an, die Trennwand zwischen seiner und Ihrer Wohnung mit dem Vorschlaghammer zu bearbeiten, um die vermeintlichen Laserkanonen zu finden und zu zertrümmern. Zu diesen hochakuten psychotischen Symptomen kommen noch weitere Krankheitszeichen wie erhebliche Konzentrationsstörungen, emotionale Reizbarkeit oder auch emotionale Abstumpfung, Verwahrlosungsneigung und nicht zuletzt auch Suizidgefahr. Rund ein Prozent der Bevölkerung in den westlichen Ländern leidet unter dieser Erkrankung, weltweit sind es rund 0,8 Prozent. Männer sind mit einem Verhältnis von 1,4 zu 1 etwas häufiger betroffen als Frauen, und sie erkranken auch rund zehn Jahre früher, nämlich vor allem zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr, also in einer Zeit, in der die Persönlichkeitsentwicklung noch nicht abgeschlossen ist.

Neben einer individuellen genetischen Bereitschaft zur Ausbildung der Erkrankung oder einer genetischen Vorbelastung durch erkrankte Angehörige, erhöhen unter anderem Geburtskomplikationen, Migration und Cannabiskonsum das Risiko zu erkranken deutlich. Mehr als die Hälfte der Betroffenen betreibt zusätzlich Alkoholoder Drogenmissbrauch. Beides findet sich deutlich häufiger in der Gruppe jener schizophrenen Menschen, die mit Straftaten in Erscheinung treten. Die Gefahr, Suizid zu begehen, ist um den Faktor 12 erhöht: Knapp fünf Prozent der an Schizophrenie erkrankten Menschen sterben von eigener Hand.

Die meisten Menschen mit einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis sind nicht gewalttätig. Dennoch ist das Risiko für schwere Gewaltstraftaten bei ihnen deutlich erhöht. Viele internationale Studien der letzten 20 Jahre haben das klar gezeigt. So steigt das Risiko für Frauen, Gewaltstraftaten zu begehen, infolge einer schizophrenen Psychose um das 4,5-Fache gegenüber gesunden Frauen. Bei Männern, die insgesamt in der Gruppe der Gewalttäter deutlich überwiegen, steigt das Risiko infolge einer Schizophrenie um den Faktor 1,2 bis 3. Dies betrifft vor allem schwere Gewaltdelinquenz, also versuchte und vollendete Tötungsdelikte wie in den beiden oben dargelegten Fällen. Dass es in beiden Fällen keine Toten gegeben hat, ist glücklichen Umständen zu verdanken, es hätte aber auch anders ausgehen können.

Für Tötungsdelikte steigt das Risiko Schizophrener gegenüber der Allgemeinbevölkerung um das Siebenfache und erhöht sich darüber hinaus noch einmal deutlich, wenn zusätzlich zur schizophrenen Psychose auch noch Rauschmittel wie Alkohol oder Drogen konsumiert werden.

Das Risiko, obdachlos zu werden, wie der Mann im zweiten Beispiel, ist bei einer schizophrenen Erkrankung ebenfalls erhöht, da das ständige Gefühl von feindseliger Beeinflussung und Nachstellung das eigene Zuhause zu einem Ort ständiger Qual werden lässt. Das psychotische Erleben führt dazu, dass man sich quasi aus dem Haus getrieben sieht und es nirgendwo mehr aushält.

Ich erinnere mich an eine Frau, die sich in ihrem Haus ständig lautstark mit Geistern oder Personen stritt, die natürlich nicht anwesend waren. Immer wieder fuhr sie mit ihrem Auto in den Wald, um dort zu übernachten und sich dem vermeintlichen Einfluss ihrer häuslichen Peiniger zu entziehen. An einem solchen Verhalten ist natürlich nichts strafbar, aber es macht verständlich, dass aus einer solchen inneren Not Situationen entstehen können, in denen der Betroffene das Gefühl hat, er müsse jetzt zum Angriff übergehen, um größeres Übel für sich selbst zu verhindern.