Ich denke, also bin ich... mir im Weg - Andrea Weidlich - E-Book

Ich denke, also bin ich... mir im Weg E-Book

Andrea Weidlich

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Beschreibung

Immer wieder stehen wir uns mit unserem eigenen Denken selbst im Weg. Dann meldet sich diese kritische innere Stimme und beginnt, alles kurz und klein zu sabotieren. Aber welche Geschichte erzählt sie uns, die wir für die Wahrheit halten? Neun Menschen machen sich auf den Weg in die Berge, um herauszufinden, wie sie sich von alten Denkmustern befreien können und was sie davon abhält, das Leben zu führen, das sie sich wirklich wünschen. Ein Buch über die die Macht der Gedanken und wie wir damit unsere Realität verändern, wenn wir beginnen, uns eine neue Geschichte zu erzählen. Von der Autorin der SPIEGEL-Bestseller Wo ein Fuck it, da ein Weg und Wie du Menschen loswirst, die dir nicht guttun, ohne sie umzubringen

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Seitenzahl: 406

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ANDREA WEIDLICH

ICH DENKE, ALSO BIN ICH

… MIR IM WEG

ANDREA WEIDLICH

ICH DENKE, ALSO BIN ICH

… MIR IM WEG

Wie deine Gedanken dein Leben verändern und du anfängst, dir eine neue Geschichte zu erzählen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de/ abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

6. Auflage 2024

© 2023 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Redaktion: Anja Hilgarth, Karina Woller

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer, Andrea Weidlich

Layout und Satz: inpunkt[w]o, Wilnsdorf (www.inpunktwo.de)

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-7474-0603-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-98922-010-2

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98922-011-9

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

IRREN IST MENSCHLICH

WIE VERDREHT SICH DREHT

NICHTS FÜR SCHWACHE NERVEN

NUR EIN EINZIGER GEDANKE

GEHT ES DIR GUT?

WAS ZUM FUCKING TEUFEL

INS HIRN GEBRANNT

HALLO LEBEN, WARUM SCHREIST DU MICH SO AN?

WEISHEIT AM ENDE

ICH BIN MIR NICHT SYMPATHISCH

DER SCHEIN DER WELT

SUPPE IM KOPF

WELCHE GESCHICHTE ERZÄHLST DU DIR?

FINAL DESTINATION

IM LÄRM VERIRRT

DER VIERTE DOMINOSTEIN

DIE MUMIE BLINZELT

ROMANTIK GEKLAUT

JENSEITS VON GUT UND CHAKRA

BLINDE FLECKE

IM GLAS GEFANGEN

BEZIEHUNGSKATER

AUßERHALB DES KREISES

DER BÄR IST LOS

GLASEIS

WO BLEIBT MEIN ZEICHEN?

VERLÄSSLICH WIE DIE DEUTSCHE BAHN

DER SPINNER SPINNT

DAS LABYRINTH

GEDANKENMAUERN

IN DER WÜSTE

UNSICHTBARE FÄDEN

GRÜBELFAHRT UND GEISTERBAHN

WILLKOMMEN IM SCHATTENLAND

DREI FINSTERE GESTALTEN

BILDER ABHÄNGEN

HIRNWICHSEN-DETOX

PUPPENSPIELER

DER SCHNEEWEIßE GARTEN

Über die Autorin

Nur ein einziger Gedanke kann dein Leben verändern.

In dem Moment, in dem du erkennst, dass du mehr bist, als du denkst, fängt deine Geschichte an, sich zu verändern.

Welche Geschichte erzählst du dir, seitdem du angefangen hast, nicht mehr an dich selbst zu glauben, sondern all den zweifelnden Stimmen in dir, den lauten, hämmernden Gedanken, die dir einreden wollen, dass du nicht gut genug bist, dass du nichts kannst und auch nichts können wirst, es sich erst gar nicht lohnt zu beginnen, weil du am Ende ohnehin nur verlierst, und du genau das am meisten fürchtest. Welche Geschichte erzählst du dir, wenn du denkst, dass alle anderen es schaffen, nur du nicht, dass du dein Glück irgendwo am Weg verloren hast, wo du es nicht mehr finden kannst, und du müde geworden bist, ihm hinterherzulaufen. Sie berauben dich. All die zermürbenden Gedanken in deinem Kopf erschöpfen dein Herz, das kaum mehr dafür schlägt, wofür es einmal schlagen wollte, nicht mehr dafür brennt, wofür es einmal brennen wollte. Welche Geschichte erzählst du dir, wenn du denkst, du müsstest dich schützen vor dem Durcheinander in deinem Kopf, vor deinem Leben, das doch gelebt und nicht zerdacht werden will. All die Gedanken. So laut. Sie führen Krieg. Die dunklen Geschichten, sie wiegen so schwer. Welche Geschichte erzählst du dir, damit es leichter wird, du Frieden schließt mit dir, und Platz schaffst für das Unerzählte. Den Teil von dir, den du dich noch nicht getraut hast zu leben. Fang an, dir eine neue Geschichte zu erzählen. Sie wartet bereits auf dich.

IRREN IST MENSCHLICH

Niemand steht morgens auf und sagt sich: Heute ist ein guter Tag, um mir mein Leben zu ruinieren. Und trotzdem rennen wir immer wieder sehenden Auges in unser Unglück, weil wir denken, es wäre uns so bestimmt oder einfach nichts anderes für uns bestimmt. Meistens vernehmen wir dann diese leise Stimme in unserem Inneren, die uns zuflüstert: Sei doch nicht lächerlich, was hast du erwartet? Das ist nun mal dein Leben. Dachtest du, du hättest etwas anderes verdient?

Es ist aber auch jener Moment, in dem wir uns fragen sollten, welche Stimme hier wirklich zu uns spricht und welche Geschichte sie uns erzählt, die wir für die Wahrheit halten.

Gibt es die Wahrheit denn überhaupt, oder halten wir die Geschichte, die wir uns immer und immer wieder erzählen, für die Realität und wissen gar nicht mehr, wie sie ohne diese Geschichte aussehen könnte. Wir denken vielleicht, dass wir die Welt so sehen, wie sie wirklich ist. Aber genau das ist eine Illusion. Und vielleicht ahnen wir sogar, dass wir etwas verändern könnten, haben aber nicht die leiseste Ahnung, wie.

Bei sechzig- bis achtzigtausend Gedanken pro Tag wäre anzunehmen, dass auch ein paar konstruktive dabei sind (und ja natürlich sind sie das), aber wenn wir uns die erschreckende Anzahl jener Gedanken ansehen, mit denen wir uns täglich selbst im Weg stehen, wird schnell klar: Ein Mindfuck kommt selten allein. Die Frage liegt daher nahe, ob wir das mit dem Denken nicht vielleicht überdenken oder lieber ganz lassen sollten. Manchmal ist unser größter Feind der Verstand in unserem Kopf. Wir stehen dann im Kaufhaus der schlechten Entscheidungen ganz vorne an der Kasse und bezahlen mit unseren unerfüllten Träumen.

Und obwohl Cicero bereits sagte: Errare humanum est – was so viel heißt wie: Irren ist menschlich, scheint das zwar die optimale, aber doch keine sonderlich zielführende Ausrede zu sein. Nur weil wir Menschen sind, wollen wir uns ja nicht unentwegt irren. Die gute Nachricht ist aber: Es liegt in unserer Hand – oder besser in unserem Kopf, das zu ändern. Denn genau das ist möglich.

Bevor du jetzt anfängst zu grübeln, wie dir das gelingen könnte, wirst du dich mit diesem Buch gemeinsam mit neun anderen Menschen auf den Weg machen, ihre wahren Geschichten erfahren und damit auch deiner eigenen näherkommen. Vielleicht denkst du zuerst, dass du mit manchen von ihnen gar nichts gemein hast, aber sie erinnern dich an jemanden, den du kennst, und irgendetwas an ihrer Geschichte zieht dich in den Bann. Während des Lesens kommst du möglicherweise drauf, dass deine und ihre Geschichte letztlich doch ineinandergreifen, weil dir das ein oder andere Gefühl bekannt vorkommt und ihr euch dieselben Gedanken teilt. Bei anderen erkennst du dich vielleicht von Anfang an wieder und es fühlt sich an, als würde jemand über dich und dein Leben erzählen.

Ich hoffe, dass sie alle auf ihre Weise einen Teil von dir berühren und etwas in dir bewegen, weil du merkst, dass auch du deine Gedanken ändern kannst, um dein wahres Potenzial zu leben. Und während du Seite an Seite mit diesen Menschen durch den Schnee stapfst, mit ihnen deine inneren Zweifel überwindest und am Horizont den Gipfel deiner Möglichkeiten erkennst, wirst du vermutlich etwas in ihren Fußspuren entdecken, das dich an deine eigenen Schritte erinnert. Während des Lesens werden sich dann nach und nach ganz neue Wege in deinem Kopf erschließen, die du daraufhin auch in deinem Leben klar vor dir siehst, und die dich für alles öffnen, von dem du bisher dachtest, es wäre nicht möglich für dich.

Du fängst dann an, ganz neue Gedanken zu wählen und dir eine neue Geschichte zu erzählen, und während sich dabei gleichzeitig eine neue Spur durch den Schnee an die glitzernde Oberfläche bahnt, wünsche ich dir, dass du schon bald den Mut in dir entdeckst, dich ganz auf dich und deine Möglichkeiten einzulassen. Es wird der Moment sein, an dem dein Kopf zur Ruhe kommt und sich dein Herz öffnet.

Deine Geschichte verändert nicht nur deinen Blick auf die Welt. Sie verändert die Welt.

WIE VERDREHT SICH DREHT

Es schien ein ganz normaler Samstag zu sein. Erst mal. Bis er es nicht mehr war.

Dabei waren wir doch gerade noch Abendessen gewesen in diesem kleinen neuen Bistro, das vorne an der Ecke eröffnet hatte, wo wir unbedingt gemeinsam hingehen wollten, um später über den schlecht gelaunten Kellner zu lachen, der offenbar schon am ersten Tag die Nase voll von seinem Job hatte. Genau genommen hatte aber niemand von uns gelacht, sondern ich hatte ganz für mich allein darüber nachgedacht, dass wir früher darüber gelacht hätten. Als noch alles gut war. Stattdessen hatten wir geschwiegen.

Und trotzdem hätte ich zu jenem Zeitpunkt nicht gedacht, dass sich an diesem Tag, der so harmlos begonnen hatte, noch alles ändern würde. Und nun stand ich da, mit beiden Füßen vor dem Kanalgitter, und starrte auf die dunkle Straße, die beinahe unüberwindbar vor mir lag und mir vorkam wie der längste Weg, den ich je zu beschreiten hatte.

Ich wollte tief durchatmen, aber es gelang mir nicht. Zu sehr drehten sich meine Gedanken in mir. Immer weiter. So weit, dass ich schon ganz schwindlig davon war. Sie drehten sich mit mir. Nur nicht um mich. Sie waren so viel stärker als ich. Ich hatte keine Ahnung mehr, wie es mir ging. Alles, was ich spürte, war diese unendliche Enge in meiner Brust – ein Paradoxon, weil Enge und Unendlichkeit doch gar nichts gemein haben. Dieses Gefühl, nicht mehr klar denken zu können, allerdings schon. Da war kein Raum mehr, um durchzuatmen. All die Gedanken, sie nahmen zu viel ein. Sie versuchten akribisch zu zerlegen, was geschehen war: Wie all das passieren konnte. Wer Schuld hatte. Und warum es überhaupt so weit gekommen war. Womöglich hatten aber genau dieselben Gedanken mich überhaupt erst in diese Lage gebracht.

Wie verdreht sich manchmal alles dreht.

Ich überwand mich, den ersten Schritt zu machen, weil mir ohnehin nichts anderes übrigblieb. Also ging ich los. Ich zerrte mich und das Gewicht, das so schwer an mir hing wie mein Leben, die Straße hinauf. Es fühlte sich an wie eine halbe Ewigkeit, bis ich schließlich am Ende angekommen war.

Am Ende …, dachte ich noch.

Und wie eine einzige Verhöhnung fing es genau in diesem Moment zu regnen an. Es geschah exakt in jener Sekunde, als ich mich zum ersten Mal umdrehte und das Haus nicht mehr sah. Mein Zuhause. Es war verschwunden. Ich konnte es nicht mehr sehen. Nichts als Regen. Als klopfte er jeden einzelnen Gedanken hart vor mir auf den Boden. Im Gleichtakt mit der Stimme in meinem Kopf. Wie gnadenlos sie doch war. Ich hatte sie noch nie gemocht. Genauer gesagt hatte ich sie immer schon gehasst. Wie jemanden, den man nicht leiden kann, bevor er überhaupt noch etwas gesagt hat, weil man schon im Vorhinein weiß, dass nichts Gutes dabei rauskommt.

Und es ist wahrlich nichts Gutes dabei rausgekommen.

 

Wenn sich alles dreht, dann vielleicht in eine neueRichtung.

NICHTS FÜR SCHWACHE NERVEN

Ich war gerade nichtsahnend mit einer Tasse Abendruhe-Tee auf dem Weg von der Küche zurück zu meiner Couch und wollte dem Motto meines Tees gerecht werden und nach einem anstrengenden Tag endlich zur Ruhe kommen, als ich im Augenwinkel den ersten Satz auf dem Display meines Handys entdeckte:

Charly

Ich freue mich, euch mitzuteilen, dass ich gerade dabei bin, mein Leben zu ruinieren.

Als ich gleich darauf mit dem Finger über mein Telefon wischte, konnte ich kaum glauben, was da stand:

Charly hat die Gruppe »#Selbstsabotage – nichts für schwache Nerven« erstellt.

Charly hat dich hinzugefügt.

Charly hat das Gruppenbild geändert.

2 Minuten später

Adrian

Und sonst noch? … Oder hältst du das etwa für etwas Neues?

1 Minute später

Rebecca

Gruppenchat?! Bitte sag mir, dass das kein Notfall ist, Charly!

Bevor ich noch überlegen konnte, was ich für bedenklicher hielt – die Tatsache, dass Charly der Überzeugung war, ihr Leben zu ruinieren, oder dass sie es uns über einen Gruppenchat mitteilte –, ließ sie bereits die nächste Bombe platzen.

Charly

Es ist jetzt offiziell: Heute ist das passiert, wovor ich mein ganzes Leben lang Angst hatte, und tja, jetzt ist es so weit: ES IST ALLES VORBEI! Und mit Alles meine ich auch ALLES: Mein Job, meine Beziehung … Ich habe noch nicht mal mehr ein Zuhause … Alles weg!

Ich kippte einen Teil meines brühheißen Abendruhe-Tees über meinen Zeigefinger, als ich versuchte, mit der Tasse in der Hand zu antworten – was mir allerdings nur mittelmäßig gelang. Dabei fluchte ich laut, weil mein Finger von dem siedenden Teewasser schmerzte, das von da aus weiter auf den Couchtisch tropfte.

Aber nichts von all dem hielt mich davon ab, in Großbuchstaben in den Gruppenchat zu schreien:

BITTE WAS IST PASSIERT?!

Rebecca

Also doch ein Notfall … oder machst du Scherze, Charly?

Charly

NEIN! Wenn mir momentan nach etwas nicht zumute ist, dann ist es nach Scherzen! Ich bin nur noch am Heulen! Dabei habe ich mir wahrscheinlich alles selbst zuzuschreiben … Und wisst ihr warum?! Ich bin die personifizierte Alarmstufe Rot! Innen wie außen! Von all den roten Flaggen dieser Welt bin ich die verheerendste – und zwar für mich selbst!

30 Sekunden später

Und: Ja, ich verwende jetzt Ausrufezeichen hinter jedem Satz! Ist mir egal, wenn ich verrückt wirke! Ich bin es! Ich bin verrückt! Das alles macht mich verrückt! Verrückte Grüße!

Adrian

Carlotta Henriette! Königin des vereinigten Reichs der Rotflaggen und Meisterin der theatralischen Darstellung ... Könnte es eventuell sein, dass du wieder einmal ein klitzekleines bisschen übertreibst?! Rot war zwar immer schon deine Farbe, aber ich schlage vor, du fährst die Flagge wieder ein und beruhigst dich hier mal. Falls niemand getötet oder verletzt wurde, ist doch alles halb so tragisch. Keine Tragödie, hörst du?! Sei bitte nicht immer so nah am Drama gebaut!

Charly

Kannst du nicht lesen, Adrian? Oder was verstehst du nicht an:

A l l e s i s t w e g?

Adrian

Bitte, Charly! Was soll das denn überhaupt heißen?! Auf der Straße wirst du niemals stehen, weil du Freunde hast, die neuerdings anscheinend sogar Gruppenchats dulden und bei denen du im Notfall auch wohnen kannst. Und wir reden hier von dem Verlust eines Jobs und einer Beziehung (wie kam das denn überhaupt?!) ... aber doch von keinem Todesurteil! Wobei, wenn ich so darüber nachdenke, hat Beziehung ja immer auch ein klein wenig davon …

Charly

Du verstehst nicht, Adrian! Es ist wirklich noch viel schlimmer, als du denkst!

Charly tippt …

Das alles klang tatsächlich noch dramatischer, als ich es von Charlys dramatischer Art gewohnt war. Ich fing daher an, nach Anhaltspunkten zu suchen, was geschehen sein konnte. Dabei flogen meine Augen wie im Fahndungsmodus blitzschnell über den Bildschirm hinauf zu dem winzig kleinen Gruppenbild, das Charly erst wenige Minuten zuvor hochgeladen hatte. Ich klickte es an und traute meinen Augen nicht: Da stand ein Koffer, auf einer dunklen verlassenen Straße.

Charly hatte mittlerweile aufgehört zu tippen und antwortete nicht mehr.

Jetzt machte ich mir wirklich Sorgen.

Sich Sorgen zu machen, bedeutet, das Unglück einzuladen, bevor es sich überhaupt auf den Weg gemacht hat.

 

Achte auf deineGedanken, sie könntenRealitätwerden.

NUR EIN EINZIGER GEDANKE

Es heißt, nur ein einziger Gedanke kann unser Leben verändern. Genau genommen sagte das Paul eine Woche später zu uns, der unser Leben aus diesem und vielen weiteren Gründen tatsächlich noch verändern würde – auch wenn das zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnte.

Es gibt Momente im Leben, in denen alles zum Stillstand kommt. Innerlich wie äußerlich – und im Nachhinein ist oft völlig unklar, was zuerst geschehen ist. Als hätte die Welt den Atem angehalten und dann haben auch wir den Atem angehalten – oder umgekehrt. So genau kann das später niemand mehr sagen.

Aber manchmal geschieht etwas in unserem Leben, vielleicht auch in einem anderen, und es trifft uns, weil letztlich alles miteinander zusammenhängt. Nicht nur unsere Gedanken, sondern auch unsere Leben, die unsichtbar miteinander verwoben sind und eines das andere beschwingt, vorantreibt und manchmal auch erschüttert oder alles bewegt. Vielleicht sind es genau diese Momente, die all die lauten Stimmen im Kopf zum Schweigen bringen und die unzähligen Zweifel für einen Moment stoppen, um vom Karussell abzuspringen, weil es sich ohnehin schon zu lange um das Falsche gedreht hat. Aber was wäre denn das Richtige? Braucht es das Falsche, um zu erkennen, was richtig ist? Im letzten Jahr hatten sich bereits einige Dinge zum Positiven gewendet: Die Pandemie lag nun endlich hinter uns und unser Leben verlief wieder in normalen Bahnen. Seither hatten sich aber einige von uns gefragt, was denn normal tatsächlich bedeutete. Gab es so etwas wie ein normales Leben überhaupt oder waren wir immer nur einen Gedanken von der nächsten Entscheidung entfernt, die unser Leben komplett verändern würde? Zum Guten wie zum Schlechten. Obwohl wir mittlerweile wussten, dass das Leben nicht immer kontrollierbar war, war uns zum damaligen Zeitpunkt noch nicht bewusst, wie sehr unsere Gedanken unsere Entscheidungen beeinflussten und welche Auswirkung sie darauf hatten, wie wir die Welt sahen und wie wir sie dadurch für uns veränderten.

An diesem Abend begriff ich zum ersten Mal, dass wir immer nur einen Gedanken davon entfernt waren, ob die Geschichte, die wir uns erzählten, alles für uns zum Guten veränderte oder ob wir begannen, alles kurz und klein zu sabotieren, weil wir ohnehin nichts anderes erwarteten.

Dieser Abend würde für uns alle zu einer Wende führen, bei der wir erkannten, dass es an der Zeit war, damit aufzuhören, wie Puppen an unsichtbaren Fäden unserer losen, ausgeleierten, längst ausgedienten alten Gedanken zu hängen, von denen wir uns immer noch bestimmen ließen. Damals dachte ich, das Ziel müsse es sein, die Fäden einfach durchzuschneiden, aber die Lösung sah ganz anders aus.

Wer hätte geahnt, dass Charlys Geschichte an diesem Abend etwas in uns allen veränderte, auch wenn wir das zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wussten. Vermutlich dachten wir damals alle, der Tiefpunkt wäre immer unser wunder Punkt – und das war er im Grunde auch –, aber manchmal ist er eben auch ein Wendepunkt, der uns dazu veranlasst, alle weiteren Punkte zusammenzuführen, sie zu verbinden und daraus eine ganz neue Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die alles verändert.

 

Wichtiger als die Welt um dich herum, ist die Welt in dir.

GEHT ES DIR GUT?

Ganze drei Stunden hatte Charly nach ihrem dramatischen Gruppenchatauftritt nichts mehr von sich hören lassen und war genauso abrupt wieder verschwunden, wie sie ihren digitalen Hilferuf auf unsere Displays geschmettert hatte.

Das Bild mit dem einsamen Koffer auf der dunklen Straße ließ sie in unseren Köpfen zurück – genau wie die unzähligen Gedanken, die mittlerweile verrücktspielten, zumindest meine. Sorgen schienen wir uns aber alle zu machen – selbst Adrian, den sonst nichts so leicht beunruhigte, was auf eine ganz eigene Art und Weise beunruhigend war. Genau wie die Fragen in meinem Kopf: Wo war Charly hin? Was war passiert? Und ging es ihr gut? Letzteres schien offensichtlich nicht der Fall zu sein, das konnte man aus ihren Nachrichten eindeutig herauslesen.

Aber sie konnte uns doch nicht einfach all diese Ereignisfetzen hinwerfen und uns dann völlig ahnungslos mit einem Haufen Fragen zurücklassen und wieder verschwinden. Warum hatte sie plötzlich aufgehört zu tippen?

Meine Gedanken kreisten um die Sorge, es könnte ihr am Ende etwas Schlimmes zugestoßen sein, nach allem, was ohnehin bereits passiert war – ohne genau zu wissen, was das überhaupt war. Ich versuchte Charlys Freund zu erreichen, aber der hob auch nicht ab. Wozu besaß eigentlich die ganze Welt ein Mobiltelefon, wenn kein Mensch davon Gebrauch machte, wenn es einmal wirklich dringend war?!

Da half selbst der Abendruhe-Tee nichts: Seit meinem verbrannten Finger und Charlys kryptischen Nachrichten zermarterte ich mir den Kopf, was geschehen war und wohin sie verschwunden sein konnte.

Adrian, Rebecca und ich schrieben noch eine ganze Weile hin und her, aber zu einer wirklichen Lösung kamen wir nicht. Und irgendwie war das alles auch wieder einmal ganz typisch für Charly. Als würde sie das Leben immer dann um ein wenig Spannung bitten, wenn es ihr gerade zu langweilig wurde. Erst kürzlich hatten wir darüber gesprochen, dass sie keine Aufregung mehr empfand und ihr alles irgendwie anstrengend und trostlos vorkam, obwohl ich fand, dass es doch gerade angefangen hatte, richtig gut für sie zu laufen. Charly hatte das anders gesehen. Und im Nachhinein war ich mir nicht sicher, ob sie es nur für den Moment nicht sehen konnte oder es ganz generell nicht sehen wollte, weil das bedeutet hätte, dass es endlich auch einmal gut für sie sein durfte und das letztendlich völlig gegen ihre Vorstellung vom Leben lief.

Als ich gerade darüber nachdachte, ob sie womöglich alles selbst hingeschmissen hatte, aber mir beim besten Willen nicht erklären konnte, warum sie das getan haben sollte, schrillte der Signalton meines Handys so ohrenbetäubend laut, dass er mich beinahe zu Tode erschreckte. Ich ärgerte mich richtig darüber, obwohl ich die letzten eineinhalb Stunden auf nichts anderes gewartet hatte, seit auch im Gruppenchat wieder absolute Stille einkehrt war.

Charly

Sorry, Akku war leer. Hab gerade bei Adrian durchgeklingelt und werde bei ihm übernachten!

Adrian

Wozu hat man denn beste Freunde? Wenn man die nicht nerven kann, wen dann?!

Noch nie kam mir Adrians Sarkasmus so beruhigend vor wie in diesem Moment. Auch wenn vielleicht nicht alles gut war. Zumindest war Charly in Sicherheit. Den Rest würden wir schon hinbekommen. Und genau während dieses beruhigenden Gedankens meldete sich die wohl beruhigendste Person in diesem immer wieder sehr beunruhigenden Leben.

Es war Paul Goldbach. Aber auch Charlys Nachricht, die jetzt beinahe so klang, als wäre davor überhaupt nichts passiert, führte dazu, dass ich mich wieder einigermaßen entspannen konnte. Daher war ich amüsiert und verblüfft zugleich, als ich Pauls Namen in unserem Gruppenchat aufblitzen sah. Auf dieser ganzen weiten Welt würde vermutlich kein Mensch je auf die absurde Idee kommen, in einen dramatischen Gruppenchat seinen Therapeuten mit einzubeziehen und ihn damit gewissermaßen dazu zu nötigen, Teil dieser nervenaufreibenden Gruppenunterhaltung zu werden. Aber Charly hatte anscheinend genau das getan.

Paul

Ich sehe, hier scheint einiges passiert zu sein. Ich hätte da einen Vorschlag, der euch vielleicht allen gefallen könnte und auch etwas Klarheit ins Chaos bringen wird. Ich melde mich morgen mit Details.

Schönen Abend, Paul.

Selbst eine Gruppenchatnachricht las sich bei Paul mehr wie eine Wohlfühlbotschaft an die Seele. Immerhin schaffte er es, in nur wenigen Worten jegliches Drama rauszunehmen und gleichzeitig auch noch eine Lösung anzubieten.

Jetzt kreisten meine Gedanken nicht mehr um Charlys Drama, sondern darum, was Paul wohl für einen Vorschlag für uns hatte. Schließlich war wieder genau ein Jahr vergangen, seit wir mit ihm durch den Wienerwald marschiert waren, und nach dem Gesetz der Folge war es daher wieder höchste Zeit, ein paar von Pauls Weisheiten in unser Leben zu holen. Es schien beinahe schon so etwas wie eine Tradition geworden zu sein. Und auch wenn Traditionen meist für ein schönes warmes Gefühl im Bauch sorgen, war es insgesamt an diesem Abend etwas zu viel Aufregung für meinen Kopf gewesen. In der Nacht wälzte ich mich von einer Seite zur anderen und schlief kaum.

Wenn unsere Gedanken innerlich Kreise ziehen, engen sie uns dann ein?

 

Manchmal ist derdunkelste Ort,an dem du dich befindest,deineigener Kopf.

WAS ZUM FUCKING TEUFEL

Am nächsten Tag schickte uns Adrian immer wieder Fotos von Charly in den Gruppenchat, die sie in etwa folgendermaßen zeigten: Charly traurig. Charly nachdenklich. Charly genervt. Charly wütend darüber, dass Adrian Fotos von ihr in den Chat stellte. Eben Charly, wie wir sie kannten. Und genau das konnte sie derzeit wahrscheinlich am allermeisten gebrauchen: Jemanden, der sie daran erinnerte, wer sie war, um sich nicht selbst zu verlieren.

In gewohnter Adrian-Art schenkte er ihr auf diese Weise seine freundschaftliche Aufmerksamkeit, um sie wie immer ein wenig zu ärgern und gleichzeitig davon abzuhalten, ›einfach auszuwandern und alles hinter sich zu lassen‹, wie sie es zwischendurch im Gruppenchat angedroht hatte. Wir alle wussten, dass Charly das keineswegs bis zum Ende durchgedacht hatte, aber wir wussten auch, dass ihr in Ausnahmefällen alles zuzutrauen war. Genau deshalb war es beruhigend, dass Adrian an ihrer Seite war, der sie vorerst von unüberlegten Kurzschlussreaktionen abhalten würde, die sie vielleicht überhaupt erst in diese Situation gebracht hatten.

Ich wusste zwar immer noch nicht, was genau geschehen war, weil mir die Frage »Was zum fucking Teufel ist eigentlich passiert?« für den Moment eher unpassend vorkam. Ich ging aber davon aus, dass Charly uns früher oder später ohnehin alles erzählen würde, sobald sie dazu bereit war. Ich wartete daher auf die versprochene Nachricht von Paul Goldbach, der aus Erfahrung nicht nur genau wusste, was zu sagen, sondern auch, was zu tun war. Umso erfreuter war ich, als sie einige Stunden später tatsächlich eintraf.

Wie immer hatte ich mit vielem gerechnet, aber was Paul dann schrieb, überraschte mich aufs Neue – und das, obwohl mich Paul Goldbach nun schon viele Male überrascht hatte und ich mich langsam daran hätte gewöhnen können, dass er immer wieder für eine Überraschung gut war.

Paul schickte uns eine Sprachnachricht, in der er uns erklärte, dass er die letzten drei Wochen auf einem Kongress in den USA gewesen war und sich dort alles um die neuesten neurowissenschaftlichen Erkenntnisse und die psychologischen Hintergründe des menschlichen Denkens gedreht hatte. Dabei warf er mit ein paar Fachbegriffen um sich, die ich bereits im nächsten Moment wieder vergessen hatte. Er erklärte uns, dass wir unser Leben maßgeblich durch unsere Gedanken bestimmten und wir uns anscheinend auch immer wieder mit unserem eigenen Verstand im Weg stehen würden, worauf ich heftig nickte, was im Gruppenchat natürlich niemand mitbekam. Alles in allem klang es nach einem Thema, das wohl für den Großteil der Menschheit hilfreich sein konnte, da Denken nicht immer zu den größten Stärken der menschlichen Spezies gehörte. Hingegen zählte exzessives Grübeln – oder Hirnwichsen – wie meine freie Übersetzung dafür lautete – mittlerweile wohl zu einer der verbreitetsten Volkskrankheiten überhaupt.

Ich fragte mich langsam, was dieser Mann eigentlich nicht wusste und wie dadurch sein eigenes Leben verlief. Hatten Therapeuten auch so etwas wie eigene Probleme, die sie mit sich herumtrugen und abends vor dem Einschlafen wälzten, oder lösten die sich irgendwo zwischen Kongressen über Gehirnforschung, der Analyse komplexer Denkprozesse und der Auseinandersetzung mit den Gefühlen anderer Leute vollkommen in Luft auf? Ich überlegte, ihn das bei der nächsten Gelegenheit zu fragen, als er mir auch schon die Gelegenheit dafür lieferte. Paul erzählte nämlich, dass er direkt nach seinem USA-Aufenthalt für eine Vortragsreihe nach Tirol gereist war, wo er in der kommenden Woche sein Fachwissen an andere Dozierende seiner Berufsgruppe in einem Chalet mitten in den Bergen weitergeben würde. Anscheinend war extra ein Fernsehteam angereist, um seine Vorträge aufzuzeichnen – unter ihnen auch ein Produzent, der für das kommende Jahr eine eigene Sendung mit Paul plante –, was in meinem Kopf gleichbedeutend damit war, dass Paul bald berühmt sein würde, was ich im Übrigen für längst überfällig hielt.

Der eigentliche Grund, warum er uns das aber alles erzählte, war, dass es dadurch bereits jede Menge Werbung für das Chalet gegeben hatte und sich die Besitzer deshalb dazu bereiterklärt hatten, Paul für das bevorstehende Wochenende weitere Zimmer zur Verfügung zu stellen, da sie den Betrieb für den Zeitraum der Veranstaltungswoche ohnehin vollständig geblockt hatten. Und da Paul bereits vorgehabt hatte, in den darauffolgenden Tagen die Gegend rund um den Wilden Kaiser zu erkunden, bot er uns an, ein spontanes Wochenende mit ihm in den Bergen zu verbringen, bei dem wir gemeinsam in dem Chalet wohnen und mehr über seine neuesten Erkenntnisse erfahren würden. Es standen uns vier Doppelzimmer zur Verfügung, die wir beliebig belegen konnten. Paul überließ uns die Entscheidung, wer an dem Wochenende dabei sein durfte. Der Produzent würde auch dabei sein, hatte aber bereits sein eigenes Zimmer.

Ich spürte Aufregung in mir. Die gute Aufregung, von der Charly gesprochen hatte und die sie in letzter Zeit in ihrem Leben vermisst hatte. Ich konnte sie in dem Moment spüren. Und als ginge es Charly genauso, folgte auch gleich eine Sprachnachricht von ihr: »Auch wenn das alles beängstigend eng mit meiner derzeitigen Situation und der Tatsache zusammenhängt, dass ich eventuell ein paar Schrauben locker habe, die dringend wieder festgeschraubt gehören, verfüge ich momentan, wie ihr wisst, über kein eigenes Zuhause ... Also hört sich ein Chalet für mich ziemlich gut an – auch wenn ich dadurch die Nervensäge neben mir dann anscheinend nicht so schnell loswerde …«

»Man nennt es auch Undankbarkeit«, antwortete Adrian beleidigt. Immerhin hatte er Charly gerade bei sich zu Hause aufgenommen, weil sie selbst keines mehr hatte. Wer die beiden kannte, wusste aber, dass sie denselben bissigen Humor in ihrer Freundschaft teilten, mit dem sie sich gerne gegenseitig aufzogen und sich diesbezüglich wenig schenkten.

Dass sie dennoch zusammenhielten, wenn es darauf ankam, hatten sie die letzten Tage aber wieder bewiesen. Zumindest Adrian – und ich wusste, dass es bei Charly genauso war. Die beiden gingen miteinander durch dick und dünn, auch wenn sie sich dabei gegenseitig so sehr nervten, als gäbe es kein Morgen.

»Fernsehteams sind am Wochenende aber keine mehr dabei, hoffe ich?«, fragte Rebecca skeptisch.

»Nein, nein, keine Sorge …«, beruhigte sie Paul. »James O’Reilly wird zwar dableiben, aber ohne sein Kamerateam. Vielleicht habt ihr schon mal von ihm gehört: Er ist ein bekannter Film- und Fernsehproduzent, der seine Finger in der gesamten Medienbranche im Spiel hat. Charly, ich glaube, es könnte sehr interessant für dich sein, ihn kennenzulernen. Er kommt ursprünglich aus Irland, hat später seine Jugend in Großbritannien verbracht und ist vor ein paar Jahren nach Deutschland gezogen. Seither produziert er sowohl für den deutschsprachigen DACH-Raum als auch international erfolgreiche Filme und Serien. Ihr könnt euch wirklich alle auf ihn freuen. James ist ein sehr kluger Kopf und hat schon unglaublich viel erlebt. Er hat außerdem Andreas Bücher gelesen und wollte so ein Wochenende auch gern mal persönlich erleben. Du scheinst ihn neugierig gemacht zu haben, Andrea ...«

»Oh wie schön ... das freut mich sehr«, antwortete ich ebenfalls mit einer Sprachnachricht. »Und ich werde später auch gleich Lukas fragen, ob er auch wieder dabei ist!«

»Und ich meine Freundin Zahra, für die wäre das momentan genau das Richtige!«, legte Rebecca nach – was bedeutete, dass sie auch wieder dabei sein würde, worüber ich mich ungemein freute.

»Cleo …, wenn ich es mir so überlege, muss Cleo auch mit!«, rief Charly hinterher. »Auch wenn Adrian hier jetzt gerade wild mit den Augen rollt. Er hat einfach keine Ahnung, was Cleo für ein lieber Mensch ist … Adrian!! Hör auf!« Ich hörte ihn irgendetwas im Hintergrund murmeln, dann meldete sich Charly wieder: »Okay, ich sag euch besser nicht, was er gerade gesagt hat … Ein Zeichen dafür, dass sie unbedingt dabei sein muss!«

»Ich lass mich überraschen«, meinte Paul abschließend. »Ihr habt Platz für sieben Leute. Mit James und mir sind wir dann insgesamt neun. Ich schicke euch noch die genaue Adresse. Das Chalet liegt in Going am Wilden Kaiser und ich verrate nicht zu viel, wenn ich euch sage: Es ist wirklich ganz bezaubernd dort! Wenn ihr es also mit eurer Arbeit einrichten könnt, kommt doch schon am Freitagabend und wir starten dann am Samstag nach dem Frühstück.«

»Welche Arbeit?«, scherzte Charly und gleich darauf war wieder ein Rascheln zu hören. Offensichtlich übernahm Adrian dieses Mal das Handy. »Going am Wilden Kaiser?! Das ist ein Scherz, oder?!«, lachte er. »Na, wenn das nicht das perfekte Motto ist!« Und Charly, die sich ihr Telefon anscheinend wieder zurückerobert hatte, rief: »Wild trifft es wirklich gut! Genau so fühlt es sich derzeit an. Mein Hirn schreit: Nur noch dreiunddreißig Breakdowns, dann ist morgen! Wie viele macht das bis nächste Woche? Na egal. Es wird jedenfalls wild!«

Ein einziger Mensch kann alles für dich verändern. Lass es dichselbst sein.

INS HIRN GEBRANNT

Kurz darauf rief ich meinen besten Freund Lukas in der Schweiz an und erzählte ihm hellauf begeistert von dem Chalet in Tirol und der Chance, ein gemeinsames Wochenende mit ihm und den anderen in den Bergen zu verbringen. Dabei hatte ich ein glasklares Bild in meinem Kopf, das sich irgendwo zwischen gemütlichem Kaminfeuer, dem herrlichen Blick auf die Bergspitzen und einem heißen Glühwein abzeichnete, das ich ihm in den eindrucksvollsten Ausführungen schilderte. Kein Wunder, dass ich Lukas rasch davon überzeugen konnte mitzukommen, der dafür ein etwas weniger euphorisches »Um Himmels willen, von mir aus!« am anderen Ende der Leitung übrighatte, was nach vielen gemeinsamen Freundschaftsjahren übersetzt für mich so viel hieß wie, dass er sich ebenfalls darauf freute. Zumindest hatte ich mir angewöhnt, es so zu interpretieren.

Das romantische Bild in meiner Vorstellung wuchs sich im Laufe der Woche aufgrund meiner enormen Vorfreude zu einem bewegten Film in meinem Kopf aus, der sich immer wieder in den sattesten Farben und kaum zu übertreffender Idylle vor meinem geistigen Auge abspielte. Schließlich hätte es genau so kommen können, davon war ich überzeugt. Und auch bei unserer Ankunft am Freitag in der Nacht wirkte es noch so. Paul hatte bei seinen Schilderungen über das Chalet wirklich nicht zu viel versprochen, und von dem, was wir zu diesem Zeitpunkt in unserem erschöpften Zustand nach der anstrengenden Anreise erkennen konnten, waren Lukas und ich uns einig: Es war wirklich bezaubernd.

Die Realität holte uns allerdings recht rasch wieder ein, denn gleich am darauffolgenden Tag präsentierte sich uns eine ganz andere Seite des Wilden Kaisers, die rein gar nichts mit einem gemütlichen Aufenthalt in dem luxuriösen Chalet zu tun hatte.

Als wir am späten Vormittag und bei relativ soliden Wetterverhältnissen mit zwei Gondeln von der Tiroler Astbergbahn von achthundertfünf weiter auf tausendfünfhundertachtzig Höhenmeter zur Bergstation hinauffuhren, sich die Türen öffneten und wir kurz darauf das schützende Dach der Station verließen, sah die Welt jedenfalls ganz anders aus. Paul hatte uns eben noch beim Frühstück von dem traumhaften Bergpanorama vorgeschwärmt – und ich hatte ihm das auch gerne geglaubt –, doch davon war in dem Moment relativ wenig zu sehen. Das romantische Bild, das sich die ganze Zeit über in mein Hirn gebrannt hatte, war mit einem Mal erfroren. Es zerschellte am eiskalten Boden und die Realität wehte uns in frostigen Schneeböen ins Gesicht.

Da standen wir nun wie neun Eisskulpturen, denen der Schnee bitterkalt ins Gesicht fegte und die statt dem versprochenen atemberaubenden Ausblick auf den Wilden Kaiser nichts als Schneegestöber und ein paar gefrorene Eiszapfen sahen, die sich innerhalb weniger Sekunden vor unseren Mützen gebildet hatten und jetzt mehr oder weniger aufdringlich in unserem Sichtfeld hingen.

»Gemütlich!«, rief Adrian und verschluckte währenddessen ein paar Flocken, die ihm dabei ins Gesicht bliesen.

»Bitte, allen Ernstes ... das gibt es doch nicht!«, regte sich Charly auf. »Hat sich denn wirklich alles in meinem Leben gegen mich verschworen … auch das Wetter?! Das kann doch verdammt noch mal nicht sein!« Sie zog sich dabei ihren Schal über den Hals, legte ihn anschließend über den Mund und verstummte.

»Hätte mal jemand die Wettervorhersage angesehen, wären wir jetzt vielleicht gemütlich in der Sauna«, sagte Lukas in meine Richtung. Die Vorstellung, mit Paul und allen anderen in der Sauna zu sitzen, fühlte sich allerdings ähnlich befremdlich für mich an wie der Schneesturm, der uns auf dem Plateau entgegenwehte. Obwohl wir in dem Moment wohl alle ein wenig Wärme brauchen hätten können. Meine Wangen waren jedenfalls zu dem Zeitpunkt bereits eingefroren, deshalb sagte ich erst gar nichts dazu. Das übernahm aber gleich Paul für mich, der Lukas offensichtlich gehört hatte: »Ich habe mir den Wetterbericht heute Morgen angesehen und es ist gar nicht ungewöhnlich für den Wilden Kaiser um diese Zeit. Es soll aber später noch auflockern. Da wird es dann ein wenig gemütlicher«, sagte er und blickte weiter zu Adrian. »Und jetzt schlage ich vor, wir marschieren weiter zur Hütte auf die Brenneralm und wärmen uns dort erst einmal auf.«

»Keine schlechte Idee«, hauchte Rebecca ungewöhnlich leise und blies sich dabei in ihre roten Hände, die sie dabei prüfend betrachtete, bevor sie sie wieder in ihren Jackentaschen versenkte. Ihre Handschuhe schien sie vergessen zu haben.

»Wir müssen uns zunächst links halten«, erklärte Paul weiter. »Dann folgen wir der Beschilderung Rauher Kopf über den Wanderweg Nr. 9 weiter zur Kreuzung Greiln. Von dort ist es dann nicht weit zur Brenneralm, wo wir einkehren werden, bevor es später Richtung Hartkaiser weiter zum Rauhen Kopf geht.«

»Einkehren klingt gut«, murmelte ich, und Adrian hatte währenddessen wieder einen Lachkrampf. »Ich kann nicht mehr ...!«, rief er und lachte immer noch. »Wilder Kaiser … Rauher Kopf … Sag Paul, hast du das alles hier passend zum Thema ausgesucht?!«

»Ach so, nein … Das ist reiner Zufall«, grinste Paul, während er auch schon losmarschierte. »Aber wer weiß, vielleicht hat mein Gehirn genau danach gesucht, als ich mich nach einem Ort für meinen Vortrag umgesehen habe …«

»Es gibt keine Zufälle«, meinte Charlys Freundin Cleo. Sie nickte, als wollte sie es sich selbst versichern, und Lukas verdrehte die Augen. Ich war nicht sicher, ob er es tat, weil ihn die Diskussion über mögliche Zusammenhänge des Lebens nervte oder ihm der Ausflug unter den zugegeben etwas mühsamen Bedingungen ganz generell mächtig auf den Senkel ging. Einen Senkel, der mittlerweile tief im Schnee versunken war. Rebeccas Freundin Zahra, die sich an diesem Morgen bereits bei uns vorgestellt hatte, und James, der, wie von Paul angekündigt, tatsächlich einen sympathischen Eindruck machte, sagten erst mal beide nichts. Vielleicht wollten sie sich aber auch nicht am Schnee verschlucken. Im Grunde gab es aber ohnehin nicht viel zu sagen – außer dass wir wahrscheinlich alle insgeheim hofften, möglichst bald in die Hütte einzukehren.

Wir folgten Paul daher anstandslos und stapften durch den knöchelhohen Schnee nebeneinanderher. Auch wenn wir den Wilden Kaiser neben uns nicht sehen konnten, weil der Schneesturm ihn erfolgreich vor uns versteckte, fühlte er sich dennoch mächtig an – als wäre seine Präsenz immer spürbar. Es war beinahe so, als wachte er heimlich über uns und ermahnte uns, im Moment zu bleiben, damit wir uns auf den Weg konzentrierten und niemand versehentlich eine schneeumhüllte Klippe übersah und ungewollt die Abkürzung ins Tal nahm.

Der Weg erwies sich zwar als relativ flach, war aber trotzdem mühselig, da uns der Wind immer noch kräftig um die Ohren blies. Außer dem Pfeifen des Sturms, dem wattigen Knirschen unserer Schuhe im Schnee und unserem Atem war sonst aber nichts zu hören. Niemand sagte mehr etwas, weil wir uns alle immer auf den nächsten Schritt konzentrierten. Und obwohl es anstrengend war, hatte der Marsch auch etwas Beruhigendes.

Bis zu dem Moment, als Paul plötzlich an der Spitze der Truppe rief. »Seht ihr … da vorne ist sie!« Er zeigte auf die Hütte. Bis dahin hatte es sich angefühlt, als hätte Zeit mit einem Mal an Bedeutung verloren, weil wir ohnehin nur im Moment waren. Je länger wir durch den Schneesturm marschierten, desto weniger Gedanken verstopften mein Hirn – bis ich irgendwann nur noch meinen Atem und den Boden unter meinen Füßen spürte. Es war, als wäre mein Kopf wie ein randvoller Papierkorb entleert worden und ich endlich nicht mehr in dem dichten Durcheinander meiner eigenen Gedanken gefangen. Dem Sturm in mir schien der Sturm um uns herum anscheinend zu helfen, das innerliche Chaos loszulassen. Es heißt, die Berge könnten einem ein Gefühl der Freiheit vermitteln, und tatsächlich hatte sich genau dieses Gefühl bei mir eingestellt – sogar ohne die Berge überhaupt gesehen zu haben. Obwohl ich den Weg überraschenderweise genossen hatte, war ich trotzdem froh darüber, die Almhütte nun direkt vor uns zu sehen.

Als ich mich kurz darauf umsah, musste ich schmunzeln. Mittlerweile sahen wir wie neun verschneite Mumien aus, deren Jackenfarben nicht einmal mehr zu erahnen waren. Selbst unsere Augenbrauen waren grellweiß vom Schnee bedeckt, dafür leuchteten unsere Wangen umso röter von der Anstrengung.

»Scheint geschlossen zu haben«, bemerkte James knapp.

»Neiiiiiiiiin! Neiiiin, neiiiin, neiiiiiiiiiiin!«, rief Charly aufgelöst, als wäre gerade jemand ums Leben gekommen. Sie hüpfte dabei wild auf und ab und verlor offenbar nun endgültig die Nerven.

Es sah allerdings tatsächlich so aus, als würde kein Licht im Inneren der Hütte brennen, und da uns während des gesamten Marsches nicht eine einzige Menschenseele entgegengekommen war, schien der Gedanke auch nicht ganz abwegig, dass sie geschlossen hatte. Lukas pirschte sich daraufhin langsam an die rechte Seite des Hauses heran, um in ein Fenster zu spähen. »Ich sehe niemanden«, rief er achselzuckend zu uns zurück. »Es ist aber sehr schön drinnen … so viel kann ich erkennen!«

Charly starrte ihn entsetzt an und lief dann völlig außer sich zum Eingang. Sie ballte ihre im Handschuh geschützte Hand zur Faust und schlug damit hart gegen die Tür.

»Als würde das irgendeinen Sinn ergeben, wenn niemand da ist.« Adrian schüttelte den Kopf. »Das Haus scheint übrigens nicht mehr Brenneralmhütte, sondern seit Kurzem Jezz Alm Resort zu heißen ...«, forschte er weiter. »Ist anscheinend eine Neuübernahme, zumindest steht das da. Ah ... und hier ist noch ein Schild, das sagt: Jezz ist deine Zeit!« Er lachte wieder laut auf. Dieser Spruch brachte auch mich zum Lachen. Was für eine Parodie – die konnte man sich fast nicht ausdenken.

»Ich will JEZZ REIN, damit meine Zeit endlich beginnen kann!«, rief Charly stattdessen und drehte sich zu uns um, weil nun alle lachten. Genau in diesem Moment öffnete sich die Tür knarzend nach innen und ein älterer Mann mit grauem Filzhut, dunkelbrauner Lederhose und einem grün-weiß karierten Hemd sagte: »Griaß eich, was führt eich denn bei dem Wetter zu uns?«

In dem Moment, in dem du dich für Neues öffnest, wird es sich zeigen.

 

Der Wegwird frei,wenn duaufhörst,dir selbst im Weg zu stehen.

HALLO LEBEN, WARUM SCHREIST DU MICH SO AN?

Der alte Mann schwenkte seinen rechten Arm ein paarmal in der Luft herum, womit er anscheinend andeuten wollte, dass wir hereinkommen sollten. Nachdem wir seinem Winken gefolgt waren und unsere Schuhe auf der rauen Matte im Vorraum vom festen Schnee abgeklopft hatten, hängten wir unsere Jacken und Mützen an der Garderobe auf und folgten ihm weiter in die große Bauernstube, die genauso menschenleer war wie der Weg, der uns hierhergeführt hatte.

»I bin der Friedrich«, sagte der Mann in feinstem Tirolerisch. »Und ihr habt’s a Mordsglück, dass i überhaupt da bin.« Er räusperte sich. »Die Brenneralm bekommt nämlich neue Besitzer, müsst’s ihr wissen … die haben einiges umgebaut und übernehmen die Hittn in einer Woche … die Hütte – aber ihr versteht’s mi schon, gell?«

Bis auf James und Rebecca stimmten wir mit einem kollektiven Nicken zu.

»Es isch jetzt schon alles fertig«, erklärte Friedrich weiter, »aber offiziell geöffnet haben’s no nit, deshalb sind auch no keine Gäste da.« Er sah in die Runde: »Was wollt’s n trinken? An Tee, oder an Jagatee …?! Ah geh, i bring eich einfach zwoa große Kannen von beidem und a Wasser und ihr sucht’s eich dann einfach aus, was ihr wollt’s!«

»Das ist wirklich nett, Friedrich! Ich bin übrigens der Paul. Und vielen Dank, dass wir uns hier aufwärmen dürfen … und auch für den Tee! Wie lange dürfen wir denn bleiben, wenn ich fragen darf?«

»Ah, bleibt’s, so lang ihr wollt’s!«, flötete Friedrich. »I muss dann hinunter zum Sepp, der wollt sich no um die Holzbänk’ für draußen kümmern ... das heißt, i weiß gar nit, ob i heit nochmal raufschaun werd. Haut’s dann halt einfach die Tia zua, wenn’s geht’s … die Tür zuwerfen ...«, wiederholte er und deutete auf die Tür, als würden wir ihn sonst nicht verstehen.

»Natürlich. Das machen wir! Ganz herzlichen Dank noch mal, das ist wirklich unglaublich nett!«, bedankte sich Paul.

»Aber geh …«, antwortete Friedrich. »I heiz eich no a bissl den Kamin ein, damit’s a warm bleibt, und guad isch«, murmelte er, bückte sich hinunter zum Kamin und verschwand wenig später wieder in die Küche.

Ich muss zugeben, ich war gerührt und beeindruckt zugleich vom alten Friedrich und seiner Gastfreundlichkeit. Die Bergluft tat den Menschen offensichtlich gut. Ich fragte mich, wie das Ganze wohl bei uns in der Großstadt ausgesehen hätte: Vermutlich wären wir nicht so herzlich empfangen worden, ziemlich sicher hätte man uns sogar einfach in der Kälte stehen gelassen, und wir hätten wohl auch keinen heißen Tee serviert bekommen. Der Friedrich aus der Stadt hätte uns wahrscheinlich auch nicht allein gelassen, weil er Angst gehabt hätte, wir würden ihm in der Zwischenzeit das Mobiliar abbauen und damit abhauen. Am Berg galten offensichtlich andere Regeln. Hier vertraute man einander noch.

»Jezz … ist deine Zeit!«, sagte Adrian und grinste zu Charly hinüber, die sich gerade auf einer der Bänke vor den Tischen mit Ausblick auf die riesige gewölbte Panoramaglasfront niederließ. Dahinter waren zwar immer noch keine Berge zu sehen, sondern nur der Schneesturm, aber beeindruckend war der Anblick allemal.

»Siehst du, das Leben hat sich doch nicht gegen dich verschworen«, stellte Adrian fest.

»Ansichtssache …«, entgegnete Charly, als sie ihren Rucksack neben sich auf dem Boden abstellte und sich auch alle anderen dazugesellten.

»Das ist das richtige Stichwort«, setzte Paul an. »Es wird höchste Zeit, dass du uns jetzt mal in Ruhe erzählst, was überhaupt passiert ist, Charly.«

»Ach gerne ...«, antwortete sie mit sarkastischem Unterton, aber wie aus der Pistole geschossen. »Was wollt ihr denn wissen?«, überlegte sie kurz. »Vielleicht, dass ich endlich die fucking Hauptrolle spielen durfte, die ich mir ein Leben lang gewünscht habe, und jetzt wahrscheinlich aus der Produktion geflogen bin … oder dass mein Freund kurz davor war, mir einen Heiratsantrag zu machen, und sich dann doch dazu entschieden hat, mich zu verlassen?! Oh, wartet, was war denn da noch: … Ach ja, dass mein Vater zum ich weiß nicht wievielten Mal meinen Geburtstag vergessen hat und sich einen Dreck darum schert, wie es seiner Tochter geht? Oder dass einfach alle ihr Leben geregelt bekommen, nur anscheinend ich nicht und ich jetzt quasi auf der Straße stehe, keinen Job, keine Beziehung und nicht mal mehr annähernd das Leben habe, das ich haben möchte?! Und eigentlich weiß ich gar nicht mehr, was ich im Leben überhaupt möchte … Was von all dem wollt ihr denn genau wissen?!«

»Na, dass du auf der Straße stehst, ist schon mal eine Lüge«, entgegnete Adrian ruhig. »Genau genommen sitzt du hier in einer warmen Almhütte, übernachtest ziemlich mondän in einem traumhaften Chalet, und wenn du von deinem entzückenden, kleinen Wochenendausflug zurückkommst, wohnst du wieder bei deinem besten Freund.« Adrian sah Charly auffordernd an.

»Ja, im Moment … aber doch nicht für immer! Und was dann?! Ich weiß, dass ihr alle denkt: Was hat sie denn? Das sind doch nur Luxusprobleme! Aber momentan wache ich trotzdem jeden Morgen auf und denke mir: Hallo Leben, warum schreist du mich so an?«

»Und schreist du zurück?«, wollte Adrian wissen.

»Ja. Ich schreie! Und zwar innerlich! Wo bleibt das verdammte Handbuch für mein verdammtes Leben?! Genau das schreie ich! Und: Kann mir das bitte mal jemand reichen, damit ich darin Gute Entscheidungen nachschlagen kann, um nicht immer die schlechten zu treffen, und damit ich dort vielleicht auch einmal ein paar Lösungen finde! Immerhin scheine ich eine absolute Meisterin darin zu sein, mir meine Träume selbst zu zerstören!« Sie sah einmal in die Runde. »Das soll mir mal jemand nachmachen, ich meine, dafür hätte ich wirklich einen Preis verdient! Also wenn es so etwas wie einen Stern am Boulevard der geplatzten Träume gibt, schwöre ich euch, ich sollte ihn bekommen!«

Obwohl ihre Lage allem Anschein nach alles andere als lustig war, musste ich mir das Lachen verkneifen, weil ich Charly direkt vor mir sah, wie sie ihre Hand auf den Stern am Boden der geplatzten Träume presste und allen ironisch zulächelte.

Genau in dem Moment stellte Friedrich ein Tablett mit zwei großen Kannen und einigen Gläsern und Tassen auf die beiden Holztische: »So viel Kummer …«, sagte er einfühlsam. Offenbar hatte er Charlys eindrucksvolle Schilderung mitgehört. Dann ergänzte er mit beruhigender Stimme: »Lass dir etwas von einem alten Mann sagen: Das Leben lässt sich oft erst rückwärts verstehen, und es wird einen Sinn ergeben. Und zwar genau den Sinn, den du ihm gibst.« Er schenkte ihr ein warmes Lächeln.

Ich war nicht sicher, ob Charly ihm gleich eine leere Tasse um die Ohren werfen würde – aber zu meiner Überraschung lächelte sie zurück. Zwar etwas verhalten, aber sie lächelte. »Ja … das kann schon sein«, antwortete sie nachdenklich, und Friedrich nickte, als bräuchte es gar keine Erklärung mehr. Gleich anschließend schlenderte er wieder Richtung Küche.

Paul nickte ebenfalls, warf einen Blick in die beiden Kannen und schenkte zuerst Charly und dann sich selbst eine Tasse mit heißem Tee ein. Er forderte uns mit einem Blick auf, dasselbe zu tun.

»Ich habe aber das Gefühl, dass das alles immer nur mir passiert«, schnaubte Charly. »Und ich weiß beim besten Willen nicht, was das für einen Sinn ergeben soll!« Sie stützte ihren Kopf auf ihre flache Hand, als wäre er ihr zu schwer geworden. »Wir haben doch erst letztes Jahr besprochen, dass ich mir in der Vergangenheit das Unglück oft selbst ausgesucht habe, und dann habe ich mich bewusst anders entschieden und es hat sich auch tatsächlich alles gedreht ...« Sie sah uns verheißungsvoll an. »Und kurz bevor alles richtig gut hätte werden können … oder vielleicht sogar endlich einmal gut war