Liebesgedöns - Andrea Weidlich - E-Book
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Liebesgedöns E-Book

Andrea Weidlich

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Beschreibung

»Es gibt Zeiten im Leben, da glaubt man an die Liebe. Und es gibt andere, da ist man sich sicher, Teil einer Verschwörungstheorie zu sein.« Wir alle wünschen uns Glück in der Liebe und dass sie bleibt. Aber wie? Drei Singles, drei Paare und ein Therapeut verbringen zusammen ein Wochenende auf engstem Raum. Jede ihrer Geschichten berührt uns da, wo unsere eigene beginnt, und liefert Antworten auf die Frage: Was ist das Geheimnis der Liebe? Dieses Buch entführt uns auf eine innere Reise, auf der wir uns wie in einem Spiegel immer wieder selbst erkennen. Ein faszinierender Rundumblick auf die Liebe, der ins Herz trifft, laut auflachen lässt und Stück für Stück entschlüsselt, wie man die glückliche Wendung herbeiführt. »Liebesgedöns« ist emotional, echt und bewegend. Als sitze man selbst in Freuds Wohnzimmer und erfahre das Geheimnis über die Liebe. Eine unglaubliche Reise zu uns selbst. Von der Autorin des Spiegel-Bestsellers »Der geile Scheiß vom Glücklichsein«

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Seitenzahl: 309

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ANDREA WEIDLICH

LIEBESGEDÖNS

ANDREA WEIDLICH

LIEBESGEDÖNS

DER GEILE SCHEISSVOM SUCHEN UND FINDEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Originalausgabe

3. Auflage 2024

© 2020 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Redaktion: Diana Napolitano

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch, Andrea Weidlich

Umschlagabbildung: Shutterstock.com/ColorMaker, akemontree; Adobe Stock/

rudolfgeiger; iStockphoto.com/Agenturfotograf

Layout: inpunkt[w]o, Haiger (www.inpunktwo.de)

Satz: Müjde Puzziferri, MP Medien, München

Druck: CPI

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7474-0226-9

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-582-9

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-583-6

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

INHALT

NICHT DEIN ERNST

VERSCHWÖRUNGSSUPPE

DIE LIEBE VOR DEM SPRUNG

FREUD UNS

REISE NACH JERUSALEM

DIE FRAGE

LIEBE UND GARTENBAU

DER C-HIPSTER

STROHHALM, SCHULD UND FREIHEIT

RISSE IM HERZ

LEIDENSCHAFTSKODEX

DIE WUNDERMAUER

EIERTANZ UND STEINE

LAUF!

AM LEBEN

EINS, ZWEI, DREI IM ECK

GEFÄHRLICHE LEITUNG

ENTSCHIEDEN UNENTSCHIEDEN

TEE-RAPIE UND TEIGSCHLACHT

ABER-KADAVER

ALLE OKTAVEN

UNERHÖRT UNGEHÖRT

DER, DIE, DAS RICHTIGE

FREIGEMACHT

DIE WAHRHEIT

A WIE ANFANG

OHNE ENDE

DER WERT

VOM SCHEIN ZUM SEIN

DANKE FÜR NICHTS

VERJUBELT

WAHRSCHEINLICHKEIT UND LIEBE

ELEKTRISCH

SCHWACH-SINN

PHANTOMSCHULD

VERWÄHLT

ZWISCHEN DEN STÜHLEN

ANKOMMEN

DIE ENTSCHEIDUNG

Für die Liebe.

In jeder und jedem Einzelnen von euch.

Und für Paul. Danke, dass du mir die Augen und das Herz geöffnet hast.

Wahre Begebenheiten

Die Geschichten der beschriebenen Personen in diesem Buch beruhen auf wahren Begebenheiten und sind tatsächlich passiert. Wundert euch nicht, wenn sie euch da berühren, wo ihr nie dachtet, berührt zu werden. So ging es mir auch. Taucht vielmehr mit jeder Geschichte noch tiefer in eure eigene und lasst euch in den Bann ziehen, weil es etwas in euch bewegt. Findet die Liebe da, wo sie zu Hause ist. Entdeckt sie wieder, vielleicht auch ganz neu.

Ein Raumohne Wertung.Kein Richtigoder Falsch.

Was ist das Geheimnis der Liebe?

NICHT DEIN ERNST

Das kann nicht dein Ernst sein – das ist doch ein Scherz, und ein schlechter noch dazu!« Ich konnte meinen Blick nicht von der Karte nehmen, die so hässlich war, dass ich Angst hatte, nur vom Hinsehen eine mittelschwere Augenentzündung zu bekommen. Gleichzeitig war es schwierig, mich zu entscheiden, was ich geschmackloser fand: das Design der Karte oder die Worte, die – das hoffte ich aus tiefstem Herzen – ebenfalls nicht ernst gemeint sein konnten. Ich hob meinen Blick und sah nach links, nach rechts, dann wieder nach links. Keiner schien beeindruckt von meinem paranoiden Verhalten und der Suche nach einer versteckten Kamera, die mir im nächsten Moment dann doch etwas abwegig vorkam. Schließlich zähle ich nicht zu den Promis dieser Welt. Wer sollte sich also für mein Liebesleben interessieren? Die Menschen neben uns frühstückten ganz einfach weiter, als kümmerte es die Chia-Bowle-Schlemmerin und ihre Fruchtsalat-Freundin links von uns in etwa genauso wenig wie den Buchweizencroissant-Gourmet mit Espresso und Tagesblatt zu unserer Rechten, wie ich mein nächstes Wochenende verbringen würde. Keiner der hier Anwesenden schien die Ernsthaftigkeit der Lage auch nur im Geringsten zu erfassen. Stattdessen aßen alle munter weiter, als wäre rein gar nichts passiert. Und eigentlich war auch nichts passiert. Noch nicht.

»Ich weiß nicht, ob du es weißt – aber das ist nicht lustig. Also so richtig nicht! Auf einer Skala von eins bis lustig befinden wir uns bei minus zwölf«, sagte ich und rollte demonstrativ mit den Augen.

»Ach, das würde ich so nicht sagen! Ich liebe es.« Lukas nahm einen großen Bissen von seinem kurzkettigen Kohlenhydrate-Weißbrötchen mit übertrieben beschmierter Nuss-Nugat-Creme und schien tatsächlich sehr glücklich.

»Du weißt nicht mal, ob ich nächstes Wochenende überhaupt Zeit habe«, warf ich ein und starrte auf die geschmacklose Einladung.

»Hast du«, antwortete er gelassen. »Erinnerst du dich, als ich dich gefragt habe, an welchem Wochenende ich dich besuchen soll? Es standen zwei zur Auswahl. Das kommende war eines davon. Du kannst also.«

Ich bemerkte, wie seine Stimme immer leiser wurde und sich mit dem lärmenden Raunen im Lokal vermengte, als würde ich mich innerlich von ihm und diesem für mich unfassbaren Vorfall distanzieren. Gleichzeitig brannten sich all die Worte und Zahlen auf der Karte förmlich in mein Hirn, als hätte ich gerade das Datum für eine wichtige Prüfung erfahren. Ich fühlte mich versteinert und nervös zugleich. Denn vielleicht war es ja genau das: eine Prüfung.

»Du weißt, dass ich diese Karte auch zerreißen und einfach nie dahin gehen kann?«, sagte ich und nahm einen Schluck von meinem Rooibos-Vanille-Tee, um mich zumindest von innen zu beruhigen.

»Hast du denn was Besseres vor?«

Ich hielt es für einen doppelten Angriff auf meine gesingelte Person. Als hätte ich keine Ahnung von der Liebe (gut, wer hat das schon?) und darüber hinaus auch keine Pläne für mindestens drei der darauffolgenden Wochenenden. Auch das hatte ich selbstverständlich nicht – das wussten wir beide –, aber musste er diese Tatsache wirklich so brühwarm am Frühstückstisch servieren?

»Es ist doch so«, meinte er weiter. »Dieses Seminar ist für Singles und Paare. Du warst bereits beides. Und du schreibst über das Leben. Da gehört die Liebe nun mal dazu! Warum also nicht mehr darüber erfahren? Oder weißt du schon alles?«

Da war er, der dritte Schlag mitten in mein unausgeschlafenes Frühstücksgesicht. Nun weiß man ja, dass Schläge grundsätzlich nichts Gutes an sich haben. Nicht mal dann, wenn sie nett gemeint sind. Sie sind hart und äußerst unangenehm. Das Schmerzhafteste daran aber war: Er hatte recht. Das alles klang plausibel und stimmte auch noch. Falsch kam es mir trotzdem vor.

»Das Geheimnis der Liebe. Ein Seminar mit Paul Goldbach«, las ich laut vor und atmete tief durch. »Klingt dramatisch.« In der zweiten Zeile stand da noch in winzig kleinen Buchstaben: In sieben Schritten zum Liebesglück.

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder mich darüber aufregen sollte.

»Na, dann hoffen wir mal, dass der gute Paul Goldbach tatsächlich Ahnung hat und das Geheimnis auch lüftet. In sieben Schritten schaffe ich es nämlich sonst nur vom Wohnzimmer zum Klo.«

»Ab nächster Woche dann auch zum Liebesglück«, ergänzte Lukas grinsend. Wenigstens einer hatte hier richtig Spaß.

VERSCHWÖRUNGSSUPPE

Es gibt Zeiten im Leben, da glaubt man an die Liebe. Und es gibt andere, da ist man sich sicher, Teil einer Verschwörungstheorie zu sein. Ich siedelte mich zum damaligen Zeitpunkt irgendwo im stabilen Mittelfeld an. Mit der Übergabe dieses Geschenks schlug das innere Pendel allerdings eindeutig Richtung Verschwörung aus. Dieser kleine, perfide Angriff aus dem Hinterhalt schien mir ein eindeutiges Zeichen zu sein. Nur welches? Hatte Lukas recht und wollte er mich »nur inspirieren«, oder war der vermeintlich liebevoll gemeinte Schubser in Richtung Liebesglück vielmehr ein handfester Ratschlag mit dem Vorschlaghammer? Dieses kreischend rote Ticket kam wie einer dieser Warnhinweise daher: Achtung! Ihr Leben nimmt eine gefährliche Richtung. Wenn Sie nicht bald in die Liebesgänge kommen, fahren Sie das Ding an die Wand! Dann enden Sie mit acht Katzen, schlürfen Tütensuppe und führen Selbstgespräche. Ein in die Irre führender Hinweis, wie ich fand, denn ich spreche schon seit Jahren mit mir selbst, habe aber keine einzige Katze und halte Suppen generell für zu flüssig, als dass sie für mich als vollwertiges Nahrungsmittel infrage kämen. Acht Katzen hielt ich außerdem – genau wie Tütensuppen – für übertrieben und daher eher für unwahrscheinlich. Da ich zwei von drei Dingen ausschließen konnte, war ich schon mal sicher, was diese mögliche Gefahr anging. Wie ich das Zeichen aber auch drehte und wendete, es beschäftigte mich – deuten konnte ich es allerdings noch nicht. Fakt ist, dass Liebesseminare – ähnlich wie Tütensuppen (auch in Dosen halte ich sie für schwach) – vermutlich nicht zu den beliebtesten Geburtstagsgeschenken unter Singles zählen. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass Paare das ganz ähnlich sehen. Schließlich verhält es sich in der Liebe doch so: Man traut sich selbst aus unerfindlichen Gründen von Geburt an eine gewisse solide Grundkompetenz zu. Man geht also davon aus, das mit der Liebe könne man. Da hätte man den Dreh raus. Einfach so. Das ist in gewisser Weise absurd, weil man ja auch nicht auf die Welt kommt und meint, das Radfahren oder Stricken wäre einem in die Wiege gelegt. Letzteres kann ich übrigens bis heute noch nicht.

Radfahren probiert man etwas später mal aus, stürzt, schlägt sich die Knie auf, steigt wieder auf den Sattel, nimmt erneut die Fahrt auf und genießt im besten Fall irgendwann die Tour seines Lebens. Wer sich im Stricken versucht, findet vielleicht auch Gefallen daran, bis ein paar Maschen von der Nadel fliegen, man sich verstrickt und gezwungen wird, das ganze Garn neu aufzurollen und von vorn zu beginnen. Da heißt es dranbleiben, sonst strickt man nämlich nie wieder. Aber wer sagt denn, dass dieses Wollknäuel später nicht noch richtig gut aussehen kann und nach der einen oder anderen Entwirrung sogar ein Meisterwerk daraus entsteht? Möglicherweise schlüpft sogar noch jemand mit heller Begeisterung in diesen neuen, bunten Pullover und wärmt sich darin. Vielleicht sogar man selbst.

Es kann natürlich auch sein, dass man einfach nur einen drei Meter langen Schal mit undefinierbarem Muster gestrickt hat, den eigentlich gar niemand haben will. Nicht mal man selbst. In jedem Fall lernt man aber dazu, wird besser, und irgendwann ist man glücklich damit.

Ganz ähnlich verhält es sich mit der Liebe, nur gesteht sich das kaum jemand ein. Da denken wir, alles von vornherein zu wissen. Irgendwann im Lauf der Zeit kommen wir jedoch drauf, dass zwischen der Realität und unserem angenommenen Grundwissen ein paar erhebliche Lücken klaffen, was – ähnlich einer offenen Wunde – recht schmerzlich sein kann. Mit zunehmender Erfahrung begreifen wir, dass wir wesentlich weniger über die Liebe wissen, als wir dachten, bis wir dann Jahre später erkennen, dass wir am Ende vielleicht gar nichts wissen. Ein im Grunde sehr kluger Schluss, den uns bereits Sokrates und Cicero mit auf den Weg geben wollten. Diese Erkenntnis scheint aber niemandem so wirklich zu gefallen, und das, obwohl das Nichtwissen viel Raum für die Wahrheit und damit auch für die Liebe bietet.

Wir Menschen wissen einfach lieber Bescheid, und deshalb gestehen sich die wenigsten gern ein, nicht alles zu wissen. Vielleicht sogar gar nichts. Noch weniger will man natürlich mit einem Geschenk darauf hingewiesen werden. Und so kreisten meine Gedanken um die rote Karte, die sich wie ein Platzverweis anfühlte. Dabei war sie vielleicht der Eintritt für einen neuen Raum, ein Spiel oder eben einfach: eine neue Erfahrung.

Ich gebe zu, am Liebeshorizont gab es Richtung Wolke sieben tatsächlich noch ein wenig Luft nach oben. Ich beschloss, mich also auf dieses Experiment einzulassen. Wild, einigermaßen entschlossen und einfach, weil ich konnte. Von wollen zu sprechen, wäre doch etwas übertrieben gewesen. Im Grunde hatte ich nämlich auch keine andere Wahl. Schließlich hatte Lukas eine ganze Stange Geld für dieses Seminar bezahlt, und ich hielt einen Umtausch auf ein Wellness-Weekend mit Ruheoase und tropischer Badelandschaft für unhöflich – auch wenn es meiner Komfortzone viel eher entsprochen hätte als ein nackter Raum mit wildfremden Menschen. Vielleicht aber besser als ein wildfremder Raum mit nackten Menschen, sprach ich mir gut zu. Wer hätte zum damaligen Zeitpunkt gedacht, dass wir alle nackt bis auf die Seele sein würden, ohne uns jemals zu entkleiden?

Das Nichtwissen bietet viel Raum für die Wahrheit und damit auch für die Liebe.

DIE LIEBEVOR DEM SPRUNG

Je näher der Tag kam, desto öfter meldete sich Lukas aus der in dem Fall gar nicht so neutralen Schweiz bei mir. So oft wie in dieser Woche, hatte ich ihn im ganzen letzten Monat nicht gehört. Ich musste daher keine Hellseherin sein, um zu wissen, worum es hier ging.

»Zentrale für wichtige Liebesangelegenheiten, Sie sprechen mit Andrea – wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«, hob ich ab.

»Du wirst dich doch nicht aus der Sache herauswinden?«

»Welcher Sache?«, antwortete ich, als wüsste ich nicht genau, wovon er sprach. Schließlich hatte ich das Ticket mindestens dreimal täglich in der Hand und überlegte, wie ich da wieder rauskam. Lukas kannte mich noch besser, als ich es von jemandem vermutete, mit dem man seit seiner Geburt befreundet ist. In- und auswendig, wie es schien.

»Dein Liebesseminar. Du wirst hoffentlich keinen plötzlichen Magen-Darm-Virus vortäuschen, nur um da nicht hinzugehen?«

»Kann man den etwa vortäuschen?«

»Ja. Man kann einfach sagen, man hätte ihn, und dann das Liebesseminar seines Lebens verpassen.«

»Das klingt ja furchtbar. Das würde man nicht tun, schon gar nicht wollen«, antwortete ich. »Da wäre es doch viel einfacher, so zu tun, als wäre man dort gewesen und wäre dann überglücklich.«

»Das wäre dann wie ein vorgetäuschter Orgasmus und in etwa genauso sinnvoll«, meinte er. »Du hast das mit dem Seminar einfach noch nicht verstanden. Das ist etwas ganz Tolles! Es ist ein Geschenk, und zwar eines von deinem besten Freund. Da ist man euphorisch! Das liebt man. Da spürt man schon Liebe, bevor man sich überhaupt mit ihr auseinandergesetzt hat!«

»Verstehe.«

»Nein, tust du nicht. Du willst nicht. Aber du weißt, dass du musst. Und das reicht mir.«

»Perfekt. Dann tun wir doch einfach so, als ob ich dort gern hingehen würde, und wechseln jetzt das Thema, okay? Da fällt mir zum Beispiel ein, dass du in weniger als vier Monaten ebenfalls Geburtstag hast. Ich überlege mir noch, was du dann lieben musst, bevor du es gemacht hast. Wie wäre es mit einem Fallschirmsprung?«

»Ich habe Höhenangst.«

»Du musst die Höhe lieben, bevor du gesprungen bist!«

»Jetzt hast du es verstanden.«

FREUD UNS

Zwei Tage später machte ich mich auf den Weg zum Liebesglück. Paradoxerweise schienen wir es dort zu suchen, wo Freud die Psychoanalyse als therapeutische Behandlungsform zur Enträtselung der Seele entwickelt hatte. Tatsächlich fand das Seminar in der ehemaligen Privatwohnung und Praxis des berühmten Wiener Psychoanalytikers Sigmund Freud statt, die nun zu einem Museum und Veranstaltungsort umfunktioniert worden war.

Ich stand also vor dem Eingang des Hauses, in dem Freud bis zu seiner Emigration gearbeitet, gelebt und unzählige Theorien über die menschliche Psyche aufgestellt hatte. Das verlieh dem Ganzen noch eine zusätzliche Schwere. Paul Goldbach hatte dazu aber bereits Stellung genommen, indem er auf seiner roten Eintrittskarte ausdrücklich versicherte, dass seine Arbeit in keinem Zusammenhang mit Freuds Theorien stand. Das fand ich tatsächlich beruhigend, zumal man weiß, dass einige seiner Thesen mittlerweile als durchaus überholt gelten. Schließlich ist man sich in der Psychologie nun weitgehend einig, dass nicht alles auf das Vögeln zurückzuführen sei und es doch noch die eine oder andere komplexe Verkettung von inneren und äußeren Umständen zu analysieren gäbe, wenn es um die Liebe geht. Paul Goldbach war also weder bekennender Freud-Befürworter noch einer dieser selbst ernannten Coaches mit schwieriger Kindheit, die ein bis drei esoterische Bücher gelesen hatten und nun die Menschheit retten wollten. Der Mann der sieben Schritte war ausgebildeter Psychotherapeut, Paar- und Einzelcoach und hatte eine Liste an Zusatzausbildungen, die länger war, als so manch anderer schlechte Liebeserfahrungen gesammelt hatte. Immerhin, das wirkte vertrauenswürdig. Selbstverständlich hatte ich ihn bereits mehrfach gegoogelt und seine Ausbildung für solide anerkannt. Sonst wäre ich nicht vor dieser Tür gestanden, das wussten wir alle. Vor allem ich.

»Bist du sicher, dass der Eingang nicht um die Ecke ist? Da stand doch Liechtensteinstraße auf der Website. Hättest du das nicht genauer nachlesen können?! Jetzt wissen wir wieder einmal nicht, wo wir hinmüssen, und kommen zu spät!«, hörte ich eine aufgebrachte weibliche Stimme hinter mir. »Hier sind wir garantiert falsch …!«

Ich drehte mich um. »Zum Seminar im Freudmuseum?«, fragte ich nach. Liebesseminar wollte ich es ganz bewusst nicht nennen, obwohl es ja genau das war.

»Ja, richtig!«, rief sie, sichtlich erleichtert und um eine halbe Oktave freundlicher als noch vor Kurzem zu dem Mann an ihrer Seite, der bisher noch kein Sterbenswort gesagt hatte.

Sie streckte mir wie eine stolze Verbündete die Hand entgegen. Wir begrüßten uns mit einem Händedruck, der deutlich fester ausfiel, als man es von zwei Frauen annehmen würde. Die Frau schien sehr entschlossen und voller Tatendrang.

»Ich bin Jana … und das ist mein Mann Gabriel«, sagte sie, während sie von oben herab in seine Richtung nickte, als wäre er taubstumm und könne sich nicht selbst vorstellen.

»Freud uns … sozusagen!«, fügte sie hinzu und lachte über ihren eigenen Wortwitz.

»Andrea – freud mich auch.« Ich lächelte zuerst ihr zu und dann Gabriel. Es handelte sich um ein solidarisches Lächeln, denn er schien in etwa so begeistert davon, hier zu sein, wie ich es war. Danach drückte ich die Klingel. Es meldete sich niemand, aber die riesige Holztür öffnete sich mit einem Klacken. Wir betraten zu dritt das mondäne Treppenhaus eines wunderschönen Altbaus und gelangten über eine Treppe mit schwarzem, schmiedeeisernem Geländer in den ersten Stock. Eine weiße Flügeltür stand zur Hälfte offen, und wir fanden uns in einem kleinen Vorraum wieder, der etwas modrig roch. An der rechten Seite standen zwei große alte Koffer, und an der hölzernen Wandverkleidung zur Linken hing ein Hut, als käme Sigmund noch persönlich vorbei und hätte etwas Großes vor. Eine Reise vielleicht. Ich mochte den roten Teppich, er gab einem das festliche Gefühl einer besonderen Veranstaltung, zu der wir hier eingeladen waren. Dabei waren wir gar nicht eingeladen, da vermutlich jeder, außer mir, viel Geld für das Seminar bezahlt hatte. Zumindest ging ich davon aus. Ich hatte das rote Ticket daher zur Sicherheit dabei, als würde später noch jemand unsere Eintrittskarten kontrollieren. Natürlich tat das keiner. Schließlich kontrolliert auch niemand auf dem roten Teppich, ob man da sein darf. Hat man es mal bis dahin geschafft, ist man einfach da.

Aus der Entfernung waren Stimmen zu hören, deshalb gingen wir weiter durch die nächste Flügeltür und gelangten in einen Raum, bei dem es sich ganz offensichtlich um das Wartezimmer von Freuds Praxis handelte. An der Wand hingen etliche gerahmte Urkunden und Schwarz-Weiß-Bilder, und die roten Samtmöbel mit dem zugehörigen Tisch waren von einem Absperrseil umringt. Hier ging es sichtlich mehr darum, einen Eindruck zu bekommen, wo und wie Freuds Klienten auf ihn gewartet hatten, als es sich selbst auf der Couch gemütlich zu machen. Daher hielten wir uns erst gar nicht auf und gelangten weiter zur Bibliothek, die schon beim Eintreten ein beklemmendes Gefühl in mir auslöste. Ich bin nicht sicher, ob es an den fünfunddreißigtausend Bänden lag, die in Reih und Glied in den Seitenregalen lehnten, oder an dem länglichen Steintisch in der Mitte, der einen schon aufgrund seiner massiven Größe förmlich erschlug. Dieser Raum schien mir viel zu eng für so viele Menschen zu sein, obwohl sich zu dem Zeitpunkt erst sieben darin befanden, und objektiv betrachtet genügend Platz für alle war. Ich hatte trotzdem das Gefühl, irgendetwas würde mich erdrücken. Ob es an dem mangelnden Platz oder den vielen Theorien im Raum lag, konnte ich nicht sagen. Aber am liebsten wäre ich sofort wieder gegangen. Vielleicht auch gerannt.

Ich hörte Lukas’ Stimme in mir: »Das kannst du nicht machen! Jetzt bist du schon mal hier. Da kannst du auch bleiben und etwas mitnehmen.« Und er hätte damit kein Buch gemeint, das ich heimlich entwenden sollte, sondern die wertvolle Erfahrung, die hier auf mich wartete. So hätte er es bestimmt formuliert. Na toll, dachte ich, wenn man so lange befreundet ist, schleppt man sogar die Stimme des anderen in sich mit. Hätte das mal jemand Freud gesagt. Das hatte nämlich ganz und gar keinen sexuellen Ursprung, schließlich steht Lukas auf Männer. Genau wie ich. Nur eben nicht auf Lukas. Wie auch immer, ich war verwirrt und blieb. Weil Lukas’ Stimme mir dazu riet.

Du musst die Höhe lieben, bevor du gesprungen bist.

REISE NACHJERUSALEM

Jetzt sind wir beinahe komplett!«, sagte Goldbach, den ich von dem Foto auf seiner Website zwar erkannte, der aber in Wirklichkeit sehr viel besser aussah als auf dem winzig kleinen, seriösen Bild im Netz. Er trug Dreitagebart, dunkelblaue Jeans, Sneakers und einen grauen Sweater. Darunter blitzte ein weißes T-Shirt am Kragen hervor. Dazu war er noch riesengroß, hatte leicht gelockte, dunkle Haare, und als er mir die Hand zur Begrüßung reichte, sah ich zu allem Überfluss auch noch in leuchtende, türkisgrüne Augen, die der hellsten Stelle irgendeines absurd paradiesischen Meerwassers auf den Malediven glichen. Sie strahlten klar vom Grund bis zur Oberfläche. Sympathisch und verstörend zugleich. Was war er bitte? Therapeut und Freizeitmodel?

Ich fühlte mich überfordert von diesen Augen, dem Händedruck und der Tatsache, dass es hier doch um die Liebe ging. Aus ebendiesem Grund hätte ich einen soliden, leicht übergewichtigen, mittelhässlichen Durchschnittstypen in Strickweste vorgezogen und auch um einiges angebrachter gefunden. Da hätte ich mich innerlich entspannen können und es wäre ein Leichtes gewesen, mich zu öffnen. Aber so? Wie sollte man sich da bitte konzentrieren? Auf der Website war bereits zu erkennen gewesen, dass der Herr mit den sieben Schritten nicht hässlich war, aber diese Augen und seine gesamte Ausstrahlung fand ich nun wirklich ganz schön übertrieben. Für ein Date, ja, und selbst da hätte es mich vermutlich aus dem Konzept gebracht – aber für ein Liebesseminar?! Großartig, da erlaubte sich das Leben wieder einen richtig guten Scherz mit mir. Vielleicht würde ich die ganzen drei Tage kein einziges Wort herausbringen. Ich war beinahe stolz, dass ich zumindest zwei bereits gesagt hatte. Meinen Vor- und Nachnamen brachte ich – gestammelt, aber immerhin vollständig – gerade noch hervor.

Ich sah zu Jana hinüber, die bereits auf Goldbach zustartete, ihm mir nichts, dir nichts die Hand schüttelte und dabei keine Miene verzog. Sie schien überhaupt nicht irritiert und auch in keinster Weise eingeschüchtert zu sein. Gut so, schließlich war sie offensichtlich da, um ihre Beziehung mit Gabriel ins Lot zu bringen, und nicht, um sich von türkisgrünen Augen ablenken zu lassen. Mit einem Gabriel an seiner Seite war das vermutlich einfacher, auch wenn es ganz generell so wirkte, als würde sich Jana von gar keinem Mann aus dem Konzept bringen lassen. Nachdem auch Gabriel und Paul sich die Hand geschüttelt hatten, ging Jana weiter und stellte sich bei allen im Raum vor. Ich zog es vor, kurz mit den anderen im Raum Blickkontakt aufzunehmen, eine kleine Winkbewegung mit meiner rechten Hand anzudeuten und dabei zu lächeln. Dann kramte ich schüchtern in meiner Tasche und suchte nach meinem Handy. In unangenehmen Situationen, die man ganz alleine zu bestreiten hat, hilft einem sein vielseitig einsetzbares Mobilfunkgerät verlässlich weiter. Da hat man etwas in der Hand, kann sich daran festhalten und scrollt einfach ein wenig auf Instagram, um aus dem eigenen, anstrengenden Leben zu flüchten. Oder aber man schreibt seinem besten Freund.

»Hilfe! Das ist eine Nachricht in Not. Paul Goldbach sieht aus wie der junge Patrick Dempsey, nur besser!«

Selten erhielt ich so schnell eine Antwort. Whatsapp-Nachrichten beantwortet der Herr aus der Schweiz ansonsten in Abständen von drei bis fünf Stunden, gern auch mal erst am nächsten Tag. Wie es aussah, nicht, wenn es sich um Nachrichten über die Attraktivität aus dem anatomischen Notfallraum handelte.

»Uhhh Dr. Shepherd in the house! Neurochirurg, Neurologe, neue Liebe! Alles sehr stimmig. Mach ein Foto!«

»Er ist nicht Neurologe, sondern Therapeut! Und na klar, ich mache gleich ein Foto. Wie möchtest du es denn? Hoch- oder Querformat fürs Familienalbum?! Ich könnte mich auch wie ein Groupie einfach neben ihn stellen, und wir machen ein Selfie für dich … Wahnsinn, wozu habe ich mich hier nur überreden lassen?«

»Ein gut aussehender Mann eröffnet dir das Geheimnis der Liebe. Du Arme! Das hört sich wirklich schrecklich an. Muss weiter!«

Als ich von meinem Handy hochblickte, schnappte sich Gabriel gerade zwei Kekse von einem Silbertablett in der Mitte auf dem schweren Steintisch neben uns. Dass es Kekse gab, fand ich fair. Bei all dem Stress, der hier lauerte, gab es zumindest ein Erste-Hilfe-Angebot. Sie sahen selbst gebacken aus. Sollte Paul Goldbach so aussehen und auch noch gebacken haben, hätte ich es nicht wissen wollen. Ich war ohnehin schon heillos überfordert mit der Gesamtsituation.

Im nächsten Moment betraten noch zwei Männer die Bibliothek. »Oh mein Gott, dieser Typ hat aber viel gelesen!«, rief einer von ihnen etwas zu laut, als sein Blick auf die riesigen Bücherregale fiel. »Entzückend, diese Wiener!«, fügte er noch hinzu und stand auch schon vor mir. »Auch aus Wien, Liebes?«, fragte er mich, und mit nur vier Worten wurden zwei Dinge klar: Die beiden kamen selbst nicht aus Wien und waren offensichtlich ein Paar.

»Ihr anscheinend nicht«, antwortete ich.

»Nein, leider! Aus Hamburg.« Er lächelte. »Viel Regen, dafür die Sonne im Herzen! Ich bin Benno. Ich liebe Wien … Tiiiiiiiim!!«, rief er laut und bemerkte bereits im nächsten Moment, dass Tim nur wenige Zentimeter hinter ihm stand. Wo hätte Tim auch groß sein sollen? Der Raum hatte gefühlte fünf Quadratmeter, wenn es hochkam, vielleicht zehn.

Ich war erleichtert, als uns Goldbach bat, nach nebenan zu wechseln, wo das Seminar dann tatsächlich stattfinden sollte. Der Saal war erheblich größer und die Luft schien weniger dünn zu sein. Da gab es wenigstens Raum für Emotionen und persönliche Freiheit, wenn man sich mal nicht millimeternah sein wollte. Erst jetzt entdeckte ich eine etwas ältere Frau in der Gruppe, die sehr im Reinen mit sich und der Welt zu sein schien. Sie war mir auf Anhieb sympathisch. Mit ihrem gewinnenden Lächeln, das echt und natürlich auf mich wirkte, strahlte sie eine gewisse Zufriedenheit aus, die wir doch alle gut gebrauchen konnten, fand ich. Alle anderen wirkten nämlich ebenso angespannt wie ich. Bis auf Paul Goldbach, der nicht nur gut, sondern auch völlig entspannt aussah.

»Ein ziemliches Prachtstück, dieser Goldbach«, flüsterte mir Benno von der Seite aus zu. »Also wenn ich Single wäre – den würde ich glatt als Trophäe mitnehmen …«

»Einen Oscar für Paul?«

»Oder einen Paul für Benno – einen Goldbach sozusagen!« Er zwinkerte mir mit einem Auge zu, während Tim mit beiden rollte. Ich lachte laut und wusste, dass ich die beiden bereits mochte. Paradoxerweise lächelte uns Goldbach von der Ferne zu, obwohl er so weit weg stand, dass er den Scherz unmöglich hatte hören können. Vermutlich freute er sich nur, dass wir uns amüsierten. Das schien wohl auf Liebesseminaren nicht so oft vorzukommen.

Der größere Saal wirkte viel freundlicher, was an den riesigen Fenstern zur Straße hin und den weit geöffneten Flügeltüren lag. Ich empfand die Stimmung gleich viel besser – vermutlich auch wegen Tim und Benno und dem vielen Licht, das mit ihnen gemeinsam den Raum erhellte.

Es befanden sich darin zehn Stühle in einem Kreis aufgestellt, was mich augenblicklich an Reise-nach-Jerusalem-Stuhltänze zu Schulskikurszeiten erinnerte, die schon damals nie gut endeten. Sie hätten auch die Möglichkeit für eine Waldorf-Gruppenübung geboten, bei der sich alle die Hände reichen und die Energie fließen lassen. Grundsätzlich beides nichts Schlechtes, aber man musste dafür in der Stimmung sein. Und wer war das schon an einem ganz normalen Freitagnachmittag? Vor allem Jana konnte ich mir schlecht dabei vorstellen, wie sie sich tiefenentspannt auf den Energiefluss in einem Kreis voller feuchter Hände einließ. Aber man weiß ja nie. Am oberen Ende des Raumes befand sich ein Flipchart mit einem aufgerollten, weißen Blatt, auf dem rein gar nichts stand. Eine Blankoseite für die Liebe. Goldbach war wohl nicht der große Maler, denn ich hätte mir eine Sonne als O in »Willkommen« in diesem Szenario durchaus vorstellen können. Ich vermisste außerdem die Punkte eins bis sieben für die Schrittkombination, die uns zielsicher zur Liebe führen sollte. Aber ich wollte nicht vorschnell urteilen und mich für alles öffnen, was hier auf mich zukam. In etwa diese Worte hatte Lukas verwendet, als er mich bat, meine skeptische Art doch bitte an der Garderobe abzulegen. Ich hängte sie also innerlich an die Wandverkleidung neben Freuds Hut und setzte mich auf einen Stuhl im Kreis neben Benno und Tim, in deren Gegenwart mir die Aufgeschlossenheit irgendwie leichter fiel.

Als ich aufgeschlossen auf meinem Stuhl saß und mich in Achtsamkeit und Offenheit übte, bemerkte ich ein weiteres Paar, das mir vorher noch nicht aufgefallen war. Die beiden nahmen neben der sympathischen älteren Dame Platz, die es sich neben Tim gemütlich gemacht hatte, und saßen mir nun im Kreis direkt gegenüber. Er – ungefähr Ende dreißig, dunkelblond, charismatisch, auffallend modisch mit beiger Chinohose, blauem Pullover und einem leichten, hellgrauen Schal leger um den Hals gewickelt – schien unruhig und nicht sonderlich erfreut, hier zu sein. Im Abstand von wenigen Minuten zog er sich den Pullover an seinem tätowierten Unterarm nach oben und blickte dabei immer wieder auf seine Casio, als müsse er gleich weg. Seine hippe Coolness war ihm wichtig, und trotzdem wirkte er angespannt. Ihr zartes, freundlich wirkendes Wesen schien hingegen der pure Gegensatz zu ihm zu sein. Die bezaubernde Wärme, die sie ausstrahlte, fand sich in ihrem korallfarbenen Blumenkleid wieder, das perfekt mit ihren haselnussbraunen Locken harmonierte. Sie wirkte außerdem so, als ließe sie sich in keinster Weise von seiner gestressten Art beirren. Während er also nervös mit dem rechten Fuß wippte und unter seiner aufgekrempelten Hose ein weiteres stylisches Tattoo am Knöchel hervorblitzte, drehte sie nachdenklich an einer lockigen Strähne ihrer glänzenden Haarpracht und lächelte ein wenig verhalten vor sich hin. Ich war fasziniert. Noch mehr von ihr als von ihm. Aber auch zusammen wirkten sie – bis auf seinen nervösen Arm und den hektischen Fuß – wie das perfekte Paar, bei dem sich jeder Single automatisch fragte, wo sie sich wohl gefunden hatten und was ihr Geheimnis war. Als sie aber im nächsten Moment aufschaute und sich unsere Blicke trafen, erkannte ich eine gewisse Traurigkeit in ihren Augen, und damit ergab sich eine weitere Frage, nämlich warum sie wohl hier waren und ob es vielleicht tatsächlich ein Geheimnis gab. Vielleicht gar kein schönes.

Währenddessen hatten nun auch Jana und Gabriel jeweils einen Sitz weiter Platz genommen. Jetzt waren nur noch der eine Stuhl, der offensichtlich für Goldbach reserviert war, und ein weiterer neben mir frei. Dass Jana sich nicht neben mich, sondern lieber neben Paul setzte, konnte vieles bedeuten. Vielleicht hörte sie schlecht und wollte deshalb direkt neben Goldbach sitzen, um keine seiner sieben Liebesgeheimnisse zu verpassen. Oder sie verabscheute meinen Vornamen und hatte ein aus der Kindheit stammendes Andrea-Trauma, das ihr am Weg zu Freuds Wohnzimmer wieder eingefallen war und es ihr unmöglich machte, sich direkt neben mich zu setzen. Da ich morgens brav geduscht hatte, schloss ich ungünstige Körperausdünstungen aus und hielt es demnach für möglich, dass es gar keinen speziellen Grund dafür gab und es sich eventuell um einen reinen Zufall handelte.

Ich entschied, die Sache nicht weiter zu hinterfragen und auch nicht persönlich zu nehmen. Man reißt sonst nämlich ganz schnell alte Reise-nach-Jerusalem-Wunden auf, bei denen man im Handumdrehen in die Pubertät zurückrutscht und sich alles nur nicht zugehörig fühlt. Da ich mich aber offen und erwachsen auf meinem Stuhl niedergelassen hatte, ließ ich mich auf kein inneres pubertäres Drama ein und fragte mich eher neugierig, wer wohl bald neben mir sitzen würde. Die Frage wurde mir im nächsten Moment bereits beantwortet, als jemand von hinten gelaufen kam und sich völlig außer Atem neben mir auf den Stuhl schmiss.

Es ist okay, sich nicht neuerlich auf ein altes Drama einzulassen.

DIE FRAGE

Oh mein Gott! Ich sag es euch … Was für ein Tag! Zuerst hatte der Bus Verspätung, dann gab es einen Unfall … die Straßenbahn kam nicht daher … dann war ich in der Liechtensteinstraße, da war alles leer … also auch kein Seminar! Um ehrlich zu sein, ich frage mich, wie ich es überhaupt hierher geschafft habe … okay, zweiundzwanzig Minuten zu spät, dafür war ich eigentlich gar nicht schlecht …! Ach ja und Carlotta … Ich heiße übrigens Carlotta. Meine Freunde nennen mich Charly, also wie es euch lieber ist!« Sie schnappte nach Luft.

»Ganz schön viel Information in einem Satz – und bis auf den Namen ist nichts davon relevant, geschweige denn interessant«, flüsterte mir Benno zu.

Carlotta konnte es nicht hören, da sie zu sehr damit beschäftigt war, sich ihre Jeansjacke vom Körper zu reißen. Recht ungeschickt, wie sich herausstellte, da ihr dabei die Tasche vom Schoß fiel und damit all ihre Sachen am Boden landeten. Nichts, was man sich unbedingt für einen Gruppenkreis wünscht, wenn man den Inhalt von Frauentaschen kennt. Es ging allerdings harmlos aus. Außer ihrem Handy, einem Taschentuchpäckchen und dem Schlüsselbund sammelte sie allenfalls noch ein paar ihrer Nerven wieder ein. Währenddessen ergriff Goldbach das Wort.

»Wie schön, dass Sie alle da sind. Wenn es in Ordnung ist, möchte ich vorschlagen, dass wir uns ab jetzt und für die kommenden Tage duzen, um einen Kreis des Vertrauens zu schaffen. Sollte das jemandem nicht recht sein, bitte ich, das jetzt zu sagen …« Er blickte in die Runde.

Na klar – wer würde sich jetzt trauen Halt, neiiin – ich möchte das auf keinen Fall! zu rufen, um von vornherein gleich mal der Miesepeter zu sein und das Spiel zu verderben? Sehr clever, Paul.

Alle schauten, keiner sagte etwas. Niemand wollte der Judas sein.

»Sehr schön«, meinte Goldbach weiter. »Eines möchte ich gern vorausschicken: Es gibt in diesem Raum keine Wertung. Ich bitte euch, jegliches Urteil abzulegen. Es gibt kein Richtig oder Falsch, kein Gut oder Schlecht. Alles ist, wie es ist, darf sein oder werden. Lasst hiermit den Druck hinter euch, perfekt sein zu wollen. Die Liebe ist nicht perfekt. Oder sie ist es gerade deshalb, weil sie es nicht ist.«

Er macht eine kurze theatralische Pause. Danach ließ er die Katze aus dem Sack. Sie glich meiner Meinung nach eher einem gefährlichen Raubtier, das sich elegant an die Herde heranpirschte und plötzlich bedrohlich im Raum stand.

»Jeder von euch bekommt jetzt einen Zettel und einen Stift«, fuhr er fort. »Darauf schreibt ihr bitte eine Frage auf, die euch in der Liebe beschäftigt und die ihr im Lauf dieses Seminars oder ganz generell gerne beantwortet haben möchtet. Nehmt euch ausreichend Zeit dafür, aber schreibt nicht mit dem Kopf, sondern fühlt in euch hinein. Hinterfragt nicht, was kommt. Schreibt die Frage auf, die am lautesten wird, ohne sie zu bewerten. Ich werde dann alle Zettel mischen, und jeder von euch liest jeweils eine Frage vor. Keiner weiß also, von wem sie stammt.«

Er reichte fünf Zettel und Stifte in die eine Richtung des Kreises und vier in die andere. Einen behielt er jeweils selbst.

»Ihr könnt jetzt damit beginnen und den Zettel dann mit der Frage nach unten in die Mitte des Kreises legen.« Ich sah in die Runde. Ratlose Gesichter, wohin ich auch blickte. Leichte Panik machte sich breit. Als hätte Goldbach das geahnt, wiederholte er noch mal: »Vergesst nicht, ihr könnt nichts falsch machen. Es gibt kein Falsch. Alles ist, wie es ist.«

Carlotta übergab mir von links den letzten Zettel. Ich starrte auf das weiße Blatt. Das kam der Liebe doch recht nah, fand ich. Viel Platz für alles. Und nichts. Vielleicht auch das, was man daraus macht. Eine Frage fiel mir allerdings noch nicht ein. Dem Rest schien es ähnlich zu gehen. Nur Jana schrieb schon, alle anderen starrten. Ein paar in die Luft, Benno wie ein Schulkind auf Tims Blatt, als wollte er abschreiben oder zumindest sehen, was da stand – und Paul auf mich. Ich wusste nicht, was mich mehr irritierte – diese aufmerksamen türkisgrünen Augen, die innere Suche nach der Frage oder das Seminar im Allgemeinen. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, was mir nur schwer gelang, da Tim, der kleine Streber, bereits in die Mitte des Kreises vorstartete und seinen Zettel auf den Boden legte. Entweder brannte ihm die Frage so auf dem Herzen, dass er sie deshalb so rasch aufschreiben konnte, oder er hatte die Aufgabe nicht richtig ernst genommen. Anders konnte ich es mir nicht erklären. Gleichzeitig erinnerte ich mich aber auch daran, dass mich nichts davon wirklich näher an meine eigene Frage bringen würde.

Konzentrier dich!, dachte ich. Oder weißt du schon alles? Ich erinnerte mich an die Frage, die Lukas mir bereits gestellt hatte. In meinem Inneren lief mittlerweile laut die Jeopardy-Titelmelodie und das, obwohl man hier noch nicht mal etwas gewinnen konnte. Oder etwa doch? Die Antwort vielleicht. Aber was, verdammt noch mal, war die Frage?! Ein paar Synapsen hatten sich bereits lustig in meinem Hirn verknotet, was nicht unbedingt zu meiner Entspannung beitrug. Druck brachte mich nicht weiter. Ich atmete tief durch. Und plötzlich meldete sich etwas in mir, das unerwartet als Frage aus mir herausbrach: »Braucht man Glück für die Liebe?« Da war sie: meine Frage! Simpel und kompliziert zugleich.

Es gibt kein Falsch, erinnerte ich mich an Paul, der mich vermutlich immer noch anstarrte, weil anscheinend irgendwo auf meiner Stirn geschrieben stand, dass ich nicht wusste, was ich hier überhaupt wollte, geschweige denn welche Frage die richtige war. Dü dü dü dü düüüüü dü dü dü dü dü ertönte die Jeopardy-Melodie erneut in mir. Grund genug, dem Ganzen ein Ende zu setzen und bei meiner Frage zu bleiben. Na, dann erklär mir das mal, Paul