Wo ein Fuck it, da ein Weg - Andrea Weidlich - E-Book

Wo ein Fuck it, da ein Weg E-Book

Andrea Weidlich

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Beschreibung

Wer bist du ohne die Erwartungen anderer? Immer wieder versuchen wir, es allen recht zu machen, und legen viel zu viel Wert auf die Erwartung anderer, die sehr viel mehr Meinung als Ahnung davon haben, wer wir wirklich sind. Aber wissen wir das überhaupt selbst noch so genau? Als sich neun Menschen für ein Wochenende auf den Weg in die geheimnisvollen Tiefen des Waldes machen, wollen sie Antworten finden auf die Fragen: Wer bist du? Wer möchtest du sein? Und was würdest du tun, wenn alles möglich wäre? Schon bald zeigt sich ihnen, wie die Kraft des Fuck it ihr Leben verändert und plötzlich alles möglich wird. Ein Buch über die Magie der Möglichkeiten, die sich beim Lesen zwischen den Zeilen entblättern, sobald wir beginnen, ganz wir selbst zu sein. Von der Autorin der SPIEGEL-Bestseller Der geile Scheiß vom Glücklichsein und Wie du Menschen loswirst, die dir nicht guttun, ohne sie umzubringen

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Seitenzahl: 342

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ANDREA WEIDLICH

WO EIN FUCK IT, DA EIN WEG

ANDREA WEIDLICH

WO EIN FUCK IT, DA EIN WEG

WIE PLÖTZLICH ALLES MÖGLICH WIRD, WENN DU AUFHÖRST, ES ALLEN RECHT ZU MACHEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

12. Auflage 2024

© 2022 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Redaktion: Anja Hilgarth

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer, Andrea Weidlich

Umschlagabbildung: Shutterstock.com/F. Jimenez Meca Shutterstock.com/Paladin12

Layout und Satz: inpunkt[w]o, Haiger (www.inpunktwo.de)

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-7474-0490-4

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-883-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-884-4

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

INHALT

Fuck it - die Entscheidung

Laute Stille

Die Buche und der Hund

Welche Fassung?

Matschig im Kopf

Seine Majestät

Spiegelverkehrt

Das weiße Blatt

Die Arschkarte

Eigentlich gut

Kumbaya, mein Leid

Was sollen bloß die Leute sagen

Gegen den Strom

Orangenkampf

Nein, ich möchte den Müll nicht

Zum Exit bitte hier lang

Das Leben ist kein Streichelzoo

Guten Tach, Herr Schmerz

Böses Mädchen

Losteria Wutverbot

Plan Bye und Idiotenradar

Gelegte Eier

Ich bin sympathisch, du Arschloch

Das Damoklesschwert der Heiligen

Die Geschichte der anderen

Hässliche Wahrheit

Das Haus im Wald

Unsichtbare Menschen

Verbrannt und entflammt

Wenn der Schuh nicht passt

Klammheimliche Identitäten

Wo ein Fuck it, da ein Weg

Alles möglich

Vor zum Rand

Das Leben schuldet dir nichts.

Aber du dir.

Der beste Tag deines Lebens wird der sein, an dem du dich entscheidest, dass du gut genug bist, und niemandem mehr beweisen musst, es zu sein.

Wer warst du, bevor du jeden Tag aufgestanden bist und getan hast, was man so tut, und du jetzt sagst, was man sagt, weil es sich so gehört. Wer warst du, bevor alle anderen dir gesagt haben, wer du sein sollst, wie du dich zu verhalten und wen du zu lieben hast. Alle anderen, nur nicht dich selbst. Wer warst du, bevor du dein Strahlen in dumpfen Gedanken der Pflicht verloren hast und sich der Schatten um dein Herz ausgebreitet hat, als es zum ersten Mal gebrochen wurde und dein Traum in tausend Scherben zersplittert ist. Wer wolltest du einmal sein, als du noch an dich geglaubt hast, bevor dein Kopf beinahe explodiert ist von all den Meinungen über dich und du sie übernommen hast, weil du dachtest, sie alle zu sein, nur nicht du. Wer warst du, bevor du den Mut verloren hast, deinen Weg zu gehen, gepflastert mit den steinigen Erwartungen der anderen. Wie hat es sich angefühlt, als die Möglichkeiten noch überall wie Blumen am Wegrand wuchsen und du sie gepflückt und nicht nur auf anderen Wiesen bestaunt hast. Wer warst du, bevor die Angst vor der Erwartung anderer, sich wie ein zorniges Gewitter über deinem Kopf, weiter in dunklen Schwaden vor deinen Augen ausgebreitet hat und du die Sicht verloren hast. Auf dich. Dein Leben. Und all das, was dich ausmacht. Bevor du begonnen hast, dich infrage zu stellen. Erinnerst du dich? An dich? Als du noch warst, wer du warst, ehrlich, echt und bereit, für dich und alles, was durch dich entstehen darf. Die ganze Magie. Denn das Leben wird magisch, wenn du dich traust, du selbst zu sein.

Fuck it - die Entscheidung

Es ist verdammt anstrengend, immer heilig zu sein. Und auch nicht sonderlich hilfreich, dazu noch wenig attraktiv – und vor allem im Grunde gar nicht möglich. Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung: Wir Menschen sind nun mal keine Heiligen. Und das ist gut so. Es ist daher nicht empfehlenswert, wie wütende Engel herumzulaufen, die allen gefallen wollen und dabei letztendlich immer wieder selbst fallen. Und alles nur deshalb, weil wir vergessen haben, wer wir wirklich sind: Menschen mit Stärken und Schwächen, guten und beschissenen Tagen, jeder Menge Problemen – aber auch Träumen, die wir einmal leben wollten. Am besten noch in diesem Leben. Irgendwann haben wir aber damit angefangen, es lieber allen anderen recht zu machen als uns selbst. Wir haben dann aus nachvollziehbaren, aber eher ungünstigen Gründen begonnen, über unsere eigene Leiche zu gehen, sind mit eingefrorenem Lächeln und erstarrtem Herzen auf rohen Eiern gelaufen und dabei immer wieder eingebrochen. Unsere eigenen Wünsche sind uns bei dem holprigen Tanz um Zustimmung womöglich auch noch aus dem Herzen gerutscht und völlig entglitten.

Vielleicht haben wir schon erkannt, dass es gar keine gute Idee ist, ständig anderen gefallen zu wollen, und tun es aber trotzdem noch. Wir beißen uns auf die Zunge, statt zu sagen, was wir wirklich wollen, laufen in falscher Bescheidenheit durch die Welt, statt unser volles Potenzial zu leben, und legen viel zu viel Wert auf das Urteil anderer, die sehr viel mehr Meinung als Ahnung davon haben, wer wir wirklich sind. Oder wissen wir das manchmal selbst nicht mehr so genau? Irgendwann haben wir dann vielleicht begonnen, uns selbst zu vermissen, und fragen uns, wo wir geblieben sind, wo wir hinsollen und was wir überhaupt noch wollen sollen. Und plötzlich spüren wir, dass es Zeit ist, die Arschkarte ans Leben zurückzugeben und endlich Platz für uns und unsere Träume zu schaffen.

Genau an diesem Punkt, da, wo du gerade stehst oder – beim Lesen wahrscheinlich eher – sitzt, also hier in deinem möglicherweise unperfekten Leben (weil das Leben nun mal nicht perfekt ist), hältst du jetzt dieses Buch in deinen Händen. Und während du dich damit auf deinen inneren Weg machst, wird es dir drei Fragen stellen:

»Wer bist du? Wer möchtest du sein? Und was würdest du tun, wenn alles möglich wäre?«

Bei diesen drei Fragen werden sich anfangs noch die Erwartungen anderer Menschen in deinem Leben melden, deren Lautstärke du leiser drehen wirst, bis es still ist und du dich wieder selbst hören kannst. Am Titel erkennst du schon, dass Fuck it dabei eine große Rolle spielen wird. Das bedeutet aber nicht, dass dir alles am Arsch vorbeigehen, dir nichts und niemand mehr wichtig sein wird und du nur noch mit erhobenem Mittelfinger durch die Gegend laufen wirst. Diese drei Fragen werden vielmehr eine Vielzahl von Antworten in dir ausbreiten, die dich weiterbringen. Und während du auf dem Weg durch den Wald auf einige Geheimnisse stoßen wirst, weil nicht immer alles ist, wie es scheint, wirst du nach und nach die wahre Geschichte von neun Menschen entblättern und dabei auch mehr über dich selbst erfahren. Zwischen quer liegenden Ästen und dem raschelnden Laub wird sich dir dann vermutlich schon bald ein neuer – dein ganz eigener – Fuck it-Weg zeigen, auf dem du dir selbst begegnen wirst und dich für dich entscheidest. Ich wünsche dir, dass dich die Antworten, die du findest, noch lange Zeit begleiten und immer wieder daran erinnern werden, wer du bist und was alles für dich möglich ist. Die Magie liegt darin, all deine Möglichkeiten für dich zu entdecken. Ich habe sie zwischen die Zeilen dieses Buches geschrieben, wo du sie in dir finden und von da aus in dein Leben bringen kannst.

Du bist an der Reihe. Dich endlich so zu lieben, wie du andere schon dein ganzes Leben lang geliebt hast.

Laute Stille

Ganz schön laut, diese Stille. Sie prügelt ja fast schon auf uns ein ... Halloooo??! Warum sagt denn niemand was?«

»Muss denn immer jemand was sagen ...?!«, raunte Charly in Adrians Richtung. Ihre Stimme brach ein wenig zur Mitte hin und verebbte gegen Ende des Satzes irgendwo im Nebel. Sie klang kraftlos und erschöpft, als hätte sie keinen Funken Energie mehr im Körper. Und das, obwohl wir seit der Pause erst wieder eine Stunde unterwegs waren und gar nicht wussten, wie viel noch vor uns lag. Obwohl Charly die Stille selbst für einen Moment unterbrochen hatte, schwieg sie danach, was sonst ganz und gar nicht ihre Art war. Ich willigte in ihr Schweigen ein. Es war laut genug gewesen die letzten Stunden – und Monate. Laute Zeiten, die uns allen viel abverlangt hatten. Um ehrlich zu sein, genoss ich die Stille. Endlich sagte einmal niemand was. Auch die anderen nicht. Nur das leise Schmatzen unter unseren Schuhsohlen, die auf dem feuchten Waldboden mit jedem Schritt nach vorn wieder ein kleines Stück zurückrutschten und zwischen dem dunklen Matsch das leuchtende Herbstlaub hin und her schoben. Der Wind bewegte die letzten Blätter, die noch an den Ästen hingen, bevor sie später zu Boden fallen würden. Fallen. Es fühlt sich genau so an, dachte ich noch, als mich ein greller Schrei mitten durch die Stille traf, der durch den Wald wieder zu uns zurückhallte. Im nächsten Moment hörte ich auch mich schreien. Nicht, weil ich wusste, worum es ging, sondern aus Reflex auf Charlys Schrei.

»Daaaaa vorne!!! Da ist jemand ... ein ...« Sie hatte den Satz noch nicht beendet, als ich plötzlich die Umrisse einer Gestalt erblickte, und bevor ich noch einmal losschreien konnte, spürte ich Lukas’ Hand, die fest nach meinem Unterarm griff und mich stoppte. Beunruhigend leise flüsterte er mir ins Ohr: »Wo verdammt noch mal ist Paul ...?!«

Nicht alles ist, wie es scheint.

Die Buche und der Hund

Genau ein Jahr war vergangen, seit wir mit Paul Goldbach an den Weissensee gereist waren und uns dort von Menschen befreiten, die uns nicht guttaten. Ohne sie umzubringen, wohlgemerkt. Vier von uns konnten auch dieses Mal wieder dabei sein, fünf Neue kamen dazu. Ich freute mich, die anderen wiederzusehen, und war neugierig auf alle, die ich noch nicht kannte. Adrian hatte jetzt eine Freundin – was allein schon Fragen aufwarf. Er hatte sich sogar dazu entschieden, sie an diesem Wochenende mitzubringen, vermutlich deshalb, weil auch Charly kurz davor beschlossen hatte, in Begleitung zu kommen. Sie hatte zwar bereits allen von Philipp erzählt, ihn aber bisher noch niemandem vorgestellt, obwohl wir uns in der Zwischenzeit schon einige Male gesehen hatten. Es hätte also zahlreiche Gelegenheiten gegeben, die Charly bis dahin allerdings geschickt vermieden hatte. Nach eineinhalb Jahren Beziehung hielt ich das zwar für ein wenig ungewöhnlich, aber Adrian und Charly waren sich in dieser Hinsicht ziemlich ähnlich. Was für andere die normalste Sache der Welt war, schien für die beiden ein heroischer Akt des Versprechens, ja fast schon eine Verpflichtungserklärung zu sein. So unterschiedlich die beiden sonst waren, manchmal waren sie sich doch ähnlicher, als sie zugeben wollten. Es war vielleicht nur eines der vielen Geheimnisse, die ihre lange Freundschaft ausmachten.

Ich fragte mich, wie die Frau an Adrians Seite sein würde, die es geschafft hatte, den ewigen Single davon zu überzeugen, sein geliebtes Lotterleben hinter sich zu lassen, und wie sie sich wohl neben seiner doch sehr dominanten Persönlichkeit behauptete. Tat sie das denn überhaupt? Vielleicht sagte sie auch einfach nie etwas. Oder immer das Richtige. Womöglich hatte Adrian sich aber auch verändert und aus dem wilden Tiger war nun ein streichelweicher Kater geworden. Ich wusste, er würde den Vergleich nicht mögen. Wenn es nach ihm ginge, wäre er bestimmt lieber ein Panther, den die Welt um sein glänzendes Fell beneidete. Gab ihm Valentina vielleicht genau dieses Gefühl? Wir würden es alle noch herausfinden. Ich konnte es jedenfalls kaum erwarten, sie kennenzulernen und mehr über sie zu erfahren.

Mit ein wenig Überredungskunst hatte ich es außerdem wieder geschafft, meinen besten Freund Lukas dazu zu bewegen, mitzukommen. Und das, obwohl er es generell nicht besonders mochte, seine Zeit mit fremden Menschen zu verbringen. Dank Goldbach schien er aber irgendwie Gefallen daran gefunden zu haben. Valentina und Charly brachten darüber hinaus noch jeweils eine Freundin mit und Adrian einen Kollegen, der gerade eine schmerzhafte Trennung durchmachte. Über Charlys Freundin Rebecca wusste ich, dass sie sich über einen gemeinsamen Bekannten im Sommer in Berlin kennengelernt hatten. Und obwohl sie und Charly sich noch gar nicht so lange kannten, war daraus eine innige Freundschaft entstanden, von der mir Charly immer wieder erzählte. Ich hatte demnach schon einiges über Rebecca gehört. Ziemlich Böses, um offen zu sein. Allerdings von der guten Sorte. Ich war gespannt.

Wir trafen uns diesmal gewissermaßen am anderen Ende Österreichs: am nördlichen Rand des Wienerwaldes. Zwar um vieles leichter als beim letzten Mal, aber bepackt mit neuen Fragen und Gedanken, die sich im vergangenen Jahr wie lästige Kletten an uns geheftet hatten und dort hängen geblieben waren. Wen verwunderte es auch, bei allem, was passiert war? Denn obwohl wir im letzten Jahr am See so viel Schweres losgelassen hatten, hatte die Welt sich danach weitergedreht – um nicht zu sagen: Sie hatte förmlich durchgedreht. Pandemie, gesellschaftliche Spaltung, Umweltkatastrophen, Krieg. Hätte sich dieses Drehbuch jemand ausgedacht, wir hätten es für die schlechteste Science-Fiction-Inszenierung aller Zeiten gehalten. Und nun lebten wir mittendrin. In einem Streifen, der aufgrund der absurden Handlung niemanden mehr kaltließ. Kaum etwas blieb, das nicht infrage zu stellen war. Und damit wuchs der Zweifel. Nicht nur an der Welt im Allgemeinen, sondern auch an uns. Was wir einmal erreichen, wer wir sein wollten und was noch davon übrig geblieben war. Waren wir noch die, von denen wir dachten, sie könnten die Welt verändern? Wo war die beste Version von uns geblieben, die uns daran erinnerte, was uns einmal ein Funkeln in den Augen und ein Vibrieren im Herzen bereitet hatte? Diese Lebensfreude, die wir damals als Kinder verspürten, als wir barfuß über saftige Wiesen hüpften – die konnte doch nicht einfach weg sein? Irgendwo in uns, da schlummerte sie noch. Oder verbrachten wir – wie Paul uns erklärte – etwa wirklich zu viel Zeit und Energie damit, es anderen recht zu machen, und vergaßen dabei, wer wir wirklich waren? Trotz aller Ereignisse, Erwartungen und Meinungen, die immer wieder auf uns einprasselten und unsere innere Schutzschicht an manchen Stellen dicker, an anderen ganz durchlässig und manchmal auch etwas wund hinterließ, gab es tief drinnen dieses Gefühl, wieder sicher sein zu wollen. In uns und einer Welt, die so ganz und gar nicht sicher war.

Wie Adrian es so treffend auf den Punkt brachte: »So ist das Leben. Mal bist du der Baum, mal bist du der Hund.« Irgendetwas sagte mir, dass wir uns zu diesem Zeitpunkt wohl eher zu den Bäumen zählten, weil uns die Pandemie und sämtliche andere Katastrophen, aber auch die Menschheit – also gewissermaßen wir uns selbst – gehörig ans Bein gepinkelt hatten. Ich hätte uns gern als hochgewachsene Buchen gesehen, aber wahrscheinlich waren wir doch mehr getopfte Zimmerpflanzen, die endlich wieder auf einer Wiese stehen wollten. Und egal, woher die Hunde kamen, die Pinkelei nervte gehörig. Im Gegensatz zur Zimmerpflanze wirft die Buche, die tief verwurzelt in der Erde thront, aber kein saurer Angriff einfach so von der Seite um. Es ist sogar gut möglich, dass sie rein gar nichts aus der Fassung bringt. Aber wird sie davon nicht trotzdem irgendwann auch etwas mürbe oder sind Buchen da um einiges gelassener? Ich denke schon. Sie wollen niemandem gefallen. Sie tun nicht ständig etwas, um es anderen recht zu machen. Wir Menschen allerdings schon. Und genau das unterscheidet uns vermutlich vom Rest der Natur. All die anstrengenden Gefühle, die dabei entstehen und sich immer wieder zwischen die schönen schieben, bis sie sich kräftig durchmengt haben, brauen sich dann zu einem recht unliebsamen Gemisch zusammen. Es konnte einem manchmal schon richtig übel davon werden. Da passte das Wochenende im Wald doch ausgesprochen gut, um innerlich nicht zu versauern und wieder neue Wege zu finden, damit wir uns nicht länger angepisst fühlten.

Alles ist erst mal schwer, bevor es einfach wird.

Heb dir nichts auf für einen besonderen Anlass, dein Leben ist der besondere Anlass.

Welche Fassung?

Alles, was außerhalb unserer Erwartung oder Gewohnheit liegt, bringt uns erst mal aus der Fassung«, erklärte Paul Goldbach am Abend seines Vortrages, ein paar Wochen vor unserem gemeinsamen Wochenende, als sich die Ereignisse auf der Welt gerade wieder einmal überschlugen. »Lasst uns einen Weg finden, besser damit umzugehen, wenn die Welt da draußen aus den Fugen gerät, dann können wir sie gemeinsam neu verfliesen.« Paul lächelte kurz, bevor er einen tiefen Atemzug nahm und weitersprach. »Wenn die Fassade der Außenwelt bröckelt, möglicherweise sogar zusammenbricht, fühlen wir uns oft auch im Inneren zerrissen. Die Risse und Löcher zusammenzuhalten, kostet enorm viel Kraft, und das ist gar nicht immer leicht zu ertragen. Wir versuchen dann, an einem starren Zustand festzuhalten, bis es uns innerlich beinahe zerreißt. Darunter zeigt sich zwar etwas Neues, aber wir müssen hier auch gar nichts schönreden: Dieser Prozess ist schmerzhaft und genauso fühlt er sich auch an. Die Risse hinterlassen Spuren. Nach einer schwierigen Zeit ist es daher hilfreich, sich anzusehen, was sie alles in uns ausgelöst hat, wo wir stehen und wie wir wieder neue Kraft schöpfen. Dabei ist es hilfreich, sich die Frage zu stellen, welchen Erwartungen wir immer wieder versuchen, gerecht zu werden, wie wir zu unseren eigenen Wünschen und all dem zurückgelangen, was uns glücklich macht, und wer wir unter der Fassade und den Rissen wirklich sind.«

»Manchmal wäre ich auch gern Therapeut, dann würde ich die Dinge besser verstehen und müsste nicht immer zu jemand anderem latschen, um Antworten zu finden«, flüsterte Charly neben mir, während Paul vorne weitersprach.

»Vielleicht hilft er dir ja einfach nur dabei, sie in dir wiederzufinden.«

»Ja, aber wäre ich er, dann müsste ich sie ja nicht erst suchen!«

»Du bist aber du. Sonst wärst du ja er. Und vielleicht gibt es gar nichts zu suchen.«

»Sondern ...? Zu reparieren? Wie so ein Klempner? Wir alle wissen, was der repariert ...«

»Abflussrohre?«

»Ja, so könnte man sie auch bezeichnen ... Bei der ganzen Scheiße ist es doch kein Wunder, dass alles verstopft ist.«

»Ach komm, Charly ...« Ich versuchte, die Bilder gedanklich wieder aus meinem Kopf zu spülen. »Lass es uns ein wenig blumiger betrachten. Ich sehe Paul mehr wie einen Gärtner. Er hilft dir, den zerbrochenen Übertopf aufzusammeln, der bei all dem Druck gesprungen ist. Vielleicht fügst du die alten Teile gar nicht mehr zusammen, sondern legst sie irgendwann neben dir ab, weil es Zeit ist, dich woanders hinzupflanzen und dir mehr Raum zu geben. Paul lockert dann die Erde, entwirrt den Schlauch und reicht ihn dir, um den Boden neu zu bewässern. Hier und da legt er auch eine Wurzel frei, damit sie wieder Platz zum Wachsen hat. Aber das Wachsen übernimmt er nicht für dich. Das machst du schon selbst.«

»Keiner sagt einem, wie schmerzhaft dieses Wachsen manchmal ist! Alle wollen blühen! Aber von der Knospe zur Blüte ist es manchmal ein ganz schön langer Weg. Da frage ich mich: Wann geht das Ding endlich auf?!«

Ich musste lachen und verursachte damit eine kurze, unangenehme Stille im Saal. Im Mittelpunkt zu stehen, lag mir nicht, aber die Frage fand ich durchaus berechtigt. »Vielleicht dann, wenn du die Knospe auch schön findest?«, flüsterte ich, während Paul endlich weitersprach. Charly starrte mich fassungslos an. Ich war nicht sicher, ob sie es für die beste oder die schlechteste Idee hielt. Danach waren wir beide still und hörten wieder aufmerksam zu. Als Paul von seinem geplanten Wochenende im Wienerwald zu erzählen begann, sahen wir uns noch einmal an und wussten es: Um nichts in der Welt wollten wir seine Antworten auf all unsere Fragen verpassen – oder den Weg, auf den er uns schicken würde. Und auch hier galt: Er würde ihn uns aufzeigen. Er würde ihn sogar ein Stück mit uns gehen. Aber die Schritte mussten wir selbst machen.

An diesem Abend dachte ich auf der Heimfahrt noch einmal über Pauls Satz nach. Wenn alles, was außerhalb unserer Erwartung oder Gewohnheit liegt, uns erst mal aus der Fassung bringt, wollten wir diese Fassung denn überhaupt noch? War es nicht an der Zeit herauszufinden, welche Version in uns schlummerte, die wild vor sich hinwuchs, aber im starren Gerüst der Erwartungen anderer allmählich den Kopf hängen ließ? Wer waren wir ohne die Erwartung anderer und war es nicht an der Zeit, genau diese Version von uns zu entdecken?

Sechs Wochen nach Paul Goldbachs Vortrag trafen wir uns am Tulbingerkogel am Rande des Wienerwaldes und genossen von der Terrasse aus den Blick über den kleinen Teich und die dahinterliegenden hügeligen Wiesen. Die Morgensonne kämpfte sich mit ganzer Kraft durch die Wolkenfront, als versuche sie, uns zu ermutigen. Nur wenig später standen wir am Anfang eines Weges, der direkt in den Wienerwald hineinführte. Der Matsch unter unseren Schuhsohlen kam mir dabei wie ein Symbolbild für den ganzen Schlamassel vor, durch den wir die letzten Monate alle unweigerlich gegangen waren, und der Regen der letzten Tage hatte sein Übriges getan, um uns daran zu erinnern, wie rutschig der Boden doch oftmals war. Wir würden aufpassen müssen, nicht im Dreck auszurutschen oder hinzufallen und am Ende vielleicht liegen zu bleiben. Schließlich wollten wir weiter. Also gingen wir los. Und an dem Wochenende begegneten wir so vielem: dem längst verloren geglaubten Entdeckergeist aus vergangenen Zeiten und all den Erkenntnissen, die der Weg für uns bereithielt. Vor allem aber begegneten wir uns selbst.

Immer wenn wir aufbrechen, bricht auch etwas in uns auf.

Wenn uns etwas aus der Fassung bringt, brauchen wir dann eine neue?

Matschig im Kopf

Seid ihr bereit?!« Pauls Stimme klang motiviert – sie sprühte förmlich vor Elan, als wir in unseren robusten Wanderschuhen und wetterfesten Jacken vor ihm standen, als machten wir uns auf zu einer Expedition. Außer Paul sprühte allerdings niemand. Wir anderen wirkten eher wie neun abgebrannte Wunderkerzen. Adrian hatte anscheinend die Einladung nicht gelesen oder er veranstaltete seinen ganz persönlichen Style-Contest. Jedenfalls hielt er es offenbar für eine ausgezeichnete Idee, mit weißen Sneakern durch den schlammigen Wald zu laufen. Pauls Euphorie stieß in der Gruppe insgesamt in etwa auf die Begeisterung einer Herde Teenager kurz vor Antritt eines Schulausflugs. Nur, dass wir zehn erwachsene Menschen waren, die sich gewissermaßen freiwillig dafür verabredet hatten. Gewissermaßen deshalb, weil ich sicher war, dass ein paar nicht da gewesen wären, wenn nicht andere für sie entschieden hätten.

»Ganz schön matschig da oben ...!« Charly griff ihrem besten Freund mit der flachen Hand auf die Stirn. »Hast du Fieber, Adrian, oder wolltest du wirklich weiße Sneaker im Herbstwald tragen, um ein paar Hirsche mit deiner Intelligenz zu blenden?«

»Hallo ... nur weil du aussiehst, als würden wir gleich den Mount Everest besteigen, muss ich noch lange nicht wie Reinhold Messner daherkommen.«

Charly und ich hatten offensichtlich denselben Gedanken. Adrian liebte es nach wie vor, gegen den Strom zu schwimmen. In dem Fall wohl zu waten. In weißen Schuhen gegen den Schlamm. Man konnte sich ausrechnen, wer hier wohl gewinnen würde.

»Warum musst du immer so übertreiben?«, beschwerte sich Charly. »Das hier ist eine Wanderung durch den Wald! Da machen Wanderschuhe durchaus Sinn. Sonst hieße es ja Sneakerung.«

»Ach, lass das mal mein Problem sein! Ich sneake mich da schon durch, keine Sorge.« Adrian ließ sich offensichtlich nicht aus der Fassung bringen.

»Schön. Das würde ich auch manchmal gern.« Charly wirkte nachdenklich. »Einfach wegsneaken von der Welt und den ganzen Sorgen und Problemen. Manchmal sogar von mir.«

»Vielleicht müsstest du das gar nicht, wenn du endlich mal du selbst wärst und nicht all das, wovon du denkst, dass es anderen gefallen könnte.« Adrian blieb kurz stehen und sah sie eindringlich an. »Gefallenland ist nicht Griechenland, verstehst du, Charly? Es ist dort weder warm noch scheint die Sonne. Gefallenland liegt etwas schattig.«

Charly gab sich große Mühe, nicht zu lachen. »Die Frage ist doch, wem du unbedingt gefallen willst, wenn du immer so cool wirken willst. Das möchtest du doch, oder? Sowohl mit deinen Outfits als auch mit deinem Gerede!« Sie blickte anschließend zu mir hinüber und verdrehte die Augen. Uns war beiden klar, dass Adrian nicht ganz unrecht hatte. Aber ging es uns nicht allen manchmal so? Wollten wir nicht immer wieder anderen gefallen, die im Grunde gar nicht wussten, wer wir wirklich waren? Oder wussten wir das manchmal selbst nicht mehr so genau? Ich blickte zum Himmel hinauf, bevor wir in den Wald einbogen. Der sah mittlerweile ziemlich wütend aus. Bei den Gefühlsschwankungen hoffte ich, er würde sich noch zusammenreißen und dass es später kein Gewitter gab. Die Buchen hatten zu dieser Zeit keine Kronen mehr, sie würden uns daher keinen Schutz geben, falls uns der Regen eiskalt erwischte. Stattdessen hatten sie all ihre Blätter nach dem Sommer abgestreift und völlig losgelassen. Sie sahen karg und minimalistisch aus – wie frisch gespitzte Bleistifte, die in die Lüfte ragten und zwischen ihren Ästen viel Platz für Neues ließen. Alles wirkte wie die Befreiung von dem Ballast des vergangenen Jahres. Als wollten die Bäume Ordnung schaffen und der Welt wieder Raum geben, ganz neu zu entstehen.

Als meine Augen von den Wipfeln wieder hinunter zum Waldboden wanderten, bekam ich im Augenwinkel mit, wie Lukas mich schräg von der Seite ansah. Ich beschloss, seinen Blick erst mal zu ignorieren. Die Tatsache, dass er ohne großes Gezeter mitgekommen war, zeigte schließlich, dass Paul ihn das letzte Mal am See überzeugt haben musste. Natürlich hätte er das so nie zugegeben, aber er wäre bestimmt nicht noch einmal mitgekommen, hätte es ihm nicht vor einem Jahr gefallen. So gut kannte ich meinen besten Freund. Dass sein Sarkasmus wie immer mitspazieren würde, war mir klar, und auch, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er ihn mir unter die Nase rieb. Es war außerdem nicht ungewöhnlich, dass er keinen Gefallen daran fand, durch den Matsch zu schlurfen, weil wer würde daran auch Gefallen finden? Der Aufstieg war für den Anfang recht steil und beschwerlich, aber traf das nicht auf alle Anfänge im Leben zu? Waren sie tatsächlich so anstrengend, wie sie uns vorkamen, oder lag es daran, dass wir uns nur noch nicht an den neuen Weg gewöhnt hatten?

»Monty würde es hier gefallen. Einmal im Dreck wälzen und dann unschuldig dreinschauen«, keuchte Lukas nach einer Weile. Ich sah ihn mit dem unschuldigsten Hundeblick an, den ich aufsetzen konnte, obwohl ich sonst nicht viel mit seinem Jack-Russell-Terrier Monty gemein hatte.

»Genau das werden wir hier vermutlich auch tun. Nur innerlich«, sagte ich schließlich.

»Gedanken im Dreck wälzen?«

»Den Dreck aus den Gedanken wälzen.«

»Alles in Ordnung bei euch?«, rief Paul, wie der Pfadfinderführer von der Spitze zum Rest zu uns nach hinten. Wir bewegten uns nickend in selbst formierten kleinen Gruppen und unterdurchschnittlichem Schneckentempo voran. Hätten wir noch blau-gelb bestickte Kappen und Halstücher getragen, wären wir mit unseren kleinen Rucksäcken locker als Wichtel und Wölflinge durchgegangen. Ich fragte mich, ob man auch ein Wölfling, daher ein Pfadfinder-Bub, sein konnte, wenn man eigentlich den Wichteln, und damit den Pfadfinder-Mädels, zugeordnet war. Schließlich sollte man doch immer selbst bestimmen können, wer man war und wie man sich fühlte. Bei genauerer Überlegung zählte ich mich jedenfalls ganz gern zu den Wichteln. Sie vermittelten schon aufgrund ihrer Bezeichnung etwas Märchenhaftes – allerdings traf das auch auf die Wölflinge zu, schließlich hatte noch nie jemand sprechende Wölflinge gesehen. Die Spezies Mensch hatte sich mittlerweile hingegen in eine ganz eigenartige Richtung und weit weg von märchenhaft entwickelt. Von kriegsführenden Herrschern über rücksichtslose Arschlöcher – und dahingehend derselben Gattung zugehörig – bis hin zu ausgrenzenden Ignoranten waren mittlerweile einige Kategorien vertreten, um die ich eher einen Bogen machen wollte, als mich zu ihnen zu zählen.

»Wo bist du schon wieder mit deinen Gedanken?«, unterbrach mich Lukas und warf mir einen neugierigen Blick zu.

»Bei den Wichteln«, antwortete ich und er nickte, als hätte er verstanden. Und vielleicht hatte er das auch. So weit waren meine Gedanken nicht weg von der Absurdität, die sich auf dieser Welt gerade zutrug und die Menschheit mit einschloss. Da war es vielleicht auch gar nicht verwunderlich, dass wir an einem gewöhnlichen Samstagmorgen zu zehnt durch den Wald pilgerten und neun davon gar nicht so recht wussten, wohin.

»Haben wir eigentlich eine Ahnung, wo wir hinwollen?«, fragte ich etwas lauter nach vorn, damit es auch Paul hören konnte, weil nur er eine Antwort darauf haben konnte. Mit wir meinte ich also ihn. Denn ich hatte keine.

»Hier im Wald oder ganz generell im Leben?«, fragte er und grinste.

»Witzig ...«, murmelte Lukas leise und außer mir konnte ihn niemand hören.

»Beides wäre recht interessant!«, rief ich Paul zu. Endlich hatten wir das erste steile Stück überwunden und fanden uns auf einem kleinen Plateau wieder, auf dem sich eine Aussichtswarte und direkt davor eine auf Holzpfeiler gestützte große Wanderkarte befand. An den Seiten des Plateaus streckten sich die verschiedenen Wege in alle Himmelsrichtungen vor uns aus. Paul ging schnurstracks auf die Karte zu und fand sich beeindruckend schnell darauf zurecht. »Am Weg Richtung Hagenbachklamm kommen wir nach der Waldschenke zu einem Feld ...«, fing er an zu erklären und fuhr mit dem Finger auf der Karte entlang. »Von dort geht es weiter vorne im Wald zu einer Lichtung ... die liegt zwar etwas versteckt, aber wir werden sie finden.«

Auf der Wanderkarte waren so viele bunte Strecken eingezeichnet, dass mir ganz schwindlig wurde. Wie lange wollte Paul unterwegs sein? Würden wir jemals wieder zurückkehren? Woher schlich sich die Dramatik plötzlich dazu? Lichtung sah ich jedenfalls keine, daher beschloss ich, das Drama wieder rauszunehmen.

»Ich schätze mal, in etwa fünfundvierzig Minuten werden wir bei der Waldschenke ankommen und dann brauchen wir noch etwa fünfzehn Minuten bis zur Lichtung ... Dort möchte ich eine Pause mit euch machen und ins Thema gehen. Bis dahin genießt den Weg und seid achtsam, was ihr um euch herum wahrnehmt.« Ins Thema gehen ... eine interessante Bezeichnung für eine Wanderung mit einem Therapeuten.

Meine Fragen hatte Paul zwar nicht beantwortet, was vermutlich daran lag, dass ich sie nie ausgesprochen hatte. Dafür löste seine Aufforderung, achtsam zu sein, einiges aus, da plötzlich alle ihre Köpfe zur Seite drehten. Es war beinahe so, als bemerkten wir erst jetzt, dass wir mitten im Wald standen und es hier womöglich einiges zu entdecken gab. Waren wir etwa auch im Leben oft zu sehr auf unsere eigenen Fragen und Probleme konzentriert und bekamen deshalb viel zu wenig von dem mit, was um uns herum passierte? Oder liefen wir generell immer wieder am Leben vorbei, weil wir dem Jetzt zu wenig Beachtung schenkten und auf der Suche nach dem Ziel waren, obwohl sich alles in diesem Moment vor unseren Augen zutrug und wir es nur nicht bemerkten? Vielleicht verpassten wir so manche Aussichtswarte oder Lichtung, die schon auf uns wartete, an der wir aber versehentlich vorbeiliefen, weil wir uns in unseren Gedanken verlaufen und dabei selbst verloren hatten.

Als wir kurz darauf den Aussichtsplatz verließen und den Weg rechts hinunter Richtung Kirchbach antraten, hörte ich Charly und Rebecca lachen. Sofort fragte ich mich, was sie wohl gesehen oder besprochen hatten und ob sie es möglicherweise gerade schöner hatten als ich. Was für ein schräger Gedanke, der kilometerweit an der Achtsamkeit vorbeizielte, in der ich mich doch eben noch versucht hatte. Ich blickte hinunter zu meinen mit Dreck verschmierten Wanderschuhen. Da, genau hier. Das waren meine Schuhe. Meine Schritte und mein Leben. Ich schaute mich um und sah das Licht zwischen den Baumstämmen blitzen. Aus der Entfernung hörte ich einen Uhu rufen und meine Sohlen quietschten leise im Matsch. Um mich herum klimperten ein paar Trinkflaschen in den Rucksäcken und ein morscher Ast knarrte direkt über mir leise vor sich hin. Als ich genauer hinhörte, war es die Melodie jenes Augenblicks, die so nie wiederkommen würde. Der Soundtrack des Lebens, der in jedem Moment neue Töne spielt und uns auf wundersame Weise berührt, wenn wir uns nur darauf einlassen. Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus. Ob Paul genau das bezweckt hatte? Ich traute es ihm zu.

In dem Moment, in dem du beschließt, deine Aufmerksamkeit auf etwas Neues zu richten, endet die Suche und das Finden beginnt.

Kaum etwas macht uns so viel Angstwie die Entscheidung, einen neuen Weg zu gehen. Und kaum etwas bietet so viele Möglichkeiten.

Seine Majestät

Das ist also dieses Waldbaden, von dem alle reden ...«, unterbrach Lukas meine Achtsamkeit. »Ist wahrscheinlich auch nachhaltiger, als sich eine volle Wanne mit synthetischem Fichtennadelaroma einzulassen.«

»Siehst du hier irgendwo Fichten?«

»Was weiß ich ... Baum ist Baum. Wald ist Wald. Scheint jedenfalls gesund zu sein ... Zumindest solange man sich keine Lungenentzündung holt, weil man sich den Arsch abfriert.«

Er tat so, als fröstelte es ihn, obwohl er offensichtlich simulierte. Das Wetter hatte uns in die Karten gespielt, denn für den Herbst war es noch angenehm warm und die Luft roch nach Spätsommer.

»Das Drama wird gebeten, sich am Ausgang zu melden. Das Drama bitte«, sagte ich und lächelte Lukas dabei an.

»Ich sehe keines ... Und schön, dann tun wir einfach so, als würde das hier Sinn ergeben.«

»Muss denn immer alles Sinn ergeben im Leben oder ergibt es genau den Sinn, den wir ihm geben?«

Wir unterhielten uns kurz über die Sinnhaftigkeit von allem oder rein gar nichts, und statt uns auf den Wald zu konzentrieren, begannen wir kurz darauf eine tiefgreifende, aber doch vollkommen sinnbefreite Diskussion darüber zu führen, ob Paul Goldbach nun – wie bisher vermutet – McDreamy aus Wien war, vielleicht aber am Ende doch die männliche Version von Dr. Quinn oder der jüngere Bergdoktor in dunkelhaarig sein könnte. Die letzten beiden Annahmen entstanden nur deshalb, weil wir uns an der frischen Luft bewegten – was Lukas bereits für durchaus ländlich erachtete. Ich erklärte ihm daher noch einmal, dass Paul weder Neurologe noch Landarzt, sondern Therapeut war, was er aber letztlich für dasselbe hielt.

»Repariert Sachen. Nur eben im Kopf«, meinte er knapp.

»Oder der Seele ...«, antwortete ich.

»Mhmm ... meine Seele ist gechillt, mein Kopf ist in Ordnung. Nur mein Arsch ist in Gefahr abzufrieren.«

»Das sagtest du bereits ... Letzteres können wir, denke ich, ausschließen. Und ist nicht jeder Kopf in Ordnung, selbst wenn er in Unordnung ist? Weil was ist denn schon Ordnung im Kopf? Einmal Endreinigung und alle schlechten Gedanken sind wie weggefegt? Wahrscheinlich geht es weniger um Ordnung oder Unordnung, sondern mehr um die Gefühle, die uns abhandengekommen sind, weil andere sie uns abgesprochen haben oder wir sie uns am Ende vielleicht selbst amputiert haben.«

»Und welche wären das?«, wollte Lukas wissen.

»Vielleicht die Freude, im Wald zu spazieren, ohne zu überlegen, ob es Sinn macht.«

»Oder der Mut, sich einzugestehen, dass man eben gerade keine Freude dabei empfindet und auch keine empfinden sollte, nur weil es andere von einem erwarten.« Noch bevor ich etwas darauf sagen konnte, unterbrach Paul uns. Möglicherweise gerade zur rechten Zeit, weil es auch nicht immer etwas zu sagen gibt. Manchmal stimmen eben auch mehrere Meinungen. Aus der jeweiligen Perspektive haben dann alle recht.

»Seht ihr die Waldschenke?«, rief Paul gefühlte fünf Minuten nachdem wir losgegangen waren. Ich konnte nicht glauben, dass wir bereits fünfundvierzig Minuten unterwegs sein mussten und ich ganze vierundvierzig Minuten davon versagt hatte, achtsam zu sein. Immerhin hatten wir das mit dem Kopf, der Seele und der Ordnung geklärt. Oder auch nicht. Aber dafür gab es schließlich Paul.

Zur Rechten offenbarte sich plötzlich ein wunderschönes altes, weißes Bauernhaus mit einem idyllischen Garten hinter einem einladend geöffneten dunklen Holztor, über dem ein Schild mit der Aufschrift Waldschenke seit 1967 angebracht war.

»Hier werden wir später einkehren«, verriet uns Paul. »Jetzt gehen wir aber erst noch den kleinen Forstweg neben dem Feld vor zur Straße, und sobald wir die überquert haben, geht es weiter in den Wald ...«

»... zur Lichtung!«, kam ihm Adrian zuvor, der es liebte, den Ton anzugeben.

»Genau.«

»Also einfach zu einer Wiese ohne Bäume!«

Adrian brillierte wieder einmal mit seinen mittelmäßigen Scherzen. Immerhin, seine Freundin kicherte neben ihm. Natürlich fand sie ihn witzig. Sonst wäre sie wohl auch nicht seine Freundin geworden.

Paul lächelte. Viel mehr war dem auch nicht hinzuzufügen. Als wir die Hauptstraße überquerten, brausten zwei riesige Lkws mit tosendem Lärm an uns vorbei. Sobald wir aber in den Wald einbogen, legte sich schon nach wenigen Metern eine beruhigende Stille wie ein dicker Mantel um uns. Vom Verkehr war nichts mehr zu hören. Die Welt schien wie in Wolle gepackt, so friedlich wirkte sie. Nach einigen Schritten hatte ich endlich das Gefühl, ganz im Wald angekommen zu sein. Als ich nicht mehr darüber nachdachte, ob ich nun achtsam war oder nicht, und den Weg einfach genoss, war ich es endlich.

»Da vorne links!«, rief Paul uns zu. Wir verließen gemeinsam den markierten Weg und stapften durch das wilde Dickicht aus quer liegenden Ästen, ineinander verschlungenen Zweigen und einer Decke aus Blättern, die auf dem schlammigen Boden kleine Haufen bildete. Wie aus dem Nichts standen wir plötzlich vor einem Wegeingang, der sich wie ein riesiges Tor aus Lärchen und Buchen vor uns zeigte. Die Stämme ragten weit in die Lüfte, trafen sich oben zur Mitte hin und formten einen lang gestreckten Tunnel, der sich nahezu magisch vor uns ausdehnte. An dieser Stelle vermittelte der Wald ein ganz anderes Bild als noch einige Meter zuvor. Der Weg wirkte, als spazierten wir mitten in einen Märchenwald hinein. Das Licht war anders hier, alles erschien viel freundlicher und wärmer, und auch mein Gefühl veränderte sich.

»Unglaublich, wie schön es hier ist«, stieß Charly aus und bestätigte meine Gedanken. Ein paar von uns nickten und niemand sagte mehr etwas. Der Zauber des Waldes schien uns alle restlos ergriffen zu haben, als wir unter den Baumwipfeln wie auf einem majestätischen Gang entlangschritten.

»Bäume halt ... noch nie welche gesehen?«, murmelte Adrian vor sich hin und blickte zu Charly zurück.

Okay, doch nicht alle. Man musste schon offen für den Zauber sein, um ihn erkennen zu können.

Am Ende des lang gestreckten Tunnels gelangten wir zu der besagten Lichtung, von der Paul uns erzählt hatte. Es war tatsächlich ein kleines Stück Wiese mitten im Wald. Sie lag hell und frei vor uns, von den Seiten schützend umringt von den angrenzenden Bäumen. In der Mitte standen zwei Holztische mit dazugehörigen Bänken, als hätte sie da jemand für uns hingestellt, dabei waren sie fest in der Erde verankert und gehörten offensichtlich da hin. Die letzten Sonnenstrahlen brachen wie Scheinwerfer durch die Wolkendecke, als wir uns auf die Tische zubewegten.

Das Licht kümmert sich nicht darum, wer es sieht. Es strahlt auch dann, wenn es keine Beachtung erhält.

»Kann nicht auch im echten Leben immer jemand ›Da vorne links!‹ rufen, damit ich die Lichtung nicht verpasse?!«, scherzte Charly. »Ich habe das Gefühl, ich tappe so oft im Dunkeln und übersehe die immer. Wahrscheinlich hätte ich mich schon viel weiter vorne am Weg verlaufen. Zweimal falsch abgebogen und schon ins falsche Leben verirrt!« Charly brachte uns mit ihrer Aussage alle zum Lachen. Anscheinend kannte nicht nur sie das Gefühl, sich ab und zu ins falsche Leben verirrt zu haben.

Als wir bei den Holztischen ankamen, setzten Lukas und ich uns gleich auf die linke Bank und stellten unsere Rucksäcke neben uns am Boden ab, während sich Adrian in der Mitte der schräg gegenüberliegenden Holzbank niederließ und darauf wartete, dass seine Gefolgschaft links und rechts von ihm Platz nahm. Jedenfalls gab seine Majestät mit einer Handbewegung die Anweisung, sie könnten sich nun setzen. Die Dominanz hatte Adrian im Vorjahr anscheinend nicht im See versenkt. Zumindest schien noch eine Menge davon übrig zu sein. Seine Freundin nahm daraufhin etwas schüchtern links neben ihm Platz und rechts von ihm setzte sich ein groß gewachsener Kerl mit dunkelgrünen Augen und gequältem Blick. Es musste sich um Adrians Arbeitskollegen Clemens handeln, von dem Charly mir bereits erzählt hatte. Man sah ihm förmlich an, wie sehr ihn die kürzliche Trennung von seiner Frau mitnahm. Jedenfalls wirkte er alles andere als glücklich, was allerdings durchaus verständlich war. Schließlich zählt Liebeskummer wohl zu den beschissensten Gefühlen, die es im Gefühlsspektrum der beschissenen Gefühle gibt. Immerhin fühlt es sich an, als würde man ein Messer in die Bauchgegend gerammt bekommen, das sich wie von Geisterhand langsam und unaufhörlich weiterdreht, aber niemand hilft einem, das Ding wieder sauber zu entfernen. Einem selbst gelingt es auch nicht, weil man zu sehr damit beschäftigt ist, die Einzelteile seines Herzens wieder aufzusammeln, die man gerade sucht und nicht finden kann. Es heißt nicht umsonst gebrochenes Herz. Ich würde es noch um die zerschmetterte Brust, den verletzten Bauch und die erschütterte Seele erweitern. Aber im Grunde tut vom Kopf bis zur Zehe alles weh. Wenig hilfreich ist außerdem die Tatsache, dass die zersplitterten kleinen Teile des Herzens die andere Person dann meistens noch weiterlieben. Eine Zeit lang zumindest. Eine, die einem länger als lang vorkommt, weil es durchgehend wehtut. Diese Schmerzen wünscht man niemandem. Ich schenkte Clemens daher mein wärmstes Lächeln, hatte jedoch das Gefühl, es irritierte ihn ein wenig. Ich beschloss trotzdem für ihn, dass er es gerade brauchen konnte.