Es geht mir gut und andere Lügen - Andrea Weidlich - E-Book

Es geht mir gut und andere Lügen E-Book

Andrea Weidlich

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Beschreibung

Es geht mir gut – sagen wir uns. Wirklich gut – erzählen wir anderen. Selbstverständlich gut – hallt es dumpf in uns nach. Manchmal, wenn wir ganz ehrlich zu uns sind, sieht die Wahrheit aber anders aus. Und trotzdem steigen wir wieder in unser Hamsterrad und laufen weiter. »Was willst du?«, ruft etwas tief in uns, aber die Frage scheint uns zu groß. Acht Menschen begeben sich auf eine Reise ans Meer, um herauszufinden, was sie wirklich wollen und was sie noch zurückhält, damit sie aus ihrem Schatten treten können. Ein faszinierendes Abenteuer über die Macht des Unbewussten. Ein Buch so warm und erhellend wie ein Sonnenstrahl, der sich von innen in uns ausbreitet. Von der Autorin der SPIEGEL-Bestseller Ich denke, also bin ich ... mir im Weg, Wo ein Fuck it, da ein Weg und Wie du Menschen loswirst, die dir nicht guttun, ohne sie umzubringen

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Seitenzahl: 419

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Andrea Weidlich

Es geht mir gut und andere lügen

Andrea Weidlich

Es geht mir gut und andere lügen

Wie du aus deinem Schatten trittst und herausfindest, was du wirklich willst

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

2. Auflage 2024

© 2024 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Redaktion: Anja Hilgarth

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer, Andrea Weidlich

Umschlagabbildung: Onuma/Adobe Stock

Layout und Satz: inpunkt[w]o, Wilnsdorf (www.inpunktwo.de)

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-7474-0657-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-98922-066-9

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98922-067-6

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

EINES TAGES IST KEIN WOCHENTAG

TÜR ZU

TURBULENZEN IM GEPÄCK

WAS HELFEN ALL DIE LÜGEN?

SCHICKSAL, HAFEN UND GEHEIMNISSE

EINEN WAS, BITTE?!

LÄCHELN, SHERLOCK

DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN

SCHEIN UND VERSION

WAHRHEITSSALAT

FALSCHES LEBEN BEWUNDERT

GANZ SCHÖN DUNKEL IM HAMSTERRAD

NICHT KOMPLETT VERKEHRT

MEIN AUTOPILOT HAT SICH VERFAHREN

DIE MORAL VON GUT UND KÄSE

SO LOCKER WIE BETON

GEMEINSAM EINSAM

EIN FINGER IN ZWEI WUNDEN

ZU LANGE ZU LEISE

VERFLUCHTE REALITÄT

EINE SCHÜSSEL MIT NICHTS, BITTE

DER IMAGINÄRE BALL

AUS DEM STAUB GEMACHT

AUF MESSERS SCHNEIDE SPAZIERT

QUAL FATAL

MANGEL AN DER ANGEL

OH, EIN HAI

ENDLICH WIEDER NORMAL SCHEISSE

WAS WILL ICH?

GEFÄHRLICH EHRLICH

SICHER NICHT SICHER

FALSCH VERBUNDEN

CALVIN-JUSTIN RAUBT MIR DEN FRIEDEN

GEFÜHLSEINSCHNITT

FINDE DEN FEHLER

ES PASST NICHT MEHR

HOUDINI

UNTER WASSER

ENTFESSELT

ÜBER DIE AUTORIN

Stell deine Realität infrage und du wirst sie verändern.

Manchmal

findest du genau das,

wonach du schon immer

gesucht hast.

Und manchmal findest

du noch etwas Größeres.

Dich selbst.

Es geht mir gut – sagst du dir.

Wirklich gut – erzählst du anderen.

Selbstverständlich gut – hallt es dumpf in dir nach.

Aber manchmal, wenn du ehrlich bist, sieht die Wahrheit doch anders aus.

Denn hin und wieder spürst du es: Tief unten am Grund,

da schlummert deine Seele, die immer wieder Wellen schlägt.

Was willst du? – ruft sie dir zu. Wovon träumst du? – will sie wissen.

Und wenn es ganz still und dunkel ist, da hörst du es:

Alles ruft nach dir.

Doch dann, ganz rasch, besinnst du dich wieder,

weil Träume nur etwas für Schwache sind – das sagst du dir,

weil sie sich ohnehin nicht erfüllen – da bist du dir sicher.

Dann gehst du zurück in dein Hamsterrad,

verschließt die Tür, hältst dir das Herz zu,

streichst dir den Kummer von der Seele,

wischst dir die Zuversicht aus der Stirn

und läufst.

Weit weg von dir, weit weg vor der Welt.

Den Blick gesenkt,

die Sehnsucht unterm Arm,

das Verlangen unterdrückt.

In diesem Rad, dem ewigen Rad.

Es ist dunkel im Hamsterrad.

Da hängt ein Tuch über dem Käfig; es schwebt über dir,

wirft einen dunklen Schatten – er krallt sich fest an deine Seele.

Wann bleibst du stehen? – fragt er. Doch du läufst weg vor ihm.

Wann machst du die Tür auf und verlässt den Käfig?

Aber du läufst.

Immer weiter läufst du ... bis du ... fällst.

Doch das Gute am Fallen ist: Du läufst jetzt nicht mehr.

Und dann, wenn dein aufgeschürftes Herz sich erholt hat,

stehst du auf, verlässt den Käfig und ziehst weiter,

atmest Mut ein und alle Zweifel in dir aus.

Mit Freiheit in den Lungen,

der Klarheit im Gepäck,

da entdeckst du es:

Ein ganzes Meer vor dir.

Ein ganzes in dir.

EINES TAGES IST KEIN WOCHENTAG

Wir finden in der Welt, wonach wir suchen. Leider suchen wir oft an den abwegigsten Orten nach den absurdesten Dingen, die uns vor allem eines machen: nicht sonderlich glücklich. Aber zumindest kommt uns das vertraut vor. Und manchmal wissen wir nicht einmal, wonach wir suchen sollen, geschweige denn, was wir eigentlich wollen. Wir wissen nur, dass unser Leben wahrscheinlich eher der Montag unter den Leben ist, wenn wir es mit anderen vergleichen – und fühlen uns einsam. Hin und wieder beschweren wir uns dann vielleicht darüber oder zucken mit den Schultern, aber so richtig wundert es uns nicht. Manchmal ist es eben ziemlich schwer, dieses Leben. Da kann man nichts machen. Und auch wenn uns das Pech immer wieder förmlich am Schuh zu kleben scheint, gehen wir trotzdem weiter. Wir steigen jeden Tag in unser Hamsterrad, in dem wir zwar laufen, aber nicht weiterkommen, selbst wenn wir uns noch so sehr anstrengen. Auch die Aussicht ist nicht sonderlich erfreulich – doch eher ein wenig öd –, aber zumindest ist sie uns bekannt. Und weil wir schon ein Leben lang daran gewöhnt sind, nach immer denselben Dingen Ausschau zu halten, starren wir von unserem kleinen Hamsterrad immer auf denselben kleinen Fleck in unserem kleinen Leben und nichts verändert sich groß. Wir wiederholen, was wir bereits kennen, und wundern uns, warum uns immer wieder dasselbe passiert. Darauf gibt es natürlich eine einfache Antwort: Schuld sind immer die anderen oder das Leben selbst. Wir können schließlich nichts dafür. Es passiert, was passiert, und darauf haben wir keinen Einfluss. Aber ist das wirklich so? Sind wir vollkommen unbeteiligt daran, was wir im Leben erleben, oder würde die eine oder andere bewusste Entscheidung vielleicht doch etwas verändern? Und hier fängt es an, kompliziert zu werden. Womöglich ist uns gar nicht bewusst, dass wir jeden Tag in dasselbe Hamsterrad steigen, um dasselbe zu tun und immer mehr vom Selben zu erleben, das uns vielleicht gar nicht wirklich gefällt. Und auch wenn wir uns insgeheim zwar Veränderung wünschen, haben wir doch Angst davor, etwas anderes zu tun und am Ende womöglich zu scheitern – oder gar etwas zu erleben, das so schmerzhaft sein könnte wie das, was wir um jeden Preis vermeiden wollen. Was das genau ist, wissen wir zwar nicht, aber wir wissen zumindest eines: Es ist mit Sicherheit besser, auf der Stelle zu treten und das Unglück zu erwarten, das wir bereits kennen, als irgendeinem neumodischen Traum von einem schönen Leben hinterherzulaufen. Nur manchmal, da fragen wir uns, ob diese Stimme, die tief im Inneren nach uns ruft, vielleicht etwas anderes sagen möchte als: Es geht mir gut.

Doch dann schütteln wir gleich den Kopf. Darf es uns denn überhaupt schlecht gehen? Sollten wir nicht zufrieden sein mit unserem Leben – oder überhaupt am Leben zu sein? Schließlich bieten uns die Gitterstäbe des Käfigs um das Hamsterrad ganz schön viel Sicherheit. Wer darf sich da schon beklagen? Für Überraschungen sind wir schließlich ohnehin nicht gemacht. Sonst könnte sich am Ende noch ein wilder Löwe durch das Gitter quetschen und wir wären mausetot. Auch wenn das natürlich überhaupt keinen Sinn ergibt, weil so ein großer Löwe schwer durch die engen Stäbe des selbstgebastelten Käfigs steigt, atmen wir dann trotzdem erleichtert auf, dass wir das Schlimmste noch verhindern konnten. Mit der richtigen Portion Selbstbetrug schaffen wir es, uns auch den wildesten Unsinn als kluge Idee zu verkaufen, um unser Leben danach genauso wenig oder zumindest immer ein kleines bisschen zu wenig zu mögen. Immerhin haben wir stets die Antwort auf die Frage der anderen parat, und die lautet: »Es geht mir gut.«

Natürlich geht es mir gut.

Es darf mir nicht schlecht gehen.

Wo kämen wir denn da hin?

Bestimmt nicht weiter. Und darum geht es doch im Leben, oder etwa nicht?

Vielleicht nicht. Zumindest nicht, wenn wir unbewusst in die falsche Richtung laufen. Statt ein Leben mit schlecht programmiertem Autopiloten zu führen, sollten wir lieber die Reise nach innen wagen. Das kann zwar mitunter etwas dunkel werden, ermöglicht uns aber, am Ende bewusst aus unserem eigenen Schatten zu treten und uns eine andere Aussicht zu gönnen. Und statt jetzt zu denken: Mach ich, nur nicht heute – erinnern wir uns daran, dass wir uns das vielleicht schon ein Leben lang gesagt haben. Denn haben wir nicht alle immer wieder auf ein besseres Leben gewartet und trotzdem immer dasselbe gemacht? Sehen wir zu, dass wir nicht zu lange auf den richtigen Zeitpunkt warten. Denn das Leben ist kurz und es wäre schade, wenn wir ein Leben lang gewartet, aber nie damit begonnen hätten. Eines Tages ist kein Wochentag. Lassen wir eines Tages heute sein.

Es ist nicht wichtig, wie wir beginnen. Es ist nicht wichtig, wo wir beginnen. Es ist nur wichtig, dass wir beginnen.

TÜR ZU

Ich schlug die Tür hinter mir zu. Wie in Zeitlupe fiel sie ins Schloss. Viel zu langsam für diesen schnellen Moment – und doch: endgültig. Es war, als würde ich die Tür zu meinem bisherigen Leben schließen. »... zu dem Entschluss gekommen ... es ist besser, wenn sich unsere Wege hier trennen.« Jedes Wort – wie ein Schlag in meine Seele. Plötzlich war sie hinter der Tür ... und ich stand auf der anderen Seite. Ich konnte es nicht glauben. Das alles war skrupellos ... eiskalt ... herzlos. Ein Abklatsch von mir. Früher. Ich war es doch, der anderen gesagt hatte, wann es vorbei war. Ich war das, versteht ihr? Ich!

Und dann verlor ich ihn. Den Halt. Und damit auch den Menschen, der all das einmal war. Lebendig? Der kalte Schweiß trat mir wie eine frostige Drohung auf die Stirn. Ich zitterte vor Kälte, obwohl mir die Hitze von den Füßen brennend durch den Bauch weiter in die Brust und von da bis ganz nach oben in den Kopf stieg. Vor meinen Augen: alles verschwommen. Ich konnte nichts sehen ... nicht atmen. Ich griff mir an die Kehle. Ich bekam keine Luft mehr! Nichts. Kein bisschen verdammter Sauerstoff gelangte in meinen Körper. Mein Herz stolperte. Es raste so schnell, als würde es durch meine Brust brechen wollen. Niemand, wirklich niemand kann so etwas überleben, dachte ich noch und rang nach Luft. Panik. Es musste doch irgendwo ein wenig Luft sein, die sich dazu bereiterklärte, mich hier zu retten! Und plötzlich überschlug sich mein Atem ... so schnell ... immer schneller ... mein ganzes Leben raste wie ein kaputter Sportwagen an mir vorbei. Als würde ich auf das Gaspedal treten ... immer weiter durchtreten ... schnell, noch schneller ... der Motor heulte auf – mein Motor, er drohte jeden Moment zu explodieren! Ich raste auf die Leitplanke zu ... ich verlor die Kontrolle ... dahinter der Abgrund. In mir – ein einziger Abgrund.

Alles schwarz.

Ich fiel.

Immer tiefer. In mir.

Keine Luft mehr.

Ich ... sterbe.

Ich erinnere mich noch vage, dass ich zuschlagen wollte, um herauszufinden, ob ich noch am Leben war. Nichts konnte schlimmer sein als diese Angst. Ich sah auf meine Hand, die sich bereits zur Faust verkrallt hatte. Doch sie war willenlos. Sie tat nicht, was ich wollte. Gegen die Wand schlagen, das wollte ich ... um wieder etwas zu spüren. Das wollte ich. Schreien ... irgendetwas.

Aber ich war gefangen. Gefangen in meinem Körper.

So ist es also, dachte ich. So ist es zu sterben. Und plötzlich waren es nicht mehr ihre Worte – ich selbst schlug auf meine Seele ein. Das kann doch nicht alles gewesen sein? Das. Mein Leben! Das kann es nicht gewesen sein. Nicht so.

Wenn du das Gefühl hast zu fallen, dann weil die Wahrheit sich in der Tiefe verbirgt.

Das Einzige, wovor du nicht davonlaufen kannst, bist du selbst.

TURBULENZEN IM GEPÄCK

Ding!, ertönte es für meinen Geschmack immer ein klein wenig zu dramatisch aus den Kabinenlautsprechern über uns, und die Zeichen der Sitzgurte leuchteten rot auf. »Hier spricht Ihr Kapitän«, meldete sich im nächsten Moment eine ruhige Stimme aus dem Cockpit. Ich fragte mich, ob sich schon jemals ein Kapitän mit aufgeregter Stimme gemeldet hatte –, aber in den Fällen, in denen es vermutlich allen Grund zur Aufregung gegeben hätte, würden wir es wohl im Nachhinein nicht mehr erfahren. Ich schob meinen kleinen Anflug von Flugangst innerlich zur Seite und atmete einmal tief durch, bevor ich das tat, was das Zeichen mir auftrug, und meinen Gurt mit einem Klacken verschloss.

»Wir befinden uns nun im Anflug auf Neapel-Capodichino. Da wir mit starkem Ostwind rechnen und eine Gewitterzone durchqueren, kann es immer wieder zu Turbulenzen kommen. Wir bitten Sie daher, Ihre Plätze einzunehmen, Ihre Sitzgurte anzulegen und während des restlichen Fluges angeschnallt zu bleiben, damit für Ihre Sicherheit gesorgt ist. Wir planen trotz der möglicherweise etwas stärkeren Turbulenzen planmäßig um 14:20 Uhr in Neapel zu landen. Ich wünsche Ihnen weiterhin einen guten Flug und einen schönen Aufenthalt.«

»Turbulenzen?!«, wiederholte Charly mit weit aufgerissenen Augen und starrte mir ein Loch in meine Seite – womit sie nicht unbedingt zu meiner Beruhigung beitrug.

»Alles gut, es gibt keinen Grund zur Beunruhigung. Du hast den Piloten gehört«, stammelte ich angespannt.

»Natürlich sagt er das! Was soll er denn auch sonst sagen?! Werte Fluggäste, bereiten Sie sich jetzt schon einmal darauf vor, dass wir in Kürze alle sterben werden ...?!« Charly hielt sich an den Armlehnen fest und drehte ihren Oberkörper ruckartig in meine Richtung. Ihre rehbraunen Augen funkelten dabei vorwurfsvoll. Fast hätte man annehmen können, sie suchte eine Schuldige – und da ich nun mal neben ihr saß, schien das gerade ich zu sein.

Kurz darauf erhob sich Adrian zu Charlys Rechten, der sich zuvor den gesamten Flug über keinen einzigen Millimeter von seinem Sitzplatz wegbewegt hatte, aber selbstverständlich genau in dem Moment aufstand, in dem man ihm gesagt hatte, er solle sich hinsetzen. Er schob sich rüpelhaft an uns beiden vorbei und fuchtelte im Gang wild mit seinen Armen in der Luft. Was Schuldige anbelangte, war einfach immer Verlass auf Charlys besten Freund.

»Adrian, bitte!«, verlagerte Charly nun ihre Aufregung in seine Richtung und verdrehte die Augen. »Musst du immer genau das Gegenteil von dem machen, was man dir sagt?!«

»Wieso? Störe ich dich etwa beim Sterben?«, fragte er, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und öffnete das Gepäckfach direkt über ihm.

»Witzig, Adrian ... wirklich witzig ...«

Aus dem Augenwinkel sah ich bereits eine mindestens genauso aufgeregte Stewardess energischen Schrittes auf Adrian zustapfen und ich war gespannt auf das Theater, das sich hier gleich vor unseren Augen abspielen würde. Gleichzeitig war ich aber auch dankbar für die Ablenkung, die ich gerade gut gebrauchen konnte. Adrian liebte es, für zusätzliche Aufregung zu sorgen, bei der man die vorhergehende für eine Weile vergaß.

»Ich muss Sie bitten, jetzt Platz zu nehmen«, ermahnte ihn die Stewardess, die jetzt direkt vor ihm stand, eindringlich. »Haben Sie denn die Durchsage nicht gehört?« Adrian ignorierte sie und kramte seelenruhig weiter im Gepäckfach. Die Stewardess kannte Adrians langen Atem nicht, wenn es darum ging, seinen Willen durchzusetzen.

»Ich muss Sie jetzt wirklich auffordern ...«

»Bitte ... wozu denn?«, unterbrach sie Adrian mit einem Mal, zog sein Gesicht aus dem Gepäckfach und streckte seine Nasenspitze ein wenig zu nahe in ihr Gesicht.

»... sich hinzusetzen ...«, stammelte die Stewardess, sichtlich eingeschüchtert, und ich konnte nicht deuten, ob Adrian sie bereits mit seinem bestechenden Surfergrinsen um den Finger gewickelt hatte und sie längst davon träumte, ihm noch ein ganzes Stück näher zu kommen, als er es ohnehin schon war – oder ob er es mit seiner autoritären Art wieder einmal geschafft hatte, sämtliche anderen Autoritäten zu untergraben.

»Sie werden doch einem unschuldigen Mann nicht verbieten, sich seine Medikamente zu holen?«, lächelte Adrian sie unschuldig an und zog seine Reisetasche mit einem Ruck hervor. Die Stewardess lächelte verlegen zurück, nickte und schloss wortlos das Gepäckfach für ihn, als wollte sie sich damit entschuldigen. Ich hätte kotzen können, wie Adrian es wirklich jedes Mal mit seinem Charme schaffte, starke Frauen in willige Geschöpfe zu verwandeln und sie am Ende alle für sich zu gewinnen.

»Gute Besserung ...«, höhnte Charly in seine Richtung, während er sich wieder zurück auf seinen Sitzplatz bewegte und uns dabei nicht nur seinen Brustkorb und die lederne Reisetasche, sondern auch sein selbstgefälliges Grinsen in unsere Visagen presste.

»Soso ... Medikamente ...«, meldete sich der Trauzeuge von Cleos zukünftigem Ehemann aus der Reihe neben uns. Tom kannte sich als »renommierter Arzt und international erfolgreicher Chirurg«, wie Adrian ihn uns am Check-in-Schalter in Wien vorgestellt hatte, anscheinend nicht nur gut mit Medikamenten aus, sondern auch mit Adrians Tricks. Er kam mir außerdem bekannt vor, aber ich konnte nicht zuordnen woher, und er hatte große Ähnlichkeit mit Paul, was – wie wir alle wussten – kein Nachteil war.

Vielleicht würde ich es noch an diesem Wochenende erfahren – schließlich befanden wir uns gerade auf der Anreise zur Hochzeit seines besten Freundes und hatten noch ein paar Tage vor uns.

»Ja, weil das krank ist«, sagte Charly und meinte Adrian damit. Sie klopfte sich dabei mit dem Zeigefinger gegen die Stirn.

Nur wenige Sekunden später stürzte das Flugzeug einige Meter in die Tiefe. Ich erschrak so heftig, dass ich einen Schrei ausstieß, während Charlys Fingernägel sich in meinem Unterarm eingruben und sie zu hyperventilieren begann. Es war plötzlich sehr laut im Flugzeug. Ich war nicht die Einzige, die geschrien hatte, und nun machte sich ein lautes Raunen im Flugzeug breit. Eine Frau faltete die Hände und fing an zu beten. Kurz darauf gingen alle Lichter aus.

»Was zum Teufel ...!«, rief Charly und starrte zum Fenster.

»Was seid ihr denn so hysterisch«, sagte Adrian ganz ruhig. »Da sagt man euch noch, dass es Turbulenzen geben wird, und ihr seid völlig überrascht, wenn sie dann eintreten.« Er zog dabei ganz langsam eine perlmuttfarbene Karte aus seiner Tasche. »Cleo und Leo«, las er vor und schüttelte den Kopf. »Wir freuen uns, euch mitzuteilen, dass wir uns am Samstag, dem 14. September, auf Capri das Ja-Wort geben werden.« Adrian ließ sich vom Trubel im Flugzeug nicht aus der Ruhe bringen. Er sah uns eindringlich an. »Das, meine Lieben, das sollte euch wirklich beunruhigen.«

Es sind nicht die Ereignisse, die wir fürchten, sondern unsere Vorstellung davon.

WAS HELFEN ALL DIE LÜGEN?

Was helfen all die Lügen, wenn ihr eure Wahrheit nicht leben könnt?«, fragte Paul zwei Tage nach der Hochzeit, als wir in der idyllischen Taverne saßen und über die Klippen direkt aufs Meer hinausblickten, während sich die Abendsonne darin spiegelte und langsam in der Tiefe versank, als läge die Antwort direkt vor unseren Augen. Und das tat sie vermutlich auch. Aber war es wirklich so einfach? Machten wir uns nicht alle immer wieder etwas vor und redeten uns die Dinge schön – auch wenn sie längst an Glanz verloren hatten? Es war nun mal nicht einfach, sein altes Leben hinter sich zu lassen, um in ein neues einzutauchen, in dem wir unser Strahlen wiederfinden wollten, wenn es dunkel geworden war.

Aber vielleicht war das, was wir uns schon so lange schöngeredet hatten, längst ein Teil von uns geworden, und mit jeder Lüge, die wir uns und anderen wie altes Brot auftischten und als knusprige Wahrheit verkauften, verloren wir auch einen Teil von uns selbst. Vielleicht lagen all diese Lügen nun steinhart und schwer verdaulich vor uns auf dem Tisch.

Meine Gedanken wanderten vom alten Brot hinaus aufs offene Meer. Womöglich schlummerten all unsere verlorenen Teile in unseren dunkelsten Tiefen wie leblose Körper in gekenterten Schiffen am Meeresgrund, wo wir sie irgendwann tief in uns begraben und versenkt hatten. Von dort aus ließen sie uns aber nicht in Ruhe, sondern riefen nach uns und verschafften uns immer wieder dieses leise, aber doch stets etwas mulmige Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Mit uns, unserem Leben und dem Druck, den wir immer wieder verspürten. Als wollte sich etwas in uns von ganz tief unten den Weg nach oben erkämpfen, bis es immer lauter wurde, um zu einem ungeahnten Zeitpunkt mit heftiger Wucht an der Oberfläche hervorzubrechen.

Was war diese innere Wahrheit, von der Paul sprach – und wie konnten wir sie finden? Manchmal schien es so viel leichter, die Tatsachen ein wenig zu verdrehen, vielleicht auch vor uns selbst zu verstecken – und so zu tun, als wäre alles gut. So gut es eben gerade sein konnte, damit alles beim Alten blieb, weil Veränderung nun mal sehr anstrengend ist. Belogen wir uns dabei aber vielleicht jeden Tag ein Stückchen selbst und würden wir irgendwann feststellen müssen, dass mit jeder selbst verabreichten Lüge alles immer schwerer in uns geworden war? Vielleicht waren es nicht nur die anderen, die uns mit dem Gewicht ihrer Erwartung herunterzogen, sondern manchmal auch wir selbst, weil wir jemand sein wollten, der wir gar nicht waren, um nicht mehr jemand zu sein, den wir nicht mochten. Aber war das Ergebnis nicht dasselbe? Vielleicht hatten wir mit der Zeit gelernt, jemand zu sein, dessen Leben einfach besser zu den anderen passte. Auch dann, wenn es gar nicht zu uns passte.

Wahrscheinlich wurde aber das Gewicht von all dem, was wir tief in uns verborgen hielten, und von dem ganzen Schwindel, den es dafür brauchte, irgendwann so schwindelerregend groß, dass wir das Gleichgewicht verloren und damit auch den Halt. Das Dunkle, so meinte Paul später, würde eines Tages so schwer in uns wiegen, dass es irgendwann anfange, uns langsam, aber sicher in die Tiefe zu ziehen. Dass das nichts Schlechtes, sondern – ganz im Gegenteil – sogar notwendig war, um etwas zu verändern, würden wir noch die Tage darauf auf unserer Reise erfahren. All die Fragen, die uns unser Innerstes aus der Dunkelheit zurief, hatten einen Sinn, und auch wenn wir diese Fragen anfangs vielleicht überhören wollten und uns beharrlich die Augen, die Ohren und das Herz zuhielten, ließen sie sich doch irgendwann nicht mehr ignorieren. Wenn die Dunkelheit sich meldet, dann um uns mit aller Macht daran zu hindern, ein Leben weiterzuführen, das uns schon lange nicht mehr erfüllt. Immer dann, wenn etwas uns die Energie aus den letzten Ritzen unseres Seins raubt und wir fühlen, dass wir nicht mehr wir selbst sein können, taucht etwas in der Dunkelheit in uns auf. Wenn wir genau hinhören, dann können wir anfangen, uns die richtigen Fragen zu stellen. Neue Fragen. Und das Leben wird uns neue Antworten bringen.

»Habt ihr euch schon einmal gefragt, warum ihr handelt, wie ihr handelt?«, fragte Paul kurz darauf und gab uns den entscheidenden Hinweis, um Licht ins Dunkel zu bringen. Er blickte allerdings in fragende Gesichter. »Wenn ihr keine Erklärung dafür habt, dann ist es euer Unbewusstes, das euch gerade steuert«, sagte er geheimnisvoll und doch mit einer Klarheit, die vielversprechend klang.

»Das würde dann ja einiges erklären ... Die Frage ist nur, wie wissen wir, ob die Dinge kommen, wie sie kommen müssen, oder ob wir uns vielleicht unbewusst selbst dafür entschieden haben«, überlegte Charly.

»Die Frage ist, ob ihr Freude bei dem, was ihr erlebt, empfindet – dann war euch euer Unbewusstes dabei behilflich und ihr könnt es auch gern Schicksal nennen. Wenn ihr euch aber schlecht fühlt, weil sich etwas immer wieder für euch wiederholt, dann macht es durchaus Sinn, sich die Gründe dafür anzusehen.« Paul blickte in die Runde. »Es gibt immer einen Grund für eure Handlungen und das Ergebnis, das daraus entsteht. Er ist euch nur oftmals nicht bewusst, wenn eure inneren Kräfte euch dazu antreiben«, sprach er weiter. »Man könnte auch sagen, das Unbewusste manifestiert sich in der Wiederholung eurer Erfahrungen. Es ist all das, was ihr meint, wenn ihr behauptet, immer vor denselben Problemen zu stehen. In eurem Unbewussten sind all jene Teile verborgen, die ihr schon lange in euch abgelehnt und unterdrückt habt, und von da aus bestimmen sie eure Entscheidungen. Ihr könnt euch oftmals nicht erklären, warum sich alles wiederholt. Die Gründe sind euch nicht bewusst und trotzdem steht ihr immer wieder vor denselben Problemen, denselben Konflikten und gefühlt auch immer vor denselben Menschen, die euch zu immer wieder denselben Erfahrungen bringen. Es ist Zeit, diesen Ablauf zu unterbrechen und die Wahrheit an die Oberfläche zu holen. Das Unbewusste wirkt vielleicht rätselhaft, aber es lässt sich entschlüsseln. Nur wenn ihr euch bewusst macht, was euch steuert, ist es möglich, etwas zu verändern. Und genau das werden wir tun.«

Wir alle sahen Paul fasziniert an. Nur Adrian schien das alles vollkommen unberührt zu lassen. »Verdammt hart, ein Brot zu sein«, sagte er geistesabwesend – als wäre das die einzige Erkenntnis, die er daraus gezogen hatte, und klopfte mit seinem Stück Brot gegen den alten Holztisch.

Was auch immer du für die Wahrheit hältst, sie wird sich zeigen.

SCHICKSAL, HAFEN UND GEHEIMNISSE

Zwei Tage vorher

Ich hatte eigentlich vermutet, dass uns der turbulente Flug durch die Luftlöcher des Gewitters mit Blick auf den bedrohlich wirkenden Vesuv bereits ausreichend in Gefahr gebracht hatte – der Taxifahrer in Neapel belehrte uns allerdings eines Besseren. Nach einer Höllenfahrt, bei der er in wilden Überholmanövern auf der Autostrada beinahe zwei Lkws gerammt hatte und danach in nahezu derselben Geschwindigkeit durch die engen, vom Regen dampfenden Gassen Neapels gebrettert war, stiegen Charly und ich kreidebleich aus dem Taxi. Adrian lachte uns wie immer aus, und Tom schien die Ruhe in Person zu sein.

Da standen wir nun mit unseren Koffern und sahen auf den riesigen Hafen, der sich wenig idyllisch, sondern eher wie eine riesige Betoninsel vor uns erstreckte. Neben der mächtigen Fähre, die direkt vor uns lag, wirkten alle anderen Schiffe wie kleine Spielzeugboote. Mittlerweile hatte sich der Himmel gelichtet, der Regen war langsam abgeklungen und der Geruch der dampfenden Stadt hatte sich nun mit der salzigen Meeresluft und dem ölig-fischigen Dunst des Hafens vermischt. Auch wenn es vielleicht nicht das betörendste Aroma war, brachte es doch ein gewisses Urlaubsgefühl mit sich.

»Wie diese Häfen immer stinken, das ist ja kaum auszuhalten«, beschrieb Adrian es ein wenig plumper.

»Was habe ich deine positive Art vermisst!«, rief Rebecca, die Adrian lachend von hinten auf die Schulter klopfte. Sie war direkt von Berlin angereist, und wie ausgemacht, trafen wir uns alle vor der Fähre, die uns weiter nach Capri bringen würde. Neben Rebecca stand Paul, der dieses Mal aus London gekommen war. Ich musste schmunzeln, dass wir es wieder einmal geschafft hatten, ihn für unseren Kurztrip zu gewinnen. Wer hatte schließlich die Gelegenheit, einen Therapeuten auf seiner Hochzeit dabei zu haben? Cleo hatte anscheinend für alle Eventualitäten vorgesorgt. Ob sie Angst hatte, dass ihr Zukünftiger Nein sagen würde?

Als Charly im Laufe der Hochzeitsvorbereitungen erfahren hatte, dass Paul Goldbach ebenfalls auf der Hochzeitsliste stand, hatte sie das sofort zum Anlass genommen, uns allen eine Mail zu senden.

Ihr Lieben,

wie ihr erfahren habt, wird Cleo im September auf Capri heiraten (nochmal herzlichen Glückwunsch an dieser Stelle, liebe Cleo!). Da alle hier im Verteiler auf der Hochzeit sein werden (ja, auch Paul!) und ich gehört habe, dass das traute Paar seine Hochzeitsreise erst ein paar Wochen später antreten wird ... Na? Muss ich noch mehr sagen? ... Spürt ihr es auch?! Da will uns das Schicksal doch etwas sagen! Also, falls ihr nicht wisst, was das sein soll, verrate ich es euch gerne: Da wir dann schon alle auf der Insel sein werden, wäre es nicht nur naheliegend, sondern auch wunderschön, noch zwei gemeinsame Tage anzuhängen, um in alter Tradition ein paar Dinge zu besprechen, die vielleicht ... sagen wir mal so ... nicht ganz so schön sind. So würde ich das am ehesten umschreiben. Schließlich ist einiges passiert ... und ohne Namen zu nennen, könnte das für einige aus der Gruppe wirklich wichtig sein. Vielleicht gibt es da ein paar Geheimnisse, die keine bleiben sollten, weil das ganz ungesund ist. Das behaupte ich jetzt einfach mal – und Paul stimmt mir da sicher zu. Aus zuverlässiger Quelle weiß ich übrigens, dass es sogar mehrere Geheimnisse gibt. Weil – haben wir denn nicht alle welche?

Doch dazu dann mehr auf Capri! Also packt einen Bikini und eine Badehose mehr ein und lasst uns den Geheimnissen auf den Grund gehen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Das bietet sich auf der Insel doch förmlich an! Im Hotel habe ich bereits nachgefragt – das geht klar, und die Flüge sind unter der Woche ohnehin immer günstiger. Also sagt Ja! Das ist schließlich auch das Motto dieser Reise!

Eure keine Absage akzeptierende Charly

P.S. Ich komme übrigens allein – ohne Philipp. Boom. Erstes Geheimnis gelüftet.

»Ich kann nicht glauben, dass Cleo schon wieder heiratet!«, sagte Rebecca und grinste. »Was alles in so einem Jahr passieren kann!« Sie nickte in Charlys Richtung, die verstohlen zur Seite blickte.

»Ja ... Die Frage ist nur, warum muss sie gleich einen meiner besten Freunde heiraten?!«, regte sich Adrian auf. »Mir bleibt auch wirklich gar nichts erspart. Genau genommen haben sie sich sogar über mich kennengelernt!« Der Unmut darüber war aus jeder einzelnen seiner Stirnfalten abzulesen. »Aber eigentlich ist das alles deine Schuld«, blaffte er Charly an, die sich gerade eine Haarsträhne aus dem Gesicht schob. »Du musstest Cleo ja überall hin mitschleppen!«

»Natürlich ... Alles meine Schuld«, äffte Charly ihn nach.

»Und wisst ihr, was ich noch denke?!«, kam Adrian weiter in Wallung.

»Du wirst es uns bestimmt gleich verraten ...«

»Ich bin sicher, sie hält es auch noch für Schicksal, dass er Leo heißt! Ich meine, wir kennen doch alle Cleo ... Das ist wahrscheinlich überhaupt erst der Grund, warum sie ihn heiratet! Weil sie es für ach-so-romantisch hält! Dabei ... bitte ... lasst euch das für einen Moment auf der Zunge zergehen: Leo und Cleo! Das ist so unfassbar schlecht, dass man es sich fast nicht ausdenken kann!«

»Nur deshalb, Adrian ... bestimmt heiraten sie nur deshalb!«, wiederholte Charly noch einmal ganz langsam, und der Sarkasmus klang in ihrer Stimme nach.

»Na ja, so unrecht hat Adrian aber auch nicht damit«, mischte sich nun auch Rebecca ein. »Cleo ist jetzt, wie wir alle wissen, nicht gerade die Überlegteste, was Beziehungen anbelangt. Oder haltet ihr es nicht auch für ein wenig überstürzt, dass die beiden schon nach einem halben Jahr heiraten? Kennt man sich da denn überhaupt schon?« Sie stockte. »Oder hat es vielleicht einen anderen Grund, warum sie so schnell heiraten?!«

»Nein«, sagte Charly forsch und winkte ab. »Jetzt freut euch doch einfach mal für die zwei! Wenn es passt, dann passt es eben!«

»Ob sie sich das beim letzten Mal auch gesagt hat?«, stichelte Adrian weiter. »Die Tinte auf den Scheidungspapieren ist ja noch nicht einmal trocken. Es wirkt fast so, als hätte sie es eilig, von einem Ehehafen in den nächsten zu segeln! Da kommt man ja kaum noch hinterher.«

In dem Moment ertönte das Hornsignal der Fähre. »Sagt ja niemand, dass du ihr hinterhersegeln musst«, rief Charly und übertönte das Horn.

»Und doch sind wir alle hier ...«, erwiderte Adrian und zog seine rechte Augenbraue weit nach oben, während wir alle unsere Koffer schnappten und uns Richtung Fähre bewegten. Ich fragte mich, was genau dahintersteckte, dass Adrian sich immer wieder über Cleo aufregte, und warum er sie ihr Leben nicht einfach nach ihren eigenen Vorstellungen leben ließ. Lenkte er etwa gerade von seinem eigenen ab?

»Mir ist jetzt schon kotzübel«, sagte Charly, als wir an Deck angekommen waren. Sie setzte sich sofort auf den ersten Sitzplatz und hielt sich am Griff ihres Koffers fest.

»Oh je, wirst du etwa seekrank?«, fragte ich vorsichtig und setzte mich gleich neben sie.

Charly schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich weiß nicht ... so große Schiffe und das offene Meer ... das ist mir alles nicht geheuer.« Sie schloss die Augen, als müsste sie dann nicht mehr sein, wo sie gerade war.

»Es sind nur fünfundvierzig Minuten bis Capri«, erklärte Paul mit beruhigender Stimme. »Sag Bescheid, wenn wir etwas für dich tun können. Ich bin sicher, es gibt auch eine Reiseapotheke an Bord.«

Charly nickte. »Es geht mir gut«, behauptete sie in angestrengtem Tonfall und sagte für die Dauer der gesamten Fahrt kein Wort mehr, was – so wie wir Charly kannten – doch äußerst ungewöhnlich für sie war.

In der Zwischenzeit war die Sonne langsam durch die Wolken gebrochen und das Meer erstreckte sich spiegelglatt vor uns. Charly konnte es mit verschlossenen Augen zwar nicht sehen, aber sie hatte Glück: Es war eine der ruhigsten Fahrten, die ich bisher erlebt hatte. Und dennoch schien sie sich ganz und gar nicht wohlzufühlen.

Adrian wiederum sah die ganze Zeit nervös auf sein Handy, und obwohl Tom einige Male versuchte, ihn in unser Gespräch mit einzubeziehen, war nicht klar, wo er sich gedanklich gerade befand – aber ganz bestimmt nicht mit uns auf der Fähre.

Kaum etwas ist so sichtbar wie das, was wir verbergen wollen.

EINEN WAS, BITTE?!

Wie schön, dass ihr alle da seid!«, rief Cleo uns schon von Weitem zu und kam uns in einem luftigen weißen Rüschenkleid entgegengelaufen. Sie trug ihre Haare in einem zur Seite geflochtenen Fischgrätenzopf, der am Ende mit einer weißen Schleife gebunden war, und sah bezaubernd aus. Sie lächelte, aber ihr Lächeln wirkte angespannt. Neben ihr stand etwas verhalten eine junge Frau mit blondem Pagenkopf in gelbem oversized T-Shirt, hellen Jeansshorts und roten Turnschuhen.

»Das ist meine kleine Schwester Luise!«, sagte Cleo stolz und zog sie liebevoll an sich.

»Ich bin nur drei Jahre jünger als du!«, protestierte Luise leise.

»Sag ich ja: meine Kleine!«, wiederholte Cleo und Luises Wangen liefen rot an. Das alles war ihr ganz offensichtlich unangenehm. Man konnte ihr ansehen, dass sie sich am liebsten in Luft aufgelöst hätte.

»Heiratest du etwa schon heute?«, fragte Charly, als ihr Blick auf Cleos weißes Kleid fiel. Es waren Charlys erste Worte seit Längerem. Der turbulente Flug, die verrückte Taxifahrt durch Neapel und die Fahrt mit der Fähre hatten ihr anscheinend viel abverlangt. Auch die darauffolgende Fahrt auf den engen Straßen, die sich, eingerahmt von steilen Felswänden auf der einen Seite und ebenso steil ins Meer abfallenden Klippen auf der anderen, in Haarnadelkurven durch die Berge schlängelten, hatte wohl ihr Übriges getan. Langsam, aber sicher schien sich Charly jedoch von alldem zu erholen.

»Man kann einfach nicht oft genug heiraten!«, höhnte Adrian in Cleos Richtung und Charly strafte ihn augenblicklich mit einem bösen Blick.

»Was soll ich sagen ... Weiß steht mir einfach ...«, antwortete Cleo hastig und versuchte Adrians Seitenhieb mit einem Lächeln zu überspielen. »Aber die Hochzeit ist natürlich erst morgen.«

»Du wirst ihn doch nicht ernst nehmen?«, warf Charly hinterher und verdrehte die Augen.

»Was ist denn der Plan für heute Abend?«, fragte ich, um vom Thema abzulenken, und Cleo sah mich dankbar an.

»Ihr könnt jetzt erst einmal in Ruhe eure Zimmer beziehen und euch ein wenig ausruhen. Die anderen kommen erst morgen an, daher dachte ich, dass wir uns um 19:30 Uhr im Restaurant treffen und gemeinsam zu Abend essen. Da können wir das hier genießen!« Cleo zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den traumhaften Meerblick, der bereits von der offenen Lobby des kleinen Hotels zu erkennen war. Das Hotel lag direkt am Vorsprung einer Klippe, wo sich das Brautpaar am nächsten Tag das Ja-Wort geben würde. Das ganze Ambiente bot alles an Romantik, was man sich nur in seinen kühnsten Hochzeitsträumen ausmalen konnte. Das war allerdings auch nicht verwunderlich. Schließlich handelte es sich um Cleos Hochzeit.

»Einen Bräutigam gibt es auch?«, fragte Adrian. »Oder hat der schon kalte Füße bekommen?«

»Den gibt es auch«, ertönte eine Stimme von hinten. Als wir uns umdrehten, stand Leo mit einem Cocktail in der Hand vor uns. »Die Füße haben Normaltemperatur, würde ich mal behaupten.« Er blickte hinunter zu seinen Flipflops und schien weder aufgeregt noch sonderlich erfreut, sondern eher neutral.

»Dann geht es ja allen gut!«, sagte Adrian fast schon ironisch, und alle nickten. Ein Blick in die Runde verriet jedoch, dass das mehrheitlich gelogen war. »Ach, und das, mein Lieber, ist wirklich die beste Idee seit Langem!« Adrian zeigte auf Leos Cocktailglas und zog ihn und Tom Richtung Bar, die direkt neben dem Eingangsbereich lag. Er winkte auch Paul zu ihnen herüber, der sich den Männern gleich anschloss. Cleo auf der anderen Seite wurde schlagartig nervös. Sie wirkte plötzlich vollkommen aufgewühlt – und was zu diesem Zeitpunkt mit einem angespannten Gesichtsausdruck begann, endete später beim Abendessen noch in einem ausgiebigen Heulkrampf. Allerdings wollte Cleo um nichts in der Welt damit herausrücken, was hinter ihrer Traurigkeit steckte oder warum es ihr nicht gut ging. Die bevorstehende Hochzeit konnte wohl kaum der Grund gewesen sein – wir alle wussten, wie sehr sie sich schon seit Wochen darauf gefreut hatte. Vermutlich lag es eher daran, dass ihr zukünftiger Ehemann nur wenige Stunden vor der Hochzeit mit beiden Trauzeugen angetrunken zum Abendessen erschienen war und richtig schlechte Stimmung mitgebracht hatte. Vielleicht war Cleo aber auch von dem ganzen Stress der letzten Wochen und ihrem bevorstehenden großen Tag überwältigt. All das war durchaus nachvollziehbar. Ich fand es dennoch beunruhigend, dass sie trotz mehrmaligen Nachfragens mit niemandem darüber sprechen wollte. Sie wollte weder Charly, Rebecca noch mir verraten, was sie bedrückte, und nicht einmal Paul, der als einziger der vier Männer nüchtern beim Abendessen aufgetaucht war, konnte etwas aus ihr herauskitzeln – und das, obwohl er mit seiner beruhigenden Art normalerweise der Meister des guten Zuspruchs war. Was mich aber am allermeisten beunruhigte, war, dass Cleos Schwester erst gar nicht nachfragte und es somit den Anschein erweckte, als wüsste sie, worum es ging.

Als wir am nächsten Tag auf der gedeckten Terrasse mit traumhaftem Meerblick unseren Kaffee tranken und auf unser Frühstück warteten, gab es weit und breit keine Spur von Leo, Tom oder Adrian, und auch Cleo und Luise waren nirgends aufzufinden. Wir beschlossen daher, sie nach dem Frühstück zu suchen. Auch Paul wollte wissen, ob es Cleo gut ging und ob wir noch etwas für sie tun konnten. Bis zur Hochzeit um 14 Uhr war allerdings noch jede Menge Zeit. Vielleicht wollte die Braut auch einfach gerade nur ihre Ruhe und zumindest schien ihre Schwester bei ihr zu sein. Als mein Blick über die Terrasse schweifte, vermutete ich, dass bereits einige der anderen Hochzeitsgäste an den Tischen neben uns saßen. Cleo hatte beschlossen, die Hochzeit in engstem Kreis zu organisieren, da sie nicht von allen verlangen wollte, für ihre Feier auf die Insel zu reisen. Wir kannten allerdings niemanden von ihnen und wussten daher auch nicht, wer von ihnen bereits da war.

Im nächsten Moment bog Tom schweren Schrittes um die Ecke. Er trug eine schwarze Sonnenbrille, ein hellblaues Leinenhemd, eine weiße Hose und Espadrilles. So gut er darin aussah, so wenig lächelte er dabei.

»Schau an, schau an ... da ist einer von den Toten auferstanden!«, rief ihm Charly schon aus der Ferne zu. Tom verzog jedoch keine Miene, sondern setzte sich geradezu in Zeitlupe auf einen der freien Stühle neben uns.

»Geht’s dir gut?«, fragte ich lachend und Tom nickte, sagte aber kein Wort.

»Vielleicht magst du uns verraten, wohin die anderen verschwunden sind?«, fragte Charly etwas strenger und zog die Augenbrauen hoch. »Es hätte ja eigentlich schon gereicht, in welchem Zustand ihr gestern beim Abendessen erschienen seid ... aber, dass die beiden jetzt gar nicht aufkreuzen, ist wirklich unglaublich! Wo sind sie, bitte?!«

Ich konnte Toms Augen durch die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille kaum erkennen, daher wusste ich nicht, wie ich seine versteinerte Miene deuten sollte oder was sonst noch in ihm vorging. Anscheinend wollte er es aber auch nicht mit uns teilen, denn er schwieg immer noch.

»Tom?!«, fragte Charly noch einmal mit Nachdruck.

Er sagte eine Weile nichts und atmete dann einmal tief ein und langsam wieder aus. »Wie soll ich sagen ... Leo und Adrian hatten gestern noch ...« Er stockte.

»Jaaaa?«, zischte Charly nun ungehalten und riss ihre Augen weit auf. Ob Tom wusste, dass er bereits zum Verhör auf der Anklagebank saß?

»Sagen wir so ... sie hatten einen Streit.«

»Einen was, bitte?!«, rief Charly und fuhr von ihrem Sessel hoch. An Toms angespannter Körperhaltung war abzulesen, dass ihm Charly gerade einen Tick zu laut war. Er bewegte sich keinen Millimeter und schien wie eingefroren.

»Einen Streit, Charly ... du hast ihn gehört«, wiederholte Rebecca ganz ruhig. »Sind alle am Leben?«, fragte sie gefasst und drehte sich in Toms Richtung.

Er nickte.

»Gut«, antwortete sie knapp und sah dabei wieder zu Charly. »Kein Grund, jetzt hier durchzudrehen. Wir haben noch eine Hochzeit vor uns, das ist nervenaufreibend genug.«

Was aufkommt, wird auch herauskommen.

LÄCHELN, SHERLOCK

Inmitten unserer Diskussion, die keine war, weil sie Charly ganz allein führte, stand plötzlich eine zierliche Person mit brünetten schulterlangen Haaren vor uns am Tischrand und unterbrach erst einmal die Aufregung. »Charly?«, fragte sie vorsichtig in die Runde. Die sah sie nur fragend an und nickte. »Ich bin Emma, Cleos Trauzeugin. Ich konnte erst heute Morgen anreisen, weil ich die Kinder nicht so lange ... ach, was erzähle ich da, das interessiert doch niemanden ... Jedenfalls schickt mich Cleo. Sie meinte, ich sollte mich einfach zu euch setzen, sie bekommt gerade ihr Make-up gemacht. Ihr wisst schon, mit geschlossenen Augen ist selbst ein Gespräch unter besten Freundinnen schwierig ...« Sie lächelte.

Gott sei Dank. Cleo ging es gut.

»Aber wisst ihr, was mit ihr los ist?«, fragte Emma und widerlegte meine Theorie bereits im nächsten Moment. »Sie war so komisch. Ich kann nicht sagen, wie ... traurig vielleicht? Oder ist das nur die Nervosität?«

»Wir versuchen es gerade herauszufinden«, erklärte Charly im Sherlock-Modus und setzte ein gezwungenes Lächeln auf. »Wie immer sind vermutlich die Herren der Schöpfung für alles verantwortlich. Aber setz dich doch erst einmal zu uns.« Sie deutete auf den freien Stuhl neben Paul, der sich bisher eher still verhalten hatte. »Nichts gegen dich, Paul.« Sie blickte zu ihm und dann wieder zu Emma. »Du musst wissen, Paul ist Therapeut und schon von Berufs wegen kein typischer Mann, sondern mehr eine Unterstützung.«

Ich musste laut lachen. Paul hörte vorerst nur zu, und auch Tom verhielt sich weiterhin still. Ich war nun ganz sicher, dass wir so schnell wie möglich nach Cleo sehen sollten, um herauszufinden, was tatsächlich geschehen war.

Nach dem Frühstück zeigte uns Emma den Weg zu einem kleinen Zimmer hinter dem Restaurant, in dem Cleo für die bevorstehende Trauung ihr Make-up und ihre Frisur erhielt. Die engagierte italienische Hotelbesitzerin, mit der Cleo für die Hochzeitsvorbereitungen in engem Kontakt stand, hatte eine Visagistin und das extra Zimmer organisiert. Sie hatte Emma gleich bei ihrer Ankunft auf Cleos Wunsch zu ihr gebracht. Und Emma führte uns nun zu Cleo. Paul und Tom überließen es erst einmal uns Frauen, nach der Braut zu sehen, und hatten von Charly den Auftrag, sich um Adrian und den Bräutigam zu kümmern.

Als ich vorsichtig die Türklinke zu Cleos Anprobe-Zimmer hinunterdrückte, waren alle hinter mir mucksmäuschenstill. Wir rechneten mit allem. Einer weinenden Braut. Einer verzweifelten Braut. Einer Braut, die die Nerven verlor.

»Seht euch das an!«, rief Cleo aufgeregt. Und damit hätte wohl niemand gerechnet. Cleo lächelte von einem Ohr zum anderen, blickte in den Spiegel und dann wieder zu uns. »Ich habe die allerschönste Frisur, die ich in meinem ganzen Leben je hatte ... Und seht euch nur diese Wimpern an!«

Ich war verwirrt. Natürlich – sie sah wunderschön aus in ihrem weißen Satinmantel, der die bestickte Aufschrift Bride to be trug. Ihre elegante Hochsteckfrisur, der perfekte Lidstrich und die tiefschwarzen, aufgeklebten falschen Wimpern – alles perfekt. Ich konnte nicht sagen, was es war, aber irgendetwas fühlte sich genauso tiefschwarz, falsch und aufgeklebt an.

»Das ist meine absolute Traumhochzeit!«, rief Cleo und ihr Lächeln versteinerte. Ihre Mundwinkel schienen rechts und links an den zartrosa schimmernd geschminkten Wangen eingehakt und festgezurrt zu sein, als würden sie sich von da aus nie wieder nach unten bewegen.

»Absolut«, erwiderte Charly monoton und wiederholte damit Cleos Überzeugung, die sich offenbar nicht nur für mich merkwürdig anfühlte. Nach allem, was am Vorabend passiert war, taten wir aber anscheinend alle so, als hätte es weder Cleos Heulkrampf noch den Streit zwischen den Männern gegeben, von dem wir zwar erst beim Frühstück erfahren hatten, aber Cleo mittlerweile davon wissen musste. Es war wie ein stilles Abkommen zwischen uns, dass es absolut an der Zeit war, so zu tun, als wäre alles absolut in Ordnung.

»Ist alles okay?«, fragte Emma schließlich doch vorsichtig.

»Ich heirate heute«, antwortete Cleo, als wäre das die Antwort auf alle Probleme, von denen wir vermutlich eine ganze Reihe noch nicht kannten. »Natürlich ist alles okay«, sagte sie noch einmal zu uns – aber offenbar auch zu sich selbst, denn ihr Lächeln fror wieder an exakt derselben Stelle ein. Einzig und allein ihre Augen verrieten, dass ihr alles andere als nach Lächeln zumute war.

Ich fragte mich, ob es im Leben vielleicht immer diese eine große Lüge brauchte, wenn wir noch nicht dazu bereit waren, der Wahrheit ins Auge zu blicken, weil sie zu schmerzhaft war.

Als der Bräutigam um 14 Uhr in schwarzem Anzug und mit schwarzer Sonnenbrille ganz vorne an der Klippe unter einem weißen Rosenbogen mit dem italienischen Zeremonienmeister auf die Braut wartete, wussten wir noch nicht, dass er ein veilchenblaues Auge darunter trug.

Und als die Braut mit ihrer Schwester im Arm auf dem weißen Teppich an den Stuhlreihen vorbeischritt, hielten alle ihre Tränen für Freudentränen.

Niemanden strafen Lügen mehr als diejenigen, die sie einholen.

DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN

Ein Tag nach der Hochzeit

Adrian klopfte mit seinem Stück Brot auf den Tisch, hörte dann aber damit auf, als Charly ihn mit einem bösen Blick mahnte. »Wollen wir vielleicht einmal darüber sprechen, warum Leo auf seiner eigenen Hochzeit mit einem blauen Auge erschienen ist?«, fragte sie stattdessen, und Cleos Pupillen weiteten sich. Sie wirkte in sich gekehrt. Für eine frisch vermählte Braut schien sie etwas zu bedrückt, gleichzeitig aber auch irgendwie erleichtert – ihre Stimmung war insgesamt aber eher schwer.

»Wir könnten natürlich auch das Unbewusste dafür verantwortlich machen und es für rätselhaft erklären«, sprach Charly weiter. »Die Frage ist nur, ob wir dann nicht die Wahrheit vertuschen, weil sich dieses blaue Auge gar nicht unbewusst, sondern doch ziemlich bewusst gezeigt hat.« Charly starrte Adrian dabei tief in die Augen. »Leo kann es uns ja leider nicht mehr erklären, nachdem er heute früh abgereist ist.«

»Dafür kann ich wie gesagt nichts!«, protestierte Adrian. »Genauso wenig wie für seine berufliche Reise nach Hongkong, die schon lange geplant war!« Er blickte hilfesuchend in Cleos Richtung. »Darum habt ihr doch entschieden, die Hochzeitsreise erst später zu machen ...«

Cleo nickte.

»Eben ...«, stammelte Adrian.

»Tatsache ist aber, dass in letzter Zeit so einiges aus dem Ruder gelaufen ist«, ließ Charly aber nicht locker. »Und ich frage mich, wie lange wir jetzt noch so tun wollen, als wäre alles gut, wenn das doch eigentlich gar nicht so ist ...« Sie blickte weiter zu Cleo. »Bis auf dieses blaue Auge, das sich offenbar niemand erklären kann, war die Hochzeit ja wirklich fantastisch.« Sie lächelte, holte dann aber tief Luft. »Vielleicht sollten wir uns nach diesem Traum in Weiß nun aber auch ein paar dunkleren Themen widmen.« Charly blickte düster in die Runde. »Das war schließlich auch der Grund, warum ich euch gebeten habe, noch zwei Tage anzuhängen. Ich denke, es ist wieder an der Zeit, dass wir beginnen, uns einigen Themen zu stellen.«

»Du hast davon gesprochen, dass es ein paar Geheimnisse gibt«, übernahm nun Paul und sah Charly direkt in ihre Augen. »Möchtest du uns verraten, worum es dabei geht?«

»Nein«, sagte sie knapp. »Noch nicht. Dazu braucht es auch die Offenheit einiger anderer Menschen hier ...« Charly sah dabei anscheinend bewusst niemanden an. »Und vielleicht auch meine eigene ... Ich weiß aber nicht, ob ich dazu schon bereit bin.« Sie blickte ins Leere und danach wieder zu Paul. »Als wir in einer meiner letzten Sitzungen über Schattenarbeit und die Macht des Unbewussten gesprochen haben, hat es etwas tief in mir bewegt.« Ihre Augen glänzten voller Begeisterung. »Ich kann noch nicht genau sagen, was ... aber ich dachte plötzlich: Ha! Das ist es! Das ist der Grund, warum all diese Dinge passieren, von denen wir gar nicht wollen, dass sie passieren, und sie dann eben doch passieren ... manchmal sogar immer wieder ... oder all die anderen Dinge, die wir uns so sehr wünschen und rein gar nichts passiert ... Das ist alles so verdammt unvorhersehbar! Oder ist es eigentlich vorhersehbarer, als wir glauben?« Sie überlegte kurz. »Jedenfalls schwimmen wir doch alle immer wieder in diesem Meer an Ungereimtheiten und haben das Gefühl, in den Wellen zu ersaufen!« Charly legte ihren Kopf schräg zur Seite, als wollte sie unsere Zustimmung einholen. Ihre Beschreibung war gewohnt dramatisch, aber offenbar fühlte es sich so für sie an. Und manchmal eben auch für uns alle – ganz bestimmt auch für all jene in der Runde, die das zu dem Zeitpunkt weder sich selbst noch anderen eingestehen wollten.

»Und dann hat Paul sich bereiterklärt, mit uns in dieses Thema einzutauchen«, sprach Charly weiter. Sie sah von ihm zu den Klippen hinaus aufs Meer. »Also hier sind wir! Auf dieser Insel mit den steinigen Klippen, umgeben von den tiefsten Tiefen des endlosen dunklen Meeres. Wir hätten uns doch wirklich kein besseres Ambiente für das Thema aussuchen können!« Charly wirkte hingerissen. »Vielen Dank noch einmal dafür, Cleo – weil, ohne dich wären wir nicht hier!«

Cleo nickte wieder. Aber weder sie noch Adrian schienen Charlys Begeisterung zu teilen. Und auch die anderen wirkten wenig beeindruckt: Luise saß daneben, als hätte man sie gezwungen, hier zu sein, Tom wirkte alles in allem neutral und Rebecca, Emma und ich hörten erst einmal nur zu und warteten ab, was Paul zu all dem zu sagen hatte. Ich muss zugeben, ich war gespannt auf die Geheimnisse, die wir an diesem Wochenende noch erfahren und welche sich in uns allen auftun würden.

»Gut«, sagte Paul. »Dann lasst uns in das Thema eintauchen – wie Charly es bereits so schön beschrieben hat. Ich habe mir wie immer ein paar Dinge überlegt und möchte morgen mit euch aufs Meer hinausfahren. Die Hotelbesitzerin ist so nett und stellt uns dafür ihr Segelboot zur Verfügung. Wir haben sogar Schnorchel- und Tauchausrüstung an Bord und ich habe mich schlau gemacht – es gibt da etwas, das ich euch unbedingt zeigen möchte ... aber dazu dann morgen mehr.«

»Oh Gott, ich hab jetzt schon Angst!«, stieß Emma aus.

»Das ist schade«, sagte Paul, wie immer ganz ruhig. »Dazu gibt es nämlich gar keinen Grund. Schließlich sitzen wir jetzt hier in dieser Taverne, und das scheint mir doch ein sehr sicherer Ort zu sein. Wie ihr wisst, geht es immer um das Hier und Jetzt.«

»Aber kann denn überhaupt jemand von uns segeln?«, fragte Charly skeptisch.