Ich hab´ das Bessere gefunden - Christine Meiering - E-Book

Ich hab´ das Bessere gefunden E-Book

Christine Meiering

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Beschreibung

Eleonore, Frau und Mutter, ergreift in ihrer Jackentasche ein vor längerer Zeit sorgfältig gefaltetes Zettelchen, das sie eilends voller Neugier entblättert, um kurzerhand die Magische Wunderformel Energie x Intention = Manifestationen (Wunscherfüllungen) zu entziffern. "Ich hab´ das Bessere gefunden!" verkündet sie strahlend, bevor sie nach Kerze und Zündholz greift, um das fragwürdige Papierchen kurzerhand der Flamme preiszugeben. Ein Blick zum großen Wandposter und siehe da: Ihre neugewonnene Wegmarkierung, die sie aus den Zwängen der Esoterik befreite, offenbart sich ihr in wahrer Größe und Schönheit: "Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus." (Philipper 4:13)

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VORWORT

Während der Corona-Pandemie haben Esoteriker neben Verschwörungstheoretikern und Menschen einiger rechtsstehender Organisationen auf sich aufmerksam gemacht, indem sie im Verbund miteinander gegen Corona-Maßnahmen Stellung bezogen haben.

Der Kerngedanke der Esoterik beinhaltet der Glaube an ein ´Spirituelles Erwachen` der Menschheit. Während der 70-er Jahre des letzten Jahrhunderts entstand im Zuge eines astrologisch begründeten Zeitalters die ´New-Age-Bewegung`.

Als toxisch für eine Demokratie ist die esoterische Einstellung zu bewerten, dass gesellschaftliche Veränderungen allein durch Meditation erreichbar seien.

Welterklärungsmodelle der Esoteriker führen Menschen in die Irre, indem sie ihnen vorgaukeln, dass kosmische alternative Heilmethoden das Non-Plus-Ultra sind. Im Nationalsozialismus wurde der Begriff noch zusätzlich antisemitisch aufgeladen. Auch bei der pauschalen Verherrlichung des altmittelalterlichen und antiken Wissens bezüglich Gesundheit haben immer wieder falsche Grundannahmen zu radikalen Fehlschlüssen geführt.

Die Schar der Hellseher und Life-Coach-Szene machen das große Geschäft mit dem Psycho-Markt. Das in Esoterik-Kreisen postulierte ´Gesetz der Anziehung` lässt Menschen in massive Schuldgefühle gleiten, weil sie sich nicht genügend mit ´Positiven Energien` vollgetankt haben, um ein Leben in Reichtum führen zu können.

Wissenschaftliche Erkenntnisse schlagen Esoteriker gewöhnlich in den Wind, weil sie wissenschaftliche Methoden ablehnen. Der großen Verbreitung esoterischer Inhalte und Falschinformationen wird durch die modernen digitalen Medien Vorschub geleistet.

Problematisch wird das Geschehen in großem Maße, wenn sektenähnliche Gruppierungen suchende Menschen vereinnahmen und ihnen vermitteln wollen, dass sie außerhalb dieser sektenähnlichen Gebilde verloren gehen.

In ihrem lesenswerten Buch ´Gefährlicher Glaube` spannen die Autorinnen Pia Lamberty und Katharina Nocun den Bogen weit ins rechtsradikale Milieu. So versuchen sie den fließenden Übergang zwischen Klangschalen-Fans und Reichsbürgerkreisen u. a durch die Ereignisse der versuchten Stürmung des Berliner Reichstags aufzuzeigen.

Sie betonen, dass, wenn auch Esoterik nicht automatisch rechtsradikal ist, sich dort viele gefährliche Anknüpfungspunkte zu menschenverachtenden Ideo - logien finden.

So lässt sich als Resümee festhalten, dass es sich lohnt, häufiger hinter die Fassade ´ganzheitlicher` und ´sanfter` Ansätze zu blicken.

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Nachwort

Kapitel 1

Sie streichelt. Beileibe nicht ihr Ehegespons, das ihre Streicheleinheiten neuerdings öfters entbehren muss. Auch nicht ihre kleine Tochter, die ihrer Mama mitunter entgegenhält: Du lässt mich so oft allein!

Stattdessen streichelt sie ihr Ebenbild. Der Flügelspiegel an der Innenwand des Wohnraums steht unverrückbar auf schweren Granitbeinen wie eh und je seit Urgroßmutter Henriettes Zeiten. Einesteils! Anderenteils umschweben ihn hohe Stuckrosetten aus lichten Höhen. Ob sie seine Erdenschwere in Himmelshöhen überführen möchten? Welch ein Charme alter Villen mit Erkern, diesen verspielten lichtdurchfluteten, mit Zierrat bestückten, dem Wohnraum zusätzlich abgeluchsten Gemächer! Im Hamburger Villenvorort Rotherbaum brüstet sich manch eine Villa mit dieserart oder anderer Art Erker, der riesigen Zimmerlilien & Co. ein lauschiges Plätzchen bietet. Von der Vertrautheit und der Intimität bei einem amourösen Stelldichein in diesem Versteck einmal ganz zu schweigen!

Wendet ein Betrachter seinen Kopf aus dem Fensterchen hinaus, weit in die linke Richtung, so erblickt er ab und an ein Zipfelchen vom Schifffahrtsglück. Zwischen einer Häuserluke von großen alten Kastanien umrahmt, zeigt sich dort das je nach Wetterlage changierende Blau-Grau der Außenalster.

Sie erinnert sich schmunzelnd an die erregten Ausrufe ihres Töchterchens:

Da ist wieder eins! Da ist noch eins! Da ist nöcher eins!

Töchterchens Freude steigerte sich bei jedem neuen Schiff, das die Häuserluke für einen klitzekleinen Moment zum Betrachten freigab. Und schließlich resümierte Klein-Annika:

Das hat der liebe Gott aber gut gemacht, dass er das eine Haus vom anderen weggeschubst hat. Jetzt können wir wenigstens dazwischen das Wasser und einen Kopf oder Bauch vom Schiff sehen! Oder, …und vor ihr zeigt sich Klein- Annikas Grinsen bei der schamhaften Bemerkung: … den Schiffs- Popo vielleicht! Manno Mann, lieber Gott!

Eingehüllt in einen lindgrünen Morgenmantel streichelt sie sanft über ihr Ebenbild. Behutsam über ihr Konterfei gefahren, berührt sie nun den lichtvollen Engel Elohim, der aus den oberen Gefilden des Spiegels seinen beschützenden Blick auf sie wirft. Sie muss sich auf ihre äußersten Zehenspitzen stellen, um mit ihrem Handrücken sanft über einen seiner monumentalen Engelsschwingen streichen zu können. Im nächsten Spiegelmoment stürzt sie aus heiligen Höhen jäh in die Profanität hinab, zeigt sich doch ein winziges Hautdetail, das sie beinahe aus der Fassung bringt. Eindringlich pickt sie sich eine winzige Pustel auf ihrer Stirn, um gänzlich deren Talg herauszuquetschen. Gedankenblitze, oder nennen wir sie Spiegelblitze, verlassen dabei die Zentrale ihres Hirns: Einfach mal wieder ein Kind sein, … wie herrlich, eines, das sich nicht um die ganze Pustelgesellschaft auf seiner Stirn schert, weil es sich stattdessen freudvoll anderen Dingen zuwendet. So denkt sie an einen Buben, der fasziniert über sein Lausbubengesicht streicht, sich ihm auf der silbrig glänzenden Fläche offenbarend. Freude pur mit hochroten Backen, verschmitzt blinkenden Augen, mit Schrammen im Gesicht, einem ´Veilchen` an der Stirn, Zeugen einer unsanften Begegnung mit dem Gartenzaun. All das zeigt hier wohliges Einssein mit dem Leben in Hülle und Fülle. Sie phantasiert über eine Deern, deren zarte Fingerchen tänzerisch über diesen großen Huckel gleiten, den die Großen gewöhnlich als Nase bezeichnen. Und welch gewitztes kleines Weibsbild beginnt dabei vermutlich nicht, sich genüsslich in der Nase zu bohren, um anschließend den Finger abzuschlecken.

„Eleonore, reiß dich zusammen! Du bist Mutter!“ Sie erschrickt selbst über die gestrengen Worte, die ihr über die Lippen kommen. Lange braucht sie nicht in ihren Erinnerungen zu fischen, um Töchterchen Annika vor ihren Augen als Dreijährige aufleben zu lassen.

Dabei ergreift diese ihr Zöpfchen mit der Schmetterlingsklammer und siehe da: Das Spiegelmädchen tut es ihr nach. Das ist ihr nun doch zu viel des Guten und sie beginnt ihr Gegenüber mächtig auszuschimpfen:

Du doofe Ziege, du! Hör endlich auf, mich nachzumachen! Und weil es an diesem Tag so ganz besonders wütend, ja, fuchsteufelswild ist, hebt das Zopfmädchen mit den puterroten Wangen plötzlich ihre Hand empor, um das böse Mädchen zu bestrafen.

Aua! Das liebe Mädchen schreit laut auf, weil es gegen etwas hartes Silbriges trifft, das es zurückschlägt.

Mama, das böse Mädchen hat mich eben ganz dolle geschlagen, entrüstet sich die Kleine. Aber nicht nur mit seiner Hand. Mit aller Wucht wollte es sich mit dem Leib auf mich stürzen. Erst hat es mich wieder nachgemacht. Dabei haben wir uns beide nur dämlich angeglotzt. Als ich dann nahe an sie rankommen wollte, habe ich das böse Mädchen am ganzen Körper hart gespürt. Töchterchens Verblüffung geht ihr heute noch nah. Damals stupste sie mit ihrer Hand gegen den glänzenden Gegenstand und erklärte dem verdutzten Töchterchen:

Das hier ist auch Annika! Und das Teil hier, das silbern glänzt, das nennt man einen Spiegel. In dem erkennt man sich selbst mit allem, was man gerade macht, ob man weint oder lacht oder die Zunge raustreckt. Gegipfelt war das ganze Unterfangen darin, dass beide synchron ihre Zungen herausstreckten, um danach in einem Lachkrampf zu fallen.

Eleonore kann sich eines Grinsens nicht erwehren, als sie diesen für ein Kind gewaltigen Erkenntnismoment Revue passieren lässt. Geschehen an einem stinknormalen Freitag des Jahres 2000, einem Jahr, das Menschen als magisch begrüßten. Und dieses nur deshalb, weil die Anfangsziffer 1 von einer Sekunde zur anderen von einer 2 verjagt worden war. Die ganze Welt feierte wie närrisch den Beginn des Neuen Jahrtausends.

Irgendwo spielen die Menschen dann verrückt, wenn 3 Nullen ein Jahr runder und vollkommener erscheinen lassen, befand Ehemann Manuel an jenem denkwürdigen Tag, als er es sich nicht nehmen ließ, den Korken einer Flasche CHAMPAGNER MUMM ROUGE knallen zu lassen.

Du bist verrückt, fast sechs Zehneuroscheine hinzublättern, so schalt sie ihren Mann damals, noch hinzufügend: Aber irgendwie sind es bei dir ja immer nur die anderen, die verrücktspielen. Ach, du Dummchen! So befand sie damals, an einem stinknormalen Wochentag dieses exklusiven Jahres. Genauer gesagt am 10. April, einem Monat, dessen Eigenwillen dem Menschen oft gar nicht gefällt. Und damit sind vor allem seine Wetterkapriolen gemeint. Einem Monat, der rosa Teppiche des Wiesenschaumkrauts im lichten Grün und sattgelbe Sumpfdotterblumen am Bachufer aufleuchten lässt. Das wiederum begeistert so gut wie jedes Menschenwesen. Es handelt sich um einen Monat, in dem sich am 10. immer wieder der Geburtstag ihres Mannes Manuel jährt. Als Widdermännchen, ausgestattet mit Kraft, Ehrgeiz und Kreativität betrat er vor vier Jahrzehnten unsere schöne Erde.

Heute, beinahe fünf Jahre später, steht wieder einmal der 1. April auf dem Kalenderblatt. Zwischenzeitlich hatte sich nicht nur Mutter Eleonore, sondern auch der Rest der Welt sage und schreibe 1865 mal ins Schlafgewand gehüllt und dann und wann eine Schlafhaube übergestülpt. Wohlweislich schweigt des Sängers Höflichkeit bei der zwischenzeitlichen Zahlenbenennung der mütterlichen und töchterlichen Bespiegelungen.

Beim Gedanken an das Datum 1. APRIL beginnt es in ihrem Kopf mächtig herumzugeistern. Die harmlos heiteren Aprilscherze ihres Töchterchens - wo sind sie nur geblieben? Gen Himmel entfleucht, dieses Guck mal, da ist ein Flugzeug! Und im selben Atemzug der lachende April! April! Der weiß nicht, was er will!

Und Papa, der Oberschlimmling, hatte sogar einmal den Inhalt von Zucker- und Salzstreuer heimlich vertauscht. Die jämmerliche Fratze des gutgläubigen Töchterchens hättet ihr mal sehen sollen!

Heute als Backfisch, so nennt Oma diese verflucht himmelhochjauchzenden Jahre bei einem jungen Mädchen…, da hat Annika nun schon längst begreifen müssen, dass jeder Spiegel ein Wahrheitsverkünder ist, auch wenn sich ihr Inneres noch so sehr dagegen sträubt.

„Ach, du meine Güte! Wenn sich mein Spiegelbild doch jetzt auch als Aprilscherz entpuppen würde!“

Eleonore schüttelt ihr lockiges Haar, als sie im Spiegel ihr Konterfei inspiziert. Ob es ein Spiegelgespräch, ein Bauchgespräch oder einfach nur ein Selbstgespräch ist, das sei dahingestellt. Jedenfalls deutet es auf alles andere als ein sehr beglückendes Gespräch.

„Du aufdringliche Kugel, du Relikt aus Genießertagen! Einen dicken Klaps hast du verdient, die du Schwarzwälder Kirschtorte und Gourmethappen nicht genug verschmäht hast!“

Eleonores Faust schlägt einmal fest gegen die hügelige Stelle, die man auch Bauch nennt und die sich keineswegs als Aprilscherz offenbart. Zum Objekt ihres Zorns gewendet, schimpft sie mit dem Wahrheitsoffenbarer aufs Heftigste:

„Du führst dich als Observationsobjekt auf und begutachtest unerbittlich meine gesamte Leiberscheinung! Was fällt dir nur ein?“

Mama gefällt sich augenblicklich darin, die Hüftfältchen ihres Kleides in Form zu bringen. Aber so viel sie auch daran herumzieht, es ändert sich nichts an der Tatsache, dass sich das anfänglich einsame Solo-Fältchen keinesfalls ihren Wünschen zu fügen gedenkt. Im Gegenteil: Zu ihm gesellen sich Falten noch stärkeren Kalibers.

„Ja, ihr solltest vor Scham eigentlich rot werden, ihr, die ihr meinen Glättungsversuchen nicht Folge leisten wollt! Stattdessen habt ihr eine graue Tarnfarbe angelegt! Aber euch darf ich eigentlich nicht belangen! Ihr seid selbst zum Opfer geworden, denn eure Mägen wurden von Spekulatius und Co. in einem unverschämten Ausmaß geblendet! Dazu vollendete die Weihnachtsgans Auguste ihre Erdenlaufbahn in einem Bräter, ehe sie sich in unseren Leibern einnistete! Und jetzt können sich meine Hüften und die Bauchkugel nicht mehr dagegen wehren!“

Sie trägt sich mit dem Gedanken, diesem Wahrheitsverkünder durch ein großes übergeworfenes Tuch einfach das Handwerk zu legen. Aber… mein Gott, ich bin doch kein Kind mehr! Mit oder ohne Vermummung, meine Gans-Auguste-Rollen bleiben da, wo sie nicht hingehören: am Bauch und über den Hüften.

„Ach, Hüftgold, oh, wer hat sich denn dieses schmeichelhafte Wort nur ausgedacht? Der oder die hatten Humor, solcherart wie er mir verwehrt wird.“

Und dabei streichelt sie über Hüftpolster und nimmt sich vor, von diesem Humor auch ein wenig in ihren Alltag hinüberzuretten.

Eleonore spürt mit einem Mal, wie ihr der Boden unter den Füßen wegzurutschen droht. Geistesgegenwärtig lässt sie sich auf das Sofa plumpsen. „Mein Gott!“

Abrupt verstummt sie und hält die Hände vors Gesicht und presst so fest sie nur kann ihre gestreckten Daumen gegen die Ohröffnungen. Unerbittlich steigen Bilder in ihr hoch, auch wenn sie nichts sehen und nichts hören will. Bilder von riesigen Feuerbällen aus Türmen entflammt sowie dröhnenden schwarzen Ungetümen, die existenzielle Schrecken verbreiten. Geschehen an jenem schrecklichen Tag in New Yorck, als die Welt den Atem anhielt, waren mehr als tausend Lebewesen ihres Lebenswillens beraubt worden und ich hier, als jämmerlicher Waschlappen habe ich nichts anderes im Sinne, als mich über mein Hüftgold zu erregen.

Mein Gott, ich buchstabiere: I D I O T I N! Ich glaube, diese Selbsterkenntnis musste raus. Allein sie hilft mir, die Maßstäbe wieder zurecht zu rücken. Aber GOTT! Wie lange habe ich schon keinen direkten Draht zu DIR, resümiert sie. Wie seltsam, dass ich anstelle des Universums, dem ich mich von nun an zuzuwenden gedenke, den biblischen Gott anrufe! Sei wie es wolle, es geht in meiner Situation hier gottlob nicht ums Überleben, sondern lediglich ums Besserleben. Deshalb wende ich mich wieder vorsichtig einem meiner, im Großen und Ganzen gesehen, klitzekleinen Probleme zu:

„Mein Gott, wann werde ich endlich mal einen Deut Selbstbehauptungswillen zeigen und mein NEIN in alle Welt herauszuschreien? Na, ja, es braucht nicht gleich sehr lautstark zu sein. Vorerst werde ich mich mit einem zögerlichen NEIN begnügen müssen.“

Schallend kommen ihr diese Worte über die Lippen, obwohl keine andere Menschenseele ihnen Beachtung schenkt. Flugs baut sich vor ihrem Inneren ein ihrem Blickfeld störender Wasserkocher auf. Er dampft und dampft und wartet darauf, seinen nicht unwesentlichen Senf zum Heißwassergetränk beizusteuern.

NEIN, Yvonne! Ich bin nicht bereit dir vom Aldi das Wasserkocher-Sonderangebot zu besorgen! Das bedeutete endlich einmal klare Kante zu zeigen! NEIN Yvonne! Ja, ich will es dir sogleich beweisen, wie locker leicht das NEIN aus meinem Munde purzelt:

„Yvonne, ich möchte dir mal eines sagen: Nur weil ich fünf Minuten näher beim Aldi entfernt wohne, sehe ich mich nicht gemüßigt, so früh morgens dorthin zu tippeln und mich in die Warteschlange einzureihen. Meine Beine sind nicht fitter als deine und meine Nerven sind nicht unendlich strapazierbar.“

Ja, mit der gedanklichen Yvonne neben sich, ist das alles kein Kinderspiel, aber sie spinnt ihre Gedanken weiter, erzittert sekundenlang, befürchtet mit einem Nein kostbare, feste Freundschaftsbindungen aufs Spiel zu setzen. Oh nein, eine Freundschaft, die nicht mal ein Nein verträgt, die kann mir gestohlen bleiben, versichert sie sich selbst standhaft und tritt einmal fest mit ihrem Seidenpantoffel auf den Boden.

Aber fragen wir uns mal ehrlich, so geht es in Eleonores Kopf herum, wozu braucht die Welt überhaupt so einen Blödsinn wie einen Wasserkocher? Kann ein stinknormaler Topf uns nicht das gleiche Erlebnis bescheren, beim Aufsteigen der Wasserperlen das Prickeln in aller Muße zu genießen? Und wer weiß, welche schädlichen Partikel beim Kochen dieses wertvollen Gutes nicht durch die geheimnisvollen guten und bösen Nano-Teilchen, oder, wie man diese kuriosen Dinge auch benennen mag, sich auf Nimmerwiedersehen verabschieden können? Aber man verzeihe mir, dass ich als technischer Laie unter Umständen voreilig das eine oder andere Teufelchen heraufbeschwöre!

Ein NEIN, nein gleich eine ganze Armee dieser vier Buchstaben wäre oft vonnöten!

Ein NEIN sollte ich auch Denise an den Kopf schleudern, wenn sie mit ihrem süß-süffigen Stimmchen mit meiner lieben Schwägerin mein Herz zu rühren versucht. Rituell zieht sie das Wort liebe jedes Mal derart in die Länge, dass ich mich in ihrer übergroßen Liebe eher baden könnte und befürchten müsste, darin zu ertrinken.

Ich will kein Tier ausbeuten!

Dieser Devise und ihrer Überzeugung, dass Pflanzenmilch die bessere Alternative und der Anbau von Soja sowieso oft fragwürdig sei, sehe ich mich oft wie ein Dummchen ausgesetzt.

Anstatt zu kontern:

Deine Ernährungsspleens grenzen schon an religiöse Verbohrtheit! stehe ich da wie der Ochs vorm Berge und bringe kein Sterbenswörtchen hervor.

Insgeheim male ich mir aus, wie Menschen in Kriegszeiten, in Zeiten der Kargheit, ums Überleben kämpfen und sich nach jeder Faser essbaren Materials ausstrecken. Selbst oder gerade Ordensleute lechzen ab und an mal nach einem kräftigen Biss ins Fleisch und haben mit gefüllten Maultaschen versucht, den Herrgott in der Fastenzeit auszutricksen. So werden die Teigtaschen deshalb auch sinnigerweise als `Herrgottsbscheißerle` bezeichnet.

„Mamaa!“ Eine helle Stimme aus dem Hintergrund!

„Ja, Annika, warte, ich muss nur noch meine Haare richten!“

„Mamaa, du bist doch schon sooo! schööön! Aber noch viel schöner wäre es, wenn du jetzt zuhören würdest, was ich dir zu erzählen habe!“

Mama starrt stattdessen auf ihr Spiegelbild und lässt ihr Töchterchen neben sich verloren vorkommen. Spitzlippig lässt sie es wissen:

„Aber die eine Locke dreht sich immer so widerborstig und wild herum! Die muss ich auf alle Fälle noch bändigen! Annika! Weißt du, neulich, als ich so sauer auf dich war und dich vor lauter Säuerlichkeit und vor Wut im Kreis herumgedreht habe! Dabei ist es wahrlich ein Kinderspiel, eine Locke zu bändigen als dagegen ein junges Ding zur Räson zu rufen, das zu früh eigene Wege gehen will!“

„Mama! Paß up!“

Mama zeigt sich wider Erwarten gehorsam. Statt weiter zu plappern, fummelt sie mit gespreizten Fingern über die Gesichtsfurche vom linken Nasenloch ausgehend bis zum Mundwinkel.

„Oh, Mama, du verrückte Nudel!“

Annika feixt dabei bis über beide Backen. Sie hatte den Tornister wie so oft flugs in die Ecke geknallt, die Jacke übers Dielengeländer geworfen und steht jetzt wie immer, wenn sie vom Fahrradfahren durch Wind und Wetter vom Gymnasium zurückkommt, mit erröteten Wangen vor ihrer Mutter. Ihre Oma nennt diese Löwenmähne manchmal Backofenbesen, worüber sie beide nur lachen können. Als Oma neulich ihre Angst vor einer Fahrrad - Kollision äußerte, meinte Papa beruhigend: Annika hat doch ´ne Achtetrüchbremspeddler! Mama entrüstete sich darüber, dass er mit diesem plattdeutschen Wort Annika nur verwirre und meinte: „Annika, Rücktrittbremse bedeutet das, nicht mehr und nicht weniger!“

Papa hatte sich gegenüber Mama durchgesetzt und versichert, dass er kein Helikopter-Vater sei und den Schulweg von der Magdalenenstraße zur Sedanstraße für ein einst zehnjähriges, jetzt elfjähriges Mädchen mit dem Fahrrad für machbar halte.

„Wat? Eene Nudel! Ausnahmsweise mal eine im XXL-Format!“

Mama kichert über Annikas lustige Bemerkung. Und dann gibt sie zum Besten, was Tantchen Elvira mit ihren nunmehr fast 80 Lenzen einmal geäußert hat:

Wir werden alt. Ist wahrlich nicht schön. Doch was macht die Natur? Sorgt dafür, dass wir es nicht so in den Blick nehmen können, indem sie unsere Augen trüb werden lässt. Also ist es anzuraten, beim Blick in den Spiegel keine Brille mehr aufzusetzen.

„Aber merke dir, Annika: Bitte Brille auf beim Schminken, könnten ansonsten doch rote Meereswellen das Lippenstiftmündchen krönen!“

„Nau recket et ober han! Mudder, du eitle Fritzin!“

„Oh, so spricht mein kluges Töchterchen! Wer hat denn neulich diese Flügel des Spiegels zugeknallt, nachdem er zuvor geschrien hatte: Du meine Güte! Diese verdammten Tränensäcke!“

Annika zeigt sich neuerdings ständig auf der Hut, Situationen auszuweichen, bei denen sie sich ertappt fühlen könnte. „Du kleine Mimose!“ wirft Mama ihr an den Kopf, als Töchterchen ihr den Waschlappen herausstreckt. Danach wirft sie mit einem Karacho die Türe zu.

Kapitel 2

Mutter wartet im Wohnzimmer mit einer Kanne dampfenden Tee auf Papa. Die Teeschwaden verlustieren sich gen Zimmerdecke. Lavendeltee mit Löwenzahnsirup, naturally handmade! Eleonora sinniert: Wenn die mal keine lavendeligen Löwenzahn-Gardinen kreieren! Ich versuch´s heute nochmal! Tee ist Tee und aus Mutter Natur allergrößtem Garten gewonnen. Habe ich es mit Holunderblütentee probiert, war´s nicht richtig, habe ich ihm Ingwertee servieren wollen, hat er nur die Nase gerümpft. Ich bin Mutters Sohn, triumphiert er immer dann auf, wenn es um seine Kaffeebegierde geht. In seiner Familie hat es nur Kaffeetrinker gegeben!

Sie wartet und wartet und beäugt dabei die Teeschwaden. Mein Gott, diese filigranen flüchtigen Gebilde spiegeln sich sogar in der Glasfläche des - dreimal dürft ihr raten! - von dicken mächtigen Eichenbalken getragenen Spiegels wider.

Die Tür fällt ins Schloss. Vater Manuel, in seiner Mittagspause vom Büro kurz mal für ein halbes Stündchen auf Heimaturlaub, lässt sich in den Sessel plumpsen. Von seiner Kanzlei am Alsterufer läuft er nur ein Viertelstündchen bis nach Hause. „Und jetzt noch das!“, lamentiert er vor sich hin: „Mein Gott, willst du es nie aufgeben, mir meine Kaffeeleidenschaft auszutreiben?“ Mutter Eleonore hat sich gerade erhoben und ihren Allerwertesten vor dem ehrlichsten aller Möbelstücke platziert. Ohne im Geringsten auf seinen Kommentar einzugehen, beginnt sie ein Spiegel- Gespräch:

„Oh, du mein unverbesserlicher Till Eulenspiegel! Heilsteinbetrachtung, spiegelmade, ist angesagt!“

„Oh, ja, mein Spiegeläffchen!“ kommt schelmischverschmitzt, mit einer Prise Hohn gewürzt, aus dem Hinterhalt.

Eher ist es so ein Belächeln der weiblichen Eitelkeiten und nicht wie Mutter einmal hämisch verlauten ließ: Du siehst dich wohl als die Größte unter Gottes Sonne. Pass auf, dass deine Augen beim stundenlangen Betrachten im Spiegel nicht blind werden! Die passende Erwiderung ließ bei einem so angepasstem Menschenwesen wie mich leider auf sich warten.

Wenn Manuel kopfschüttelnd feststellt: Durchschnittlich stehen Weibsleute zwei Jahre ihres Lebens vor dem Spiegel! Für dein Bespiegeln müsste sich der Zeitmesser bald überschlagen. Solcherart Manuel-Pointen überhöre ich geflissentlich. So nehme ich es mir in brenzligen Situationen jedenfalls vor.

„Weißt du, Manuel, warum mir gerade in diesem besonderen Spiegel mein Antlitz als wertvoll erscheint? Betrachte dir die im Holzrahmen eingelassenen Edelsteine genauer: hier ein Amethyst, hier Bergkristalle, hier zwei Mondsteine! Manuel, ich muss mich mehr der Gesteinskunde verschreiben. Wenn ich bedenke, dass alle Steine ihren Ursprung im heißen Magma aus Mutter Erde haben, dann spüre ich ganz intensiv diese unvergleichliche Aura. Ich wollte schon immer mal ein Edelstein-Seminar besuchen. Babette schwört auf CHAKRENLEHRE. Immer, wenn sie davon erzählt, dann stehe ich wie ein Dummchen, wie Ochs vorm Berge da, weil ich Null-Ahnung davon habe. Das soll sich ändern! Ich werde es in Angriff nehmen.“

Manuel hat nichts Besseres zu tun als die Nase zu rümpfen und „Schakkra-Gackra!“ von sich zu geben. Dabei sprühen seine Augen fuchsteufelswild. Aber warum erzähle ich ihm überhaupt solche Dinge? Sie sollten lieber mein Geheimnis bleiben, wenn er sich darüber mokiert, sinniert Eleonore und wirkt gedankenversunken.

„Dein Tee ist gut, mein Schatz, aber ich bitte dich mir den unvergleichlichen Kaffeegeschmack nicht ständig vorzuent halten, der da heißt: Erdig, hölzern, nussig und, und, und dagegen ist das Teegesöff fade! Kaffeegeschmack kennt 800 verschiedene Aromen.“

Das saß aber.

„Weißt du was, mein Schatz?“

„Was soll ich denn wissen, mein Schätzchen?“

Sie drückt sich, so scheint´s, davor, zur Sache zu kommen! Flugs zum Edelsteinspiegel, hämmert es in ihrem Schädel und schnurstracks positioniert sie sich vor dem unerbittlichen Zensor. Eine dicke freche Pustel erdreistet sich doch tatsächlich ihr makelloses Antlitz zu lädieren. Ein Pinzettengriff genügt und der Störenfried ist vernichtend besiegt. Zum Ehegespons gewendet, gibt sie ihre Überlegung preis:

„Damit mich eine so blöde Pustel demnächst nie mehr um meinen Verstand zu bringen droht, überlege ich mir schon seit langem, die Hilfe eines Coaches in Anspruch zu nehmen. Jeanette hat beste Erfahrungen mit einer professionellen Begleitung gemacht!“

Ihr Göttergatte macht seinem Namen keineswegs Ehre, wie sie sogleich mit Argwohn registrieren muss.

„Pfff! Pfff!“ Pfeifende Atemgeräusche entwinden sich seinem gestreckten Brustkorb. Seine Stirn kräuselt sich, seine Augen werden zu Kullern, die jeden Moment, auf Rolle vorwärts geeicht, zu sein scheinen. Hilfe, ein Donnerwetter naht! Voll ergeben in ihr Schicksal sinkt ihr Kopf in Brustrichtung. Du mein GOTT, ein inwendiges Stoßgebet: Möge dieser Donnerschlag mein ohnehin schon ramponiertes Selbstbewusstsein nicht noch ganz ruinieren! Wie seltsam! Eine sichtbare Gedankenoffenbarung!

„Mein Gott!“ Zwei Worte setzt er seinem folgenden Monolog voran; zwei Wiederholungsworte! Etwa eine Gedankenübertragung? Nur komisch, denkt sie, wieso spricht er Gott an, wenn er doch sonst von ihm so gut wie nichts wissen will - aber das will ich ja eigentlich auch nicht. Mein Gott! Sucht er sich Bestätigung bei IHM, weil er sich selbst so unsicher fühlt, oder handelt es sich dabei lediglich um eine angelernte Floskel? Ich vermute mal, dass sich letzteres bei uns tief eingenistet hat.

Ausufernde Denkeskapaden werden im Keim erstickt, denn polternd legt er los: „Das Coachingvirus scheint um sich zu greifen, nur mit dem Unterschied zu einem tödlichen Virus, wäre es leichter zu besiegen, wenn, ja, wenn sich ihm die Vernunft entgegenstellen würde. Wie dumm nur, dass dagegen noch keine Impfung erfunden ward! Merken die sich coachenden Leute denn nicht, dass sie sich mehr und mehr zu Schmalspurmenschen entwickeln? Sind sie denn nicht mehr selbst dazu in der Lage, auf ihre eigenen Lebenserfahrungen und auf eigenes Urteilsvermögen zurückzugreifen? Und zudem mein Schatz, … “ diesmal fließt der Schatz nicht aus einem Liebesmund oder gar einem Liebesherzen hinaus, eher aus einer Besserwisserschnute „… ein Krösus bin ich allemal nicht!“

Jetzt kommt er wieder mit der mir bekannt vorkommenden Litanei an und tatsächlich erweist sich ihre Ahnung als zutreffend: „Die paar Moneten, die du beim Nagelstudio verdienst, machen den Kohl auch nicht fett!“ Ihr Schädel pocht wie wild.

„Pscht! Klappe zu! Affe tot!“ Eleonore tritt mit dem Fuß gegen das Stuhlbein. Du meine Güte, denkt sie, wie oft habe ich Annika gescholten, wenn sie mit Möbeln nicht sachgerecht umgegangen ist.

Das Eheweib kann nicht an sich halten. Wie eine Furie schreit sie wild gestikulierend:

„Und warum schränke ich meine Arbeit ein? Bestimmt nicht zum Spaß! Du, du! …immer nur du!“

Wie gut, dass das Kind heute bei Oma schläft, geht ihr durch den Kopf, als sie merkt, wie ihre Fassung in verdammter Weise zu explodieren droht: „Du, du mit deinen alten Rollenklischees! Nichts anderes hat du im Kopf als auf deiner Karriereleiter hochzusteigen und das nicht nur Stufe um Stufe, sondern immer gleich im Salto mortale!“

In den Edelstein-Spiegel mag sie nun gar nicht blicken, da würde ihr sowieso nur eine rote Tomate entgegenstrahlen. Ein Gedanke verweigert die In – Gewahrsam - Genommene vehement: Hättest du mal zuvor genügend Luft geholt, dann würdest du jetzt nicht so rasant nach Luft schnappen, denn das Atemlose an mir, das nutzt du jedes Mal dazu aus, mir in größter Seelenruhe eine deiner Unverschämtheiten um die Ohren zu hauen!

„Du solltest lernen, dich mehr zu beherrschen! Und dafür brauchst du keinerlei Coach auf der Couch, sondern die Ertüchtigung zur Selbstkontrolle kannst du dir selbst aneignen, allerdings nur mit starkem Willen. Jeder hat die Möglichkeit seine eigene Persönlichkeit eigenständig zu entwickeln. Was doch die Vokale a und u für einen Unterschied machen, siehst du hier!“

Und wieder einmal passiert es wie so oft: Schnurstracks verlässt sie mit hochrotem Tomatenkopf und schlotternden Schultern den Raum. Widerworte sind ihr im Hals stecken geblieben. Und immer wieder dieselbe Leier! Es ist zum Kotzen! Eingefahrene Muster der Hilflosigkeit gegenüber einem vermutlich Stärkeren! Zum Heulen, dass sich diese Masche nicht so leicht aufribbeln lässt wie bei der Wolle, die auch ab und an nicht so will wie die Strickerin selbst.

Spiegelbetrachtungen kommen heute nicht mehr in Frage und Selbstbetrachtungen sowieso nicht. Feindesbetrachtungen schon eher und nicht einmal bei dem schauerlichen Gedanken, dass ihr eigner Mann ihr Feind sein kann, zuckt sie zusammen. So wie sich eine Erdkröte oder eine Spitzmaus im Laub verstecken kann, wünscht sie es ebenso für sich, nachdem sie, Annika gleich, mit Parkett malträtierenden Schritten davongeeilt war.

Aus dem Federbett leuchtet kurz darauf der Scheitel eines glänzenden braunen Lockenkopfes aus orangefarbenen Frotteewäsche hervor.

Kapitel 3

„Annika, mein Liebling! Ich glaub’ mich rührt der Schlag! Ist das dein neuestes Karnevalkostüm?“

Mama lässt sich vor Schreck kraftlos in den Sessel plumpsen, als sie ihr Töchterchen, ganz in Rosa gehüllt, inspiziert. Ein neues Rosa-Outfit ihrer Tochter! Oh, du mein Gott! Meine Tochter, ein Menschenwesen zwischen den Zeiten! Mal junge Dame und dann das hier… ein Rückfall in Kindertage… mit einem Spielchen, das auf sie eine ungeheure Anziehungskraft haben muss.

Das nächste rupffertige Huhn scheint also auf Eleonore zu warten! Mutter, wehe du gerätst mir in den Blickwinkel! Wehe, wehe …, derweil schwebt Töchterchen in Omas Rosa umhüllt, beschwingt zum Edelsteinspiegel. Lass es mit Rosa sein, hatte sie ihre Mutter händeringend gebeten und nun das …, einfach zum Kotzen!

Wie glitzernd! Wie glatt! Annika streichelt voller Zärtlichkeit über das weiche Stoffmaterial, das sie hingebungsvoll durch ihre Finger gleiten lässt. Mit einem Ruck dreht sie sich wie eine Diva im Kreis herum und genießt offensichtlich die Bewegung des weiten Glockenrockes. Mama blickt ziemlich konsterniert zu ihrer Prinzessinnengestalt, die einen riesigen Schlüssel in den Händen hält.

In Mutters Gehirnkasten rumort es kräftig. Ja, so kräftig, dass das Herz in Mitleidenschaft gezogen wird und anfängt wie wild zu blubbern. Mein Kind! Du gierst nach Liebe! Nach meiner Liebe! Warum nur liebst du dieses gläserne Sargspiel so? Willst du immer wieder hören, dass ich dich liebhabe? Als junges Ding so zwischen Tod und Leben schweben! Mein Gott!

Mutter Eleonore schweigt in weiser Voraussicht und schlägt einmal fest gegen ihr Brustbein. Sicher hofft sie dadurch, dass ihr schwerer Herzensstein zu Boden plumpst.

„Mama! Hörst du wie der Spiegel ruft: Frau Königin, Sie sind die schönste, aber ...? Mama, ich bin jetzt Schneewittchen. Wie immer! Heute in Rosa; sonst in hellgrün!“

Oh, immer wieder die gleiche Leier. Mama stöhnt bei dem ihr nicht völlig fremden Gedanken, dass jetzt wie gewöhnlich die Klarsichtfolie vom Tisch dran glauben muss. So ist es seit Jahren, und noch immer kann sich das heranwachsende Kind nicht davon trennen. Jedes Mal stöhnt sie innerlich auf, wenn Töchterchen ihre tollen Minuten kriegt und Schneewittchen im gläsernen Sarg spielen will. Mein Gott, was hat das zu bedeuten, wenn ein Kind dieses Spiel so sehr liebt, doch nicht etwa …? Schnell verbietet sie sich einen weiteren beunruhigenden Gedanken.

„Warum? Warum nur?“ Sie merkt, dass diese Wortfetzen mehr widerwillig in Erwartung einer noch größeren Beunruhigung sich aus ihrem Mund wagen.

„Warum willst du immer im gläsernen Sarg liegen, Annika? Was liebst du so sehr an einem Sarg? Erwachsene sind froh, wenn sie nichts von einem Sarg sehen oder hören müssen?“ Und bevor das Mädchen sich wie immer auf den Boden plumpsen lässt und ihre Folienumkleidung um sich wickelt, erklärt sie Mutter ihre Vorliebe:

„Tot sein und rote Backen haben! Alle sehen mich dabei an und ich sehe wie die anderen sich verwundert die Augen reiben. Ja, das ist doch mehr als cool! Und jetzt musst du wie immer sagen: „Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz. Diesmal können die sieben Zwerge dich nicht mehr erwecken.“

Und weil Mama gehorsam sein möchte, spielt sie zuerst den Königssohn, der sie im gläsernen Sarg durch Diener zu sich holen will und danach den Diener, der den Sarg hebt und beim Tragen stolpert.

„Mama, richtig stolpern musst du! Aber nicht ganz umfallen!“

Und dann lässt sie wie immer ein klitzekleines rotes Bällchen zum Apfel avancieren, den sie wie einen Schatz in der Zimmerecke immer an derselben Stelle unter der Gardine hütet. Und der rollt durch das Stolpern doch tatsächlich aus ihrem Munde hinaus … und als Schneewittchen quicklebendig einen Kuss durch den Königssohn erwartet … und wie immer lässt Mamas Königssohnkuss nicht lange auf sich warten, da endet die Geschichte immer so, dass Mama ihr Töchterchen auf ihren Schoß drückt und ihr ins Ohr flüstert:

„Du bleibst immer bei mir! Ich habe dich immer lieb! Lass das gläserne Sargspiel besser sein, es macht mich traurig!“

Flugs geht ihr der Gedanke durch den Kopf, ob das schlechte Gewissen sich meldet. Anstatt sich mit Annika zu beschäftigen, dreht sich ihr Gedankenkarussell in letzter Zeit mehr denn je um Energien, Schwingungen und Höhere Bewusstseinsebenen. Licht und Liebe sprechen Esoteriker sich gegenseitig zu. Wo bleibt meine Liebe zu meinen Allernächsten? Annika sendet Warnsignale aus! Merke das doch endlich und handle, stupst sie ihr Gewissen an.

„Traurig, aber Mama, Schneewittchen wird doch wieder lebendig und wenn nicht, dann käme sie doch ins Paradies. Du hast mir das doch selbst erzählt, dass ein Engel mit einem Schlüssel am Eingang vor dem Paradies steht und dass das Paradies das Schönste auf der Welt ist, auf das wir uns freuen können!“

Mama drückt fester als sonst ihr manchmal doch sehr rätselhaftes Mädchen an sich. Sie flüstert ihm dabei ins Ohr:

„Mein Kind, ich habe dich doch soo! gerne und will dich immer bei mir behalten! Und da kann sich das Paradies noch ganz lange gedulden, ehe es bereit dafür ist, dich aufzunehmen.“

Sie verkneift es sich geflissentlich, die Hölle, den Ort der ewigen Pein zu benennen, der Christusleugnern biblisch prophezeit wird. An einen solchen Schmarrn kann doch kein Vernünftiger glauben! Nichtsdestotrotz glaubt sie im hintersten Herzenswinkel an Gottes Barmherzigkeit. Punkt! Basta! Schließlich erstrebe ich zumindest das Beste für meine Mitmenschen, auch wenn ich mich oft als sehr schwach empfinde. Aber irgendwie schwant mir noch von früher, dass gerade Schwache bei Gott hoch angesehen sind. Töchterchen gegenüber werde ich über meine tiefgründigen Gedanken natürlich schweigen. Aber ich strebe ja danach, den Sinn im allumfassenderen Universum zu finden und somit den einengenden Gottesglauben zu sprengen! Das muss ich mir immer wieder bewusst machen. Aber das andere steckt doch noch tief in mir drin!

„Mama!“

Mama guckt auf, streicht sich eine vorwitzige Locke von den Augen, ehe sie ihrem Töchterchen ganz zart über die Stirne streichelt.

„Was ist Mama? Mamaa!!“ Annika schüttelt den Kopf. Ihre Schmetterlingsspangen tanzen dabei den Tanz ihres Lebens. Sie bringt ihr Unverständnis rasch zur Sprache. Wie gewohnt in forscher Weise:

„Mama! Eins verstehe ich ganz und gar nicht! In der Schule erzählt unsere Frau Haberkorn immer viel vom lieben Gott! Wir hören, wie er die Welt erschaffen hat und alle Dinge über Adam und Eva und die Vertreibung aus dem Paradies und noch vieles andere mehr. Sie plaudert so lebhaft darüber, als hätte sie alles persönlich miterlebt. Du hast mir mal erzählt, dass du nicht an Gott glaubst! Das macht mich traurig. Ein Leben ohne Gott, sagte Frau Haberkorn einmal, gleicht einem Brunnen ohne Wasser. Wir haben eine ganze Schar Engel und die würden genügen, so hast du es mir damals erklärt. Aber Mama, wem soll ich denn nun glauben? Einer von euch beiden, du oder Frau Haberkorn, muss doch lügen, oder?“

Mama äußert sich nur kurzsilbig: „Hm! Hm!“ Und sie stöhnt dabei.

Da will ich ihr schnell etwas Liebes sagen, damit das Gestöhne aufhört, sinniert Annika. Beim Ausbrüten ihrer tiefen Gedanken lässt sie ihre Zunge über die Oberlippe gleiten, hin und her, während ihre Augen aufblitzen ob des phänomenalen Gedankenblitzes:

„Mama, ich habe da eine ganz coole Idee: Du stellst dir die Engel genauso vor, als ob in der Mitte der liebe Gott als Weihnachtsmann steht. Um ihn herum fassen sich im Kreis alle Engel an den Händen. Mein Gott und dein Weihnachtsmann hält sie alle in seinen supergroßen Händen - und die sind eine Million Mal größer als unsere! Nicht wahr, Mama, du sagst doch selbst, dass man immer versuchen soll, auf andere Menschen zuzugehen. So kann zwischen uns erst kein Streit entstehen, denn Streit mag Gott nicht und seine Engel wollen auch keinen, weil sie nur das tun werden, was Gott mag!“

„Du liebes schlaues Mädchen! Ja, du wirst später mal sehen, wie kompliziert das Leben noch sein kann. Aber Hauptsache wir haben uns ganz dolle lieb. Dann fließt millionenfache Energie durch unsere Adern!“

Sie drückt ihre aus dem Sarg erstandene Deern so fest sie kann an sich.

„Mama, fließen die Millionen jetzt auch durch meine Adern? Aber ich glaube, dass das stimmt, denn auf einmal fühlen sich mein Gesicht und meine Hände so richtig warm an. Mama, was genau ist eigentlich Energie?“

Da muss Mama aber lange überlegen: „Tja, du bist ein Kind und wie soll ich dir das alles, was Erwachsene noch nicht einmal völlig verstehen, richtig erklären?“

„Gut, Mama, dann erklär es mir eben falsch, na, ja, so ganz falsch auch nicht, aber dann eben so halb richtig und halb falsch!“

„Wenn ich jetzt Feuer sage, dann denkst du an richtiges Feuer und hast richtige Angst, dass wir mit Haut und Haaren verbrennen. Sagen wir mal, dass es eine Art Kraft in uns gibt, die wir Energie nennen.“

„Aber Mama, da will ich besser an einen lieben Gott glauben, der uns Kraft schenkt! Mama, ich will dir noch was zeigen!“

Annika, das wiedererstandene Sargmädchen läuft während ihrer Ankündigung nach draußen. Ziel ist es, wie wenig später erkennbar, ihre glitzernde Barbie-Tasche aus dem Flur zu holen. Und mir nichts, dir nichts, so rasch wie es eben geht, wenn es ihr passt und es ihr Spaß macht, landet ein großes Buch auf dem Tisch, ein Buch, das Mama nicht unbekannt sein dürfte und welches Oma an ihre Enkelin weiterreichen will.

Mama stutzt, runzelt die Stirn und klärt ihre Tochter auf: „Das ist ein Buch für kleine Kinder, ein schlechtes dazu! Oma sollte dir so etwas heutzutage nicht mehr in die Hand geben.“

Ja, den Struwwelpeter habe ich geliebt, ... erinnert sich Eleonore und sie muss ob der Kobolde, die durch ihr Hirn gleiten, lächeln. Ja, wie sehr habe ich es geliebt, dieses leuchtend gelbe Buch mit dem Koloss von einem rotbefrackten Buben drauf, dessen rotbäckiges Gesicht kaum unter dem wirr hochstehenden Haargewirr zu erkennen ist. Und die Finger erst einmal, die setzen allem noch die Krone auf: Wie riesige Nadeln scheinen sie nur auf jemanden zu warten, den sie aufspießen können. Wie schaurig schön waren die Geschichten, die Mama oder Papa mir aus diesem gelben Buch vorgelesen haben! Ob es der bitterböse Friederich oder Hans Guck in die Luft war, der Zappelphilipp oder der Suppenkasper! Als kleines Mädchen beeindruckte mich besonders, dass auch ein Mädchen, namens Paulinchen, mit von der Partie ist. Ja, ich fühlte mich damals einem Paulinchen haushoch überlegen, denn so dumm, mit Feuerzeug herumzuhantieren, so dämlich würde ich im Leben doch niemals sein.

Annika blättert in dem Buch, das zwischen Mamas Beinen in der Rockfalte liegt, hastig herum. Mit hochrotem Kopf schreit sie voller Entrüstung:

„Was ist das denn für ein Kinderkram! Nur weil Oma das Buch jetzt beim Aufräumen des Kellers gefunden hat, kann sie es mir noch lange nicht andrehen.“

Mama scheint innerlich auch zu brodeln, denn sie unterbricht Annika mit heftig ausgestoßenen Worten:

„Mit dem Alter des Kindes hat das nichts zu tun! Das Buch ist für eine empfindsame Kinderseele ein Schock! Und dann noch rassistisch dazu, wenn wir an die Verse vom kohlpechrabenschwarzen Mohren hören. Nein, danke, ohne mich! Das Lachen über einen schwarzen Menschen, das finde ich unerträglich!“

Diesmal ist es Annika, die ihre Denkerstirn runzelt. Es braucht etliche Sekunden, bis sich ihre Stirn wieder glättet und ihr Mündchen sich öffnet, um ihr Denkerergebnis zu präsentieren:

„Mama, wenn Kinder etwas nicht kennen, dann lachen sie oft darüber. Das war beim Johannes in meiner Klasse genauso. Als der nämlich den Unfall mit seinem Bein hatte, haben die anderen auch darüber gelacht, weil es so komisch aussah, als er hinein gehumpelt kam. Mama, ich denke mir, dass das Mohrenkind doch spürt, dass es auch ein gutes weißes Herz hat, dann braucht es auch nicht traurig zu sein. Sicher kann ein Mohrenkind sogar viel hilfsbereiter und freundlicher sein als ein weißes Kind. Mama, aber dass die Kinder, die lachen, bestraft werden und in ein Tintenfass plumpsen, findest du doch bestimmt auch gut, oder? Das ist doch die Strafe! Und dann werden die Tintenkinder auch noch viel schwärzer als das Mohrenkind!“

Annika hatte beim Durchblättern der Seiten sich interessiert die bunten ausdrucksstarken Karikaturen angesehen und kommt zu dem Schluss: „Lustig für Kleine! Nix für Große!“ Schließlich zählt sie schon elf Lenze, was ihr aber beim Schneewittchen-Spiel wohl noch nicht bewusst geworden war.

„Nein, Kind, ich habe durchaus meine Prinzipien!“

Annika bemerkt, dass Mama ihren Rücken kerzengerade streckt. Das tut sie immer dann, wenn sie auf ihrer Meinung besteht. Heute fügt sie zudem noch ein seltsames Wort hinzu, das Annika lustig findet:

„Ich bin doch kein Chamäleon, das ständig seine Farbe verändert.“

Sie beginnt vor Lachen zu prusten und zwischen den Fingern ihrer vor den Mund gehaltenen Hände bahnt sich das, was Töchterchen zum Besten geben will, doch eine Bahn.

„Oh, nein, nur kein Kamel!“

„Annika, wie beruhigend für mich, dass ich kein Kamel sein soll, aber ein Chamäleon ist ein anderes Tier: Hier sieh mal!“

Eifrig und geschickt, wie sie das Googeln einstudiert hat, tippt sie einige Buchstabe in die Wundermaschine und heraus kommt das Bild eines Chamäleons. Annika staunt:

„Mein Gott, so große Augen, viel kleiner als ein Kamel und potthässlich!“ So lautet Annikas Kommentar.

„Mama! Wenn du das Buch so hasst, dann schmeiße ich es eben aus der Wohnung raus.“

Mutter staunt Bauklötze, als Töchterchen voller Elan die Terassentür aufreißt und mit hohem Schwung das gelbe Buch in die Luft wirft. Und torkelnd landet es in einem Hortensienbusch, wo es sich durch stramme Blätter hindurch gleiten lässt und in die Unsichtbarkeit versinkt.

„Ja, was ist denn in dich gefahren? Ist das denn des Problems Lösung!“ ruft sie der aufgebrachten Tochter hinterher, die in ihrer Sturm- und Drangzeit die Wohnzimmertüre zuschlägt, um in ihrem Reich vor der bösen Mutter Ruhe zu haben.

Kapitel 4

„Komm herein altes Haus und ruh dich aus!“ Jennifer, alte Bekannte mit neuem Outfit, schleift ihren ermatteten Kopf mit allem, was drunter und dranhängt, durch die Tür.

„Oh, weh! Ja, weh im wahrsten Sinne des Wortes! Du sagst es! Da knall ich doch mit aller Macht gegen den Pfosten an der Tür draußen! Irgendwie lief mein Kreislauf mal wieder in eine andere Richtung als ich es wollte! Heutzutage ist aber auf nichts mehr Verlass! Da muss man sich eben Verlässliches suchen.“

„Komm, pflanz dich hienieden und wünsch´ deinem Hörnchen ein gutes Gedeihen. Soll ich dir einen nassen kalten Lappen bringen?“

„Och, lass lieber! Meinst du, ich habe Bock auf schwarze Schmierereien, die von meiner Wimpernbemalung wie Schlieren herunter triefen und meinem Antlitz einen aparten Deko-Look verpassen?“

„Mach mir lieber einen Tee? Hast du einen Buddha-Box-Tee da?“

Kopflädiert hat sie sich fallen gelassen. Sämtlich vorhandene glitzernde Fingerspitzen gleiten über die glatte Lederfläche. Während dessen befühlt sie einige Male ihr Hörnchen, das sich als Schauobjekt mehr und mehr in Szene zu setzen beginnt. Glänzend und blutunterlaufen stiehlt es dem Drumherum, Marke Normalo, die Schau.

Zu Befehl, Mein Einhorn!“

Eleonore kann sich ein Lächeln nicht verkneifen, weiß aber nur zu gut, dass ein mitleidvolleres Verhalten gegenüber der Freundin angemessener wäre. Von daher versucht sie es mit salbungsvollen Worten:

„Weißt du, dass ein Wattetupfer mit Salbeitee durchtränkt, wahre Wunder bewirken kann? Und ich kann mit deinen fundierten Buddha-Tee-Kenntnissen sowieso nicht mithalten. So viele Teeseminare, wie du schon auf dem Buckel hast, meine Liebe! Und mal ganz abgesehen von der Stange Money, die dir dabei schon flöten gegangen ist!“

Als fürsorgliche Freundin war sie während ihrer Worte schon in die Küche geeilt. Nach wenigen Minuten offeriert sie der verdutzten Einhornträgerin eine Tasse frisch aufgebrühten Salbeitee samt einem Wattebausch.

„Hier Salbei, meine Liebe, du wirst es nicht glauben, wie gut es im Körper seine Wirkung tut: Es reinigt auch das energetische Feld! Allerdings ist eine Vielzahl von derlei Tees, eine ganze Palette zur Auflösung von Glaubenssätzen und schwarzer Magie vonnöten. Und was besonders wichtig ist, dass es keinesfalls einerlei ist, welcherart Wasser du für den Tee nimmst. Das muss nämlich mithilfe eines Steines oder gar von Muscheln aufbereitet werden, am besten über Nacht. Und Kerzen, mein Liebling, gehören selbstredend auch zu einem Reinigungsritual dazu. Aber wem erzähle ich das? Du bist doch die Teeexpertin par excellence! Was ich noch gar nicht wusste: Die violette Farbe steht für den Einblick in den Lebenssinn. Und ich denke mal, dass das ein zentrales Thema in jedem Leben ist, vielleicht das zentralste überhaupt.“

Jennifers Gesprächspartnerin scheint der Weltvergessenheit anheimgefallen zu sein. Ihre Augen starren durch die Freundin hindurch, auf verzweifelter Suche nach einem rettenden Anker. Der ausdrucksleere Blick zeugt von einer Traumverlorenheit, die sie bisher bei ihr nicht kannte. Ihre Lidzuckungen verraten, dass sie unter Strom stehen muss. Nach einer gefühlten Ewigkeit stößt sie vereinzelte Wortbrocken aus ihrem sich zaghaft öffnendem Mund:

„Mein Gott! … Meine Mutter!... Besteht der … Sinn des Lebens… nicht …. nein, oh, Gott, …lediglich aus töchterlichmütterlichem Kampf? … Mir steht jetzt …“

Sie stottert nach allen Regeln der Kunst, bricht abrupt ihren Satz ab, wie es Jennifer überrascht registrieren muss.

„Ja, weißt du, Eleonore! Ich kann dir da einen Rat erteilen: Entzünde eine orangefarbige Kerze, wenn du dir Gedanken über euere Mutter-Tochter-Konstellation machst! Orange fördert Ausdauer und hilft deinem Durchsetzungsvermögen!“

„Aber meine liebe Jennifer! Ich glaube mit dem Entzünden dieser Kerze ist, wenn überhaupt, nur ein lächerliches Quäntchen in dieser Angelegenheit getan!“

„Dann schieß mal los! Ist irgendetwas Aktuelles vorgefallen?“

„Ach, ja, kein neues Phänomen, aber es gibt immer wieder neue Facetten des eigentlichen Grundproblems. Und gäbe es Annika nicht, oh, du mein Gott, wie schrecklich wäre dies einerseits, aber andererseits befeuert sie durch ihr Sosein erst so richtig die ganze Chose. Es sind wieder mal zwei Dinge, die mir immer wieder aufstoßen. Ich glaube erstens, dass meine Mutter es wahrlich drauf anlegt, meine Ansicht über Rosa-Umhüllungen jeglicher Art ad absurdum zu führen. Und zweitens weiß sie mittlerweile schon sehr genau, dass ich es partout nicht leiden kann, dass sie Annika mit Struwwelpeter-Geschichten belabert. Denk mal, ihr Struwwelpeter einzuverleiben, das bedeutet, sie mit grotesker und grausamer Seelenkost zu füttern. Sie torpediert meine Erziehungsarbeit aufs Ärgste!“

„Struwwelpeter hin oder her! Ich denke, es geht dabei um Grundsätzlicheres bei euch! Gegenseitige Grenzen müssen respektiert werden und das fällt deiner Mutter wohl verdammt schwer. Einzig und allein liegt es jetzt an dir, strikte Trennungslinien zu ziehen. Mein Gott, Mädchen, du hast in deinem Alter noch nicht gelernt in deiner Mitte zu sein, dich genügend selbst zu lieben und deine Seele als ein Heiligtum zu betrachten, das kein anderer anzutasten hat.“

„Punkt! Basta! So spricht die Meisterin!

Eleonore lächelt gequält ihr Gegenüber an, das gerade ihren Tee-Wattebausch ausdrückt, so dass goldgelbe Tropfen in die darunter stehende Tasse kollern.

„Ja, meine Teure, in einiger Zeit könnte ich dir mehr erzählen!“ Auf die tröpfelnde Angelegenheit vor ihren Augen stierend fährt sie fort: „Ja, tropfenweise quasi werde ich mir die Esoterik- Weisheit einverleiben, nur werde ich aufpassen müssen, dass meine Lieben mich nicht aus dem Sumpf ziehen müssen.“

Jennifer lacht, während sie den Salbei-Wattebausch an ihr Hörnchen presst.

„Du meine Güte, du palaverst ja so, als ob du nicht auch mit dem Gedanken liebäugelst, aus der oft beschissenen Realität auszubrechen! Von einem möglichen Sumpf zu palavern, das scheint mir ziemlich absurd. Stell dir nur mal vor, fernab von allem rationalem Leben, von Handy, Tablet und Co. dürfen wir in eine Sphäre eintreten, die uns Unsterblichkeit verleiht. Vielversprechend, Eleonore, nicht wahr? Lass alles Klein-Klein mal außen vor!“

„Und was hat das jetzt ganz aktuell mit rosa Kleidchen und Struwwelpeter-Oma zu tun?“

„Hm! Also ich habe da eine Idee! Besagtes Kleid verschwinden lassen und Annika es im großzügigsten Falle nur dann tragen zu lassen, wenn ein Besuch bei Oma ansteht. Oder noch besser: Ihr klipp und klar vergackeiern, dass diese Zeiten jetzt endgültig passé sind. Und beim Struwwelpeter-Buch auch nicht viel anders verfahren! Dafür ist a bisserl Mut vonnöten.“

„Annika hat es selbst schon im Garten entsorgt, weil es ihr zu kindlich erscheint!“ fügt Eleonore ein, ehe ihre Freundin ihr zu verstehen gibt:

„Aber letztendlich wird das keine Lösung sein, denn zum Kleid, Marke Rosa, wird sich ein Rosa-Sammelsurium sondergleichen gesellen. Nach Struwwelpeter kommen Nesthäkchen-Bücher, die deine Mutter vermutlich noch im Keller gestapelt hat. Die Lösung besteht einzig und allein darin: Mama ein für alle Mal zeigen, wo es langgeht.

Da fällt mir die Gesine ein, die kennst du doch, das ist die Schwester vom Bernd. Sie meinte neulich, seitdem sie sich vollkommener und gottgleicher fühle, habe sich ihr Selbstbewusstsein derart aufgebaut, dass sie nur noch hoch erhobenen Kopfes durch die Welt spaziere. Kopf hoch, heißt auch die Devise gegenüber deinem Mütterchen! Kopf hoch und mit klaren Worten dort durch! Was meinst du, wie sie Bauklötze staunen wird! Aber nun, meine Liebe, heißt es: Fersengeld geben! Mein Achim wird denken, dass ich ganz unter die Räder gekommen bin. Dabei habe ich lediglich ein Hörnchen davongetragen, weil ich meinem Kreislauf gestattete, verrückt zu spielen.“

Dann fährt sie mit ihrem Finger über die nicht unerheblich wuchernde Stelle an der Stirn! Und eilt im Mordstempo zum Edelsteinspiegel, um dann laut von sich zu geben:

„Spieglein, Spieglein an der Wand!

Wer ist die Schönste im ganzen Land?“

Und die Antwort scheint nicht lange auf sich zu warten:

„Jennifer, nur kein Geheule wegen so ´ner kleinen Beule!“

Der Spiegel scheint Ironie zu durchschauen, ein wahnsinniges Spiegelkerlchen. Bei diesem Gedanken verfällt sie in einen echten Lachkrampf.

„Ja, sicher verlockender wäre jetzt ein dickes fettes Popcorn oder gleich eine ganze Tüte davon, als dort oben so ein fieses Horn zur Schau zu stellen!“ Jennifer feixt abwechselnd Spiegel und Freundin an. Dann verpasst sie ihrer Freundin einen forschen Abschiedsklaps auf die Schulter, ehe diese ganz rasch die Tür hinter sich ins Schloss fallen lässt. Und Eleonore schüttelt über so viel Ungestüm nur den Kopf.

Oh, jetzt keine Grübeleien mehr! Annika wird jeden Moment mit einem hungrigen Bäuchlein vom Sporttraining zurückkehren und sich schon auf die Nudelpfanne mit ganz, ganz viel Ketchup, einem regelrechten Ketchupberg mit haushoher Käsekruste freuen! Bei diesem Gedanken muss sie lächeln, türmen sich doch vor ihrem inneren Auge zwei Leckertürme auf, hinter denen ihr Annika-Mädchen mit lechzender Zunge zu verschwinden droht.

Kapitel 5

„Karen, nennt man das, was wir uns gebaut haben, nicht eine Räuberhöhle?“

„Ich glaub´s schon! Aber nennen wir es lieber Geheimnishöhle. Du siehst doch das Schild, das ich eben gemalt habe. Guck mal! Hier ist es, Annika…“ und sie zeigt auf kreuz und quer herumpurzelnde rote Buchstaben in den Wörtern: FORSICHT! KEIN EINTRID!

„Meinst du, dass Mama und Papa da gehorchen werden, Karen?“

Annika lutscht gerade an einem köstlichen Himbeerlolly. Stillvergnügt lässt die kleine Genießerin die gefärbte süße Spucke in ihrem Mund hin und her rotieren, bevor diese genüsslich ihren Schlund hinuntergleitet. Ihre Zunge schmiegt sich anschließend erneut um die pralle Himbeerfrucht. Karens Mund glänzt als Schokomund und die hellen Strahlen der Taschenlampe scheinen zielgerichtet auf die Rückstände des schokoladigen Bärchenlollys zu leuchten. Sie blättert wie wild in einem Buch, mehrere Seiten kleben zusammen, die eine davon löst sie durch ihre Schokoladenspucke, während die anderen durch zusammengeknickte Eselsohren eng aneinandergehaftet bleiben.

„Annika, du findest doch diese ganzen Seiten blöd und deine Oma sagt sogar ein ganz schlimmes Wort dazu: Schietdreck, das heißt Scheißkram, das hast du mir mal erzählt! Oh, wie lustig, dass deine Oma Scheißkram sagt, wo wir solch ein schlimmes Wort nicht in den Mund nehmen dürfen! Weißt du was? Den Scheißkram zerreißen wir einfach. Deine Mama soll mit dir lieber wieder mehr spielen! So, so machen wir´s!“

Und dann packt sie ratzfatz mit ihrem Finger mitten ins Buch.

„Ritzeratze voller Tücke…,“ ertönt dabei aus Annikas Mund…, während sie mit einem Ruck ganz fest an einer Buchseite zieht, einer einzelnen, die dann einsam und verlassen auf ihren Händen liegt. Mutterseelenallein zu sein ist nicht schön. Deshalb gesellt sich alsbald zu ihr eine zweite und eine dritte und jedes Mal, wenn es wieder dieses Reißgeräusch gibt, eine weitere Seite. Immer wieder grinsen sich die Mädchen nach dem Motto an: Erneut einen Sieg davongetragen!

„Guck mal, jetzt müssen wir ganz viel Kraft aufbringen, ziehen und ziehen, jeder von einer Seite, so dass der Deckel auch kaputtgeht,“ schlägt Karen vor.

„Mein Gott! Jetzt haben wir den Himmel kaputt gemacht!“ „Spinnst du, Annika, rede nicht solch einen Stuss!“

„Ja, schau mal hier…hier steht das ´Him`…und könnte Himbeere heißen. Das folgende … ´mel` wissen sie als kluge Kinder aber auch schon zu entziffern.

„Karen, Himmel heißt das Wort und der liebe Gott wird jetzt traurig darüber sein, dass wir seinen Himmel entzweigebrochen haben?“

„Weißt du Annika, das ist ja der Himmel von deiner Mama: Dort wohnt nicht der liebe Gott, von dem Frau Haberkorn uns immer erzählt. Deine Mama glaubt an so einen komischen Gott, der anders ist als unserer!“

Oh, da hat sie einen empfindlichen Nerv bei ihrer Freundin getroffen, denn plötzlich wird diese ganz still und guckt irgendwie traurig, ehe sie Karen zu verstehen gibt:

„Jetzt lass uns noch dieses Buch hier zerreißen! Ich habe Mama gefragt, was da draufsteht, weil ich den einen Buchstaben, der so zackig aussieht, nicht lesen konnte: Da hat sie mir das schwere Wort vorgelesen: Luzi…fer! Weil ich nicht wusste, wer das ist, so hat sie mir ´s erklärt: Das ist der böse Engel, der in die Hölle gestürzt ist!“

Und als beide nach Herzenslust und mit vollem Elan am Luzifer herumzerren, weil er ja böse ist, da hält Annika mit einem Male inne:

„Karen, jetzt habe ich einen Mordsschiss, wenn Mama gleich nach Hause kommt! Sie wird in Ohnmacht fallen, wenn sie hier das Durcheinander sieht. Komm, lass uns schnell aufräumen!“

Aufräumen bedeutet aber, dass sie alle blöden Mama-Bücher, mit denen sie die Decke über den Tisch oben und unten befestigt haben, wegtragen müssen und somit ihre super Geheimnishöhle völlig im Eimer ist, wie es Papa nennt, wenn etwas kaputt gegangen ist. Und flugs wie ein Wiesel ergreift Annika gleich drei Bücher auf einen Schlag, alles solche komischen Mama-Himmelbücher.

„Guck mal Karen, da steht doch HÖL-LE drauf! Pfui Teufel, da liest Mama schon was über die Hölle. Das muss auch kaputtgehen!“ und mir nichts dir nichts, fängt sie an wie wild mit ihrem Fuß drauf herumzutrampeln. Das nächste Buch, das dran glauben muss, das heißt: ES-PRES-SO MIT DEM TEU-FEL!

„Mein Gott!“ vermeldet Annika und fährt fort: „Warum muss Lesen denn so anstrengend sein?“ Sie buchstabiert mühevoll den Teufelskaffee.

Karen lacht sich eins ins Fäustchen: „Tja, meine Liebe! Papa sagt immer: Ohne Fleiß kein Preis!“

„Weißt du was? Espresso, den trinkt mein Papa so gerne! Das ist so ein dickes Kaffeegesöff, wie Mama es nennt. Aber der ist nicht so schlimm wie der Teufel! Aber vielleicht sollten wir den Teufel im Espresso ersaufen lassen, was meinst du?“

Und dann zerfleddert sie das Teufelswerk mit so festen Fußtritten, dass es Sekunden später völlig eingequetscht seine Existenz verspielt hat.

„Zum Teufel! Mama! Du?“

Oh, mein Gott! Wie fahren die beiden Mädels zusammen, als ein ohrenbetäubender Lärm auf ihre Ohren trifft. Eigentlich sind es nur wenige wild ausgestoßene Worte, die sie beide aufeinander zu laufen und sie aneinander krallen lässt.

„Mein Gott! Mama! Du?“

Annikas verwunderte Augen und ihr aufgesperrter Mund sprechen Bände.

„Mama, du?“ Annika scheint es nicht begreifen zu können. Mamas Erscheinen hat sie noch nie so verflucht wie in diesem Moment.

„Ihr Teufelspack!“

Ob Mama wusste, dass wir den Teufel kaputtgemacht haben? Warum sonst kommen ihr Teufelsworte aus dem Mund gerutscht?

„…tschuldigung!“

Karen entsinnt sich geschwind, dass man sich für etwas Schlimmes entschuldigen muss. Aber diejenige, bei der sie stammelnd um Entschuldigung bittet, zeigt keinesfalls eine entspanntere Miene! Nein, im Gegenteil, fängt sie doch noch mehr zu toben an: Mit ihren Händen schlägt sie wüst um sich und wenn die beiden Bösewichte nicht engzusammengedrängt das Weite gesucht hätten, …. Großer Gott, was würden die beiden Sünderinnen jetzt Backpflaumen abbekommen haben!

In letzter Sekunde schlägt Mutter dann doch noch lieber gegen den Tisch, der feste Schläge gut abhaben kann.

„Karen! Jetzt …!“ Im selben Moment ergreift Eleonore ihr Handy, tippt wie wild darauf herum, um dann ihren Frust ärgerlich an Karens Papa auszulassen:

„Unverschämtheit! Ihre Tochter muss schnellsten aus meinem Gesichtsfeld verschwinden, andererseits garantiere ich für nichts!“

Und welch ein Glück, dass, während sie ihr missratenes Töchterchen blitzschnell mit den Worten: „Ich möchte dich heute nicht mehr vors Gesicht kriegen!“ abserviert…, auch schon die Türglocke klingelt und sie mit hochrotem Kopf, ohne viel Brimborium dem Mann seine rotznäsige Tochter entgegenschubsen kann. Wortlos nimmt er sie in Gewahrsam.

Und wie Eleonore da so mit ihren rotumränderten Augen, ihren tief eingegrabenen Wangenfurchen und ihren strengen Mundwinkeln sich vor den Spiegel positioniert, da entfährt ihr ein ungestümer Seufzer zusammen mit anklagenden Worten:

„Ein Häufchen Elend! Was ist plötzlich mit mir los? Ingrimm auf der ganzen Linie!“

Noch ehe ihre Hand ausholt und gegen ihr Ebenbild schlagen kann, war da in letzter Sekunde ein Kraftgedanke aktiv geworden, einer, der eine Wundertat vollbringt: Die liebende Hand beginnt über die rotscheckige Wange zu streicheln, während in diesem Moment der Smaragdglanz des Spiegels ein einzigartiges Glitzern offenbart. Liebe dich selbst, poltert eine Stimme in ihr herum, ehe sie sich selbst zu verstehen gibt:

„Oh, ja, der gute Charly, der Lebenszugewandte, fordert sein Recht!“ Diese Gedankenblitze kommen ihr plötzlich in den Sinn, als sie sich eine langsam hinabkollernde Träne mit dem Handrücken abwischt. Das Wort Charly, ob es mir eine Freudenträne entlockt hat, so sinniert sie, denn CHARLY CHAPLIN verbinde ich doch mit Frohsinn!

„Oh!“ durchfährt es sie, „…die beiden Teufel werden doch nicht etwa…? “ Noch ohne zu Ende zu sprechen, starrt sie auf den Stapel der eilends aufeinander gelegten Buchfragmente, aus dem einzelne Seiten neugierig, mit bräunlichen und rötlichen Eselsohren und Mäusezähnchen versehen, herausragen, sei es als zerknülltes Etwas, als zu einem Papierkügelchen geformten rollendem Gebilde oder einzelnen Schnipseln, die sich weit aus dem Stapel gewagt haben.