Ich mach mich dann mal auf den Weg - Herb Stumpf - E-Book

Ich mach mich dann mal auf den Weg E-Book

Herb Stumpf

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Beschreibung

"Ich mach mich dann mal auf den Weg", sagte Thomas Schmidt zu der versammelten Mannschaft, als er sich nach einer handfesten Krise, von den Kollegen verabschiedete. Er brauchte dringend Abstand zu seinem momentanen Leben und die geistige Freiheit, ob er danach wieder den alten Faden aufnehmen wollte oder ganz andere und neue Wege einschlagen würde. So nimmt uns der Autor mit auf eine Reise in ein buddhistisches Kloster. Ein zehntägiges Retreat mit strengem Tagesablauf. Die Meditationsübungen und Denkanstöße, die er dort erfährt, betrachtet er mit westlichen Augen, doch sie verändern seine Einstellung zum Leben nachhaltig und ermöglichen ihm schließlich einen Neuanfang.

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HERB STUMPF

Ich mach michdann malauf den Weg

Meine Auszeit bei den Buddhisten

Anmerkung des Autors: Das Kloster in Thailand, das Meditation Center und die erwähnten Lehrer gab oder gibt es tatsächlich. Da aber alles den Veränderungen der Zeit unterliegt, wurden, außer bei Ajahn Buddhadasa und Ajahn Chah, alle Namen geändert.

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

1. eBook-Ausgabe 2021

© 2021 Scorpio Verlag in Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München

Illustration auf S. 2: Romina Birzer, Würzburg

Lektorat: Desirée Schön

Layout und Satz: Danai Afrati

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95803-403-7

Alle Rechte vorbehalten.

www.scorpio-verlag.de

Inhalt

Teil 1: Ich mach mich dann mal auf den Weg – warum und wohin

Nachdenken über das Leben

Arbeit immer größer, Leben immer kleiner

Eine Chance, keine Niederlage

Vom Tropenstrand zur Einzelzelle

I hope you can stay the entire time

Teil 2: Buddha Talk

DER ERSTE TAG

Daily Schedule

Weniger ist mehr …

Gemischtes Publikum

Bhavana: Mental Development zum Erkennen des Wesentlichen

Anapanasati-Meditation: Achtsamkeit auf den Atem

Verschiedene Meditationshaltungen

Vipassana-Meditation: Den Geist beobachten und Bewusstsein schaffen

Geistestraining versus Körpertraining

Kein Gourmetrestaurant

Was ist Dhamma?

Die Erste Edle Wahrheit: Ist Dukkha nur Leiden?

Echtes Leiden oder nur nicht ganz perfekt?

Die Zweite Edle Wahrheit: Die Ursache von Dukkha

Anhaftung schafft Bindung

Nicht wie es sein soll – sondern wie es entstanden ist

Vom Begehren der Sinne, etwas zu erreichen oder etwas loszuwerden

Die Dritte Edle Wahrheit: Die Beendigung von Dukkha

Über die Unbeständigkeit, vom Anfang und vom Ende, vom Entstehen und Vergehen

Anatta: Ohne Selbst, aber auch nicht nichts

Von der Gehmeditation zum Chanting

Meditieren, gemeinsames Singen und Tea Time

Weitere Hinweise zur Meditation

Chanting: Sich darauf einlassen

Chanten von Pali-Texten: Fragwürdiger Sinn, nix verstehen

Die Vierte Edle Wahrheit: Der Edle Achtfache Pfad

Panna – Weisheit

Sila – Moral

Samadhi – Erleuchtung durch Konzentration

Erst mal alles sacken lassen

DER ZWEITE TAG

Morning Reading: Einsicht und Weisheit finden im Kopf statt

Alle großen Religionsstifter schrieben selbst kein einziges Wort

Befreiung durch sich selbst

Yogastunde mit Wiener Tonlage

Geist und Bewusstsein

Wahrnehmen und Erkennen, tief liegende innere Intelligenz

Das Wesen des Geistes

Geistesfaktoren

Geist und Mind

Gezielt gelenkter Geist, Eigenschaften und Fähigkeiten

Zeitweiser Rückzug für nachfolgende Präsenz

Schlabberklamotten und westliche Denkmodelle

Ethik und Moral, freier Geist

Heilsame, unheilsame und neutrale Geisteszustände

DER DRITTE TAG

Über Gott und bedingtes Entstehen

Buddhafiguren und Beten

Hallo – ist da ein Gott? Buddhismus und ein persönlicher Gott

Gott, aber kein Schöpfer und selbst der Pilot sein

Buddhist sein und gleichzeitig anderer Glaube – geht das?

Freier Geist und ein sehr persönliches Verständnis von Gott

DER VIERTE TAG

Durch Meditation den Geist entwickeln

Mental Development, Compassion with Loving kindness and Awareness

Keine Esoterik, sondern praxisnahe Psychologie

Praktische Tipps zur Meditationstechnik und eine Erkenntnis

Geist, Körper, Seele, Wiedergeburt

Reinkarnation oder Wiedergeburt?

DER FÜNFTE TAG

Hier und jetzt

What is the best moment in your life?

Vom Kreislauf des Lebens und dem Entstehen von irgendwas im Anderswo

Der Zyklus von Geburt, Tod und Wiedergeburt

Vieles wichtig, auf einmal nicht mehr wichtig

Leben im Hier und Jetzt – ohne Vergangenheit und Zukunft?

Meditieren in der Gruppe einfacher und von wegen »im Hier und Jetzt«

DER SECHSTE TAG

Aussehen leicht verändert, passende Kleidung, natürliches Ambiente

Was ist Karma – was ist Schicksal?

Alles, was folgt, kommt aus dem, was war

Fakten anerkennen, Veränderungen bewirken

Das Thema zieht weitere Fragen nach sich

Wo Menschen sind, da menschelt’s

Warum wir sind, wie wir sind

DER SIEBTE TAG

Vom Gedankenchaos zur unerwarteten Lösung in der Meditation

Leere, Nicht-Selbst und Ego

Von den Thesen zurück zur Praxis

Bitte lass mir mein Ego und auch meine Begierden

Adolf anders als Kevin, Prinz Windsor anders als Jones

Der Lamborghini und die Befreiung vom Egozentrismus

DER ACHTE TAG

Meditation im Stehen und im Liegen, Engel meditiert im Fliegen

Loslassen oder Letting go

Loslassen von Erwartungen

Loslassen von bestimmten Personen

Loslassen von Macht und Kontrolle

Loslassen von Erreichtem, Geld und Vermögen

Und schließlich: Loslassen vom Loslassen

DER NEUNTE TAG

Bettschwere in den Knochen am vorletzten Tag

Inhalt, Sinn und Ziel des Lebens

Inhalt

Sinn

Ziel

Quellen des Glücks und der Zufriedenheit

Wo es innen leer ist, bringt die schönste Verpackung nichts

Andere Werte und neue Wege – Lebensqualität statt Geldzuwachs

Lebe ich mein Leben – oder werde ich von ihm gelebt?

DER ZEHNTE TAG

Fragen und Antworten am letzten Tag

Triffst du Buddha unterwegs, töte ihn

Selbst der Steuermann bleiben

Immer Loving kindness, geht das?

Meditationsanleitung zum Mitschreiben

Reinkarnation bleibt uneinlösbares Versprechen

Die Auflösung

Vom intellektuellen Überfliegerkram runterkommen

Ein bekanntes Muster in der letzten Meditation

DER ELFTE TAG – SAWASDEE UND CHOCK DEE

Nachwort

Danksagung

Über den Autor

TEIL 1:Ich mach mich dann mal auf denWeg – warum und wohin

»Ich mach mich dann mal auf den Weg«, sagte ich zu der versammelten Mannschaft bei dem Abschiedsfest in meiner Firma kurz vor Weihnachten, zu dem ich eingeladen hatte. Es traf sich gut, denn es war zeitgleich mein Abschied für maximal ein halbes Jahr Auszeit, die ich mit meinem Arbeitgeber vereinbaren konnte, ohne meinen Job zu verlieren. Maximal ein halbes Sabbatjahr, vielleicht auch nur drei Monate, wollte ich mir gönnen, um einiges in meinem Leben zu klären und – falls ich doch früher sterben sollte als erhofft – nicht irgendwann sagen zu müssen: »Hättest du doch …« In den letzten Jahren war eine ganze Menge passiert, um mich nachdenklich zu machen und den Faktor Zeit als Begrenzung und nicht als Ewigkeit zu begreifen. Seit Längerem wurde ich den Eindruck nicht mehr los, ich befände mich in dem berühmten Hamsterrad und, egal wie lange ich auch träte, ich käme weder vom Fleck noch machte das Ganze einen Sinn – ganz ähnlich einem Schiffbrüchigen, bei dem es egal ist, in welche Richtung er schwimmt. Es fehlte der Kompass und das Ziel blieb im Unbekannten. Vielleicht war da ein Problem tief in mir, das weder mit gängiger Analyse der Psyche noch durch Gespräche oder Beratung zu entdecken war, das sich aber unerkannt durch mein ganzes bisheriges Leben zog und zuverlässig wie ein Gummiball immer wieder hochpoppte.

Inzwischen saß ich allerdings in einer Maschine der Thai Airways auf dem Flug nach Bangkok und hing meinen Gedanken nach, wie es dazu gekommen war, dass ich diesen Flug nach Asien gebucht hatte – und nicht in irgendeine andere Gegend dieser Welt. Der Grund dafür war nachvollziehbar: Um Stress abzubauen, hatte man mir schon vor Jahren Yoga und Meditationsübungen empfohlen. Da die Wirkung nicht ganz ausgeblieben war, war ich neugierig geworden und hatte mich weiter mit östlichen Sichtweisen, namentlich der Philosophie der Buddhisten, beschäftigt. Inzwischen hatte ich ungefähr einen Meter entsprechende Literatur in meinem Bücherschrank, einiges davon empfand ich als neue und durchwegs interessante Weisheiten, anderes als ziemlich seichtes Geschwätz voll hehrer Sprüche, vieles schwer lesbar, weil obendrein staubtrocken geschrieben. Das Positive überwog jedoch und war genug, um mich neugierig zu machen. Zusätzlich waren da verschiedene Geschäftsreisen nach Indien, Sri Lanka, China und auch nach Bangkok, sowie ein paar Urlaube in Thailand, zusammen mit meiner damals noch intakten Familie, gewesen, die mir das Land und seine Menschen nähergebracht hatten. Asien war mir also nicht ganz fremd. Von allen fernöstlichen Ländern hatte mich Japan mit seiner teils strengen buddhistischen Kultur am wenigsten, Thailand am meisten fasziniert. Dies lag an seiner einmaligen Kombination aus Klima, Vegetation, praktizierter Religiosität und den offenen, herzlichen Menschen. Außer vielfältigen Angeboten für erholsame Urlaubstage gab es dort die Möglichkeit, in einigen Klöstern und Meditationszentren tiefer in die dort gelebte Philosophie einzusteigen, als dies über Bücher oder Lehrer in Deutschland, Europa oder auch in den USA möglich gewesen wäre. »Willst du wirklich etwas lernen, geh zum Schmied und nicht zum Schmiedchen, versuche, möglichst nahe zum Original und nicht zur Kopie zu gehen«, ist eine meiner Überzeugungen – und so hatte ich mich nach einigem Suchen für das Kloster Wat Vasanti Dhamma1 im Süden des Landes entschieden, zu dem eine, wie es hieß, International Dhamma Hermitage, ein Meditationszentrum, gehörte. Beginnend mit jedem ersten Tag eines Monats fänden dort zehntägige Retreats statt, hatte ich herausgefunden, was übersetzt so viel wie Rückzug, Einhalt, Nachdenken, Belehrungen und Meditation bedeutet. Dabei, so muss ich anmerken, bin ich alles andere als ein esoterischer oder auch religiöser Mensch. Eher im Gegenteil, ein Skeptiker, einer, der hinterfragt, was man ihm vorsetzt; auf keinen Fall jemand, der einen Guru oder Erleuchteten sucht, der weise Sprüche klopft und ihm sagt, wo’s langgeht. Ich hatte andere Gründe, die etwas mit dem Bedürfnis nach Abstand, mit Innehalten, mit der Suche nach neuen Impulsen zu tun hatten.

Inzwischen hatte ich noch genau vier Tage Zeit, um rechtzeitig zum Beginn des nächsten Retreats dorthin zu gelangen. Ich brauchte dringend Abstand zu meinem momentanen Leben und die geistige Freiheit, um mir zu überlegen, ob ich danach wieder den alten Faden aufnehmen wollte oder ganz andere und neue Wege einschlagen würde. Ein gesundes Maß an Selbstvertrauen und die Offenheit meiner Firma erlaubten mir, diesen Weg – mit ungewissem Ende – zu gehen. Ich war bereit und freute mich auf das, was vor mir liegen würde.

Nachdenken über das Leben

Der erste wirkliche Anlass, über mein Leben etwas intensiver nachzudenken, lag etwa zehn Jahre zurück. Damals sollte mein Vater in Rente gehen. Er war knapp dreiundsechzig, als seine Firma, ein deutscher Automobilhersteller, ihm das verlockende Angebot machte, vorzeitig sein Berufsleben beenden zu können. Das Gehalt sollte bis zum Erreichen des regulären Rentenalters mit fünfundachtzig Prozent weiterlaufen und obendrein gab es eine Abfindung von einem ganzen Jahresgehalt. Zu gut, um Nein zu sagen. Er und meine Mutter hatten noch eine Menge Pläne, sie wollten zunächst die Welt bereisen und dann in Ruhe auf sich zukommen lassen, was das Leben bringen würde. Das Haus war abbezahlt und wir Kinder – mein Bruder und ich – hatten beide Berufe die, wie man so dahinsagt, ihren Mann ernähren. Ich selbst war, nach einigem Hin und Her, Betriebswirt geworden. Frank, mein Bruder, hatte Jura studiert und eine eigene, recht gut gehende Kanzlei. Die Alten mussten sich um uns wenig Sorgen machen, wir lebten unser eigenes Leben. So wurde vom Vater ein mittelgroßes Wohnmobil angeschafft, vor die Garage ein Carport gesetzt, die Reisepläne verfeinert, es konnte losgehen. Im Prinzip. Denn dann setzten bei der Mutter urplötzlich Schmerzen im oberen Bauch ein, ihre Hautfarbe wurde fahl und gelblich, die Diagnose war gnadenlos: Krebs der Bauchspeicheldrüse. Ein sicheres Todesurteil, dessen Inkrafttreten nur eine Frage von ein bis maximal drei Jahren war. Es dauerte dann genau vierzehn Monate. Ihre letzten Worte waren: »Das Leben ist verdammt kurz«, und dann ein nur noch gehauchtes »Schluss. Ende«, bevor sie endgültig in den tiefen Schlaf mit der großen Dunkelheit versank. Das Wohnmobil stand zwei Jahre später immer noch fahrbereit an seinem Platz und wartete auf das große Abenteuer. Unser Vater, mittlerweile vom viel beschäftigten Abteilungsleiter mit interessanten Aufgaben zum alleinstehenden Rentner ohne Ziel und Inhalt mutiert, war durch diesen unersetzlichen Verlust vorzeitig gealtert, als ihn ein plötzlicher Schlaganfall heimsuchte. Er hatte im Garten gearbeitet, ein Nachbar fand ihn tot im Blumenbeet. So hatte ich die Endlichkeit des Lebens und auch die Plötzlichkeit, mit der sie uns treffen kann, hautnah erfahren müssen. Diese Ereignisse blieben eine nachhaltige Lektion.

Das alles lag ziemlich genau zehn Jahre zurück. Ich selbst hatte inzwischen geglaubt, die richtige Frau für ein ganzes Leben gefunden zu haben und geheiratet, durfte einer wunderbaren Tochter das Leben schenken. Beruflich war ich für den Zentralvertrieb einer sogenannten Weltfirma im Bereich von Zellstoffwaren verantwortlich. Wir stellten in einer Reihe von Ländern auf verschiedenen Kontinenten im Wesentlichen Windeln, Papiertaschentücher, Toilettenpapier, Küchenkrepp und Servietten her. Mit leichtem Schaudern stellte ich jeden Tag erneut fest, welch unglaubliche Mengen von dem Zeugs automatisch von den Bändern rollten, verpackt, beschriftet und dann an die Kunden verschickt wurden. Zu meinem Job gehörte es, genau zu beobachten, wie sich die Geburtenraten in den verschiedensten Ländern veränderten, denn dies bedeutete entsprechend mehr oder weniger Bedarf an Windeln. Gut für die Firma war auch, dass es weltweit mehr und mehr Alte gab, die, ähnlich wie Babys, »undicht« waren und »gepampert« werden mussten. »Gepampert«, ein Begriff, der sich eingebürgert hatte, ähnlich wie googeln, der aber zu unserem Missfallen nicht zu uns, sondern zu unserem härtesten Konkurrenten gehörte. Wir waren die Firma Zello, und kein Mensch wurde mehr in Tücher gewickelt, sondern gepampert, doch leider nicht »gezellot«. Mit Taschentüchern verhielt es sich analog, auch hier hatte sich der Name eines Wettbewerbers verfestigt, man schnäuzte in ein »Tempo« und nicht in ein Papiertaschentuch, dem ich persönlich den Namen »Schneuzi« gegeben hätte, was aber keineswegs international genug klang. Egal – wir hatten unsere eigene Nische mit der Marke Zello sowie im sogenannten No-Name-Bereich, in dem wir verschiedenste Kunden in der ganzen Welt belieferten. Damit konnten wir recht gut leben. Die Übergangszeiten und der Winter, besonders während Grippewellen, waren für die letztgenannte Produktgruppe ziemlich positiv, denn dann wurde eifrig geschnieft und geschnäuzt – und damit das Geschäft ganz von selbst angekurbelt. Auch die Heuschnupfensaison ließ den Umsatz steigen – bzw. durch die Verschiebung der Jahreszeiten auf der Nord- und Südhalbkugel garantierten sie einen regelmäßigen Absatz. Toilettenpapier, Küchenrollen und Servietten liefen konstant, aber sie unterlagen einem enormen Preisdruck, denn der Wettbewerb war auf allen Kontinenten riesig, die Fertigungsstätten über die ganze Welt verteilt. Insgesamt ein ziemlich regelmäßiges, aber auch nerviges Geschäft! Häufig wachte ich nachts aus Träumen auf, in denen Taschentücher oder Klopapier die Bänder verstopften, weil nicht genügend davon zu den Händlern abfloss. Und ich war der Idiot, der mit seinen Umsatzprognosen dafür verantwortlich war. Dazu war ich weltweit unterwegs, verhandelte mit Lebensmittelmärkten, Drogerieketten und Großhändlern, denn die Bänder liefen automatisch und ständig wurden neue angeschafft, damit wir den Wachstums- und Gewinnerwartungen unserer Aktionäre sowie besonders schlauer Analysten gerecht wurden.

Arbeit immer größer, Leben immer kleiner

So musste ich miterleben, wie die Arbeit immer mehr und größer geworden war und das private Leben immer weniger und kleiner. Worunter auch die Ehe litt. Vor inzwischen einem Jahr hatte mich meine Frau verlassen und die gemeinsame Tochter mitgenommen. Denn der Mann hatte für sein Zuhause eh keine Zeit, war nur noch unterwegs und mehr mit seiner Firma verheiratet als mit seiner Familie. So jedenfalls der nicht ganz falsche Vorwurf meiner Partnerin. Außerdem meinte Katrin, meine Ehefrau, auch sie möchte sich wieder mehr ihrem eigenen Beruf als Kinderpsychologin und nicht nur dem Leben ihres Mannes widmen. Aus einem gemütlichen Haus, das verkauft wurde, entstanden stattdessen zwei Wohnungen, beide nicht sonderlich warm, und besonders die meine ziemlich leer und auch nicht sehr heimatlich. Inzwischen hatte ich, mit dreiundvierzig, das schöne Alter der ungefähren Lebensmitte erreicht.

Möglicherweise hätte es noch ewig so weitergehen können. Vielleicht bis zu meinem Eintritt in die Rente – vielleicht auch nicht. Tatsächlich dauerte es nicht sehr lange, bis der Arzt mir einen viel zu hohen Blutdruck und stressbedingte Schlafstörungen attestierte und mir riet, eine Auszeit oder zumindest einen längeren Urlaub zu nehmen. Doch ich, Thomas Wichtig beziehungsweise Thomas Unersetzlich – mit eigentlichem Namen Thomas Schmidt – machte weiter. Waren da doch über vierzig Mitarbeiter, die mich brauchten, so meinte ich wenigstens, und ganz wichtige Projekte, von denen ich glaubte, dass nur ich sie anschieben könnte. Bis zu dem Tag, an dem ein relativ überschaubarer Vorfall das Fass zum Überlaufen brachte. Ein großer Kunde war abgesprungen, ich wurde zum Vorstand geladen. Ich erklärte, ich rechtfertigte – und plötzlich riss ein Faden. Ich fing hemmungslos an zu weinen, alles brach auf einmal aus mir heraus. Schließlich kam der Werksarzt und verpasste mir eine Beruhigungsspritze. Ein Burn-out wurde diagnostiziert und mir der Rat erteilt, für mindestens vier Wochen eine Klinik im Odenwald, Spezialgebiet »entsprechende Fälle«, aufzusuchen. Mein Hausarzt, ein erfahrener Mann von Mitte fünfzig, ergänzte die Diagnose: »Wenn Sie so weitermachen, gehen Sie den Weg Ihres Vaters und Ihrer Mutter, die ja auch nicht so alt geworden sind«, und empfahl mir einen stationären Aufenthalt in einer Klinik mit dem schönen Namen »Haus Mittlerer Weg« und dem Zusatztitel »psychosomatische Erkrankungen, Stress- und Angstsymptome, Burn-out«. Meine erste Reaktion war: »Wollen die mich jetzt gleich in die Klapse schicken, nur weil ich einen leichten Aussetzer hatte?« – und spontan sträubte sich in mir so ziemlich jede Faser meines Körpers und auch die meines Geistes. Ich erbat mir ein paar Tage des Nachdenkens und wollte zunächst noch etwas an Informationen über psychosomatische Kliniken insgesamt und über das Haus Mittlerer Weg im Besonderen sammeln, bevor ich zu- oder absagte.

Ich sagte ab. Es lag nicht an dieser oder einer anderen Klinik, sondern schlicht und einfach daran, dass ich glaubte, mit vier oder sechs Wochen sei es nicht getan. Durch den Beruf meiner Frau als Kinderpsychologin war es nicht ganz ausgeblieben, dass ich mich schon vorher, allerdings im überschaubaren Rahmen, mit westlicher Psychologie und Therapien auseinandergesetzt hatte. Ich glaubte, einen anderen Ansatz finden zu müssen, wollte richtig Pause machen, neue Wege erkunden, mit einem längeren Ende und eventuell einem neuen Anfang. Zu viele Fragen waren in den letzten Jahren aufgetaucht, für die ich Antworten in mir selbst suchte, und ich bezweifelte, dass ich diese im hiesigen Umfeld finden könnte und inwiefern eine westlich geprägte Therapie dazu überhaupt in der Lage wäre. Bei westlichen Philosophen, seien es Schopenhauer oder Nietzsche, war mir aufgefallen, dass sie zwar ganz brauchbare Weisheiten verbreiteten, ihr eigenes Leben aber selbst nicht im Griff hatten. Zeitgenössische Universitätsprofessoren aus dieser Branche schienen mir ebenso nie als leuchtende Beispiele. »Theorie gut, Umsetzung schlecht«, musste ich zu meiner Enttäuschung feststellen. Psychotherapeuten, die ich in nicht unerheblicher Zahl aus dem Umfeld meiner Frau kannte, hatten mich weder mit ihrer tatsächlich praktizierten Lebensweise noch durch eine Ausstrahlung von Zufriedenheit sonderlich überzeugt. Östliche Lehrer – mir fällt der Begriff »Weise« etwas schwer – sei es der Dalai Lama, eine Ayya Khema oder auch andere, schätzte ich dagegen so ein, dass sie lebten, was sie predigten. Meistens jedenfalls. Auch ein Tiziano Terzani, dieser große Sucher, hatte mich mit seinen Büchern neugierig gemacht. Vielleicht unterlag ich einer Illusion, da auch diese Personen nur Menschen sind oder waren, aber ich war bereit, mich auf etwas Neues einzulassen. Verschiedene Schriften von buddhistischen Lehrern hatten mich schon seit geraumer Zeit beschäftigt. Die wiederholte Aussage, dass es sich beim Buddhismus um die klassische Lehre über die Funktionen des Geistes und des Bewusstseins handelt, dass er sich stärker als andere Religionen – oder auch Philosophien – mit den Ursachen und Abläufen der Denkprozesse beschäftigt, führte zu meiner Entscheidung, dass ich an die Quelle des Ursprungs dieser Sichtweisen gehen wollte: nach Asien. Und dies für eine längere Zeitspanne als das, was man unter normalen Urlaub versteht. Irgendetwas, so mein tiefes Gefühl, stimmte mit meinem bisherigen Leben nicht mehr. Es war Zeit, irgendwo in der gefühlten Mitte des Lebens innezuhalten, Abstand zu nehmen und Bilanz zu ziehen, in der Hoffnung, einen positiven Neustart für die zweite Hälfte entwickeln zu können.

Eine Chance, keine Niederlage

Dazu wollte ich mir nun also eine längere Auszeit nehmen, maximal ein halbes Sabbatjahr, mindestens jedoch drei Monate. Nach einigem Verhandeln hatte meine Firma mir dazu die Tür geöffnet – und ich war bereit hindurchzugehen. Nachdem man mir versichert hatte, dass man mich behalten wolle, weil man mit meiner Arbeit stets zufrieden war, und dass daher mein Job – wenn vielleicht auch nicht derselbe – nicht gefährdet sei, hatte ich zugegriffen. Ich sah diese kommende Phase der Regeneration und der Reflexion als Chance und nicht als Niederlage.

Bei einigen Kollegen oder anderen Personen im beruflichen Umfeld spürte ich durchaus eine ehrliche Neugier bezüglich des Ausgangs meines Experiments und – wie man mir verschiedentlich sagte – sogar Bewunderung für meinen Mut, diesen Schritt zu gehen. So hatte ich mich zunächst gedanklich, dann tatsächlich auf den Weg gemacht. Wo dieser genau hinführen würde, an welches Ziel, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich hatte beschlossen, offen zu sein. Nach einiger Recherche über das Wohin fand ich im Internet das Meditationszentrum beim Wat Vasanti Dhamma in Thailand, das zehntägige Retreats in englischer Sprache anbot, beginnend zum jeweiligen ersten eines Monats. Und so saß ich zum Jahresende schließlich im Flieger nach Bangkok und nicht in einer Klinik im Odenwald.

Vom Tropenstrand zur Einzelzelle

Pünktlich landete der Airbus am Ziel mit dem exotisch klingenden Namen Bangkok Suvarnabhumi Airport. Es war dort sechs Uhr morgens und damit sechs Stunden vor unserer mitteleuropäischen Zeit, also eigentlich zur Mitternacht in Deutschland. Also wahlweise Zeit, um ins Bett zu gehen oder zum Frühstück. Die Entscheidung entfiel, denn ich hatte mich schon vorher für den Weiterflug nach Ranong, einer Stadt weiter im Süden entschieden, von wo aus ich ein Taxi ins eineinhalb Stunden entfernte Kloster nehmen sollte. Nachdem die zehntägigen Meditationskurse dort immer zum ersten Tag des jeweiligen Monats begannen und die Teilnehmer sich erst am Vorabend dort einzufinden hatten, blieben mir noch ein paar Tage freie Zeit.

Als ich das Flughafengebäude in Ranong verlasse, betrete ich schlagartig eine andere Welt. In Frankfurt, dem Ausgangspunkt meiner Reise, hatte noch europäischer Winter samt Weihnachtstrubel geherrscht, dazwischen lagen klimatisierte Gebäude und künstlich beatmete Flugzeuge; hier aber, nur einen Tag Flugreise weiter, umfasst mich wie ein wohliger Bademantel die ganze Üppigkeit der Tropen mit ihrer schweren, feuchten Luft und der Wärme eines Treibhauses. Überall um mich herum wiegen sich Palmen in einem sanften Wind, Bougainvillea wächst in allen Farben von Weiß über verschiedene Schattierungen von Rot bis zu Lila- und Violetttönen. Ich sehe braune Menschen mit entspannten Gesichtern, die weder die Hektik noch die Unzufriedenheit von uns Europäern ausstrahlen, sondern eine ruhige Gelassenheit mit einem offensichtlich anderen System, einer andersartigen Ordnung als der unseren. Dazu diese Mischung verschiedenster Gerüche, von aphrodisierenden Parfüms gepaart mit den omnipräsenten Düften von Verwesung und Fäulnis, von diesem Leben und Sterben, die meine Nasenflügel sich unkontrolliert weiten und begierig diesen neuen Odem einziehen lassen. Schlagartig fühle ich mich hier wohl, spüre dabei in mir eine neue Kraft und Energie, bin irgendwo im Neuen angekommen – weg aus meiner alten, starr getakteten Welt, dafür eingetreten in eine neue Umgebung, in der die Uhren offensichtlich anders ticken als in unseren heimischen Breitengraden.

So suche ich mir nicht weit vom Ort eine ruhige, kleine Bungalow-Anlage am Strand des Indischen Ozeans, genauer gesagt der Andamanensee, mit Blick auf die Inseln Koh Chang und Koh Phayam. Sie trägt den einladenden Namen »Peace Bungalows«, die ich mithilfe meines Handys auf einem Hotelportal finde. Ganz ohne technische Ausstattung war ich dann doch nicht losgefahren, ich hatte mir allerdings vorgenommen, das Handy nur für wirkliche Notfälle einzusetzen, ansonsten aber ausgeschaltet zu lassen – was ich rückblickend ohne große Entzugserscheinungen auch tatsächlich gut gepackt habe. Die Begrüßung am Empfang ist sehr warmherzig. Eine etwas füllige, doch nicht unansehnliche Lady namens Sanya fragt mich, warum ich nicht über Silvester hinaus bliebe, es sei doch so schön hier, und am einunddreißigsten sei am Strand jede Menge los und überall würden Partys gefeiert. Als ich ihr jedoch sage, was mein eigentliches Vorhaben ist, reagiert sie sofort mit Sympathie und erzählt, dass ich nicht der Erste und Einzige mit diesem Ziel sei, und rät mir, die Tage davor noch bewusst zu genießen. »Es wird sehr anders sein als hier bei uns«, meint sie, »ich war auch schon dort. In Thailand ist es ein sehr bekannter Ort, an den man zum Lernen und Meditieren geht. Ich habe schon einige Leute erlebt, die danach ganz anders wiederkamen.«

»Danach kann ich ja wiederkommen und dir erzählen, wie es für mich war«, sage ich.

»Wenn du jetzt erst mal etwas essen willst, kann ich dir unsere Tom-Yam-Suppe sehr empfehlen. Die macht unsere Köchin wirklich sehr lecker. Du musst mir nur sagen, ob du sie scharf, sehr scharf oder europäisch mild willst. Du kannst aber auch alles andere von der Karte haben. Ich bin sicher, es wird dir bei uns schmecken.«

Ich entscheide mich, ihrem Rat zu folgen, und bestelle eine Tom Yam Pla in der Variante mit Fisch, von dem ich annehme, dass er aus dem Meer vor meiner Nase kommt und frisch ist. Zur Suppe gehört eine mittelgroße Schale Reis, und ich gönne mir außerdem eine kleine Flasche Singha Beer. Was sie mir eine Viertelstunde später mit einem kurzem »Enjoy« auf den Tisch stellt, ist wahrhaftig eine Geschmackssymphonie verschiedener Gewürze, Kräuter und Aromen, mit kleinen Fischstücken, Garnelen, Tomaten und anderem Gemüse. Ich bin begeistert. Nachdem ich selbst gerne koche, frage ich nach dem Essen, ob sie mir das Rezept verraten würde. »Yes, of course«, höre ich zu meiner Überraschung und mehr noch: »Wenn du willst, kannst du in die Küche kommen und mithelfen sie zu kochen, dann bist du sicher, dass es zu Hause genauso schmeckt.« Ein Angebot, dem ich schwerlich widerstehen kann.

Nach diesem netten Gespräch und mit angenehm gefülltem Magen schlafe ich erst einmal richtig aus, genieße den Zauber der tropischen Atmosphäre, die Wärme, die sanften Wellen des Meeres und den hiesigen ruhigen Gang des Lebens.

Eintrag in meinem Tagebuch

Es geht mir schlagartig besser. Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr lassen sich hier durchwegs angenehmer als zu Hause verbringen. Den Winter in Europa sehe ich als erledigt an. Nur die Moskitos können nerven!

I hope you can stay the entire time

Drei Tage später, genau am Silvestertag, bringt mich ein Taxi zum Wat Vasanti Dhamma, das ich mir als ersten Ort zur Inspirationsfindung ausgesucht habe. Ich unternehme mehrere Vorstöße, um mit dem Fahrer in ein Gespräch zu kommen, muss aber rasch einsehen – nachdem seine Englischkenntnisse sich im Höchstrahmen von zehn Wörtern bewegen und mein Thai-Wortschatz noch deutlich darunter –, dass es besser ist, ich halte die Klappe und betrachte nur die Landschaft, die an mir vorbeifliegt. Nach gut drei Stunden, es ist inzwischen später Nachmittag, erreichen wir endlich das Wat, etwas abseits der Straße und im Wald gelegen.

Am Tor empfängt mich ein Mönch, glatzköpfig wie alle buddhistischen Ordensmänner, bekleidet mit einer um die Schulter geschlungenen Safran-Kutte, die Füße in Badelatschen, und liefert mich beim Abt, Ajahn Nopadon ab, einem ehrwürdigen älteren Herrn von geschätzt Anfang sechzig. Er begrüßt mich mit einem thailändisch gefärbten, aber gut verständlichen Englisch, in dem es wie in Thai üblich, nur die Gegenwart und weder Zukunfts- noch Vergangenheitsformen gibt. »Welcome! You come here for the ten day dhamma course – and you are sure, you don’t want to celebrate the new year like the other tourists do at the beach?«

»No«, sage ich, »das kann ich immer und überall feiern, ich will erst einmal Abstand haben und mich etwas tiefer in die Meditation einlassen und das, was ihr über die buddhistische Lehre zu erzählen habt. Dafür bin ich hier und habe Zeit. Silvester feiern kann ich wieder nächstes Jahr.«

»Thank you«, sagt er zu meiner Überraschung und: »Very good. Ein Mönch wird dir zeigen, wo du heute Nacht schlafen kannst und morgen, noch vor Sonnenaufgang, wirst du zusammen mit den anderen Teilnehmern in das International Dhamma Center, nicht weit von hier, gefahren. Zuerst habe ich aber noch einige Fragen an dich: die wichtigste zuerst. Was ist der Grund, warum du hierher, zu uns in dieses Kloster und Meditationszentrum kommst?«

»Ich brauche Distanz zu einigen Dingen, die in meinem Leben passiert sind, ich will Abstand gewinnen, in Ruhe über alles nachdenken, neue Impulse bekommen, um dann vielleicht« – das ›vielleicht‹ ziehe ich fragend in die Länge und schaue ihm dabei tief in die Augen – »mit neuen Erkenntnissen da weiterzumachen, wo ich aufgehört habe oder möglicherweise auch etwas ganz Neues anzupacken.«

Er hält meinen Blick lange, so als ob er tief in meinem Inneren forschen würde, und setzt dann langsam an: »Viele Menschen kommen zu uns mit genau diesem Fragenkomplex – aus allen Ländern dieser Welt. Manche finden Antworten, manche nicht, einige brechen ihren Aufenthalt sogar frustriert ab, noch verzweifelter als vorher oder auch wütend. Für manche ist es sogar gefährlich, wenn sie in ihrem Inneren forschen und auf einmal mit Fragen konfrontiert werden, für die sie doch nicht die richtigen Antworten finden oder nur solche, für deren Umsetzung sie entweder zu bequem, zu ängstlich oder aus anderen Gründen dazu nicht in der Lage sind oder sein wollen. Es gibt Menschen, für die kann der Aufenthalt hier in eine Katastrophe münden, manche landen sogar in der Psychiatrie. Um es ganz deutlich zu sagen – dieses Retreat ist kein Psycho-Workshop, sondern ein Meditationsseminar mit Belehrungen über buddhistische Sichtweisen. Nicht mehr und nicht weniger. Bitte überleg dir genau, ob du dazu bereit und psychisch in der Lage bist.«

Ich bin kurz nachdenklich, hatte ich doch erst vor Kurzem dieses Burn-out erlebt. Die Wahl war eine psychosomatische Klinik oder eben dies hier, diese ganz andere Umgebung, die Begegnung mit neuen Menschen, mit Inputs, die ich zu Hause wahrscheinlich nicht bekommen könnte. Ein Zurück, jetzt, wo ich schon da war, die lange Reise auf mich genommen, Hoffnungen und auch Neugier mitgebracht hatte, kam für mich nicht infrage. Nein, ich glaube, ich kann mehr gewinnen als verlieren, fällt mir ein und so sage ich schließlich: »Ich finde es gut, dass du mich darauf hinweist, aber diese zehn Tage werde ich schon packen. Und wenn’s doch zu eng wird«, ergänze ich, »dann kann ich mich ja tatsächlich verabschieden und früher gehen.«

»Es wäre gut, du machst die ganzen zehn Tage mit. Aber jetzt wünsche ich dir erst mal eine gute Zeit – I hope you can stay the entire time –, und wenn es tatsächlich irgendwann in deinem Geist rumort und du nicht weiterkommst, dann melde dich am Empfang. Dann kannst du das Schweigen unterbrechen und mit einem unserer erfahrenen Mönche oder auch mit mir das direkte Gespräch suchen.« Dabei faltet er die Hände zum Gruß, wie bei einem christlichen Gebet, und neigt den Kopf in meine Richtung. Ich mache es ihm nach, das Gespräch ist beendet. Wenig später wird mir gezeigt, wo ich die kommende Nacht verbringen kann.

Als ich die Massenunterkunft, eine große Hütte mit einem Dach aus Wellblech, sehe, muss ich vernehmlich schlucken. Da ist Platz für rund fünfzig Leute, und mein Bett für diese Nacht wird eine Hängematte sein. Die Bude ist bereits gut voll. Nur mit Männern. Die Frauen sind nebenan in einer vergleichbaren Hütte untergebracht. Ich bin erleichtert, dass diese Nacht nur sehr kurz sein wird. Vielleicht, so überlege ich, wäre es doch besser gewesen, ich hätte diese letzte Nacht noch in einem Hotel in der Nähe verbracht. Doch jetzt ist es, wie es ist. Vielleicht kommt ja noch etwas unerwartet Positives – und tatsächlich lässt es gar nicht lange auf sich warten.

Ein Amerikaner, mit dem ich ins Gespräch komme, meint: »Wir haben Glück. Dieses Retreat wird von zwei amerikanischen und einem englischen Mönch geleitet. Der erste, Tan Santikorn2, war erst hier in Thailand im amerikanischen Peace Corps und dann noch zehn Jahre Schüler des berühmten Ajahn3 Buddhadasa Bhikkhu4