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Wie riecht eine kasachische Flamingo-Kolonie? Wie fühlt man sich nach dem Verzehr von mongolischem Yak-Käse? Wie schmeckt das bolivianische Salzmeer? Ein lange gehegter Kindheitstraum geht in Erfüllung: Einmal mit dem Motorrad um die Welt fahren. Tobias Grimm "macht sich in den Staub": allein, abenteuerlustig und nur mit einer groben Route vor Augen: "So lange Richtung Osten, bis ich im Westen wieder ´rauskomme". Über 50.000 Kilometer nimmt uns der Autor mit auf seine Weltreise durch 16 Länder und berichtet von spannenden, kuriosen, herzerwärmenden, aber auch gefährlichen Situationen und Begegnungen. Ohne Selbstüberhöhung oder Romantisierungen, stattdessen mit Wortwitz, detaillierten Beobachtungen und einer ordentlichen Prise Selbstironie. Ein Buch nicht nur für Motorradfreunde, sondern alle, die beim Reisen gerne über der Tellerrand schauen und neben der Welt auch ein Stück von sich selbst entdecken wollen.
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Seitenzahl: 361
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Für Jonah und Finn
Prolog
Deutschland
Abschied und Abfahrt
Der erste Tag
Tschechien, Slowakei, Ukraine
Tschüss Urlaub, Dóbrryi den´ Abenteuer!
„Wir hassen die Russen“
Marschieren am Maidan
Wegelagerer
Nach fest kommt lose…
Schlimmer als Kafka
Russland I
Moskau
„Heldenstadt Stalingrad“
Schlangen im Gras
BÄMM!
Kasachstan
Schnipseljagd
Crash Kid
Wegelagerer 2.0
Fahnenflucht
Zu Gast bei Fremden
Streckenposten
Russland II
Altai
Der alte Mann und der Fisch
Mongolei
Benzintrick
Wild Wild East
Käsekatastrophe am Chöwsgöl Nuuhr
Benzintrick 2.0
Angel im Gras
Ulaanbaatar
Russland III
Wild Russia
Die Tschita-Gang
Bruderschaft Ost
Japan
Unkonventionelle Einreise
Running Gag
Zimmer frei
Haltlose Zustände
Alles im grünen Bereich
Willkommen und Abschied
Die neue Welt
Zwischenschock in L.A
Chile und Argentinien I
Ausgebremst
Auf Abwegen
Bolivien I
Der Preis der Schönheit
Chile und Argentinien II
Dakar-Star
Schlangen im Gras 2.0
Buenas noches, Bueonos Aires
Fitness-Fiasko in Uruguay
Männer mit Messern
Abenteuer am Río Negro
Das Land von Eis und Feuer
Helden der Kindheit
Bis hierhin und nicht weiter
Stimmen in meinem Kopf
Windgebeutelt
Uruguay II
We eat them
Brasilien
Willkommen in Teutônia!
Zwischen den Welten
Startschwierigkeiten
Zeltuntergang
Bolivien II
In den Fängen des Saufkobolds
Death Road
Peru
Seeschweinchen
Vorsicht Steinschlag
Die Gefährten
Truckstop
Und täglich grüßt das Schraubertier
Deutschland
Dat es Heimat
Epilog
Danke
Das war´s: Die Welt geht unter. Der Himmel fällt mir auf den Kopf, die Erde tut sich auf und die Welt geht unter.
Keine Ahnung, was das soll. Vor einer Stunde herrschte doch noch Frieden und ich war glücklich, einen perfekten Platz für mein Nachtlager gefunden zu haben: Nahe der Grenze zwischen Brasilien und Bolivien, aber noch immer weit genug davon entfernt, um weder Militär noch Schmugglern in die Quere zu kommen. In der Nähe einer Straße, aber fernab jeglicher Siedlungen, geschützt vor neugierigen Blicken. Im Grünen, aber auf einem gerodeten Abschnitt mit genügend freier Fläche für Motorrad und Zelt. Vor einer Stunde durfte ich noch bestaunen, wie die Sonne am Horizont langsam im Dschungel versinkt, ohne die dunklen Wolken in meinem Rücken zu bemerken.
Jetzt aber sind sie da. Und wütend auf wasauchimmer lassen sie ab, was sie bis hierhergetragen, im Begriff, alles hinwegzuspülen, was nicht tief genug wurzelt. Ich gehöre leider dazu. Der Regen trommelt erbarmungslos auf das Zeltdach nieder und weil es oben nicht hindurch kommt, sucht sich das Wasser einen anderen Weg. Von links, von rechts, von vorne und hinten laufen Rinnsale in mein Zelt hinein, die ich einzeln noch auffangen oder umleiten, in ihrer unaufhaltsam wachsenden Anzahl aber kaum mehr in Schach halten kann. Trotzdem stelle ich mich dem Kampf und beginne Gräben zu graben. Zunächst noch mit bloßen Händen aus dem Schutz des Zeltes heraus, bald aber zwingt mich der stetig an Stärke gewinnende Regen hinaus in die Sturzfluten. Lediglich mit Shorts und Motorradstiefeln bekleidet suche ich in geduckter Haltung nach einem geeigneten Grabwerkzeug, in beständiger Angst vor den viel zu nahen Blitzen.
Der Schein meiner Stirnlampe zittert nervös über den alles verschlingenden Schlamm, die braunen Flüsse um mich herum und meine aufgeweichten Habseligkeiten mittendrin, während ich mit einem abgebrochenen Ast und wachsender Verzweiflung Furchen um mein Zelt ziehe.
Nach einer gefühlten Ewigkeit zeigen die Baumaßnahmen Wirkung, die schmutzigen Bäche fließen jetzt größtenteils um mein Lager herum statt mitten hinein. Als ich wieder ins Zelt krieche, sieht der Innenraum genauso schlimm aus, wie ich selbst: Schlafsack, Matte, Haut und Haar, alles ist voller Wasser und lehmiger Erde. Ich bin am Ende meiner Kräfte, muss aber wenigstens nicht mehr hinaus in die Regenhölle. Kaum will ich zu einem erleichternden Seufzer ansetzen, lässt mich ein krachendes Geräusch zusammenzucken und zur Schlammsäule erstarren. Irgendetwas ist unmittelbar neben mir in den Boden eingeschlagen. Unmöglich! Die nächsten Bäume stehen dutzende Meter weit weg, es gibt hier nichts, was fallen könnte. Höchstens... Mein Krad!
Ohne Zeit, nachzudenken, geschweige denn die Stiefel anzuziehen, hechte ich aus dem Zelt und blicke angestrengt in die nasse Nacht. Der Lichtkegel meiner Lampe offenbart das ganze Elend: Vom Regen erweicht konnte die Erde das Gewicht des Zweirads nicht mehr tragen und hat unter dem Hauptständer nachgegeben. Nun liegt die Maschine im Schlamm, Lenker wie Koffer zur rechten Seite tief darin eingegraben.
Und während ich also versuche, mit nackten Füßen im schlickigen Boden des Dschungels Halt zu finden, um die immer wieder aufs Neue wegrutschende Maschine aufzurichten, über mir das Gewitter, das mich brutzeln, unter mir der Schlamm, der mich verschlingen will… da erlaubt mein Hirn sich die Freiheit der Frage, was zur Hölle ich hier eigentlich zu suchen habe.
Meine Minibude – ein Relikt aus Referendariatstagen und selbst im Alltagsmodus nur mit größter Kraftanstrengung ordentlich zu halten – versinkt zusehends im Chaos.
Kaum ein Fleck auf dem Laminatimitat, den ich nicht schon längst zur Lager-, Schraub- und Bastelecke oder zum Ausrüstungstestgelände umfunktioniert hätte. Überall stehen und liegen Kisten, Werkzeug und Equipment herum. Jetzt rächt sich, dass meine Vorfreude in den letzten Jahren eine unheilige Allianz mit all den bunten Motorrad- und Outdoorkatalogen eingegangen ist, die mir vorgaukelten, nur mit Spezialequipment im Gegenwert von mehreren tausend Euro im Gepäck sei an eine Reise außerhalb Nordrhein-Westfalens überhaupt zu denken. Der Blick aufs Konto sowie auf den äußerst begrenzten Platz in den Koffern und Packtaschen half mir zwar, mich in meiner Kauflust zu zügeln, aber dennoch scheint es in diesem Moment unmöglich, all das, was an Ausrüstung vor, neben und hinter mir liegt, auf ein einzelnes Mopped zu schnüren.
In dieser heißen Phase befinde ich mich voll im Weltreisefieberwahn. Wenn ich nicht gerade meine Abfahrt organisiere, wälze ich die immer gleichen Kataloge und streune durch die Abenteuersektion des Netzes. Die allgegenwärtigen Algorithmen leisten ganze Arbeit und füllen meine Filterblase mit immer weiteren Sonderangeboten, die Lektüre der einschlägigen Foren und Blogs lässt mich glauben, die ganze Welt befände sich derzeit auf Reisen (zwischendurch spinkse ich zum Nachbarhaus hinüber, um zu sehen, ob außer mir überhaupt noch jemand zuhause ist).
Die Masse der Erfahrungsberichte ist schier unendlich, Unterhaltungs- und Informationsgehalt der einzelnen Geschichten fallen jedoch höchst unterschiedlich aus. Trotzdem gibt es sie, die Perlen im Netz neben all dem digitalen Beifang. So zum Beispiel die „Krad-Vagabunden“, die in dreieinhalb Jahren um die Welt gefahren sind und mit ihrer Website eine regelrechte Schatzkiste an hilfreichen Adressen und wichtigen Tipps zur Verfügung stellen. Bei einem meiner abendlichen Besuche auf deren Seite sehe ich, dass sie ihr erstes Buch veröffentlichen, und bestelle sofort.
Am nächsten Morgen bin ich kaum aus dem Bett geklettert, um das Frühstück zuzubereiten, als es unvermittelt klingelt. Ich bin so verschlafen wie verdutzt: es ist Samstagmorgen, weder erwarte ich Besuch noch Pakete. Das Buch kann es noch nicht sein. Ich schlurfe zur Tür, drücke auf das hektisch blinkende Schlüsselsymbol und schiele über das Treppengeländer drei Stockwerke in die Tiefe. Das Deckhaar der zwei Gestalten, die da die Treppen hinaufstapfen, ist mir genauso unbekannt wie ihre zahlreichen Tattoos. Ich lege bereits die Sätze auf meiner Zunge zurecht, die sich am besten eignen, um Zeugen irgendeiner Gottheit, Vertreter oder Spendensammler abzuwimmeln.
Mein grimmiger Blick macht allerdings einem breiten Grinsen Platz, als die Beiden auf meiner Fußmatte stehen und mir ein Buch entgegenhalten: Panny und seine Freundin Simon – die „Krad-Vagabunden“! „Wir haben gesehen, dass Du um die Ecke wohnst. Also konnten wir gleichzeitig einen Spaziergang machen und Porto sparen“, lacht mich Panny an. Ich fühle mich ein wenig wie ein Serienjunkie, der den Schauspielern unverhofft im realen Leben gegenübersteht. „Kommt rein, wir machen Euch ´nen Kaffee!“, rufe ich zur späten Vorwarnung meiner Freundin etwas lauter als nötig in die Wohnung und schiebe beim Eintreten noch schnell ein paar besuchsinkompatible Klamotten zur Seite.
Die anfängliche Verlegenheit weicht bald einem fröhlichen Plausch, in dessen Verlauf ich von meinen Plänen berichte, mich ebenfalls auf den Weg zu machen. Anders als erhofft, stimmt Panny jedoch nicht in meine euphorischen Gesänge mit ein, sondern hört mir aufmerksam zu und begegnet meinen Ausführungen mit schonungsloser Ehrlichkeit, die in meinen Ohren klingt, wie die reine Skepsis: „Du fährst definitiv allein? Und trotzdem wollt Ihr zusammenbleiben? Da habt Ihr Euch ja ´ne Menge vorgenommen!“ Ich versuche diese Aussage zu übergehen und irgendwelche wärmenden Witzigkeiten in den Gesprächsfluss zu werfen, um die gefrorene Mimik meiner Freundin wieder aufzutauen. Doch kaum kommen wir auf das Fabrikat meiner motorisierten Begleiterin zu sprechen, legt er nach: „Oh. Alle KTM-Treiber, die WIR getroffen haben, hatten eklatante Probleme!“ Na, besten Dank.
Die beiden Damen legen größeres rhetorisches Fingerspitzengefühl an den Tag. Ihnen gelingt es, das eisige Schweigen zwischen Panny und mir wieder zu brechen, indem sie an ein erfolgreich weltgereistes KTM-Pärchen erinnern. Mit mehr als 200.000 Kilometern auf dem Tacho und ohne größere Zwischenfälle. Obwohl ich innerlich noch etwas nachgrummele, kann ich Panny für seine im Grunde schätzenswerte Ehrlichkeit nicht böse sein. Dafür sind Simon und er auch einfach zu nett. Ich müsste aber lügen, um zu behaupten, diese Begegnung hätte mich nicht ins Grübeln gebracht.
Es ist verrückt, dass ich, obwohl der Entschluss zu dieser Reise bereits fünf Jahre zurück liegt, so kurz vor der Abfahrt dennoch in Zeitnot gerate. Der nahende Abfahrtstermin ist jedoch gesetzt und nicht mehr verhandelbar: Der 7.7. ist das Datum. Ort und Uhrzeit sind – wie sollte es in der Karnevalshochburg Köln anders sein – 11 Uhr 11 am Dom.
Die wenigen verbleibenden Tage laufen im Zeitraffermodus, nur mithilfe meiner First Lady schaffe ich es mehr schlecht- als rechtzeitig, die letzten Dokumente zu organisieren, meine Bude zu räumen und das Krad startklar zu machen.
Und dann ist er da, der große Tag. Hoch beladen mit Koffern, Packtaschen, Ersatzreifen und Klimbim navigiere ich durch die engen Straßen der Innenstadt in Richtung Dom. Bereits auf den ersten Metern kommen mir Zweifel. Das Motorrad scheint mit der Gepäcklast heillos überfordert, sein Schwerpunkt liegt derart ungünstig, dass ich mehrmals gefährlich ins Schlingern gerate und nur mit Mühe die Kontrolle wiedererlangen kann. Habe ich womöglich doch auf den falschen Lastesel gesetzt?
Dass ich mir für die Reise ein neues Motorrad würde zulegen müssen, stand von Anfang an fest. Zwar konnte ich schon eine Reiseenduro mein Eigen nennen, doch befand sich die kernige KTM nach über 10 Jahren artgerechter Haltung bereits im Herbst ihres Motorradlebens und war den erwartbaren Strapazen keinesfalls mehr gewachsen. Ein neues Mopped musste her – ein willkommener Anlass zu monatelanger Lektüre von Testberichten und Gelegenheit für diverse Probefahrten. Am Ende landete ich aber doch wieder beim alten Modell, denn unterm Strich bietet die Einzylindermaschine aus meiner Sicht das ausgewogenste Gesamtkonzept von Gewicht, Leistung und Fahrwerk.
Und weil ich so früh eine neue Gebrauchte gefunden hatte, blieb noch genügend Zeit, sie ein wenig nach meinen Vorstellungen vom perfekten Reisemopped umzubasteln. Das Ergebnis ist mattschwarz, ein bisschen böse und trägt den Namen „Kölsche Krad“1. Um den martialischen Auftritt mit einer Prise Selbstironie zu brechen, schraubte ich als letztes Sonderzubehör noch eine Oldschool-Fahrradhupe an den Lenker, die lustig trötet, wenn man auf den Gummiball drückt. Das Teil hatten mir Freunde vor ein paar Jahren grinsend zum Geburtstag überreicht, nachdem ich in die Einladung geschrieben hatte, Geschenke seien mir Hupe. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht ahnen, dass sich diese Albernheit auf meiner Reise noch als ausgesprochen nützlich erweisen sollte.
So viel Zeit und Liebe ich auch in das Krad investiert habe, während ich im Schlingerkurs zum Startpunkt rolle, frage ich mich, ob eine stärkere Maschine mit größerer Zuladungskapazität nicht doch die bessere Wahl gewesen wäre.
Zu spät, denn jetzt ist er da, der große Moment, und keine Zeit, kein Platz mehr für Zweifel. Ich stehe neben meinem kleinen Krad vor der imposanten Kathedrale, nervös bis zum Abwinken. Seit einer halben Ewigkeit fummele ich an Kamera, Stativ, Selbstauslöser herum, um meine Abschiedsdelegation und den Dom zusammen ins Bild zu bekommen, der sich heute noch höher vor mir auftürmt als sonst. Von der Szenerie angezogen schwirren eine Handvoll japanischer Touristen heran und steigen in die Knipserei mit ein, weitaus weniger wählerisch, was das Motiv angeht, aber um ein Vielfaches schneller am Auslöser. „Da, wo Ihr herkommt, will ich hin“, denke ich noch und dann wieder tausend Gedanken auf einmal, ohne dass ich auch nur einen einzigen richtig zu fassen bekäme. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll, sowas hier ist mir neu. Ich versuche, jeden meiner Freunde gebührend zu verabschieden, doch es sind Zweifel angebracht, ob ich dabei überhaupt irgendeinen sinnhaften Satz von mir gebe. Ich selbst höre gar nicht, was ich da sage. Irgendwann aber ist jeder umarmt und bestammelt worden und mir bleibt nur noch ein Weg: rein in den Sattel und raus aus der Stadt. So lange nach Osten, bis ich im Westen wieder rauskomme, das ist der Plan.
Eine kleine Motorrad-Eskorte begleitet mich in Richtung Autobahn, so freundlich, unkommentiert zu lassen, dass ich mich zum Einstieg erst einmal verfahre.
Meine motorisierten Begleiter machen einer nach dem anderen die Biege, irgendwann ist nur noch mein Dad übrig. Um das Fahren mehr genießen zu können, tuckern wir über Landstraßen weiter. Ich gewöhne mich mit jedem Kilometer mehr an den seltsamen Schwerpunkt, auch wenn es noch einige Tage dauern soll, bis ich das Gewicht des Krads beherrsche und nicht mehr umgekehrt. Irgendwann ist es aber auch für meinen Dad an der Zeit, umzukehren. Gemeinsam gönnen wir uns noch einen hinauszögernden Eiskaffee irgendwo im Umland, dann muss ich mich auch von ihm trennen.
Den Moment, in dem mein Vater mir ein letztes Mal zunickt und dann in die entgegengesetzte Richtung abbiegt, werde ich nie vergessen. Ab jetzt bin ich allein…
Eine konkrete Route für die nächsten Tage habe ich nicht ausgearbeitet, sondern mir lediglich überlegt, durch welche Länder mich die ersten Kilometer führen sollen, bevor ich in ca. 2 Wochen mit meiner Dame in Moskau verabredet bin. Das ist zwar schon sehr bald, aber wir haben beschlossen, es mit einem sanften Entzug zu versuchen, um die Trennung erträglicher zu machen. Uns beiden ist klar, dass sich diese Frequenz unmöglich aufrechterhalten lässt. Auf der To-ride-Liste Richtung Russland stehen zunächst Tschechien, die Slowakei und die Ukraine, für mich alles Neuländer.
Gegen Nachmittag verdunkelt eine Schlechtwetterfront den Himmel zu meiner Rechten, hält aber lange Zeit genügend Abstand, um mich in der Sicherheit zu wiegen, dass ich mein erstes Nachtlager trockenen Rades erreichen werde.
Ein paar Kurven später bricht das schlimmste Gewitter über mich herein, das ich bis dato auf dem Mopped erlebt habe. Dass ich das Unheil so lange habe kommen sehen und die vielen Gelegenheiten, mir in Ruhe Regenklamotten überzuziehen, ungenutzt habe verstreichen lassen, war bereits eine beachtliche Intelligenzleistung, die ich jedoch umgehend toppen kann: Mir fällt nichts Dümmeres ein, als in ein nahes Waldstück zu flüchten, um mir Gummijacke und -hose überzustülpen. Kaum habe ich beides aus meinen Koffern gekramt, gesellt sich Wind zu Blitzen und Wolkenbruch, sodass mich die herabstürzenden Äste auf der Jagd nach meinen davonfliegenden Kleidungsstücken nur knapp verfehlen und ich mit einem Mal echte Angst verspüre, wahlweise von viel Holz oder viel Volt erschlagen zu werden. Panikartig raffe ich alles zusammen, was mir gehört, stülpe meinen Helm über und presche wieder aus dem Gehölz hervor. Lieber nass als blass!
Ich will den Wassermassen so schnell wie möglich entfliehen, aber das ist leichter gedacht denn getan. Erstens sehe ich kaum meine Handschuhe vor Augen und zweitens wüsste ich eh nicht wohin. Also schleiche ich einfach weiter die Straße entlang, bis vor mir wie aus dem Nichts ein Bauernhof auftaucht. Ohne länger darüber nachzudenken, biege ich auf den Hof ab und steuere eine Scheune an, deren Tor zum Glück offensteht. Hier stehe ich nun und schaue dumm aus der klatschnassen Wäsche und dabei zu, wie die Rinnsale mir weiter nachstellen und immer mehr Scheune für sich beanspruchen. Sollen sie doch, nasser kann ich nicht mehr werden.
Meine Ankunft ist nicht unentdeckt geblieben, wie mir Vorhangbewegungen im Haupthaus auf der anderen Hofseite verraten, doch erst als das Wetter sich endlich abgeregnet hat, schlurft ein junger Kerl zum Scheunentor herüber. In einer durch und durch guten Welt würde er mich nun einladen, erst ein heißes Bad und anschließend am Massivholztisch in der warmen Stube Platz zu nehmen, gedeckt mit allerlei gutbäuerlichen Köstlichkeiten und kleinen geistreichen Gläschen, bevor ich es mir zwischen Traktor, Pflug und Mähdrescher auf sommerlich duftendem und vor allem ganz und gar trockenem Stroh gemütlich machen darf. In einer zumindest nicht durch und durch schlechten Welt weist er mir den Privatweg über die Kuhweiden zur nahen Betonbrücke, die so breit ist, dass ich mein Zelt darunter immerhin im Trockenen aufschlagen kann.
Als ich endlich wieder in normalhumider Kleidung stecke, kann ich auch schon wieder über mich selbst lachen – wenn auch unter beständigem Kopfschütteln. Die erste Nacht unter der Brücke zu schlafen… Das nenne ich einen standesgemäßen Start in meinen Lebenstraum.
1 Köl|sche Krad [koelɘ kR;at], dat:. wortspielhafter Neologismus aus a) „Krad“: (z.T. milit.) Kurzwort für Kraftrad und b) „Kölsche Kraat“ (auch „Kölsche Krat“) [von Kröt(e)]: der rhein. kölnischen Mundart entstammender Ausdruck für eine der Unterschicht zugeordnete, zänkische Person ohne Benimm, situationsabhängig als regionales Schimpfwort gebraucht oder liebevoll positiv/anerkennend konnotiert. 2. [potenziell] weltreisetaugliches Mopped der eigensinnig-charaktervollen Sorte.
Eine Anmerkung
Zu dem Zeitpunkt, als ich dieses Buch zu schreiben begonnen habe, waren die pro-europäischen Maidan-Proteste etwas mehr als ein Jahr vorüber. Unmittelbar danach annektierte Russland völkerrechtswidrig die ukrainische Halbinsel Krim und in großen Teilen der Ost-Ukraine lieferte sich die ukrainische Armee harte Gefechte mit pro-russischen Separatisten. Dass Russland diesen schwelenden Konflikt, wie es damals noch viele vorsichtig ausdrückten, wenige Jahre später zu einem offenen Angriffskrieg gegen das gesamte Land ausweiten würde, lag damals noch in dunkler Zukunft.
Im Rückblick erscheinen mir manche meiner Beschreibungen wie Vorzeichen oder Vorahnungen des Überfalls – die ich selbstverständlich nicht hatte. Das finde ich entlarvend symptomatisch für die heutige Perspektive: Im Nachhinein haben es viele kommen sehen. Andere Passagen lesen sich für mich mittlerweile überholt, vielleicht sogar unpassend. Schreibe ich hier zu freundlich über Russen? Dort zu kritisch über Ukrainer? Aus heutiger Sicht mag das so wirken. Doch alles, was ich erlebt habe, habe ich im Kontext seiner Zeit verstanden – und genauso niedergeschrieben. Eine rückwirkende Veränderung wäre für mich nicht ganz ehrlich.
Ich möchte meinen Text also unangetastet lassen. Nur eben nicht unkommentiert.
Derweil ich am nächsten Morgen aus dem Zelt krieche, strahlt mich die Sonne derart unschuldig an, als wäre sie nie weg gewesen. Und auch der Himmel tut so, als könnte ihn kein Wölkchen trüben. Nachdem die beiden auch noch in Rekordzeit Zelt und Motorradklamotten getrocknet haben, beschließe ich, das Friedensangebot anzunehmen.
Bei angenehm sommerlichen Temperaturen reise ich nach Tschechien ein und gönne mir in Pilsen auch direkt ein Zimmerchen, um der hiesigen gastronomischen Hochkultur in angemessenem Maße meine Ehrerbietung entgegenbringen zu können. Auch der Hauptstadt statte ich noch eine Stippvisite ab, das jedoch mehr aus Prinzip denn aus Neugier. Zwar ist Prag zu fast jeder Jahreszeit beeindruckend schön, doch ist es nicht mein erster Besuch hier und bereits nach wenigen Stunden treibt es mich weiter. In dem Wissen, diesem Land bei weitem nicht die Aufmerksamkeit und Zeit gewidmet zu haben, die es verdient, lasse ich Tschechien bald hinter mir.
Die Slowakei ist für mich aber Neuland, sodass ich meinen inneren Antreiber häufiger davon überzeugen kann, die Peitsche einmal beiseitezulegen, Schnellstraßen zunehmend meide und mir immer mehr Zeit für die ländlichen Strecken nehme. Diese Entscheidung wird unmittelbar belohnt. Sanfte Hügel bieten mir regelmäßig Panoramablicke über grüne Landschaften, in die mit maßvollem Auge Wäldchen, Burgen und verschlafene Dörfer eingestreut sind. Auf deren Dächern und Kirchtürmen immer wieder pubertierende Storchenjunge kurz vor dem Rausschmiss, die Blödsinn machen und trotzdem noch durchgefüttert werden.
Ich steure den Tatra-Nationalpark an. Die Vegetation wird nadeliger, die Straßen kurviger, bis sich der Gebirgszug mit einem Mal am Horizont abzeichnet und mit jedem Kilometer höher erhebt. Ich hatte keine besonderen Erwartungen, was diese Region angeht, umso überraschter bin ich von ihrer Schönheit.
Zum Fuße der hohen Tatra findet sich spontan ein wunderschöner Platz zum Wildcampen und ich verkrieche mich tief ins Blattwerk, damit kein Wanderer über meine Zeltleinen stolpert. Als wollte sie beweisen, dass sie im weltweiten Vergleich zwar recht klein, aber dennoch ein echtes Hochgebirge ist, bereitet mir die Tatrige einen kühlen Empfang: In der Nacht sinkt das Thermometer überraschend auf drei Grad, sodass mein Schlafsack direkt mal zeigen kann, was er drauf hat. Er reicht nicht ganz an den Komfort eines vor dem offenen Kamin ausgebreiteten Lammfells heran, erfüllt aber seinen Zweck, mich nicht auskühlen zu lassen. Noch einen zweiten Tag verbringe ich hier, um die Gebirgsstraßen zu erkunden und dem Krad nach vielen Kilometern Geradeauslauf endlich ein paar anständige Kurven zu servieren, bevor mich mein Weg weiter Richtung Osten führt.
Unweit der ukrainischen Grenze stehe ich unvermittelt vor russischen Panzern. Das Denkmal am Straßenrand, dessen ursprüngliche Bestimmung es vermutlich sein sollte, die Befreier von damals zu feiern, stellt sich vor dem Hintergrund des gefährlich brodelnden Krim-Konfliktes als unfreiwilliges Mahnmal der Besatzung von heute dar. Sie sind wieder da. Diesmal gekommen, um zu bleiben.
Ich fahre etwas nachdenklicher weiter und entscheide mich aufgrund der fortgeschrittenen Tageszeit, erst morgen die Grenze zu passieren. Zum ersten Mal spüre ich angesichts der Ungewissheit und Unkenntnis in Bezug auf die Länder, die da kommen werden, eine gewisse Nervosität. Ich brauche noch länger als gewöhnlich, um mich hier – in unmittelbarer Grenznähe – für ein Plätzchen zu entscheiden, das mir abgelegen und sicher genug erscheint, um mein Lager für die Nacht aufzuschlagen.
Bereits am Grenzübergang Slowakei-Ukraine wird mir klar, dass die Dinge von jetzt an ein bisschen anders laufen. Während der slowakische Beamte noch recht unmotiviert an meinen Taschen herumgedrückt hatte, beweist sein Kollege auf der anderen Seite ukrainische Gründlichkeit. Ich öffne geduldig meine Koffer und erkläre ihm mit Händen und Füßen bereitwillig den Nutzen der einzelnen Sanitär-Utensilien. Nachdem fünf verschiedene Menschen meine Dokumente geprüft haben, darf ich passieren.
Zwar sind die Menschen, die Autos, die Straße auf der anderen Seite die Gleichen geblieben, dennoch gibt mir die Summer der Einzelheiten das Gefühl, in eine völlig neue Welt einzutreten: Auf sämtlichen Schildern regiert nun das Kyrillisch, die Straßenränder – nicht selten auch die Fahrbahn selbst – werden von den Hunden, Katzen, Eseln sowie dem allgegenwärtigen Federvieh der angrenzenden Höfe beherrscht und die Luft ist von den Holz- und Kohleöfen würzig und schwer. Der Zustand der Straßen, die mitten durch die urig-schönen Dörfer führen, verschlechtert sich zusehends. Schlaglöcher werden zu Schlaggruben, bis jeder, der motorisiert unterwegs ist, den Straßengraben der „Nationalstraße“ vorzieht. Spaß macht er schon, der Grubenslalom, aber er bringt mich mehr als einmal in gefährliche Situationen. Nicht nur die Löcher selbst können zum Sturz führen, besonders heikel sind die völlig unkalkulierbaren Ausweichmanöver der entgegenkommenden Fahrzeuge. Hier bleibt niemand in seiner Spur. Unmöglich.
Noch etwas aufregender wird es, sobald sich die Straße zu einem Pass erhebt. Am Horizont taucht ein Militärposten auf, urplötzlich sehe ich mich von schwer bewaffneten Soldaten umgeben, die nicht so recht wissen, was sie mit mir anfangen sollen. Die Worte „Turist“ und „Nemetski“ (Deutscher) sind offensichtlich die korrekten Pass-Wörter, sodass ich meine Fahrt fortsetzen kann. Beim zweiten Posten bin ich schon entspannter, der dritte wird fast zur Routine.
Die anfängliche Verwunderung über die massive Militärpräsenz kann ich mir mit ein wenig Denkarbeit selbst nehmen. Auch wenn zuhause kaum jemand das Wort in den Mund nimmt: Dieses Land befindet sich im Krieg. Die Hauptrouten und Pässe zu kontrollieren, ist da schon ein nachvollziehbares Anliegen. Wie nahe ich dem Konflikt in diesem Moment bin, werde ich erst in ein paar Tagen begreifen, als ich wieder WLAN habe und mich die besorgten Nachrichten meiner Familie erreichen. Im Anhang Fotos deutscher Zeitungsartikel, die von Granateneinschlägen und einem Polizeiwagen berichten, der dort ausgebrannt ist, wo ich vor zwei Tagen noch entlanggefahren bin und mich weit weg vom Kriegsgeschehen gewähnt habe. Das war zu nah. Ich muss vorsichtiger sein. Endlich wieder im Tal angelangt, sieht man Mopped und mir die Strapazen an. Der Rückspiegel datiert mich zehn Jahre älter, der verrutschte Gepäckhaufen auf dem Krad-Heck imitiert meine Frisur und muss ebenfalls wieder in Form gebracht werden.
Kurzerhand entscheide ich mich für die dekadente Variante und suche mir in Lwiw (dt. Lemberg) ein Hotel. Duschen, Akkus laden, in Ruhe die Stadt besichtigen und entspannt ein Bier schnüffeln, alles Pro-Dekadenz-Argumente. Zur Sparsamkeit mahnende Gegenstimmen kann ich – so taub vom Motorenlärm – leider nicht mehr hören.
Dass das Zimmer für seinen Preis zu schmuddelig ist, nervt mich nur kurz, ich bin einfach nur froh, den Komfort fließenden Wassers genießen zu können. Am Abend streune ich durch die hübsche Altstadt, der Sommer sättigt die Luft mit allerlei schweren Gerüchen: Stein, Diesel, Parfüm.
Es dämmert bereits, als mein Blick an einer ungewöhnlichen Skulptur haften bleibt. Ich geselle mich zu den Umstehenden und erkenne, dass es sich um die Überreste eines Kleinbusses handelt, durchsiebt von Kugeln und Splittern, gespickt mit ukrainischen Fähnchen und laminierten Flugblättern. Eines berichtet auf holprigem Englisch von den Menschen, die darin starben, während sie weit im Osten ihr Land verteidigen wollten. Einst Freiwillige, ziemlich jung, jetzt Helden, ziemlich tot. Ich spüre, wie mir dieser Blechhaufen in meinem Innersten zusetzt. Im Fernsehen oder Computerspiel machen mir Bilder brachialer Gewalt selten etwas aus. Die Realität aber ist mir zu real.
Kurz vor der Weiterfahrt am nächsten Tag verabschiedet mich die Stadt noch etwas versöhnlicher in Person eines freundlichen älteren Mannes: Während ich mein Krad belade, fühlt er sich durch das D auf dem Kennzeichen ermuntert, mich auf Deutsch anzusprechen. Er gehört zu der Gruppe von Menschen, die einem binnen zweier Minuten ihre gesamte Lebensgeschichte erzählen, ist dabei aber so selig, seine eingerosteten Deutschkenntnisse reaktivieren zu können, dass ich das gerne über mich ergehen lasse. Zum Schluss will der nette Opa noch wissen, wohin mich mein Weg in den nächsten Tagen führt. Sobald ich Russland erwähne, verfinstert sich sein Blick. „Wir hassen die Russen!“, sagt er forsch. „Nein, wirklich, sei vorsichtig, Junge. Die sind alle korrupt!“ Nach kurzer Denkpause relativiert er ein wenig und lächelt verschmitzt: „Na gut… Das sind wir hier auch.“
Bisher war für mich völlig klar, wer im Krimkrieg die Rolle des Guten und wer die des Bösen innehat. Das Unangenehme an solchen Angelegenheiten ist aber ja bekanntlich, dass die Dinge nicht einfacher, sondern komplizierter werden, je mehr Teile des Puzzles man entdeckt. So jedenfalls geht es mir, während ich zwei Tage Station in Kiew mache. Mein Apartment in der Hauptstadt hatte ich irgendwo unterwegs auf die Schnelle gebucht, wobei hauptsächlich Preis und Lage die Auswahlkriterien waren. Dass ich letztere gar nicht besser hätte wählen können, sehe ich erst, als ich – platt von Anreise und Gepäcktransport in den siebten Stock – aus dem Dachfenster spinkse. Die Szenerie dort unten kommt mir bekannt vor, obwohl ich hier garantiert noch nie gewesen bin. Unter einer drängenden Ahnung konsultiere ich noch einmal mein Lieblingskartenprogramm und tatsächlich: Ich wohne direkt am zentralen Maidan-Platz, gefühlt tausendmal im Fernsehen gesehen, weil er noch im letzten Jahr Schauplatz von Massenprotesten und bürgerkriegsähnlichen Szenen war, die zu über hundert Todesopfern geführt hatten.
Von hier oben sieht es so aus, als hätte das alles nie stattgefunden, aber wenig später bin ich selbst eine der Ameisen und es offenbaren sich mir all die jüngst durchgeführten Restaurierungsversuche. Die offensichtlichste Wunde übersehe ich zunächst aufgrund ihrer schieren Größe. Was ich für ein überdimensionales Werbeplakat zur Stärkung des Nationalstolzes gehalten hatte, ist in Wahrheit der Versuch, die Zerstörungen am ausgebrannten Gebäudekomplex dahinter zu kaschieren. „Slava Ukrayini! Heroyam slava!“, prangt in riesigen Lettern über einer kitschigen Collage aus Wein, Weizen und Gestorche. Eine junge Frau, die mir eigentlich ihre Ziertauben für ein teures Tourifoto auf den Kopf setzen wollte, lässt sich von meiner Smalltalk-Offensive überrumpeln und springt halbfreiwillig als Übersetzerin ein: „Ruhm der Ukraine, den Helden Ruhm!“. Aber auch hier sind die meisten Helden längst tot, am Leben erhalten nur durch Bilder, die in schwarzen Rahmen und langen Reihen die Mauern rundum säumen. Daneben unzählige Mahnmale, gebaut aus Pflastersteinen und bedeckt mit den Baustellenhelmen, die nicht genug Schutz boten gegen die Kugeln der anderen.
Noch etwas gruseliger wird es am folgenden Tag, als überraschend Militärmusik bis zu meinem Zimmerchen herauf wabert. Ich wollte ohnehin etwas herumschlendern, greife nach meiner Kamera und begebe mich an den Abstieg. Die Musik leitet mich zu der imposanten Siegessäule, die frisch vergoldet den gesamten Platz überragt. Darunter adrett uniformierte Männer in Reih und Glied, die düster dreinblickend ihre Fahnen zum Spalier formen. Nicht nur die Symbole darauf, auch der gesamte Habitus der Uniformierten mit ihren Emblemen und Tattoos kommt mir unangenehm vertraut vor. Die Weisen der Wikipedia werden dieses Gefühl später bestätigen und mir verraten, dass ich es hier mit dem sogenannten Asow-Bataillon zu tun hatte. Militant, nationalistisch, in Teilen rechtsextrem. Warum die Uniformfetischisten hier marschieren und nicht an der Ostfront, frage wohl nur ich mich. Das Gut-und-Böse-Puzzle ist jedenfalls um ein kleines Teil erweitert worden – und schon etwas schwieriger zusammenzusetzen als gestern noch.
Tags darauf beginne ich früh damit, meine Koffer zu packen. Da ich mehr als eine Nacht hier war, hat sich mein Hab und Gut den Gesetzen der Diffusion gehorchend gleichmäßig im gesamten Apartment verteilt, sodass es lange dauert, alles zusammenzusuchen, und ich bei den sommerlichen Temperaturen ordentlich ins Schwitzen gerate. Mit der Aussicht auf das Wildcampen der nächsten Tage gönne ich mir kurz vor dem Rausschmiss noch eine ausgiebige Dusche. Kaum, dass ich die Nasszelle verlassen habe, klopft es energisch an die Tür. Ungünstig jetzt. Unter stetem Türgepolter überspringe ich das Abtrocknen, zwänge mich in ein Mindestmaß an Kleidung und öffne so atem- wie verständnislos. Eine Reinigungskraft in vollem Ornat wirft mir ein meckerndes „Check out, check out!“ entgegen. Das ist Unsinn, 12 Uhr hieß es, nicht 11. Ich belege mit meiner Armbanduhr, dass ich im Recht bin, sie kontert mit ihrer. Jetzt erst begreife ich. Dem Herrn Profiabenteurer ist entgangen, dass es auf dieser Welt so etwas wie eine Zeitverschiebung gibt. Den peinlichen Umstand kann und will ich der Dame nicht erklären, sondern raffe hastig alles zusammen und reise überstürzt ab.
Auf dem Weg aus Kiew hinaus passiere ich immer wieder große Demonstrationen, die – im Gegensatz zum Aufmarsch der Gestrigen – stets von einem massiven Polizeiaufgebot begleitet sind. Während ich umständliche Umwege in Kauf nehme, wird mir bewusst, dass solche Erlebnisse für mich zwar Spannung und das kribbelnde Gefühl hervorrufen, Zeitgeschichte livehaftig zu erleben, den Alltag der Menschen hier jedoch heftig erschweren. Als ich endlich über die große Brücke fahre, die mich über den Dnepr und damit aus der Stadt herausführt, lasse ich ihr den aufrichtigen Wunsch da, dass sie bald wieder friedvollere Zeiten erleben möge.
Kaum habe ich Kiew hinter mir gelassen, zeigt sich die Ukraine wieder von ihrer ländlichen und damit malerischen Seite. Was die Propagandaplakate der Hauptstadt stolz in die Welt posaunt haben, findet sich hier in tausendfach schönerer Ausführung und vor allem ohne politische Botschaften, was ich sehr begrüße. Vorbei an endlosen Sonnenblumenfeldern in voller Blüte, die sich gemeinsam mit dem Blau des Himmels dann doch wieder anschicken, die Nationalfarben in vollkommener Pracht abzubilden. Zwangsläufig hat man hier das Gefühl, sich in einem riesigen Van-Gogh-Gemälde zu bewegen und gleichzeitig werde ich an die Bilder der Janosch-Geschichten aus meiner Kindheit erinnert. Nicht die albernen Kommerzcomics jüngerer Tage, auf denen irgendwelche Frösche Tigerenten küssen, sondern die urigen Szenen, die man sofort selbst mit Klängen und Gerüchen ausschmückt: ein alternder Bauer und Siebenschläferfreund vor seinem Fachwerkhaus, ein Fuchs, der eine Gans nachhause schleift, in Butter schmorende Pilze in gusseiserner Pfanne auf einem Holzofen. Auch die Störche dürfen nicht fehlen. Sie feiern heute ihr ganz persönliches Erntedankfest und staksen gemütlich den Mähdreschern hinterher, um all die Überreste derer wegzuschnäbeln, die nicht rechtzeitig vor den Maschinen fliehen konnten.
Der Preis, den der geneigte Kradwanderer für die sich ihm bietende Schönheit zu zahlen hat, sind die nach wie vor unfassbar schlechten Straßen, die umso löchriger werden, je weiter man sich von der Zivilisation entfernt. Jegliche Bemühungen um Restaurierung hat man offensichtlich bereits vor vielen Jahren eingestellt. Als ich in einem kleinen Örtchen dann doch unerwartet vor einem Straßenbautrupp stehe, staune ich nicht schlecht – nichts hätte ich hier weniger erwartet. Ein Arbeiter, der hoch oben auf der Walze thront, schenkt mir ein zahnloses Lächeln, als ich ihm meinen Daumen entgegenstrecke. In Wahrheit muss das ein überaus glücklicher Mann sein, geht es mir durch den Kopf, immerhin hat er den wohl sichersten Arbeitsplatz der Welt!
Immer dann, wenn ich etwas schneller vorankommen möchte, nutze ich die Schnellstraßen des Landes, die landschaftlich zwar weniger zu bieten haben, sich aber meist in einem etwas besseren Zustand befinden. Dabei habe ich mittlerweile jedoch das latente Gefühl, dass irgendetwas fehlt, ohne dass ich näher bestimmen könnte, was. Eigentlich bekomme ich hier alles geboten, worauf ich spekuliert hatte: Radfahrer, die volltrunken über die Autobahn schlängeln, überladene Eselskutschen sowie museumsreife Autos russischen Fabrikats, gerne ohne Licht und Windschutzscheibe unterwegs. Ebenfalls bemerkenswert sind die Heerscharen von Schwarzmarktständen am Straßenrand, die von der Gurke bis zum Diesel alles feilbieten, was sich anbauen oder beschaffen lässt. Irgendwann überholt mich ein Polizeiwagen und mir wird schlagartig klar: Noch kein einziger Uniformierter hat bisher versucht, mich um mein Geld zu erleichtern. Dabei hatte ich schon so viele Geschichten darüber gehört und erst kürzlich in einem einschlägigen Reiseforum gelesen, dass die Ukraine nicht zu durchqueren sei, ohne mindestens 300,- EUR in Strafzettel zu investieren. Fast bin ich ein wenig enttäuscht. Zu Unrecht, wie sich sehr bald herausstellen soll.
Ein paar hundert Kilometer hinter Kiew blendet ein entgegenkommendes Fahrzeug unvermittelt auf. Landläufig eine Warnung vor der Miliz, die gerne hinter Büschen auf Kundschaft lauert. Im gleichen Moment sehe ich auch schon den Streifenwagen auf der Gegenspur und bremse instinktiv ab. Im Rückspiegel erkenne ich, wie die Herrschaften eine Kehrtwende hinlegen und mir zeigen, wie schön ihr Blaulicht blinken kann. Nachdem nicht mehr zu ignorieren ist, dass sie mich meinen, lasse ich ausrollen. In diesem Moment kommt mir ein Tipp von Erik in den Sinn, einem erfahrenen Motorradreisenden, der sein Hobby mittlerweile zum Beruf machen konnte: „Immer schön dumm stellen und freundlich bleiben!“, hatte er mir vor meiner Tour geraten. Ersteres fällt mir naturgemäß nicht schwer, letzteres allerdings umso mehr. Autoritäre Beamte oder gar polizeiliche Willkür gehören zu den wenigen Dingen, die das Potential haben, mich richtig zum Brodeln zu bringen. In dieser Situation aufbrausend zu werden, wäre aber sicherlich die falscheste aller Reaktionen.
Also versuche ich, es sportlich anzugehen. Mögen die Spiele beginnen! Man verlangt meine Papiere und gibt mir zu verstehen, ich sei zu schnell gefahren. 85 statt 50 km/h (was Unfug ist). Ich händige meinen Führerschein aus und während die zwei Beamten die Verkehrsregeln referieren, nicke ich zustimmend an den vorgesehenen Stellen. Als es um mein konkretes Vergehen und das entsprechende Bußgeld geht, habe ich aber leider akute Verständnisprobleme. „50 €“, schreibt der Ältere der beiden auf einen Zettel und kritzelt die Zahl sogleich wieder weg, damit man ihm später nichts nachweisen kann. Um die unangenehm konkrete Forderung zu umgehen, versuche ich mich an der Ablenkungstaktik. Ich erkläre unaufgefordert, wo ich herkomme und hin will, unterstreiche meine Ausführungen, indem ich die Kamera hole, Bilder von Kiew zeige und ihm statt des Scheines einen meiner Aufkleber schenke. Hier steigt der jüngere Polizist bereits aus und winkt sich ein anderes Opfer zu Seite. Zum fulminanten Höhepunkt meiner Darbietung kommend, erzähle ich dem anderen davon, in Moskau bald meine Freundin zu treffen, präsentiere ihm ein Bild von uns beiden und stelle ihre Anreise szenisch dar, indem ich mich mit ausgestreckten Armen im imaginären Wind hin und her wiege, während ich die Geräusche eines startenden und landenden Flugzeugs imitiere. Er lächelt. Und zeigt mir im Gegenzug ebenfalls etwas. Und zwar den ukrainischen Bußgeldkatalog sowie ein Video von mir (in Frontansicht), dessen Beweiskraft sich darin erschöpft, dass es unumstößlich meine Anwesenheit auf der Straße belegt. „Jonas, Jonas, Jonas“, zitiert er den weniger gebräuchlichen meiner Vornamen, wiederholt dann mantraartig die Wörter „Speed limit“ und „Strafe“, wobei er taktvoll auf meinen Führerschein tippt. Der Kerl ist hartnäckig. Mir wiederum gehen die Ideen aus. Aber noch gebe ich mich nicht geschlagen. Sein letztes „Speed limit“ greife ich auf, indem ich energisch mit dem Kopf schüttle, zum Mopped laufe, auf den Gepäckberg zeige und - wiederum lautmalerisch - die rasenden Autos dem unter dem Gewicht ächzenden, langsam tuckernden Krad gegenüberstelle. Ich weiß nicht, ob ihn meine Vorstellung derart begeistert, oder, was wahrscheinlicher ist, so genervt hat, dass er das Handtuch wirft, doch aus heiterem Himmel reicht er mir den Führerschein, gebietet mir, in Zukunft langsamer zu fahren und weist seinen Kollegen an, einzusteigen. Ich bleibe zurück, mit einem Grinsen, das Farin Urlaub Konkurrenz machen könnte... und wundere mich über mich selbst.
Wenn das grobe Tages- bzw. Kilometerziel erreicht und ein geeigneter Platz zum Campen gefunden ist, sind die Abendstunden neben der Körper- auch für die Klamotten- und Kradpflege reserviert. Heute steht die Inspektion der wichtigsten Schraubverbindungen auf dem Programm. Aus dem Off ertönt bei solchen Arbeiten wie gewohnt die Stimme meines Dads, der da mahnt: „Nach fest kommt lose!“. Dass er damit – wie so oft – recht hat, muss ich feststellen, als ich die Schrauben am doch arg belasteten Kofferträger anziehen will. Ein innerer Monolog im Stile des Homer Simpson begleitet mein Werkeln: „Ein bisschen fester geht es schon noch… jaa… jaaa… NEIN!“. Ich betrachte das Malheur und ärgere mich. Über das gebrochene Gewinde, meine eigene Dummheit und vor allem darüber, dass mein Vater es selbst in Abwesenheit wieder mal besser wusste. Hier im Maisfeld bei Dämmerung kann ich nicht mehr tun, als ziemlich blöd zu gucken, und muss mit dem unguten Gefühl ins Zelt kriechen, ein echtes Problem zu haben. Die Schraube war verdammt wichtig für die Statik. Mit schiefen, wackelnden Koffern brauche ich den weiten Weg nach Moskau gar nicht erst anzutreten.
Direkt nach dem Aufwachen befrage ich mein Navirakel zur nächstgelegenen Autowerkstatt. 20 Kilometer, das sollte machbar sein. Am vermeintlichen Ziel angelangt, finde ich in der wenig besiedelten Gegend aber nichts dergleichen. Vermutlich wurde der Laden schon längst wieder aufgegeben. Ich will bereits unverrichteter Dinge von dannen tuckern, da entdecke ich eine zerfledderte Fahne, die für Motoröl wirbt. Dahinter tatsächlich eine Garage, in der offenbar geschraubt wird. Auch wenn mein feiges Ich mir in diesem Moment zig Ausreden auftischt, warum es keinen Sinn hat, das hier weiter zu verfolgen, zische ich ein „Halt die Klappe, wir probieren das jetzt“ in den Helm und rolle langsam auf den Hof voller Schutt, Unrat und leerer Öldosen.
Der Blick ins Innere zeigt, dass es sich hier wirklich um einen kleinen Schraubertempel handelt.
Die Wände voller Werkzeug, ein betagter Bastelguru und sein Jünger bei der Arbeit und in der Ecke sogar ein Motorrad. Bingo! Ich werde zunächst ignoriert, weiß aber aus der Heimat, dass dies in Werkstätten zum guten Ton gehört und werte es als Zeichen, dass man hier etwas auf sich hält. Schließlich nimmt sich der Jüngere von beiden meiner an. Ich zeige ihm den abgebrochenen Verräter, nuschle etwas von „Problem“ und „kaputt“ (selten war ich sprachlich inspirierter als vor mürrischen Ukrainern) und zeige ihm dann meinen Kofferträger. Der Meister kommt hinzu und begutachtet die Sachlage eingehend. Ich versuche mich einzubringen und trage pantomimisch vor, wie man den Schaden beheben könnte. Mit einer einzigen Kopfbewegung schmettert der Alte diesen Vorschlag ab. Nein, so also nicht. Die beiden schütteln für meinen Geschmack ohnehin viel zu viel mit dem Kopf und meine Hoffnung schwindet zusehends.
Da bedeutet mir der Geselle, der Chef müsse erst immer alles genau durchdenken und würde das dann schon machen. Und so kommt es dann auch. Er kramt diverse Schrauben und Muttern, die zur Reparatur in Frage kommen, aus den Tiefen seines Tempels hervor. Mit der frohen Gewissheit, endlich auch einen sinnvollen Beitrag leisten zu können, reiche ich ihm strahlend das perfekte Gewinde aus eigenen Beständen entgegen. Nein, die auf gar keinen Fall, sagt er wortlos, und geht wieder zu Werke.
Schließlich gebietet er mir, die Batterie abzuklemmen. Schweißen will er also! Sehr gut. Der Rest ist in wenigen Minuten erledigt. Statt sich um das ursprüngliche Gewinde zu kümmern, in dem immer noch der Rest der alten Schraube lungert, schweißt er einfach eine Mutter davor und setzt eine kürzere, neue Schraube ein. Fertig. Bombenfest.
Ich strahle über das ganze Gesicht, danke ergebenst und biete seiner Exzellenz 10 Euro an, die er schulterzuckend annimmt. Dann, nach kurzem Nachdenken, fischt er aber die Zigarette aus seinem Mundwinkel und erwidert mit breitem Grinsen: „Sänkju!“. Ich lasse noch meine restlichen ukrainischen Scheine auf der Werkbank liegen und fahre mit dem großartigen Gefühl Richtung Grenze, dass sich am Ende eben doch alles fügt.
Noch voller Freude über die gelungene Reparatur meines Kofferträgers rolle ich unversehens auf die Grenzanlage Ukraine-Russland zu. Sieben Stunden Wartezeit seien zu erwarten, das hatte ich im Vorfeld gelesen, bin aber viel zu guter Dinge, um daran zu glauben, dass der Grenzübertritt heute sonderlich lange dauert. Ein Irrtum, wie sich bald zeigen soll.
Je näher ich komme, desto deutlicher zeichnet sich die lange Schlange von Fahrzeugen ab, deren Fahrer ebenfalls passieren wollen. In der Illusion, es gehe bestimmt zügig voran, stelle ich mich brav hinten an. Kaum, dass ich den Helm abgenommen habe und der Fahrtwind fehlt, realisiere ich jedoch, wie unfassbar heiß es ist. Erbarmungslos brennt die Sonne auf mich herunter und scheint das Ziel zu verfolgen, mich in meinen Moppedklamotten möglichst schnell garzukochen. Also vielleicht doch einfach an der Autoreihe vorbeifahren? Sicherlich machbar, andererseits möchte ich auf gar keinen Fall den Zorn der Grenzer auf mich ziehen, deren Humorlosigkeit in diesen Breiten legendär ist. Viele mich freundlich weiterwinkende Wartende machen mir allerdings Mut und so lasse ich es darauf ankommen. Im Schritttempo rolle ich vorwärts und zähle über hundert Fahrzeuge, bis ich vor dem ersten Schlagbaum stehe. Der hebt sich für mich und einen Wagen mit russischem Kennzeichen recht schnell, diejenigen mit gelb-blauer Flagge bleiben zurück.
Am ersten Kontrollposten geht es, wie gewohnt, noch recht locker zu: Statt für meinen Kofferinhalt interessieren sich die Uniformierten vor allem für die technischen Details meines Krads. Nur einer mimt den Spielverderber und fragt nach, wo im Fahrzeugschein denn eigentlich die Farbe des Motorrades vermerkt sei. Er hat dummerweise jene Stellen am Tank entdeckt, an denen der schwarze Lack schon wieder abgerieben ist und das ursprüngliche Orange zum Vorschein kommt. Aus seinem Gesicht spricht pures Misstrauen. Zum Glück gibt es im Schein keinen Eintrag zur Originalfarbe und nachdem ich die Umstehenden mit der an den Lenker geschraubten Fahrradhupe erst in Verwunderung versetzt und dann zum Lachen gebracht habe, ist die Stimmung wieder entspannt. Dieses Customizing hätte sich also schon einmal gelohnt.