Ich tick nicht richtig - Petra Cnyrim - E-Book

Ich tick nicht richtig E-Book

Petra Cnyrim

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  • Herausgeber: mvg
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Viele Menschen kennen Hanka Rackwitz als quirlige, pfiffige Immobilienmaklerin in der TV-Serie mieten, kaufen, wohnen bei Vox. Oft ist sie die Retterin in Not, wenn eine Wohnung in und um Leipzig gesucht wird. Vor der Kamera zeigt sie sich stets selbstbewusst und souverän, doch das ist nur ein Teil ihrer Persönlichkeit. Denn im richtigen Leben wird sie von diversen Zwangsstörungen, Macken und Ticks gequält. Hanka Rackwitz leidet unter einem ausgeprägten Kontrollzwang und muss nicht nur zwei- oder dreimal überprüfen, ob die Kerze erloschen, der Wasserhahn zu und die Haustür abgeschlossen ist, sondern zigmal öfter. Sie hat einen Waschzwang und kann nichts anfassen, was den Boden berührt hat – ob das ein heruntergefallener Stift oder auch normale Schuhe sind. Deshalb trägt sie bevorzugt Gummistiefel, da man die am Rand anfassen kann, wo sie garantiert nicht den Boden berührt haben. Mit all diesen Zwängen ist Hanka Rackwitz nicht allein. Ca. 3 Prozent aller Deutschen leiden an einer Zwangsstörung. Doch trotz dieser Einschränkung hat es Hanka Rackwitz geschafft, sich ein erfolgreiches Leben aufzubauen. In diesem Buch erzählt sie zum ersten Mal, welche Ausmaße ihre Krankheit hat, was das für ihr Leben bedeutet und welche Therapien sie bisher durchlaufen hat. Sie bietet anderen Betroffenen Rat, Unterstützung und Motivation, damit auch sie sich nicht entmutigen lassen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 212

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Originalausgabe

3. Auflage 2017

© 2016 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Antje Steinhäuser

Umschlaggestaltung: Kristin Hoffmann

Umschlagabbildung: Kathy Hennig/Golden Eyes Fotografie, Sky2015/Shutterstock.com

Satz: inpunkt[w]o, Haiger

ISBN Print 978-3-86882-659-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-917-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-916-9

Inhalt

Hintergründe

Während ich schlief …

Etwas

Eine flog übers Kuckucksnest

Was macht den Zwang so zwingend?

Warum ich mir achtzigmal am Tag die Hände wasche

Was passiert in meinem Kopf?

Von Brücken und Begegnungen

Das Kofferdilemma aus Petras Sicht

Das Kofferdilemma aus Hankas Sicht

Die Karten auf den Tisch

Psychologie

Mein Leben als Beispiel

Meine Kindheit

Mein Vati

Weg zum Ursprung meiner Zwänge

Zum Thema: Schuldkomplexe

Wenn Kinder Zwänge entwickeln

Wendezeiten

Quo vadis – Wohin gehst du?

Freier Fall und die Hoffnung, sicher zu landen

Land in Sicht

Big Brother – Nanu, wo bin ich denn hier gelandet …

Leipzig, ich komme

Die tiefenpsychologische Therapie

Findungsphase im Alleinflug

Zweiter Anlauf

Warum ich Gummistiefel mag …

Face to Face, meine dritte und bis dato letzte Therapie

Die Konfrontationstherapie

Hilfe, Polizei …!

Analyse meines Therapeuten zu dem Thema

Verhaltensanalyse von Harald

Therapieziele und Prognose

Hankas Behandlungsplan

Mein Kontrollzwang

Meine lieben Lebensabschnittsgefährten und zum Thema körperliche Nähe

Wege durch die Angst – Dinge, die auch noch helfen können

Mein Leben

Wie und in welchen Situationen beschränken mich die Zwänge?

Hypnosereise Teil 1

Hypnosereise Teil 2

Mein Tagesablauf

Wie ich aufstehe

Wie ich Frühstück mache

Wie ich Wäsche wasche

Wie ich mich draußen bewege

Wie ich einkaufe

Das Thema »Essen« an sich

Zeit und Gesellschaft unter Verdacht

Eine flammende Rede

Hanka versus Hanka

Meine Erfolgsstrategie

Hanka 2016

Zukunftsprognosen werden hier nicht abgegeben

Auch der Profi ist optimistisch

Tipps für Angehörige

Epilog

Hintergründe

Während ich schlief …

Ich beobachte ihn schon eine ganze Weile. Wie lange, kann ich nicht sagen. Es können Tage oder Stunden sein. Wie er daliegt, wie Schneewittchen, ruhig und sanft gebettet. Er sieht sehr hübsch aus mit seinem dichten dunklen Haar, der blassen Haut und seinem hellblau gestreiften Schlafanzug. Es ist schön, dass er da ist, auch wenn er nur daliegt und sich nicht bewegt.

Die Couch, auf der ich meinen Beobachtungsposten bezogen habe, ist die Couch in unserem Wohnzimmer. Ich liege nicht allein darauf, sondern mit einem Freund oder einer meiner Schwestern. Hier und jetzt sind es nämlich zwei Schwestern … Mutti ist irgendwo in der Wohnung, wahrscheinlich in der Küche. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Es muss doch noch möglich sein!

Plötzlich zucken seine Hände und mein Herz scheint für einen Moment auszusetzen. Seine Arme bewegen sich und er redet mit geschlossenen Augen. Wach auf! Wach doch endlich auf! Ich habe entsetzliche Panik, dass er nur kurz träumt und mir dann endgültig entgleitet, in eine Welt, in der ich ihn nie mehr finden werde.

Ich schreie laut: »VATI! VATI!«

Dann ist es wieder ruhig und der Moment ist vorüber. Ich starre ihn an und auf einmal beginnt er, seinen Kopf in meine Richtung zu drehen, und öffnet seine Augen. Seine dunklen Augen treffen meine und wir schauen uns an.

Dieser Moment ist so wunderschön, dass Vergangenheit und Gegenwart scheinbar miteinander verschmelzen und alles einfach nur noch gut ist.

Er setzt sich auf und ich rufe glücklich und aufgeregt meine Familie hinzu. Ich stelle ihm alle vor, wie hübsch und groß meine Schwestern geworden sind. Mutti kommt auch dazu und alles ist gut. Vati staunt über uns und ich schaue ihn mir genau an. Fühle, wie er sich anfühlt, höre, wie seine Stimme und sein Lachen klingen, und will seinen Arm nie wieder loslassen. Die Welt ist in Ordnung.

Draußen ist es schon dunkel, es ist kalt an diesem Tag und der Wind treibt kleine Schneegriesel in eisigen Böen durch die Luft. Trotzdem hüpfe ich im langen, dünnen Nachthemd auf die feuchte Terrasse und drehe mich glücklich im Kreis. Alle schimpfen mit mir, was mir wieder einfalle, unbedacht und irgendwie verrückt wie immer. Nur Vati nicht. Er beobachtet mit einem stillen Lächeln und stolz sein kleines Mädchen, das zwar tatsächlich irgendwie anders ist, aber genauso möchte er es haben, und genau so hat er es sehr, sehr lieb.

Ich fühle mich unendlich geliebt und geborgen und werde nie mehr allein sein.

Etwas

Auf einmal stupst mir eine kalte Nase ins Gesicht und ich höre das beruhigende Schnurren der beiden sanften Biomotoren direkt neben meinem Ohr. Meine Kätzchen Pitti und Jacky. Wie jeden Morgen beginnt Jacky, an meinem linken Ohrläppchen zu nuckeln.

Das ist sehr niedlich und zaubert mir das erste Lächeln des Tages ins Gesicht. Sie ist als Minikatze zu mir gekommen, und da ich sie mit der Flasche großgezogen habe, hat sie mit ihren anderthalb Jahren noch immer diesen Saugreflex. Ich finde, sie hat mit dem Ohrläppchen eine kluge Wahl getroffen.

Wenn ich vor dem Spiegel stehe, bilde ich mir ein, mein linkes Ohrläppchen sei auch schon etwas länger. Irgendwann werde ich aussehen wie eine Buschfrau.

Langsam, ganz langsam dringt der neue Tag in mein Bewusstsein. Mein erster Blick gilt wie immer der Uhr über mir. Mist, wieder einmal viel zu lange geschlafen. Dabei ist das gar nicht gut für mich.

Aber ich bin gern im Bett, denn hier bin ich sicher. Hier fühle ich mich beschützt und unbeschwert. Meine Gedanken können fliegen und ich kann überall hin und alles erreichen. Ich denke mir Dinge aus, die ich unbedingt machen möchte und auf die ich mich freue. Hier bin ich wirklich ich – hier bin ich Hanka.

Pitti nörgelt und schimpft laut, denn er hat Hunger und will endlich raus. Ich muss zudem dringend auf die Toilette und trotzdem zögere ich, aus meinem Bett zu steigen. Denn da steht bereits etwas und wartet geduldig und schweigend.

Seit etwa zwanzig Jahren steht es mit aufdringlicher Zuverlässigkeit jeden Morgen vor meinem Bett. Und so steige ich denn gehorsam, wie ein williger Sklave, in die Zwangsjacke, die mir scheinbar auf den Leib geschneidert wurde. Wer dieses äußerst überflüssige Kleidungsstück in Auftrag gab und wann es geliefert wurde – ich kann es nicht mit Gewissheit sagen. Mit Gewissheit kann ich nur sagen, dass es wohl leider so schnell nicht aus der Mode kommt, denn ich kenne einige, denen es ähnlich geht. All jene, die scheinbar etwas fremdbestimmt von unsichtbaren Stimmen aus dem eigenen Unterbewusstsein gezwungen werden, lästige, zeitraubende Dinge immer wieder zu tun, oder die vor unnützen Dingen und Gedanken übertriebene Angst haben.

Auch ich steige jeden Morgen wie Mad Max in die Arena und beginne hundert Kämpfe, von denen ich jetzt schon weiß, dass ich bestimmt fünfundsiebzig davon verlieren werde. Es sind unsichtbare Kämpfe, die keiner sieht und keiner versteht. Denn sie finden in meinem Puppenköpfchen statt, das mir einfach nicht mehr so recht gehorchen will.

Darf ich mich vorstellen:

MEIN NAME IST HANKA RACKWITZ. ICH LEIDE UNTER WASCHZWANG, KONTROLLZWANG UND LEICHTER HYPOCHONDRIE. Parallel dazu hat man eine BORDERLINE-STÖRUNG bei mir diagnostiziert.

Eine flog übers Kuckucksnest

Damit zu leben kostet viel Kraft, und das Schlimme daran ist, dass man denkt, man ist ganz allein damit. Man ist extrem verunsichert. Und zunächst versteht man gar nicht, was mit einem los ist.

Deine sonderbaren Verhaltensweisen erschrecken dich, du versuchst, sie zu unterdrücken und zu verbergen, damit keiner etwas merkt. Sie haben sich dermaßen geschickt von der Seite angeschlichen, dass du es oft erst merkst, wenn es bereits zu spät ist.

Auf die Dauer kostet die einsame Auseinandersetzung mit den unsichtbaren Dämonen allerdings so viel Energie, und auch die Paniksituationen lassen sich näherstehenden Personen gegenüber nicht länger verbergen, dass es doch ans Tageslicht kommt. Ab dann wird es oft nicht leichter, im Gegenteil.

Denn dein Umfeld reagiert leider größtenteils mit Unverständnis. Du kriegst Sätze zu hören wie:

Hör doch einfach auf damit!

Ist doch sicher nur eine Frage des Willens!

Das bildest du dir alles nur ein!

Du willst doch nur im Mittelpunkt stehen!

Ich bitte euch! Wer will denn damit im Mittelpunkt stehen, dass er zum Beispiel Angst vor seinen Schuhen hat? Aber mit Ängsten und Zwängen trifft man meistens auf Engstirnigkeit, dein Leiden wird bagatellisiert oder es liefert Anlass zur Belustigung.

Dabei handelt es sich im gleichen Maße auch um ein körperliches Leiden, das in einer Kombination von beschädigter Seele und kranker Psyche des Betroffenen auftritt. Unser Hirnstoffwechsel ist im Ungleichgewicht und läuft in schiefen und falschen Bahnen. Das Gehirn ist erkrankt, genau wie es bei jedem anderen Teil unseres Körpers passieren kann. Warum nur, frage ich mich manchmal, ist das bei diesem Organ so schwierig zu begreifen?

Aber es läuft nun mal so: Hast du zwei Krücken unterm Arm und einen Humpelfuß, wird dir jeder die Tür aufhalten und sich äußerst rücksichtsvoll dir gegenüber verhalten. Bitte aber mal jemanden, dir die Tür zu öffnen, weil du Angst vor der Klinke hast! Das zieht oft soziale Ausgrenzung nach sich, und das ist das Letzte, was wir brauchen, da dadurch die Verhaltensunsicherheit und die soziale Scheu des Betroffenen steigen.

Fast genauso schwierig ist es, wenn Freunde oder Angehörige versuchen, dir die Zwänge durch Logik und Wissen auszureden oder zu erklären. Es ist zwar gut, dass du ernst genommen wirst und dein Gegenüber dir wirklich helfen will. Aber genau das macht die Sache auch umso komplizierter. Denn wir Betroffenen wissen ja, dass keine reale Gefahr besteht. Das muss man uns nicht erklären. Ich weiß, dass ein Stift, der auf den Boden gefallen ist, keine echte Gefahr darstellt für denjenigen, der ihn aufhebt.

Ich weiß das, ich war nicht schlecht in der Schule und habe einen zufriedenstellenden IQ, und trotzdem sind übertriebene Angst und unangebrachte Panik stets schneller als mein Verstand.

Oft verlieren diese netten Menschen dann aber die Geduld und schreiben einen ein klein bisschen ab. Und das ist schwer zu ertragen, denn dann hat man zusätzlich das Gefühl, die anderen zu enttäuschen.

Aber genau das ist der Punkt, der es für normale Menschen so schwer nachvollziehbar macht: Wenn es sich erklären ließe, ließe es sich verstehen. Aber es hat eben nichts mit Vernunft und rationalem Erfassen zu tun, sondern ist ein komplexer, scheinbar undurchdringlicher Teufelskreis der Komponenten Körper und Seele.

Botenstoffe im Hirn, sogenannte Neurotransmitter wie Adrenalin oder Serotonin, werden in zu großen oder zu geringen Mengen an falschen Stellen und zum falschen Zeitpunkt ausgeschüttet. Das führt zu unangepasstem, oft übersteuertem Verhalten des Betroffenen. Situationen, die völlig normal sind, werden als überdurchschnittlich gefährlich eingeschätzt und zwingen zum Handeln. Ein Handeln, welches, da es mit realen Verhaltensmustern keine Verbindung hat, oft sinnlos ist und in ritualisierten Zwangshandlungen endet.

Somit beginnt sich ein Hamsterlaufrad für den psychisch Kranken zu drehen, der in den Zwangshandlungen die ersehnte Sicherheit und Beruhigung sucht. Ein Teufelskreis aus Angst und Zwängen und dem Stück Leben dazwischen.

Mein Psychotherapeut hat einmal in einer Sitzung versucht, meinem Exfreund, der auch stets voller Unverständnis war, die Problematik zu umschreiben. Denn mein Freund war der festen Überzeugung, ich hätte einfach nur einen extrem schwachen Willen und würde mir alles lediglich einbilden, zum Teil auch, um mich wichtig zu machen. Nun ja, sagen wir es mal so – heute sind wir nicht mehr zusammen.

Harald (mein Therapeut) bat ihn also, sich einfach vorzustellen, ich hätte ein gebrochenes Bein und somit eine sichtbare Behinderung. Ich ziehe das Bild heran, da es einfach gut passt. Du würdest doch in diesem Fall auch nicht sagen, steh einfach auf und lauf los. Nur weil ein Leiden nicht sichtbar ist, ist es doch trotzdem real.

Aber da sich Zwänge unsichtbar im Kopf abspielen und meistens mit normalem Verstand nicht nachvollziehbar sind, stößt man leider ab und an auf Ablehnung. Mein damaliger Freund konnte oder wollte es nicht verstehen und so zerbrach die Beziehung daran. Es war ihm einfach zu viel, was ich in seinem Fall verstehe. Genauso sicher bin ich mir aber auch, dass es Menschen gibt, die einen genug mögen, um es aushalten zu wollen, und die einem auch über die eigene Komfortzone hinaus helfen wollen.

Einige ganz Schlaue versuchen auch, einen zu enttarnen, indem sie scheinbare Ungereimtheiten aufdecken. So schrieb mich nach einem Beitrag jemand an, das könne ja alles so nicht stimmen, da ich im Beitrag ohne Hemmung meinen Kater auf den Arm genommen hätte. Doch auch mit Logik kommt man hier eben nicht sehr weit.

Warum zum Beispiel habe ich Angst vor meinen Schuhen und vor dem Boden, lasse aber meine Kätzchen, die draußen herumstromern, mit im Bett schlafen? Ich weiß es nicht, bin aber echt froh, dass mein Kopf mir ab und zu eine Lücke für Liebe und Zärtlichkeit lässt. Es hat nichts mit Intellekt, nichts mit Logik zu tun, und es hängt in gar keinem Fall vom Willen ab. Man kann es nicht »weg-wollen«, und genau dieses Unvermögen lässt einen manchmal verzweifeln.

Da ich, von außen betrachtet, nicht das Bild einer leidenden Person abgebe, sondern eher das Gegenteil verkörpere, unterstellen mir sogar einige, ich wolle mich damit nur irgendwie zu etwas Besonderem machen, mich mal wieder in den Vordergrund drängen. Oder ich sei in Wahrheit ein Loser, der diese toughe, fröhliche Art nur spielt.

Das ist natürlich Unsinn, tut aber vor allem bei Menschen aus dem nahen menschlichen Umfeld oft weh und lässt die Last noch schwerer werden. Man fühlt sich in solchen Fällen sehr allein. Dabei stellen die einfachsten Dinge im Leben für mich eine kräftezehrende Herausforderung dar, die ich niemandem wünsche. Wenn andere ihren Tag erst richtig beginnen, ist meine Energie schon deutlich erschöpft.

In diesem Buch lasse ich für beide Parteien, für die Betroffenen, die Kraft, Mut und Hilfe brauchen, aber auch für die, die dieses Leiden nicht nachvollziehen können, einen ganz privaten Einblick in mein Leben mit Zwängen, Ängsten und Depressionen zu.

Denn es kann auch jemandem in deinem privaten Umfeld oder auch dir selbst passieren. Schaut euch eure Menschen mal ganz genau an.

In Deutschland sind aktuell fast zwei Millionen Zwangserkrankte gelistet. Und dabei handelt es sich nur um die Menschen, die den Mut aufbringen – oder die so verzweifelt sind, dass sie den einzigen Ausweg darin sehen, damit ans Licht zu treten.

Anfangs geschieht es fast unbemerkt, dass sich diese Verhaltensauffälligkeiten ins Leben schleichen. Ich denke, fast jeder von uns kennt ähnliche Situationen aus dem eigenen Erleben. Man verlässt die Wohnung etwas in Eile, hechtet mit Düsenantrieb zum Bahnhof, um den Zug noch zu erreichen, und auf einmal ist er da, der erschreckende Gedanke, der einem das Herz zum Stocken bringt: Hast du eigentlich den Herd ausgeschaltet? Oder die kleine Panikattacke, die man erlebt, wenn man vor Kurzem sein Portemonnaie verloren hat und sich nun in Erinnerung an diese Angst immer wieder hektisch auf die Jackentasche fasst, um beruhigt festzustellen, dass es noch da ist. Doch diese kleinen Ängste und Paniksituationen verlieren sich normalerweise im Alltagsgeschehen wieder.

Nicht bei uns. Bei uns sind sie geblieben.

Aus Marotten, wie zum Beispiel bei Christoph, der nicht einschlafen kann, wenn seine Hausschuhe nicht im 45-Grad-Winkel vor seinem Bett stehen, oder bei Lukas, der ein schief hängendes Bild in seiner Nähe einfach nicht ertragen kann, können Zwänge werden.

Da ist etwa Conny, die jeden Morgen die Latten am Gartenzaun ihres Nachbarn zählen muss, danach die Straßenlaternen und Briefkästen, bis sie wieder einmal zu spät zur Arbeit kommt, oder Wanda, die auf keine Pflasterstriche auf dem Bürgersteig tritt, um Unheil abzuwehren … es gibt so viele Beispiele. Was passiert, wenn aus liebenswerten Marotten das Leben quälend beeinträchtigende Zwänge, Phobien oder Neurosen werden?

Ich glaube, auch ein Außenstehender kann erahnen, wie sich verrückte Sachen in unser Leben schleichen können. Denn wer kennt das nicht, dass man mit sich selber wettet, wenn das nächste Gummibärchen rot ist, solltest du am Wochenende Lotto spielen, denn dann knackst du bestimmt den Jackpot und hast erst mal ausgesorgt. Aber warum kann der eine über solche Dinge lächeln und beim anderen werden sie manische Realität?

Die Gründe hierfür sind, wie gesagt, vielfältig und sitzen häufig sehr tief im Leben der Betroffenen versteckt. Da diese Ursachen sich in unserem Unterbewusstsein verbuddelt haben und in Einzelfällen auch unbewusst ausgelöst wurden, sind die daraus resultierenden Ängste, Zwänge, Phobien und Depressionen schwierig zu therapieren.

Ich habe zum Beispiel einen jungen Mann kennengelernt, der eine erfolgreiche Karriere als Fußballprofi in Aussicht hatte. Er wurde sehr gelobt und bekam eine Topposition im Team. Zeitgleich stand der Erfolgsdruck wie eine Betonmauer vor ihm. Mit Entsetzen bemerkte er immer wieder, dass er nicht mit der Mannschaft im Bus zum Austragungsort der Spiele fahren konnte, da er immer sofort nach der Abfahrt einen unhaltbaren Harndrang verspürte.

Die Angst, sich durch zügelloses Gepinkele zu blamieren, machte es für ihn unmöglich, mit zu den Spielen zu fahren.

So ging es ihm ab diesem Tag in jedem Transportmittel. Und er musste jedes Mal wirklich – keine Einbildung. Was war passiert? Durch psychotherapeutische Behandlung stellte sich Folgendes heraus: Als er an einem länger zurückliegenden Tag mit dem Bus zu einem wichtigen Spiel gefahren war, nahm er am Rande wahr, wie ein kleines Mädchen seine Mutter im Bus bedrängte: »Mami, ich muss dringend auf Toilette! Wann sind wir da? Ich schaffe es nicht mehr!«

In dem Moment hat sich seine Angst vor dem Versagen beim Fußballspiel in seinem Unterbewusstsein mit dem Gespräch zwischen Mutter und Tochter im Bus verbunden. Nachdem der Psychotherapeut diesen Zusammenhang mithilfe einer Gesprächstherapie herausgefunden hatte, war der junge Mann geheilt und spielt noch heute erfolgreich und ohne nasse Hose.

Aber wieso arbeiten Körper und Hirn bei etlichen Menschen scheinbar gegen sich selbst? Was kann man in solchen Fällen tun? Wer kann wie helfen? An wen kann man sich wenden? Wie kann man damit leben? Wie kann man die Auslöser ausmachen? Was macht wirklich Sinn?

Ich werde in diesem Buch einige dieser Fragen so gut wie möglich beantworten. Vielleicht können wir uns ja gegenseitig helfen, unsere Dämonen zu bekämpfen und in den Griff zu kriegen. Ich hoffe wirklich sehr, dass dieses Buch euch Mut macht, die Initiative zu ergreifen und den Kampf um ein besseres Leben wieder aufzunehmen.

Das sind wir uns und dem Leben schuldig.

Ich werde euch dabei Hilfestellung geben und Möglichkeiten beschreiben, mit den lästigen Zwängen umzugehen.

Wege, die ich selber schon erfolgreich gegangen bin, werde ich für euch beschreiben, um zu helfen, wo ich nur kann. Vielleicht werden wir diese doofen Zwänge nur sehr schwer oder manchmal auch nicht ganz los, aber wir können definitiv lernen, viel, viel besser damit zu leben.

Das verspreche ich euch.

Was macht den Zwang so zwingend?

Zu Beginn erst einmal etwas notwendige wissenschaftliche Detektivarbeit. Was macht den Zwang zum Zwang, wie entsteht er, und wie beeinflusst er unser Denken und Handeln? Welche Rolle spielt er im Leben?

Im Gegensatz zu den meisten anderen Einflüssen auf das Verhalten unseres Körpers ist der Begriff »Zwang« fast ausschließlich mit etwas Unangenehmem belegt.

So hat zum Beispiel die Angst eine wichtige Funktion, um uns in real gefährlichen Situationen zu beeinflussen, damit wir Schutz suchen, die Flucht ergreifen oder uns wehren. Das ist für das Überleben von immenser Wichtigkeit. Zwänge hingegen drängen den Menschen zum Handeln gegen den eigenen Willen und gegen die eigene Überzeugung. Man agiert in diesem Moment nach dem Willen von etwas anderem.

Für Menschen mit einer Zwangsstörung ist dieses andere eine innere Fernsteuerung, die ihn dahingehend manipuliert, unsinnige Dinge zu fühlen und zu tun. Er kann sich schwer oder scheinbar gar nicht dagegen wehren. Der Betroffene wird von ungewollten Gedanken, fixen Ideen und zwingenden Impulsen heimgesucht, die zum Beispiel Angst, Panik, Wut, Aggression, Ekel oder Hass auslösen.

Diese nicht vermeidbaren, äußerst unschönen Gedanken können hierbei aus den vielfältigsten Lebensbereichen entspringen. Fast jede Situation und Erlebnisebene unseres täglichen Lebens kann hierbei zum Zwangsschauplatz werden.

Mit am häufigsten sind Befürchtungen, dass man die Kontrolle über sich oder sein Umfeld verliert, durch das eigene Verschulden kontaminiert wird oder aber (durch die völlige Überbewertung der eigenen Gedanken) sich selbst und anderen Schaden zufügt.

Typisch für den Gedankenverlauf, welcher der Zwangshandlung vorausgeht, ist das absolute Katastrophisieren der Befürchtungen, wie zum Beispiel, dass man den Tod findet, wenn man das Kissen anfasst. Die Tatsache, dass der Betroffene hierbei stets vom Schlimmsten ausgeht, macht die Zwangshandlung dringend notwendig. Man stellt sich immerfort vor die Entscheidung: Was ist jetzt besser, noch mal fix die Hände waschen oder dahinscheiden? Die Antwort ist leicht gegeben. Tut man nichts, führt dieses zu unkontrollierbarer Panik.

Das Gehirn bleibt in diesem Panikmoment, der einen handlungsunfähig macht, quasi stecken und lässt ihn nicht mehr vergehen. Der Betroffene ist scheinbar nicht dazu in der Lage, sich abzulenken und andere Lösungswege zu finden als das Ausführen der ritualisierten Zwangshandlung. In meinem Fall habe ich diesen Zustand oft mit dem lauten Summen eines monotonen Lautes unterlegt, der zeitgleich Ausdruck für die Nulllinie in meinem Kopf war. Man ist unfähig, an etwas anderes zu denken. Diese Situation ist für den Betroffenen extrem unangenehm und stressig, und somit entsteht das nachvollziehbare, dringende Bedürfnis, diese zu beenden, die Panik zu verringern und in den angenehmen, ruhigen Normalzustand zurückzukehren.

Warum ich mir achtzigmal am Tag die Hände wasche

An dieser Stelle beginnt die Zwangshandlung. Sie ist der sprichwörtliche Rettungsring, nach dem der Betroffene wie ein Ertrinkender greift. Der Mensch, welcher unter Zwangsstörungen leidet, reagiert scheinbar fremdgesteuert wie ein Roboter und versucht verzweifelt, durch gegensteuernde, ritualisierte Handlungsabläufe, wie zum Beispiel wiederholtes, heftiges Händewaschen oder zigmaliges Nachschauen oder andersartige Wiederholungen, die scheinbare Gefahr zu neutralisieren und sich selbst dadurch wieder zu beruhigen. Die Zwangsgedanken stehen hierbei fast immer in Verbindung mit Zwangshandlungen und gehen diesen voraus. Die erhoffte Ruhe stellt sich nach kräftezehrenden Zwangshandlungsabläufen tatsächlich irgendwann wieder ein, jedoch beherrscht dieser Teufelskreis nun bereits das Leben und unterwirft es seinen Regeln. Es kann beim nächsten Mal länger dauern, bevor sich die ersehnte Ruhe wieder einstellt. So sind einige Patienten bis zu zwölf und mehr Stunden am Tag ausschließlich mit Zwangshandlungen beschäftigt. Diese werden so existenziell wichtig, da sie den betroffenen Menschen suggerieren, dass etwas Schreckliches passieren wird, wenn man nicht unverzüglich die entsprechenden Zwangshandlungen in ritualisierter Abfolge ausführt. Kurioserweise ist es hierbei dem Betroffenen fast immer absolut bewusst, dass diese Zwangshandlungen sinnfrei und überflüssig sind, da keine reale Gefahr besteht. Doch er kann sich nicht unterbrechen oder aufhalten. Er handelt wider besseres Wissen. Bei absolut normalem Verstand nimmt er sein verrücktes Handeln wahr. Doch dieses fremdbestimmte Handeln und Fühlen überstimmt stets den Verstand. Das ist zusätzlich erniedrigend und deprimierend.

Beim Rütteln an der vorher selbst abgeschlossenen Wohnungstür hat der Betroffene sich bereits beim Verschließen extrem auf die mehrfachen Schließgeräusche des Schlosses konzentriert. Er hat genau gehört, dass das Schloss zuschnappte, und das danach folgende Gegendrücken beweist ihm, dass die Wohnungstür definitiv zu ist. Trotzdem kann er nicht gehen. Seine Füße sind wie festgeschweißt. Er erstarrt in Panik, da diese Botschaft offenbar nicht in seinem Gehirn angekommen ist.

Dazu kommt die Angst vor der Angst, das heißt, er befürchtet, auf der Arbeitsstelle oder wohin ihn sein Weg nach Verlassen der Wohnung auch führt, Panik zu bekommen, weil er nicht sicher ist, ob er tatsächlich abgeschlossen hat oder nicht. Die ersehnte absolute Gewissheit darüber will sich erst nach etlichen wiederholten Kontrollzwangshandlungen einstellen. Erst dann kann man erschöpft und oft auch beschämt gehen. Zu spät zu kommen ist im Übrigen typisch für Betroffene.

In Deutschland leiden, wie bereits gesagt, ungefähr zwei Millionen Menschen (gelistet/ungelistet) im Laufe ihres Lebens an Zwangsstörungen der verschiedensten Art. Männer weisen hierbei eine deutliche Tendenz zu Sozialphobien und Kontroll- und Ordnungszwänge auf, wobei Waschzwänge, Angstneurosen und Depressionen häufiger beim weiblichen Geschlecht diagnostiziert werden.

Was passiert in meinem Kopf?

Einfach ausgedrückt, lässt sich feststellen, dass bei Menschen mit Zwangsstörungen der Hirnstoffwechsel im Ungleichgewicht ist und dass dadurch Teilbereiche des Gehirns in falschen Bahnen funktionieren. Hierbei sind bestimmte Regionen des Gehirns im Übermaß aktiv. Das wiederum ist die Ursache dafür, dass die für das Steuern unseres Handelns und Entscheidens mitverantwortlichen Bereiche des Nervensystems in unsinnigen Mengen mit wichtigen Botenstoffen, wie zum Beispiel mit dem bereits genannten Serotonin, versorgt werden.

Es lässt sich nicht festlegen, ob die Störung auf einer Über- oder Unterversorgung beruht. Bei manchen Patienten wird zu viel, bei anderen zu wenig ausgebildet und ausgeschüttet. Durch diese Ungereimtheiten in der Versorgungskette kommen wichtige Bereiche unserer Informationsverarbeitung komplett durcheinander und verarbeiten neu ankommende Informationen und Eindrücke in falschen Zusammenhängen. So kann ein Gehirnbereich zum Beispiel nicht registrieren, dass eine Gefahrensituation vorüber ist, sondern donnert in einem fort »Alarmstufe Rot«-Botenstoffe an die Front.

Okay, das ist, denke ich, zu verstehen. Aber was ist die wichtige Botschaft dieser wissenschaftlich beschriebenen Vorgänge in unserem Körper?

Der springende Punkt ist, dass damit bewiesen ist, dass wir nichts dafür können, wie unsinnig wir uns verhalten. Es liegt nicht an unserem schwachen Willen, sondern daran, dass ein Organ in unserem Körper nicht richtig funktioniert. Mir hat dieser Gedanke sehr geholfen, denn er hat mir die Last der Verantwortung für mein Leiden von den Schultern genommen.

Von Brücken und Begegnungen

Es ist immer wieder verdammt schwierig, eine Brücke zwischen »normalen« und »unnormalen« Menschen zu schlagen, um das Unverständnis zu überwinden und Verständnis zu erreichen. Ich möchte ein Beispiel nennen, in dem das Dilemma deutlich wird. Es geht dabei um eine nicht ganz unwichtige Person bei der Erstellung dieses Buches, meine Koautorin Petra.