Ich war BILD - Kai Diekmann - E-Book
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Ich war BILD E-Book

Kai Diekmann

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Beschreibung

„Ich war ein Junkie. Und BILD meine Droge.“ Kai Diekmann

16 Jahre lang hat der Chefredakteur der BILD bestimmt, worüber Deutschland spricht – jetzt spricht er erstmals selbst


Als am längsten amtierender Chefredakteur der BILD-Zeitung setzte Kai Diekmann Tag für Tag die Themen, die das Land bewegten. Die Mächtigen der Republik gaben sich in seiner Redaktion die Klinke in die Hand, vertrauten sich ihm an, stachen Staatsgeheimnisse zu ihm durch – oder redeten sich auf seiner Mailbox um Kopf und Kragen. Von Boulevard bis Staatsaffäre: Kai Diekmann wusste immer, wo in den Ereignissen die Schlagzeile für die nächste Ausgabe zu finden war. In Ich war BILD erzählt er die Geschichten hinter diesen Schlagzeilen – und wie sie ihn und die Republik verändert haben.

In Ich war BILD gibt Kai Diekmann exklusive Einblicke hinter die Kulissen von Europas auflagenstärkster Boulevardzeitung. Er erzählt vom legendären Telefonanruf Wulffs und dessen langem und tiefen Fall, von Putins Badehose und Erdoğans Ausfälligkeiten, von der tiefen Freundschaft zu Helmut Kohl und den mit Hingabe ausgetragenen Feindseligkeiten mit Schröder und der linken taz, von der Abhöraffäre Wallraff und dem einzigen Interview, das Trump je einem deutschen Journalisten gab.

Als Macher und Blattmacher erzeugte Diekmann jede Menge Gegenwind: Er schmeichelte, lobte, umgarnte, kritisierte und vernichtete, er pflegte überraschende Freundschaften und tiefe Feindschaften – und aus dem einen wurde manchmal auch das andere. Über Jahrzehnte hat er Begegnungen und Ereignisse dokumentiert, Tagebuch geführt, Gesprächsnotizen angefertigt, Briefe und E-Mails aufbewahrt – ein privates Archiv voller Aufzeichnungen und Dokumente, die dieses Buch erstmals zugänglich macht.

Ich war BILD ist eine überraschend andere Geschichte der Berliner Republik, eine rasante Erzählung voller Enthüllungen, auf der Basis bislang unbekannter Quellen, üppig illustriert mit noch nie gesehenen Fotos und Dokumenten.

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„Ich war ein Junkie. Und BILD meine Droge.“ Kai Diekmann

16 Jahre lang hat der Chefredakteur der BILD bestimmt, worüber Deutschland spricht – jetzt spricht er erstmals selbst

Als am längsten amtierender Chefredakteur der BILD-Zeitung setzte Kai Diekmann Tag für Tag die Themen, die das Land bewegten. Die Mächtigen der Republik gaben sich in seiner Redaktion die Klinke in die Hand, vertrauten sich ihm an, stachen Staatsgeheimnisse zu ihm durch – oder redeten sich auf seiner Mailbox um Kopf und Kragen. Von Boulevard bis Staatsaffäre: Kai Diekmann wusste immer, wo in den Ereignissen die Schlagzeile für die nächste Ausgabe zu finden war. In Ich warBILD erzählt er die Geschichten hinter diesen Schlagzeilen – und wie sie ihn und die Republik verändert haben.

In Ich warBILD gibt Kai Diekmann exklusive Einblicke hinter die Kulissen von Europas auflagenstärkster Boulevardzeitung. Er erzählt vom legendären Telefonanruf Wulffs und dessen langem und tiefen Fall, von Putins Badehose und Erdoğans Ausfälligkeiten, von der tiefen Freundschaft zu Helmut Kohl und den mit Hingabe ausgetragenen Feindseligkeiten mit Schröder und der linken taz, von der Abhöraffäre Wallraff und dem einzigen Interview, das Trump je einem deutschen Journalisten gab.

Als Macher und Blattmacher erzeugte Diekmann jede Menge Gegenwind: Er schmeichelte, lobte, umgarnte, kritisierte und vernichtete, er pflegte überraschende Freundschaften und tiefe Feindschaften – und aus dem einen wurde manchmal auch das andere. Über Jahrzehnte hat er Begegnungen und Ereignisse dokumentiert, Tagebuch geführt, Gesprächsnotizen angefertigt, Briefe und E-Mails aufbewahrt – ein privates Archiv voller Aufzeichnungen und Dokumente, die dieses Buch erstmals zugänglich macht.

Ich warBILD ist eine überraschend andere Geschichte der Berliner Republik, eine rasante Erzählung voller Enthüllungen, auf der Basis bislang unbekannter Quellen, üppig illustriert mit noch nie gesehenen Fotos und Dokumenten.

Kai Diekmann, geboren 1964, interviewte bereits 1982 als Bielefelder Gymnasiast Helmut Kohl für die von ihm gegründete konservative Schülerzeitung. Während seiner Bundeswehrzeit gelang ihm mit einem Praktikum beim Axel Springer Verlag der Einstieg in den Journalismus. Von 1998 bis 2000 war Diekmann Chefredakteur der WELT am SONNTAG, von Januar 2001 bis Januar 2017 an der Spitze von BILD. In diese Zeit fielen viele Ereignisse, die Deutschland bewegten: der Skandal um Christian Wulff, Putins Invasion der Krim, Angela Merkel und das Flüchtlingsdrama, der Tod von Altkanzler Kohl. Kai Diekmann selbst wurde zum Anschlagsziel von Extremisten. Er ist einer der Mitgründer der Social-Media-Agentur Storymachine und lebt mit seiner Familie in Potsdam.

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Kai Diekmann

Ich war BILD

Ein Leben zwischen Schlagzeilen, Staatsaffären und Skandalen

Deutsche Verlags-Anstalt

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Copyright © 2023 by Deutsche Verlags-Anstalt, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion und Recherche: Sabine Sasse

Bildredaktion: Bele Engels

Bildbearbeitung: Aigner, Berlin

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildungen: © Peter Rigaud, Berlin

Layout und Satz: Veronika Illmer, Berlin

E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30449-2V003

www.dva.de

Meinen Kindern Yella, Caspar, Kolja und Lilly

Folgt eurem Herzen, eurer Leidenschaft – Hinfallen gehört dazu, Aufstehen muss man lernen.

PROLOG

Mal kurz vorweg: Eigentlich dürfte es dieses Buch nicht geben. Nicht etwa, weil Juristen mir einen Strich durch die Rechnung gemacht hätten. Was nicht gänzlich auszuschließen gewesen wäre: Auf den nächsten paar Hundert Seiten erzähle ich nämlich viele Geschichten, die einer ganzen Reihe von Leuten nicht gefallen werden. Deshalb habe ich das Manuskript zu diesem Buch schon im Vorfeld Anwälten vorgelegt, damit Seite für Seite geprüft wird. Wir – der Verlag, meine Lektorin, ich – sind uns gleichwohl des Risikos bewusst, das wir mit der Veröffentlichung eingehen. Aber: Wir sind auch der Meinung, dass die Geschichten erzählt werden müssen, wie sie wirklich waren. Und was ich hier mit Ihnen teile, kann ich belegen: Ich habe über Jahrzehnte Dokumente, Briefe, Tagebuchnotizen, Kalender aufbewahrt. Ich war schon immer ein manischer Sammler. Manischer Messi, wie es meine Familie weniger schmeichelhaft formuliert.

Aber wie gesagt: Nicht Juristen haben mich ausgebremst. Ich selbst hätte mich beinahe aus dem Spiel katapultiert. Und zwar schon 22 Jahre vor diesem Buch.

Denn als ich im Januar 2001 meinen Job als BILD-Chef antrete, sieht es nach kürzester Zeit so aus, als würde ich nicht der am längsten amtierende BILD-Chef aller Zeiten werden, sondern der am schnellsten gefeuerte.

Fast wäre ich nie BILD gewesen.

Sondern nur eine kurze Bildstörung.

Und das kam so:

Es ist Montagfrüh, der 29. Januar 2001. Ich bin 36 Jahre alt und seit 28 Tagen Chef von BILD.

Wir haben auf Seite zwei ein riesengroßes Foto von Jürgen Trittin, dem grünen Umweltminister. Es zeigt ihn, reichlich unscharf, auf einer gewalttätigen Antifa-Demonstration in Göttingen. Was machte Minister Trittin auf dieser Gewalt-Demo?, lautet anklagend unsere Schlagzeile. In der Bildunterschrift heißt es:

Vermummte Autonome demonstrierten mit Schlagstock und Bolzenschneider gegen die Ermittlungen der Justiz in der linken Szene. Auf einem Foto ist der lächelnde Jürgen Trittin zu sehen.

Die Wörter Schlagstock und Bolzenschneider drucken wir zur Sicherheit besonders groß. BILD liegt nur wenige Stunden am Kiosk, da platzt die Bombe. Ich bekomme die Nachricht, dass der vermeintliche Bolzenschneider ein Handschuh ist, der angebliche Schlagstock ein Seil. Kurz: Unsere Berichterstattung ist blanker Unsinn.

Für einen Moment schwankt unter mir der Boden. Es ist dieses Gefühl aus Albträumen; als säßest du in der Matheklausur, schaust auf den Prüfbogen und stellst fest: Du kannst keine einzige Aufgabe. In Schockstarre erlebe ich, wie die Hölle losbricht. Mir wird vorgeworfen, ich hätte das Foto absichtlich manipulieren und verfälschen lassen, um Trittin zu schaden. SPD-Fraktionschef Peter Struck und Grünen-Vorsitzender Fritz Kuhn fordern mich auf, mich öffentlich bei Trittin zu entschuldigen. Es hagelt Gegendarstellungen, Anzeigen, Klagen. Unsere Rechtsabteilung weiß gar nicht, wo sie zuerst anfangen soll. Ein irrsinniger Druck liegt auf mir. Noch nie in meinem Leben habe ich so in der Kritik gestanden. Dabei muss ich erst mal verstehen, was da so katastrophal schiefgelaufen ist. Mir Klarheit verschaffen, um reagieren zu können.

Recht bald stellt es sich so dar: Das Münchener BILD-Büro hatte besagtes Trittin-Foto im Magazin Focus entdeckt, die ohnehin schon unscharfe Aufnahme – ein Standbild aus einem TV-Beitrag – auf den Kopierer gelegt und nach Hamburg in die BILD-Bundesredaktion gefaxt. Darüber waren die Bildränder abgeschnitten worden – Folge der begrenzten Technik. Erster fataler Umstand.

Hast du kein Glück, kommt auch noch Pech hinzu.

In der Tagesproduktion der Zeitung passierte dann der zweite entscheidende Fehler: Beim Layouten des Artikels war nicht, wie im redaktionellen Prozedere eigentlich üblich, ein sogenannter Blindtext als Platzhalter eingesetzt worden: lorem ipsum dolor sit amet, consectetur adipiscing …, sondern ein Kollege hatte seinen eigenen Blindtext erfunden, weil er glaubte, auf dem Foto spannende Details zu erkennen.

So standen da plötzlich zwei schicksalhafte Wörter:

Bolzenschneider

Schlagstock

Vom Pech zum Desaster war es dann nur noch ein kleiner Schritt. Wir alle – vom Schlussredakteur bis hin zu mir, dem Chefredakteur, der die finale Seite vorgelegt bekommt, um sie abzunehmen – erkannten Bolzenschneider und Schlagstock nicht als blind getexteten Quatsch, sondern nahmen die zwei Wörter für bare Münze. Jeder verließ sich darauf, dass der andere genau hinguckte und die behaupteten Fakten verifiziert waren. Dabei bin ich eigentlich ein Kontrollfreak, der alles dreimal prüft und viermal hinterfragt. Ich übersah den blinden Fleck im System.

Niemand tritt an, um Fehler zu machen. Wo Menschen arbeiten, passieren Fehler. Jeder kennt diese wohlfeilen Sätze. Sie stimmen. Aber sie retten mich jetzt in dieser Situation nicht. Das Trittin-Debakel ist so dramatisch, dass ich befürchte, dass es mir das Genick brechen wird. Während mein Telefon Sturm klingelt, bleibt es aus dem Verlag verdächtig still. Logisch. Wer sollte mir Rückendeckung geben, wo nicht klar ist, wie die Schlacht ausgeht? Das sind die brutalen Regeln an der Spitze:

Wer untergeht, tut das hübsch allein.

Die Schlagzeilen der nächsten Tage sind bitter.

»Bei BILD brennen die Sicherungen durch« (Süddeutsche Zeitung). 1

»BILD lügt wieder« (taz). 2

»Trittin prüft rechtliche Schritte gegen BILD-Zeitung« (dpa). 3

Manche Kommentatoren sehnen meine Vorgänger Claus Larass und Udo Röbel zurück. Es ist eine Katastrophe, und es wird jeden Tag schlimmer. Ich kann mir lebhaft vorstellen, was für ein wunderbares Fest das für all jene ist, die von Anfang an meinten, mit mir als Chefredakteur sei das Blatt wieder in alte, dunkle Zeiten zurückgefallen. In einem eilig anberaumten SPIEGEL-Interview stelle ich mich den Vorwürfen: »Ich nehme jede Seite der Bundesausgabe von BILD persönlich ab und trage damit die Verantwortung.« 4

Ich rechne täglich damit, gefeuert zu werden. Jeder Arbeitstag fühlt sich an wie der letzte. Wenn ich spätabends erschöpft nach Hause schleiche, kann ich nur mit Mühe den Impuls unterdrücken, mich bei den Kollegen mit den Worten zu verabschieden: »War schön mit euch!«

Das »Bis morgen!« geht mir jeden Tag schwerer über die Lippen.

»Wie geht es dir?«, fragt Katja, meine Freundin, mit der ich erst ein paar Tage zusammen bin.

»Dead man walking«, murmele ich matt.

BILD bittet Trittin schon am nächsten Tag um Entschuldigung. Parallel rufe ich in Trittins Büro an, um mich auch persönlich zu entschuldigen. Der Minister ist nicht erreichbar. Ich hinterlasse bei seinen Mitarbeitern eine Nachricht.

Trittin ruft nicht zurück.

Ich versuche es erneut, bitte noch mal um Rückruf. Wieder vergeblich.

Fünf quälende Tage geht das so. Von Trittin keine Reaktion.

Am Freitag wähle ich zum x-ten Mal die Nummer seines Ministerbüros:

»Wir stellen durch«, heißt es überraschend. Ich hatte schon gar nicht mehr damit gerechnet.

»Trittin«, höre ich seine sonore Stimme. Meine Entschuldigung nimmt er ohne weiteren Kommentar zur Kenntnis.

»Sagen Sie mal, warum erreiche ich Sie erst jetzt?«, will ich am Ende dieses sehr kurzen Telefonats wissen.

»Sonst wäre es ja eine langweilige Woche geworden«, kommt es trocken zurück.

Und so lernte ich in einer meiner dunkelsten BILD-Stunden von Jürgen Trittin eine meiner wichtigsten Lektionen: Einen schönen Streit bloß nicht zu früh abräumen. Lass deinen Gegner schmoren. Mach ihn zum Frosch im Kochtopf, während das Wasser langsam seinen Siedepunkt erreicht.

Am Ende habe ich dann doch noch 16 lange Jahre einer BILD-Redaktion vorgestanden, die in ihrer besten Zeit über 800 Mitarbeiter hatte, 30 Regional- und Lokalausgaben produzierte, die größte Zeitung Europas war und online mehr Leser erreichte als jedes andere Medium in Deutschland. Kein anderer BILD-Chefredakteur hat es so lange an der Spitze dieser so mächtigen und so umstrittenen Marke ausgehalten wie ich.

Wenn man mich fragt, was es braucht, BILD-Chef zu sein, ist meine Antwort: Es braucht eine große Portion Resilienz, du musst einen Machtdrang verspüren, sehr viel Ehrgeiz, Leidenschaft bis zur Manie. BILD-Chef ist kein Job, BILD-Chef ist eine Haltung.

Dabei gibt es kein Handbuch, wie BILD-Chefredakteur geht. Das muss aus dir selbst kommen. Von meinem Vorgänger Günter Prinz stammt die Feststellung: »Die Zeitung ist immer ein Spiegel der Seele des Chefredakteurs.«

Aber wie sieht es denn nun in meiner Seele aus?

Im Kern bin ich ein Suchender, ein Ausprobierer, und in mir drin passt wenig zueinander. In meinem Bielefelder Elternhaus war BILD tabu – mit dem Ergebnis, dass ich weit über die Hälfte meines Lebens bei BILD verbracht habe. Ich habe von Fußball nicht den Hauch einer Ahnung, dabei ist BILD das Zentralorgan dieses Sports.

Als Schüler trieb ich mich liebend gern in Kunstmuseen herum, für BILD war Kultur, wenn auf der Theaterbühne der Hauptdarsteller vom herabfallenden Kronleuchter erschlagen wurde.

Aber ich bin auch ein Krawallheini.

Während meine Altersgenossen in den 1980er Jahren Parkas und Palästinensertücher trugen und Plakate mit Bildung statt Bomben hochhielten, um gegen USA, NATO und Atomkraft zu demonstrieren, trug ich demonstrativ einen schwarzen Samsonite-Aktenkoffer mit Franz-Josef-Strauß-Aufklebern mit mir herum, machte Straßenwahlkampf für die CDU, saß als Schülerzeitungsreporter bei Bundeswehrmanövern im Kampfpanzer Leo II und veröffentlichte über Udo Lindenberg ein Pamphlet mit dem Titel Udo linker Zwerg. Man sollte auch zu den schlechten Wortwitzen seiner Vergangenheit stehen.

Ich musste immer alles anders als die anderen machen, hatte fast einen Zwang, gegen den Strom zu schwimmen. Auch bei der Bundeswehr lief es holprig. Nachdem ich mich zunächst begeistert als Zeitsoldat verpflichtet hatte, durfte ich von zwölf Wochen Grundausbildung bei der Panzerartillerie Münster-Handorf die Kaserne an gefühlt zehn Wochenenden aus disziplinarischen Gründen nicht verlassen: Bett nicht auf Kante gemacht, Hemden nicht ordentlich gefaltet, freches Auftreten gegenüber den Vorgesetzten.

»Wo glauben Sie eigentlich, wo Sie sind, Kanonier Diekmann?«, hatte mich mein Zugführer angebrüllt.

»In Münster-Handorf, du Arschloch«, hatte ich korrekt zu Protokoll gegeben.

Als meine kurzen Haare knapp den Uniformkragen berührten, hieß es: »Was ist das hier für eine Hippieveranstaltung, Kanonier Diekmann?«

Also rasierte ich alles raspelkurz – und ließ mir stattdessen eine Art Pferdeschwanz aus der Stirn wachsen. Stirnhaarlänge war nämlich in der ZDV, der Zentralen Dienstvorschrift, nirgends geregelt. Meine Vorgesetzten ärgerten sich die Krätze.

Ich entwickelte immer mehr Fantasie, mithilfe der ZDV gegen das System zu revoltieren. Denn was nicht ausdrücklich verboten war, musste, so der Umkehrschluss, erlaubt sein. Als Soldat in Uniform durfte man eigentlich keine Sonnenbrille tragen. Also ließ ich mir eine Bindehautentzündung attestieren und bekam eine Sonnenbrillentragegenehmigung. Fortan lief ich mit großer rosa Brille auf der Nase über den Kasernenhof – denn welches Modell, das war natürlich nicht Teil der Sonnenbrillentragegenehmigung.

Und dann sollte ich eines Tages wieder mal eine Regel aus der ZDV abschreiben, Thema diesmal: »Warum ich meine Kameraden nicht zum Kameradendiebstahl verführen darf«. Ich hatte meinen Spind nicht abgeschlossen. Abschreiben fand ich doof. Stattdessen formulierte ich lieber ein umfang- und detailreiches Gesuch, das in dem Satz gipfelte:

Ich bitte um Versetzung in eine andere Einheit, wenn ich davon ausgehen muss, dass Sie mich hier mit lauter potenziellen Kriminellen auf einer Stube zusammengelegt haben.

»Wissen Sie eigentlich, Kanonier Diekmann, dass es bei der Bundeswehr eine Pressestelle gibt?«, erbarmte sich ein verständiger Oberstleutnant. So fand also nicht ich zum Journalismus – der Journalismus fand zu mir.

Meine neue Heimat: die Redaktion der Truppenzeitschriften Luftwaffe, Heer und Marine beim I. Korps in Münster. Hier entdeckte ich zunächst die Dunkelkammer für mich – primär, um fehlenden Schlaf nachzuholen, dann natürlich, um die Unzahl von Fotos zu entwickeln, die ich als Bundeswehrfotograf von nun an machte. Ich begann zu inszenieren. Denn – das begriff ich schnell – die visuelle Inszenierung eines Artikels war mindestens genauso wichtig wie die geschriebene Story.

So besorgte ich mir eine tiefgefrorene Fledermaus aus dem Naturkundemuseum und fotografierte sie mit ausgebreiteten Flügeln vor einem schemenhaft erkennbaren Soldaten. Dazu die Story: »Erst Truppenübungsplatz, jetzt Biotop«. Oder steckte einen Soldaten in Kaftan und Turban, die ich mir im Stadttheater Münster geliehen hatte, und stellte ihn für ein Foto in die erste Reihe seiner Kompanie. Story: »Muslime in der Bundeswehr«. So was ging damals noch. Heute schäme ich mich dafür fremd.

Auf jeden Fall sorgten die Fotos für Wirbel, und plötzlich war da ein Anruf der BILD-Redaktion Essen-Kettwig: »Hätten Sie nicht Lust, ein Praktikum bei uns zu machen?«

Und wie ich Lust hatte – aber dummerweise keinen Urlaub mehr. Mein Vorgesetzter, der sogenannte LdP, Leiter der Presse, wiederum ein Oberstleutnant, machte auf sehr unkonventionelle Art den Weg frei für mich: Er kommandierte mich kurzerhand zur BILD-Zeitung ab. Begründung: »Verbesserung der gegenseitigen Pressekontakte«. Rückblickend der Moment, der wie nur wenige andere mein weiteres Leben bestimmen sollte.

Der Rest ist schnell erzählt. Aus einem Praktikum in Essen-Kettwig wurde ein Volontariat bei der BILD am SONNTAG in Hamburg. Die letzten drei Monate durfte ich zum Springer-Auslandsdienst SAD nach New York. Als ich hier an meinem ersten Arbeitstag um 6.00 Uhr früh auf der Matte stand, saßen alle an ihren Schreibtischen und schienen zu warten. Worauf, das begriff ich zehn Minuten später. Da flog nämlich die Tür auf, und ein Bote brachte New York Times, Washington Post, New York Post – all die aktuellen amerikanischen Tageszeitungen. Und die lieben Kollegen? Flöhten die Zeitungen nach Geschichten, die für Deutschland interessant sein könnten, übersetzten sie eins zu eins und schickten sie per Telex nach Hamburg. Draußen tobte das Leben, drinnen wurden Texte kopiert. Das war ich nicht.

Also ging ich raus, immer die Kamera über der Schulter, und suchte meine eigenen Geschichten: Voodoo-Zeremonie in Harlem, Fix-und-Foxi-Erfinder Rolf Kauka auf seiner Wahnsinnsfarm in Georgia, die verrückten Elvis-Presley-Fans in Memphis.

Für meinen Geschmack hätte das immer so weitergehen können, bis eines Tages Hans-Erich Bilges anrief, der damalige Leiter des Bonner BILD-Büros: »Du bist in 48 Stunden hier. Oder du bist draußen.«

Dazu muss man wissen: Vor meiner Abreise in die USA hatte ich einen Vertrag als Politikkorrespondent in der damaligen Bundeshauptstadt unterschrieben. In Bonn fuhr ich mit einem knallroten VW-Golf mit dem Kennzeichen BI-LD durch die Gegend, was manche Undercover-Recherche vorzeitig zum Platzen brachte. Mit der Unterschrift unter den Korrespondentenvertrag hatte ich auch einen Schlussstrich unter die Idee gesetzt, Politik, Geschichte und Germanistik an der Uni Münster zu studieren, wo ich immerhin seit zwei Jahren immatrikuliert war, ohne bis dato den Hörsaal von innen gesehen zu haben.

»Muss ich, wenn ich groß bin, auch Chefredakteur von BILD werden?«, hat mich mal mein Sohn Caspar gefragt. Da war er gerade mal vier Jahre alt.

»Nein, Caspar«, beruhigte ich ihn, »musst du nicht.«

Aber damals habe ich mir vorgenommen, irgendwann schreibe ich alles auf – für ihn, seine Geschwister, überhaupt für alle, die es interessiert: wie das wirklich war bei BILD. Zu meiner Zeit, aus meiner Sicht. Ganz und gar subjektiv.

Meine Freundschaft mit Helmut Kohl, meine Auseinandersetzung mit Christian Wulff, meine Begegnungen mit Präsidenten und Päpsten, Kanzlern und Künstlern, Blendern und Bösewichten. Und ich hoffe, dass meine Leser aus meinen Schilderungen zumindest die eine Botschaft mitnehmen, die ich meinen Redakteuren immer wieder gepredigt habe: »Geht nicht oder Haben wir noch nie so gemacht gibt es nicht. Greift nach den Sternen! Fünf-, sechs- oder siebenmal greift ihr ins Leere, aber irgendwann habt ihr einen in der Hand.«

Das ist die Haltung, die am Ende den entscheidenden Unterschied macht.

EINS: ZIEMLICH BESTE FEINDE – Der Fall (von) Christian Wulff

EINS

Ziemlich beste Feinde

Der Fall (von) Christian Wulff

© Getty Images/Franziska Krug

Da war die Welt noch in Ordnung: Mit dem damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff beim BILD-Sommerfest 2008

DER ANRUF

Guten Abend, Herr Diekmann. Ich rufe Sie an aus Kuwait. Bin grad auf dem Weg zum Emir und deswegen hier sehr eingespannt, weil ich von morgens acht bis abends elf Termine habe. Ich bin in vier Golfstaaten unterwegs und parallel plant einer Ihrer Journalisten seit Monaten eine unglaubliche Geschichte, die morgen veröffentlicht werden soll und die zum endgültigen Bruch mit dem Springer-Verlag führen würde …

Ich starre auf meinen Blackberry und weiß nicht so recht, was ich denken soll. Dabei habe ich üblicherweise zu allem eine Meinung.

Habe ich richtig gehört?

Hat da gerade der Bundespräsident auf meine Mailbox gesprochen? Um eine Geschichte in BILD zu verhindern? Über sich und seine fragwürdige Hausfinanzierung?

Es ist Montag, der 12. Dezember 2011, 12.30 Uhr mittags. Ich sitze am Schreibtisch meines Hotelzimmers im New Yorker Waldorf Astoria, einem etwas altmodischen Art-Déco-Prachtbau aus den frühen 1930er Jahren. Blasse Wintersonne fällt durch die dicken Vorhänge.

Das kann doch nicht sein … Der Bundespräsident droht mir? Ein Telefonstreich?

Nein. Die Nummer auf dem Display ist eindeutig die von Christian Wulff.

Und das ist auch seine Stimme.

Was ist passiert?

BILD-Vize Martin Heidemanns, der bei uns sehr erfolgreich das Ressort Investigativ leitet und von dem ich immer sage, ich möchte um Gottes willen niemals Ziel seiner Recherche werden, hat mit seinem Team in akribischer Kleinarbeit herausgefunden, dass Wulff – damals noch niedersächsischer Ministerpräsident – für seinen privaten Hauskauf ein Darlehen von einer halben Million Euro aufgenommen hat. Darlehensgeberin: Edith Geerkens, Ehefrau von Egon Geerkens, einem Unternehmer, der sein Vermögen mit Schrott und Schmuck gemacht hat und ein enger Freund von Wulff ist. Als Wulff im Jahr 2010 im Niedersächsischen Landtag öffentlich gefragt wurde, ob es zwischen ihm und jenem Egon Geerkens in den vergangenen zehn Jahren eine geschäftliche Beziehung gegeben habe, ließ er mit Nein antworten.

Die Geschäftsbeziehung zur Ehefrau blieb unerwähnt.

Damit hatte Wulff zwar nicht gelogen, aber eben auch nicht die Wahrheit gesagt. Nun ist unser Bundespräsident die höchste moralische Instanz im Staat. Er muss Vorbild sein. Zudem steht zu Hause in meinem Bücherregal ein Buch mit dem sehr schönen Titel Besser die Wahrheit. Autor: Christian Wulff. Wie geht das alles zusammen?

Ich springe auf und trete ans Fenster. Elf Stockwerke unter mir glitzert die Park Avenue in vorweihnachtlichem Glanz. Friede auf Erden. Nur offensichtlich nicht im fernen Schloss Bellevue.

Ich drücke auf Play, um mir die Voicemail ein zweites Mal anzuhören. Habe ich da was missverstanden?

Knapp vier Minuten dauert Wulffs Nachricht auf meinem Band. Genügend Zeit, um von Bottrop nach Oberhausen zu fahren oder sich ein Ei zu kochen.

Die Stimme des Präsidenten klingt angespannt.

… Ich bin in vier Golfstaaten unterwegs und parallel plant einer Ihrer Journalisten seit Monaten eine unglaubliche Geschichte, die morgen veröffentlicht werden soll und die zum endgültigen Bruch mit dem Springer-Verlag führen würde. Weil es einfach Methoden gab, mit Dingen im Nachbarschaftsumfeld, die über das Erlaubte hinausgehen, und die Methoden auch öffentlich gemacht werden von mir.

Ich habe alles offengelegt, Informationen gegeben, gegen die Zusicherung, dass die nicht verwandt werden. Die werden jetzt indirekt verwandt, das heißt, ich werde auch Strafantrag stellen gegenüber Journalisten morgen, und die Anwälte sind beauftragt.

Und die Frage ist einfach, ob nicht die BILD-Zeitung akzeptieren kann, wenn das Staatsoberhaupt im Ausland ist, zu warten, bis ich Dienstagabend wiederkomme, also morgen, und dann Mittwoch eine Besprechung zu machen, wo ich mit Herrn …, den Redakteuren und Ihnen, wenn Sie möchten, die Dinge erörtere, und dann können wir entscheiden, wie wir die Dinge sehen, und dann können wir entscheiden, wie wir den Krieg führen.

Aber so, wie das gelaufen ist in den letzten Monaten, ist das inakzeptabel, und meine Frau und ich werden Mittwochmorgen eine Pressekonferenz machen zwischen dem japanischen Ministerpräsidenten und den weiteren Terminen und werden dann entsprechend auch öffentlich werden, weil diese Methoden Ihrer Journalisten, des investigativen Journalismus nicht mehr akzeptabel sind.

Und Sie werden ja voll umfassend im Bilde sein. Ich vermute, nicht voll richtig objektiv informiert sein – aber im Bilde sein. Und ich wollte einfach, dass wir darüber sprechen, denn wenn das Kind im Brunnen liegt, ist das Ding nicht mehr hochzuholen – das ist eindeutig, nach den Erfahrungen, die wir die letzten Wochen gemacht haben. Es gab immer dieses jahrelange Gerücht, Maschmeyer hätte was damit zu tun. Wir haben dargelegt, dass das alles Unsinn ist.

Und jetzt werden andere Geschichten behauptet, die Unsinn sind. Und da ist jetzt bei meiner Frau und mir einfach der Rubikon in dem Verhalten überschritten.

Und ich erreiche Sie leider nicht. Ich höre, Sie sind in New York – insofern ist es da jetzt ja Mittag, und hier ist natürlich schon Abend. In Berlin ist es jetzt 18 Uhr. Es wäre nett, wenn Ihr Büro versuchen kann, Herrn Glaeseker oder Herrn Hagebölling, den Chef des Bundespräsidialamtes, oder mich zu erreichen.

Ich bin nur jetzt im Gespräch, und dann hab ich hier eine Rede zu halten, und ich bin also erst wieder etwa in eineinhalb Stunden in der Lage, dort in der deutschen Botschaft zu sprechen. Ich würde aber dann natürlich gern mit Ihnen sprechen.

Denn dass man nicht bis Mittwoch wartet, die Dinge bespricht und dann sagt: Okay, wir wollen den Krieg und führen ihn, das finde ich sehr unverantwortlich von Ihrer Mannschaft, und da muss ich den Chefredakteur schon jetzt fragen, ob er das so will, was ich eigentlich mir nicht vorstellen kann.

Vielen Dank … und … bis … dann … wo wir uns dann sprechen. Ich hoffe, dass Sie die Nachricht abhören können, und bitte um Vergebung, aber hier ist jetzt für mich ein Punkt erreicht, der mich zu einer Handlung zwingt, die ich bisher niemals in meinem Leben präsentiert habe. Die hatte ich auch nie nötig.

Die Dinge waren immer ordentlich sauber, bei allen Vorbehalten und Gerüchten, die es immer verbreitet gab, die alle falsch waren. Und jetzt würde ich diese Dinge dieser investigativen Journalisten dieses Netzwerkes offenlegen. Und … insofern – ja … denke ich mal, es gibt jetzt noch ’ne Chance, und die sollten wir nutzen.

Danke schön. Wiederhören Herr Diekmann.

Hat er wirklich Krieg gesagt?

Ja, hat er.

Und mit Strafantrag gedroht?

Auch das.

Kann ein erfahrener Politiker wie Wulff wirklich so unprofessionell sein und einem Chefredakteur einen solch gefährlichen Unsinn auf die Mailbox sprechen? Schließlich hat er – erst als Ministerpräsident, dann als Bundespräsident – einen Eid auf die deutsche Verfassung und damit auch auf Artikel 5 des Grundgesetzes geleistet:

Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

Wie stellt er sich das in seiner Welt vor?

Pressefreiheit ja, aber nicht, wenn sie den Bundespräsidenten betrifft?

Und hat Wulff nicht gerade gestern in Katar seinem geneigten arabischen Publikum erklärt, wie nötig es ist, Presse- und Meinungsfreiheit zu garantieren? Irgendwo in den Weiten der Wüste muss ihm die Bedeutung von unabhängiger Presse fürs eigene Land abhandengekommen sein.

Worte sind wie Kugeln. Einmal abgeschossen, kriegt man sie nicht zurück in den Lauf.

DER ANFANG VOM ENDE

Wie mich der Präsident gebeten hat, rufe ich seinen Staatssekretär an. Ich wähle die Nummer des Bundespräsidialamts.

»Hagebölling«, meldet er sich mit knarzender Stimme. Bis auf einen kleinen Schriftwechsel, auf den ich später noch kommen werde, haben wir bisher nicht persönlich miteinander zu tun gehabt. In Berlin gilt Lothar Hagebölling als Aktenfresser und hyperkorrekter Jurist, der in der Vergangenheit als Chef der Staatskanzlei Hannover dafür Sorge getragen hat, dass die rechte Hand weiß, was die linke tut.

Ich beschließe, mich kurz zu fassen: »Herr Hagebölling, ich habe da gerade einen ziemlich unsortierten Anruf Ihres Chefs auf meiner Mailbox vorgefunden.«

Vielsagendes Schweigen.

Ich fahre fort: »Wir werden die für morgen geplante Geschichte über die Finanzierung des Hauses von Christian Wulff in Großburgwedel auf keinen Fall ein weiteres Mal verschieben.«

Wieder vielsagendes Schweigen.

Ich hole tief Luft. »Das wollte ich Ihnen nur mitteilen, Herr Hagebölling.« Der ringt sich nun doch noch zur Antwort durch: »Besten Dank für Ihren Anruf, Herr Diekmann. Ich habe die Botschaft vernommen.«

Jetzt muss ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, kurz mal erklären, warum ich eigentlich gerade in New York bin:

Heute Abend wird hier dem Künstler Anselm Kiefer die Leo-Baeck-Medaille verliehen – und zwar in Anerkennung seiner Verdienste um die deutsch-jüdische Aussöhnung. Es ist die höchste Auszeichnung des Leo Baeck Instituts. Außenminister Guido Westerwelle hält die Laudatio. Eigentlich war ursprünglich Christian Wulff als Laudator geplant. Warum weiß ich das so genau? Weil ich ihn selbst vorgeschlagen habe, als das Leo Baeck Institut im Frühjahr angekündigt hatte, Anselm Kiefer die Auszeichnung verleihen zu wollen, und mich bat, bei der Wahl des Laudators behilflich zu sein – in der nicht unberechtigten Annahme, dass ein BILD-Chefredakteur im politischen Berlin über die entsprechenden Kontakte und Zugänge verfügt.

Ich empfahl den gerade erst seit sieben Monaten amtierenden Bundespräsidenten: Es wäre sein erster Auftritt als Staatsoberhaupt in den USA – die öffentliche Aufmerksamkeit wäre ihm damit sicher. Wulffs und mein Verhältnis war zu diesem Zeitpunkt ein freundlich-professionelles.

Natürlich hatte ich den Vorschlag nicht einfach nur blind gemacht, sondern vorher dazu mit Wulffs Pressesprecher Olaf Glaeseker Kontakt gehabt. Der hatte signalisiert: Ja, der Bundespräsident kann sich sehr gut vorstellen, Anselm Kiefer in New York zu laudatieren.

Also schrieb ich, wie zwischen uns verabredet, Wulff einen Brief:

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

aus Anlass der Verleihung der Leo-Baeck-Medaille an den deutschen Künstler Anselm Kiefer möchte ich Sie sehr herzlich einladen, im Rahmen der Verleihungszeremonie im Leo Baeck Institut in New York eine Ansprache zu halten. Sie wären – nach dem Preisträger Johannes Rau und dem Laudator Horst Köhler – der dritte Bundespräsident, der mit einem Auftritt im New Yorker Leo Baeck Institut im Namen aller Deutschen dessen Arbeit würdigt. Deshalb würde ich mich aus den genannten Gründen sehr freuen, wenn Sie meine Anregung überdenken.

Sechs Wochen später kam die Absage, verfasst und unterschrieben von Lothar Hagebölling. Jenem Hagebölling, mit dem ich gerade telefoniert habe.

Der Herr Bundespräsident hat sich über die freundliche Einladung sehr gefreut und hätte die Rede sehr gern gehalten. Leider ist es jedoch dem Herrn Bundespräsidenten auf Grund seines dicht gedrängten Terminkalenders nicht möglich, Ihrer Bitte, eine Ansprache im Leo Baeck Institut in New York zu halten, zu entsprechen. Ich bitte dafür um Verständnis. Der Herr Bundespräsident wünscht der Veranstaltung gutes Gelingen, mit freundlichen Grüßen.

Lothar Hagebölling

Ironie des Schicksals: Hätte Wulff Zeit gehabt, wären wir jetzt gemeinsam in New York. Mit Sicherheit hätte es ein persönliches Gespräch gegeben unter vier Augen. Ein Gespräch, das vermutlich nichts an der Veröffentlichung geändert hätte. Aber ziemlich sicher gäbe es dann nicht diesen Unsinn auf meiner Mailbox, von dem man rückblickend weiß, dass dieser Anruf den Anfang seines Scheiterns als Bundespräsident markiert.

BERUFSKRANKHEIT DER MÄCHTIGEN

Dass Wulff gern zum Telefonhörer greift, ist nichts Neues. Beschwerdeanrufe bei Journalisten sind sein Ding. Dafür war er bereits als Ministerpräsident berühmt. Und auch berüchtigt.

»Sie sollten nicht persönlich in irgendwelchen Redaktionen anrufen, um Ihr Missfallen über Berichterstattungen zu äußern, Herr Bundespräsident«, hatte ich Wulff nahegelegt, als wir uns zu Beginn seiner Amtszeit zufällig am Rande einer Veranstaltung trafen. Nun mag man sich wundern, wie ich dazu komme, dem Bundespräsidenten Telefon-Tipps zu geben. Ganz einfach: Weil er mich fragte. Der höchste Mann im Staat und der Chefredakteur von Europas größter Zeitung stehen ja nicht zusammen und reden übers Fernsehprogramm. Rückblickend würde ich sagen, dass mir Wulff mit seiner Frage natürlich auch das Gefühl geben wollte, zwischen uns bestünde ein besonderes Vertrauensverhältnis.

»Und Sie brauchen dringend eine neue Telefonnummer!«, ergänzte ich.

Das war nämlich gerade Wulffs großes Thema: Dass er als Bundespräsident fröhlich da weitermachte, wo er als Ministerpräsident aufgehört hatte – für alle möglichen Leute erreichbar zu sein. Er war eben ein verdammt junger Bundespräsident, der gedanklich immer noch im heimeligen Hannover unterwegs und noch nicht im Dschungel von Berlin angekommen war.

Wulff zeigte sich von meinem Hinweis angetan. Glaubte ich jedenfalls.

Die folgenden Monate förderten dann allerdings einen ganz anderen Wesenszug zutage: Er wusste alles besser.

Gerüchte, dass bei der Finanzierung des Hauskaufs ein Unternehmer aus Niedersachsen geholfen habe, gab es bereits seit 2009.

An dieser Stelle ist es Zeit, mit einer Legende aufzuräumen: Wir Journalisten sind manchmal gar nicht so investigativ, wie alle denken. Nicht selten erledigen andere den Job: Düpierte Geliebte, geschasste Mitarbeiter, sie alle sorgen dafür, dass Dinge ans Licht kommen, lange bevor wir Journalisten davon erfahren.

Jemand aus Wulffs engstem politischen Umfeld hatte gezielt Informationen über seine dubiose Hausfinanzierung verschiedenen Medien zugespielt, auch der BILD-Redaktion in Hannover. Sollten die Gerüchte stimmen, hätte Wulff klar gegen das niedersächsische Ministergesetz verstoßen. Demnach dürfen Mitglieder der Landesregierung weder Belohnungen noch Geschenke annehmen. Eine Verwaltungsvorschrift verbietet außerdem besondere Vergünstigungen bei Privatgeschäften wie zinsgünstigen oder zinslosen Darlehen. Da das Amtsgericht Großburgwedel jedoch den Einblick ins Grundbuch verwehrte, wurden die Recherchen seinerzeit erst mal auf Eis gelegt.

Hätte der Vorgang Wulff eine Warnung sein müssen, beizeiten reinen Tisch zu machen, was seine fragwürdige Hausfinanzierung anging? Darüber habe ich bis heute viel nachgedacht. Und mir ist immer wieder ein Satz Ludwigs XIV. in den Sinn gekommen:

»L’État, c’est moi.«

Der Staat, das bin ich.

Die Berufskrankheit der Mächtigen ist die Hybris.

Mir selbst übrigens waren die Details der Recherchen von Martin Heidemanns und seinem Recherche-Zwilling Nikolaus Harbusch lange nicht bekannt. Das hat einen Grund: Nicht selten werden in Redaktionen weiße Mäuse gejagt. Und nicht jede Recherche führt am Ende zum erwarteten Ergebnis. Lassen Sie mich ein Beispiel erzählen: Ich vermute, dass es kaum einen Politikkorrespondenten gibt, der nicht irgendwann mal von dem Foto gehört hat, auf dem angeblich ein bekannter deutscher Spitzenpolitiker nackt auf allen vieren mit einer Pfauenfeder im Allerwertesten zu sehen ist. Fakt ist: Ich kenne keinen, der dieses Foto wirklich jemals persönlich gesehen hätte. Und von diesem Quatsch ist viel im Umlauf.

Heidemanns’ Recherchen über den Hauskauf hatten sich hingegen als hieb- und stichfest erwiesen, und die Geschichte hätte eigentlich schon heute erscheinen sollen. Erst gestern hatte er abschließend eine E-Mail an Wulffs Sprecher Olaf Glaeseker mit sechs konkreten Fragen geschickt, um dem Präsidenten Gelegenheit zu geben, sich zu äußern und die Vorwürfe gegebenenfalls zu entkräften. Glaeseker, Ex-Mehrkämpfer und markantester Glatzkopf im Berliner Regierungsviertel, ist Wulffs Intimus und ein gewiefter Medienprofi. Aber Martin Heidemanns ist eben auch nicht von schlechten Eltern. Auf einer Skala zwischen Hering und Hai ist er ziemlich dicht am Hai.

Sehr geehrter Herr Glaeseker,

im Zusammenhang mit unserer Recherche bitten wir Herrn Bundespräsident Wulff freundlich um Beantwortung folgender Fragen:

Am 18. Februar 2010 ließen Sie als Ministerpräsident auf die Anfrage, ob es »geschäftliche Beziehungen« zwischen Ihnen und Herrn Egon Geerkens gegeben habe, durch Ihre Staatskanzlei wörtlich erklären: »Zwischen Ministerpräsident Wulff und den in der Anfrage genannten Personen und Gesellschaften hat es in den letzten 10 Jahren keine geschäftlichen Beziehungen gegeben.«

1. Warum haben Sie dem Landtag verschwiegen, dass eine »geschäftliche Beziehung« zwischen Ihnen und der mit Egon Geerkens in Gütergemeinschaft lebenden Ehefrau Edith durch einen im Oktober 2008 geschlossenen Darlehensvertrag über 500.000 Euro besteht?

2. Teilen Sie die Auffassung, dass Sie den Landtag in diesem Zusammenhang bewusst getäuscht haben?

3. Wie haben Sie die 500.000 Euro erhalten? Per Überweisung aus Deutschland, der USA, der Schweiz – oder bar? Oder auf welche andere Weise?

4. Warum haben Sie den im Oktober geschlossenen Darlehensvertrag wenige Wochen nach der parlamentarischen Anfrage gekündigt und durch einen Darlehensvertrag mit der BW Bank abgelöst – obwohl der Darlehensvertrag noch bis November 2013 lief?

5. Wann und in welcher Form haben Sie das Darlehen zurückgezahlt?

6. Gab es vor dem Jahr 2000 geschäftliche Beziehungen zwischen Ihnen, dem CDU-Kreisverband Osnabrück, dem CDU-Landesverband Niedersachsen bzw. dem Land Niedersachsen und Herrn Egon Geerkens oder irgendeiner Firma, an der Herr Geerkens und/oder Frau Geerkens als Gesellschafter beteiligt waren?

Heidemanns hatte um Beantwortung der Fragen bis 16 Uhr gebeten. Zwei Stunden später reagierte Glaeseker per SMS:

Seien Sie sicher, dass ich mich um eine zeitnahe Beantwortung der Fragen bemühe. Ob es allerdings bis 16 Uhr gelingt, bezweifele ich. Wie ich Ihnen gesagt habe, befinden wir uns auf Golfreise und haben ein dichtgedrängtes Programm. Ihr gl.

Als Heidemanns die Fragen schickte, war ich zu Hause in Potsdam gerade dabei, meinen Smoking für die Preisverleihung in New York in einen Kleidersack zu packen, und nahm noch ein paar nervöse Schluck Kaffee im Stehen, bevor mich mein Fahrer zum Flughafen bringen würde. Mieses Timing.

Wenn die Antworten des Präsidenten eintreffen würden, wäre ich gerade 10000 Meter über dem Atlantik. Das schmeckte mir gar nicht. Dies war die vielleicht größte Geschichte des Jahres – und ich als Chefredakteur nicht erreichbar.

Ich marterte mir das Hirn, ob ich irgendetwas übersehen hatte, die Story auch ohne mich in Druck gehen könnte, sollte Wulff die Fragen nicht schlüssig beantwortet haben. Bloß jetzt keinen Fehler machen. Wir legten uns mit dem Mann im höchsten Amt im Staat an. Alles musste sitzen. So schnell würde ich gar nicht meine Umzugskartons packen können, wie mich Zorn und Häme aus meinem BILD-Büro spülen würden. Das wär’s dann gewesen als BILD-Chefredakteur.

An Bord des Flugzeugs atmete ich dann erleichtert auf. Ich hatte Glück. In der Lufthansa-Maschine gab es ein Satellitentelefon, und um die vereinbarte Zeit wählte ich mit feuchten Handtellern Martins Nummer.

»Wo stehen wir?«, flüsterte ich aufgeregt in den Hörer.

»Die mauern«, antwortete Martin mit gespielter Gelassenheit. Ich kannte ihn, innerlich kochte er.

»Glaeseker will Aufschub, bis er und der Bundespräsident Dienstagabend wieder in Deutschland sind.«

»Was schreibt er genau?«, hakte ich nach.

»Lassen Sie uns unmittelbar nach meiner Rückkehr nach D treffen. Wir werden Ihnen dann umfassend Rede und Antwort stehen. Ihr gl«, las mir Martin vor.

»Okay.«

Ich spürte eine paradoxe Erleichterung.

»Das nimmt etwas Druck aus dem Kessel. Gut so. Es ist eh besser, wenn ich erreichbar bin, wenn wir mit der Geschichte rausgehen.«

»Zu lange sollten wir aber nicht warten«, warf Heidemanns ein. »Höchstens einen Tag. SPIEGEL und Stern und ein paar andere sind auch schon dran.«

Wir verabredeten folgende Antwort:

Lieber Herr Glaeseker, nach Rücksprache mit dem Chefredakteur sind wir gerne bereit, die Berichterstattung um einen Tag zu verschieben. So haben Sie die Gelegenheit, die Fragen bis morgen 16 Uhr (MEZ) zu beantworten. Wir bitten um Verständnis, dass ein weiterer Aufschub der geplanten Berichterstattung nach Ablauf dieser Frist nicht mehr möglich ist.

© Daniel Biskup

Telefonat mit der BILD-Redaktion: Am Satellitentelefon der Lufthansa-Maschine nach New York

VERÖFFENTLICHEN ODER NICHT VERÖFFENTLICHEN?

In der Redaktion gab es zu diesem Zeitpunkt nicht nur Zustimmung zur geplanten Veröffentlichung. Alfred Draxler, unser erfahrener BILD-Sportchef, hatte aus nachvollziehbaren Gründen Vorbehalte. Er war mit Martina Krogmann verheiratet, einer engen Vertrauten von Wulff und zu dessen Zeiten als Ministerpräsident Parlamentarische Geschäftsführerin und Mitglied im Vorstand der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Okay, ich bin befangen, simste er mir, deshalb zwei Punkte zum Nachdenken: Niemand ist geschädigt worden. Und wird es morgen einen Sturm der Entrüstung geben? Aber natürlich trage ich deine Entscheidung mit!

Stimmt. Wen juckte es, wie ein biederer Ministerpräsident sein spießiges Rotklinker-Häuschen finanziert hatte? Man konnte doch auch zwei Augen zudrücken. War ich gerade dabei, einen Fehler zu machen? Es liegt in der Natur der Sache, dass man mit dem Wissen von heute gestern keine Fehler machen würde. Aber weiß ich in diesem Moment, was richtig ist? Was morgen ist? Wie diese Geschichte mit Wulff ausgehen wird? Schieße ich mich gerade beruflich ins Aus? Versteige ich mich? Mein Gegner ist nicht nur Bundespräsident, er ist ein Mensch, der einen Traum träumt, den wir alle träumen: das eigene Haus, die schöne Reise, Rampenlicht. Nicht, dass ich das nicht verstehe. Aber als Journalist bist du auch Chirurg. Du musst ins Fleisch schneiden, selbst wenn’s wehtut und Narben macht.

Oder wie es Gabor Steingart, Journalist und Bestsellerautor, immer formuliert: »To tell bad things even about the good guys. So lautet das erste Gebot für den kritischen Journalisten!«

Und von SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein stammt der Satz: »Wir sind zuständig für die andere Seite der Medaille.«

Heißt übersetzt: Als politischer Journalist ist es deine Aufgabe, Fällen von Korruption, Bestechlichkeit, Kumpanei und Intransparenz nachzugehen – ungeachtet der Person und des Amts und dessen Gegenwinds. Das ist, warum wir Medienleute als die Vierte Macht im Staat gelten. Ohne Journalismus funktioniert die Demokratie nicht.

Wenn also später immer wieder behauptet werden würde, dass mich eine persönliche Fehde in die Auseinandersetzung mit Wulff getrieben habe, muss ich sagen, es war viel schlichter: Wulff verfügte über das bemerkenswerte Talent, sich selbst die Pistole zwischen die Schulterblätter zu drücken und »Hände hoch« zu rufen.

EIN KOMMUNIKATIVER KARDINALFEHLER

Vor zwei Stunden hat Glaeseker die Antworten nun endlich in die Redaktion nach Berlin gefaxt und Martin Heidemanns hat sie mir sofort auf meinen Blackberry weitergeleitet. Um im nächsten Augenblick persönlich anzurufen:

»Also Kai, die gute Nachricht: Die Faktenlage ist in allen Punkten bestätigt. Wie wir es erwartet haben, wird auf Frau Geerkens als Kreditgeberin verwiesen …«

»Und die schlechte?«, grätschte ich dazwischen.

»… hätte, möglicherweise, in Anbetracht dessen …«, begann Martin laut vorzulesen. »Das ist alles unglaublich umständlich und langatmig formuliert.«

Ich las parallel auf dem Display mit und begriff augenblicklich das Problem: Nach Lektüre des Artikels mit diesen Wischiwaschi-Antworten des Bundespräsidenten würde kein Leser verstanden haben, worum es überhaupt geht. Welch ungeheurer Vorwurf da eigentlich im Raum steht.

»Weißt du, was das ist?«, fragte Martin Heidemanns und legte eine kurze Pause ein. »Das sind keine Antworten! Das sind Nebelgranaten! Da lacht doch die dpa! Das wandert vom Ticker direkt in den Müll.« Er klang aufrichtig empört.

An dieser Stelle muss ich ein wenig ausholen: dpa, Associated Press, Reuters – das sind die wichtigsten Nachrichtenagenturen. Sie sind die heimlichen Großmächte im Reich der Medien. Sie verdichten, sie multiplizieren. Ob es uns gelingen würde, mit dieser wässrigen Antwort-Suppe die Kollegen vom brisanten News-Wert unserer Geschichte zu überzeugen? Fraglich.

»Lass uns den Schmus kürzen«, schlug Martin angriffslustig vor. »Da braucht man ja einen Uni-Abschluss in Germanistik, um zu checken, was der meint. Ich lege Wert auf die Feststellung, dass ich nicht mal Abitur habe.«

Das mag ich so an Martin. Der ist eins zu eins.

Dennoch widersprach ich energisch. »Nein, Martin, das geht nicht. Wenn wir den Bundespräsidenten derart angreifen, muss er die Chance haben, voll umfänglich zu antworten. Wir müssen seine Antworten in ganzer Länge drucken. Egal, wie verquast die sind. Sonst laufen wir Gefahr, dass es wieder heißt: ›Na klar, typisch die BILD. Alles aus dem Zusammenhang gerissen.‹«

»Du bist der Chef«, merkte Martin trocken an.

Was tun?

Ich wusste, dass wir mit diesem Text keinen Blumentopf gewinnen würden. 20 Minuten später klingelte mein Blackberry erneut.

»Hey Kai, der Glaeseker hat sich gerade bei mir gemeldet.« Martins Stimme klang atemlos. »Wulff zieht seine Antworten zurück!«

»Wie bitte? Was?« Ich war völlig perplex. »Wieso?«

»Weiß nicht, gibt keine Begründung.«

Mein Hirn ratterte. Für einen Moment herrschte Stille in der Leitung. Dann begann ich laut zu denken: »Okay, was heißt das jetzt für uns …? Wulffs Antworten sind nicht autorisiert, und wir können sie nicht veröffentlichen. Korrekt?«

»Korrekt«, antwortete Martin, und der Missmut in seiner Stimme war unüberhörbar.

»Aber eigentlich …«, grübelte ich laut, »spielt uns Wulff doch in die Karten. Schau, Martin, wir haben ihn mit den Vorwürfen konfrontiert, ihm Gelegenheit gegeben, sich zu äußern, sind unserer journalistischen Sorgfaltspflicht nachgekommen. Er lehnt eine Beantwortung unserer Fragen ab. Seine Entscheidung. Punkt. Dann steht da halt ganz fett unterm Artikel: ›Wollte sich auf BILD-Anfrage nicht zu den Vorwürfen äußern.‹«

»Genau. Der versucht doch, uns an der Nase herumzuführen wie kleine doofe Jungs«, war Martin wieder bester Laune.

Mir war, als hätte ich gerade einen komplizierten Mathedreisatz hergeleitet, und jetzt stand da ein Ergebnis. Ich war erleichtert, der Boden unter meinen Füßen fühlte sich wieder ein wenig dicker an. Ohne dass wir es aussprachen, war uns beiden klar, dass der Bundespräsident mit seiner Vogel-Strauß-Politik – ich stecke den Kopf in den Sand und tue so, als ob mich das alles nicht betrifft – einen kommunikativen Kardinalfehler begangen hatte. Er hatte den Grundstein dafür gelegt, dass die Geschichte groß würde. Sehr groß.

An dieser Stelle kam nämlich nun ein journalistischer Mechanismus ins Spiel, den ich Ihnen gerne erklären möchte: In den frühen Morgenstunden würden die Nachrichtenagenturen unsere Berichterstattung über den Hauskauf aufgreifen und an Zeitungsredaktionen, Radiostationen und TV-Sender schicken:

»Berlin. Der Bundespräsident steht nach BILD vorliegenden Dokumenten im Verdacht, am 18. Februar 2010 den Landtag in Hannover getäuscht zu haben – und das vier Monate vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten.«

Anschließend würden die Kollegen von den Nachrichtenagenturen dem Bundespräsidialamt dieselben Fragen stellen, die er BILD nicht hatte beantworten wollen. Und das würde im Ergebnis dazu führen, dass aus vielen einzelnen Agenturmeldungen schließlich die sogenannten »Agenturzusammenfassungen« würden, denen allein schon wegen ihres Umfangs eine besondere Bedeutung zukommt und die deshalb mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu den Topmeldungen des Tages zählen. Tagesschau und heute journal ließen schon jetzt grüßen.

Journalismus ist eine Maschine, die über viele kleine Rädchen das ganz große Rad dreht.

Ob Wulff niemanden hatte, der ihm das erklärt und ihn gewarnt hatte? Ich fürchte, auch das gehört zur Logik seines späteren Scheiterns: Er gefiel sich in der Rolle des Lonesome Rider, der alles alleine lösen wollte.

Es folgte eine Vielzahl hektischer Telefonate mit meiner Redaktion. Wie machen wir die Geschichte auf? Wie lautet die Schlagzeile? Wie die Unterzeile? Wir entschieden uns gegen die Hauptschlagzeile und für einen kleinen Anreißer mit Foto von Wulff auf Seite eins. Die große Aufmachung sollte auf Seite zwei folgen. Bei mir hier in New York war es 12 Uhr mittags, in Berlin 18 Uhr. Nur noch zwei Stunden bis Redaktionsschluss. Uns saß die Zeit im Nacken.

Und wieder klingelte mein Telefon: Mathias Döpfner wollte mich sprechen. Wenn dein Vorstandsvorsitzender anruft, während du gerade an der größten Geschichte der letzten Jahre sitzt, dann sicherlich nicht, weil er mit dir übers Wetter plaudern will. Doch zu meiner Überraschung ging es nicht um Wulff. »Hallo Kai, ich habe dir gerade ein Interview geschickt, das ich zu Günter Wallraff gemacht habe. Die warten auf die Freigabe meiner wörtlichen Zitate. Können wir die mal durchgehen? Wäre wichtig.«

So ist das eben: 1000 Themen, die gleichzeitig wichtig sind. Und als ich 20 Minuten später auflegte, hatte mir der Bundespräsident auf die Mailbox gesprochen.

Und damit sind wir nun also zurück im Hier und Jetzt, im Waldorf Astoria in meinem Hotelzimmer hoch über der Park Avenue.

Und von einer Sekunde auf die andere geht es nicht mehr nur um seinen dubiosen Hauskauf, sondern um etwas viel Größeres.

UND NOCH EINE MAILBOXNACHRICHT

Der Geist ist aus der Flasche.

Doch wie umgehen damit?

Ich kann ja nicht so tun, als gäbe es diesen Anruf nicht. Das ist ein ziemlich einmaliger Vorgang, dass ein Staatsoberhaupt einem Chefredakteur droht. Ich muss damit rechnen, dass sich Wulff intern brüsten wird mit seinem Anruf bei mir, die Geschichte Kreise zieht und irgendwann gegen mich verwendet wird. Wenn ich den Vorgang ignoriere, verliere ich als BILD-Chefredakteur meine Glaubwürdigkeit und bin für immer erpressbar. Zuallererst will ich die Mailboxansage sichern und schicke die Audiodatei per E-Mail-Anhang zur Abschrift an meine Büroleiterin nach Berlin. Danach versuche ich, Mathias Döpfner erneut zu sprechen. Vergeblich. Ich bitte um Rückruf.

Und wieder vibriert mein Blackberry. Vielleicht schüttelt es sich auch. Weiß man’s? Eine frische Textnachricht vom Bundespräsidenten ploppt auf:

Sorry. Ich musste ihnen auf die mailbox sprechen. Es ist dringend. Gefahr im verzug und nicht wiedergutzumachender schaden steht bevor. Ich bitte sie um anruf. Oder sms, wie ich sie erreichen kann. HG ihr christian wulff.

Ja, in einer Sache stimme ich ihm auf der Stelle zu: Der Schaden ist schon jetzt nicht wiedergutzumachen.

Fast zeitgleich ruft Mathias Döpfner zurück. »Ich weiß Bescheid, Kai, auch mir hat der Präsident auf die Mailbox gesprochen.« Er klingt nicht wirklich aufgeregt. Zu diesem Zeitpunkt bringt ihn die Geschichte offensichtlich nicht sonderlich aus der Fassung. »Pass auf Kai, ich spiel’s dir kurz vor.« Er drückt auf Replay:

Guten Abend, Herr Döpfner. Es wäre toll, wenn wir telefonieren könnten, weil sich die Redaktionskonferenz der BILD entschieden hat, eine Sache zu skandalisieren, die nicht zu skandalisieren ist, und das würde den endgültigen Bruch bedeuten zwischen diesen investigativen Journalisten und ihren Methoden der letzten Monate, und mir als Bundespräsident …, und ich finde, dass man darüber in solch einem Falle reden sollte und reden müsste, wenn die Redaktion der BILD mehrheitlich entscheidet, diese Konfrontationskampagne jetzt morgen zu fahren, dann ist das nicht wieder zurückzuholen und der Schaden dauerhaft und hat dann eben auch Konsequenzen, und deshalb wäre ich dankbar, wenn wir darüber sprechen könnten. Ja, das war’s, ich gehe davon aus, dass Sie umfassend darüber informiert sind, Diekmann war wohl zugeschaltet, und dass es nicht hinterher heißt: Hätten wir doch angerufen, dem wollte ich jetzt vorbeugen. Ich bin gerade in Kuwait, hier in ständigen Terminen, die BILD war aber nicht bereit, meine Rückkehr abzuwarten aus der sechstägigen Reise in die Golfstaaten, und auch das kann man interpretieren, wie man will, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das abhören und mich anrufen. Danke schön. Wiederhören.

Glaubte Wulff ernsthaft, mit der Petzerei bei meinem Chef Erfolg zu haben und die Geschichte aus dem Blatt kegeln zu können?

»Und? Hast du ihn schon zurückgerufen?«, will ich angepiekst wissen.

»Ja«, antwortet Döpfner nüchtern, »er war komplett aufgebracht. Hat wiederholt, dass die Veröffentlichung Krieg zwischen dem Bundespräsidialamt und dem Springer-Verlag bedeutet, und zwar bis zum Ende seiner Amtszeit.«

Einfach irre.

Kann es sein, dass dem Bundespräsidenten gleich zweimal hintereinander die Pferde durchgegangen sind? Das wäre ja, wie zweimal auf derselben Bananenschale ausrutschen. Nein, seine Aufsprache ist kein Affekt, das ist Vorsatz.

Mir kommt ein berühmter Sketch von Loriot in den Sinn: Der wartet in einem Zimmer und will ein Bild gerade rücken. Am Ende hat er die gesamte Einrichtung verwüstet. So kommt mir in diesem Moment das Verhalten von Christian Wulff vor. Es hat etwas Tragisches.

DER PRÄSIDENT HAT EIN PROBLEM

»Wirbel um Privatkredit über 500.000 Euro. Hat Wulff das Parlament getäuscht?«

So ist es ab 22.02 Uhr deutscher Zeit auf BILD.de zu lesen:

Christian Wulff (52) wird von einer Affäre aus seiner Zeit als niedersächsischer Ministerpräsident eingeholt. Der Bundespräsident steht nach BILD vorliegenden Dokumenten im Verdacht, am 18. Februar 2010 den Landtag in Hannover getäuscht zu haben – und das vier Monate vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten. 1

Im BILD-Kommentar heißt es:

Der Präsident hat ein Problem. Das Verschweigen des Kreditvertrags mit Edith Geerkens ist zwar keine Lüge im juristischen Sinne. Aber die Wahrheit eben auch nicht. Also hat Wulff den Landtag getäuscht. Für Politiker gelten beim Umgang mit der Wahrheit zu Recht besondere Maßstäbe. Und für einen Bundespräsidenten erst recht. 2

Als die Wulff-Geschichte online geht, sitze ich in einem indischen Restaurant in Soho über Chicken-Curry extrascharf. Bei jeder Gabel treten mir Tränen in die Augen. Manchmal brauche ich das. Heute zum Beispiel.

Super Scoop!, ploppt die erste SMS auf meinem Blackberry auf. Eine Minute später ein weiterer Kollege: Auch wenn uns alle dafür hassen werden, die Geschichte ist so stark und faktisch erzählt, da werden wir nicht alleine bleiben. Glückwunsch!

Und nach nur wenigen Sekunden eine dritte: Wulffs Fehler ist nicht das Darlehen, sondern der Umgang mit der Wahrheit im Moment der Wahrheit. Richtig gemacht!

Chefredakteure sind einsam in ihren Entscheidungen, und das wird sich auch niemals ändern. Aber in diesem seltenen Moment fühle ich so etwas wie gesellige Einsamkeit.

Das erste Mal, seit ich vor 48 Stunden meinen Smoking in den Kleidersack gepackt habe, lässt die Anspannung ein kleines bisschen nach. Übrigens hat es mein Gepäck nicht nach New York geschafft, für die Leo-Baeck-Verleihung werde ich mir noch was zum Anziehen organisieren müssen. Aber das nur als Randnotiz.

Mittlerweile wissen von Wulffs Anruf bei mir Kollegen in der BILD-Politikredaktion, denen ich unmittelbar berichtet hatte: »Der Präsident hat mir auf die Mailbox gesprochen und gedroht. Seine Wortwahl war speziell.«

Nun macht sein Wutausbruch offenbar die Runde.

Sven Gösmann, Chefredakteur der Rheinischen Post in Düsseldorf, schreibt: Chapeau für die Story. Wie unfreundlich war CW denn am Telefon? Man sagt, er habe die Contenance verloren …

In der Nacht mailt Maike Kohl-Richter: Dieser Mensch, der sich dauernd aushalten lässt und dann auch noch lügt, stand in der ersten Reihe der Empörten in der sogenannten Spendenaffäre, ganz übel, sprach der Dübel, und verschwand in der Wand …

Christian Wulff ist an diesem Montag 529 Tage im Amt, 51 Jahre alt, Deutschlands jüngster Bundespräsident ever. An seiner Seite eine 14 Jahre jüngere, schöne blonde Frau namens Bettina. Die beiden sind vor zwei Jahren Eltern geworden. Aus früheren Beziehungen hat Wulff eine Tochter, Bettina einen Sohn. Eine moderne Patchwork-Familie. In Hannover nannte man sie die Kennedys von der Leine. Bislang waren diesem strahlenden Paar Tür und Tor offen gestanden.

Wenn es in der Vergangenheit um die Verfehlungen anderer ging, war der junge Christian Wulff immer sehr schnell mit Verurteilungen zur Stelle. Im Januar 2000 forderte er, damals CDU-Parteivize, den Rücktritt seines Vorvorgängers Johannes Rau, der unter dem Verdacht stand, sich in seiner Zeit als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen von der WestLB Privatflüge bezahlt haben zu lassen. Wulff ließ sich mit dem schönen Satz zitieren, er leide »physisch darunter, dass wir keinen unbefangenen Bundespräsidenten haben«. 3

Ein Jahr vor der Rau-Geschichte war bekannt geworden, dass auf der Hochzeit des damaligen Niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Glogowski, praktischerweise auch SPD, von einer niedersächsischen Brauerei kostenlos Getränke ausgeschenkt worden waren. Zudem hatte Glogowski die Rechnung für eine Reise nach Ägypten erst verspätet bezahlt, sodass der Verdacht im Raum stand, er habe sie gar nicht begleichen wollen. 4 Auch diesmal wand sich Wulff vor Schmerzen und erklärte:

Die persönliche Vorteilsnahme in Form einer offenbar durch ein niedersächsisches Unternehmen finanzierten privaten Urlaubsreise wäre mit dem Amt des Ministerpräsidenten nicht vereinbar. Herr Glogowski verliert seine Unabhängigkeit und damit seine politische Handlungsfähigkeit. 5

Auch zur damaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, die ihren Dienstwagen privat genutzt hatte, und zu Gerhard Schröder, für den Carsten Maschmeyer die Anzeigenkampagne Der nächste Bundeskanzler muss ein Niedersachse sein finanziert hatte, fand er deutliche, missbilligende Worte. Was im Übrigen nichts daran ändert, dass Maschmeyer, mittlerweile auch ein enger Freund Wulffs, Jahre später auch dessen Buch Besser die Wahrheit finanzierte. Wulff will von dieser Finanzierung erst im Nachhinein erfahren haben.

Man muss kein Psychologe sein, um den Eindruck zu bekommen, dass dieser Christian Wulff ein Mann ist, der mit zweierlei Maß misst. Und Regeln, die er bei anderen einfordert, für sich selbst eher großzügig auslegt.

Es ist weit nach Mitternacht deutscher Zeit, als ich wieder im Waldorf Astoria bin und sehe, dass Wulff-Sprecher Olaf Glaeseker für den Vormittag eine Erklärung angekündigt hat.

Okay, denke ich, jetzt wird es spannend.

Am frühen Dienstagmorgen ist die BILD-Story wie erwartet Aufmacher in den meisten elektronisch verbreiteten Medien. Auf den Online-Portalen von SPIEGEL, Focus und Stern ist Wulffs Hauskauf auf Platz eins, Süddeutsche und FAZ gehen ebenfalls mit. Im ZDF-Morgenmagazin hält der Moderator die BILD in die Kamera, auch RTL und n-tv berichten. Ich habe kaum geschlafen, die Nervosität ist zurück.

Mathias Döpfner ist nicht 100 Prozent zufrieden.

»Wäre aus meiner Sicht besser gewesen, wenn ihr Wulff auf Seite eins gebracht hättet, nicht nur als Anriss«, simst er mir. In den kommenden Wochen soll er mein allerwichtigster Kritiker und Sparringspartner werden.

»ARD ignorieren das Thema komplett. n-tv verteidigt Wulff, sagen, das Ganze sei korrekt, BILD-Geschichte nur aufgebauscht. Meine Sorge: der Neid der Kollegen ist so groß, dass sie BILD-Geschichte kleinreden und Wulff verteidigen«, tippt er im Stakkato-Stil besorgt hinterher.

Er hat natürlich recht. Journalismus ist ein Haifischbecken, wo selbst die beste Geschichte nicht zwingend den Beifall der lieben Kollegen findet. Im Gegenteil: Da wird sich munter gegenseitig in die Flossen gebissen.

Wie annonciert, setzt Glaeseker seine nächtliche Ankündigung in die Tat um und versendet am Vormittag eine Pressemitteilung. Die Fragen zum Hauskredit seien damals korrekt beantwortet worden. Frau Geerkens sei zwar die Kreditgeberin, aber in der parlamentarischen Anfrage sei ja nicht nach ihr, sondern nach geschäftlichen Beziehungen zu ihrem Mann gefragt worden. Von daher habe Wulff nicht die Unwahrheit gesagt.

Seine gewundene Erklärung verschlimmert alles noch.

Die Süddeutsche Zeitung kommentiert:

Ein Bundespräsident lässt sich nicht und hat sich nie zu seinem Privaturlaub von Geschäftsfreunden einladen lassen. Ein Bundespräsident wird sich nicht und hat sich nie einen Privatkredit von einem Unternehmer geben lassen. Wer dieses Amt antritt, sollte wissen, dass er höchsten moralischen Ansprüchen genügen muss. Christian Wulff war das offenkundig nicht so wichtig – und das macht ihn angreifbar. (…) Wulff benimmt sich wie ein kleines Kind, das seinen Sandkastenkameraden gehauen hat und danach sagt: »Nein, das war nicht ich, das war meine Hand.« 6

DIE EHEFRAU? GANZ SICHER NICHT!

In die Beziehung zwischen Christian Wulff und mich ist im Nachhinein viel hineingeheimnist worden: Wie lange wir uns schon kannten, wie eng wir angeblich waren, als es zum Bruch kam.

Die Wahrheit ist: Bis 2010, als er für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte, kannte ich ihn nicht wirklich näher. Persönlich war ich ihm nur bei ein paar Veranstaltungen begegnet – Handshake, Guten Tag und Auf Wiedersehen.

Privater kennengelernt haben wir uns vor allem am Telefon – und zwar Pfingsten 2006. Zuvor war Wulff in einem kleinen lauschigen Gartencafé irgendwo im Brandenburgischen mit neuer Frau gesichtet worden. Und zwar ausgerechnet von Mathias Döpfner. Der Teufel ist ein Eichhörnchen und unser CEO im Herzen ein ewiger Journalist.

»Ich bin hinübergegangen und habe artig Guten Tag gesagt«, hatte mir Mathias amüsiert über seine Zufallsbegegnung berichtet, »und irgendwie hab ich mich noch gewundert, weil Frau Wulff so anders aussah. Und hinterher habe ich meine Frau Ulrike gefragt: ›Sag mal, war das die Ehefrau?‹, und Ulrike hat gegrinst: ›Nein, ganz sicher nicht!‹«

Es wäre doch eine gute Idee, den Ministerpräsidenten mal anzurufen, meinte ich. Und das tat ich dann auch. Der Ministerpräsident schien nicht überrascht von meinem Anruf. Keine Sekunde bestritt er die neue Frau in seinem Leben. Im Gegenteil. Wir kamen überein, dass Wulffs Regierungssprecher, Olaf Glaeseker, Angie Baldauf anrufen würde, unsere politische Redakteurin bei BILD-Hannover, die Wulff schon seit Jahren journalistisch begleitete. Er würde mit ihr über das Scheitern von Wulffs Ehe und die neue Partnerin sprechen.

So läuft das gern auf dem Boulevard, liebe Leserinnen und Leser: Das vermeintlich ertappte Liebespaar führt nicht nur Regie, sondern produziert auch gleich den ganzen Film. Das geht manchmal so weit, dass Prominente der Zeitung erst jedes Detail ihrer heimlichen Liebe oder Trauung oder Trennung stecken, um dann pro forma gegen die Berichterstattung zu klagen und nach außen empört und entrüstet zu tun über die böse Indiskretion. Darüber könnte ich ein weiteres dickes Buch schreiben.

Nun ist es natürlich nicht von grundsätzlichem nationalem Interesse, mit welcher Frau ein biederer, Brille tragender niedersächsischer Ministerpräsident Kuchen isst. Da gebe ich jedem recht. Doch dieser bislang fade, blasse Christian Wulff hatte jahrelang ganz bewusst mit dem Image vom braven Familienpapi Politik und Karriere gemacht. »Ich bin ein langweiliger Politiker. Ich bin seit 18 Jahren verheiratet«, ließ er sich gern auf seine etwas zwangige, streberhafte Art zitieren. Das war natürlich auf seinen Amtsvorgänger Gerhard Schröder gemünzt und sollte ihn von anderen Politikern abgrenzen. Auch Wulff hatte mit seiner Frau Wahlkampf gemacht, und natürlich war es von öffentlichem Interesse, wenn er sich von dieser Frau trennte und auf einmal eine junge, neue Frau an seiner Seite war – dafür mussten wir uns einfach interessieren. 7

Der politischen Korrektheit halber möchte ich hier auch noch kurz von Horst Seehofer berichten. Denn nicht nur die Herren von der CDU überfallen dann und wann Frühlingsgefühle. So ließ sich Seehofer, als er einst CSU-Chef und Ministerpräsident des tiefkatholischen Bayerns werden wollte, mit seiner Frau unterm Kruzifix fotografieren. Und äußerte sinngemäß den schönen Satz, er verachte Politiker, die mit dem Ehering am Finger ein Doppelleben führten – das alles, während seine Geliebte in Berlin ein Kind von ihm erwartete.

Sie sehen, Gute Zeiten, schlechte Zeiten gibt es nicht nur auf RTL.

Noch am Abend des Pfingstmontags erschien auf BILD.de:

Christian Wulff: Ehe kaputt. Seine Neue ist alleinerziehende Mutter.

Dazu ein verständnisinniger Text: dass er und Noch-Frau Christiane lange, lange um die Ehe gekämpft hätten. Doch leider, leider habe es nicht gereicht. Natürlich trenne man sich im Guten, das Wohl der zwölfjährigen Tochter sei jetzt oberste Prio. Und eine neue Frau war auch schon zur Stelle, um Wulff in seinem Trennungskummer das Händchen zu halten. Friede, Freude, Eierkuchen.

Sie merken, ich kürze ein wenig ab. Natürlich sind viele Formulierungen in diesem und ähnlichen Texten, wenn es um die Trennung von Paaren geht, eine Farce. Und wir Zeitungsmacher lassen uns bereitwillig vor den Karren spannen, denn es geht hier um eine Win-win-Situation: Wir wollen die Geschichte, die Betroffenen eine Berichterstattung, mit der sie gut leben können. Deswegen gilt, wann immer möglich: berichten, nicht hinrichten. Mit dem Ergebnis, dass man an manchen Tagen mit BILD sein Brot buttern kann. Ist übrigens bei Bunte und Gala nicht anders.

Auch im begleitenden BILD-Kommentar stimmten wir das große Violinkonzert an:

Politiker sind halt auch nur Menschen, was sonst. Mit Schwächen. Christian Wulff hat es gerade wieder bewiesen. Ihn zu verurteilen wäre leicht – und billig. Der bisher tadellose Wulff wird durch diese Trennung sogar ein wenig menschlicher. Und jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient.

Unsere ultrasofte Berichterstattung half Wulff damals natürlich auch politisch, seine konservative Wählerschaft nicht zu verprellen. Sugar Coating nennt man das in der Pharmazie. Wenn die bittere Pille einen Zuckerüberzug bekommt, damit sie besser rutscht.

Halten wir fest, Wulff war auf den Geschmack gekommen. Mit sehr viel Fleiß und Akribie inszenierte er in der Folge sein Liebesleben immer regelmäßiger für die Presse. Sein spätes Midlife-Crisis-Glück wurde quasi Teil der politischen Botschaft. Wulff liebte die Presse – und die Presse liebte ihn. Denkwürdiger Höhepunkt: ein geheimer Liebesspaziergang mit der schwangeren Bettina durch den nieselig kalten Hannoveraner Forst. So geheim, dass am Wegesrand ein Dutzend einbestellte Reporter, Fotografen und Kamerateams warteten wie Fans in der Stadionkurve, auf die Wulff fröhlich zusteuerte:

»Wie haben Sie denn herausgefunden, wo wir immer sonntags spazieren gehen? Ich bin ganz verblüfft«, gab er sich naiv. Und dann: »Oh, jetzt kommen zwei Jogger, das macht das Ganze realistischer.«

Mit seinem Liebesleben für derart viele bunte Schlagzeilen zu sorgen, war bis dato nur Gerhard Schröder und Joschka Fischer vergönnt. Und Rudolf Scharping, als er mit seiner Gräfin einst in den Pool zum Planschen stieg.

»Er möchte Medien vor allem für sich einsetzen als Organ, die ihn bejubeln, die ihn loben, die ihn glänzend abbilden, die die schönen Seiten von ihm zeigen. 8 Und er hat dabei immer ein gutes Verhältnis zur BILD-Zeitung gesucht«, merkte seinerzeit Klaus Wallbaum von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung an, seines Zeichens langjähriger Beobachter des Wulff’schen Pressetreibens.