Ich war die Schönste im ganzen Land - Brigitta Ulusoy - E-Book

Ich war die Schönste im ganzen Land E-Book

Brigitta Ulusoy

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Beschreibung

In den Märchen sind die Stiefmütter immer die Bösen. Warum nur, und wo sind denn eigentlich die Väter der Töchter? Und wie war es für diese Stiefmütter, das Kind der Vorgängerin aufzuziehen? Schneewittchens Stiefmutter erzählt es uns. Allerdings handelt ihre Geschichte in der Neuzeit. Sie, die allseits bewunderte Schönheitskönigin, steckt ihren heissgeliebten Beruf als Model zurück, als sie vom steinreichen Gartenmöbelkönig gebeten wird, sein Kind anstelle der an der Geburt verstorbenen Mutter zu betreuen. Sie zieht in sein Schloss, wo sie schon bald sowohl über-, als auch unterfordert ist, denn das wunderhübsche, hochsensible Mädchen, das von allen Schneewittchen genannt wird, fordert ihre ganze Kraft und Zeit. Alle Aktivitäten, die sie nebenbei in Angriff nimmt, scheitern. Die junge, temperamentvolle Frau fühlt sich je länger je mehr wie in einem goldenen Käfig, zumal es der Vater ihrer Stieftochter - inzwischen ihr Ehemann - mit der Treue alles andere als genau nimmt. Und unterdessen wird Schneewittchen grösser und mit jedem Tag schöner, bis ihre Stiefmutter im Spiegel erkennt, sie selber ist immer noch eine attraktive Frau, Schneewittchen jedoch ist tausendmal schöner als sie! Daraufhin setzt sie alle Hebel in Bewegung, um dem Mädchen die internationale Karriere zu ermöglichen, die ihr selber versagt geblieben ist. Damit ist der Konflikt vorprogrammiert, denn Schneewittchen hat ganz andere Pläne für ihr Leben.

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Inhalt

Teil 1: Was vorher geschah

Teil 2: Schneewittchen

Teil 3: Die 7 Zwerge

Teil 4: Was nachher geschah

Nachtrag

1 1/2 Monate später

10 Monate später

Dank

Die Autorin

Weg und Ziel sind eins in unserm Leben. Hoffen, träumen, lieben, nehmen und geben.

(Joseph Röösli)

Teil 1: Was vorher geschah

1.

Sie haben keine Ahnung, wie es war. Ich glaube kaum, dass Sie wissen, was es heisst immer nur die Zweite zu sein, immer verglichen zu werden und dazu das Kind der Ersten aufzuziehen. Wie oft habe ich gehört wie schön, wie zart sie gewesen sei, wie sanft und liebreizend und dabei so gütig, grossherzig und bescheiden.

Oh nein, ich war nicht sanft und bescheiden, das habe ich nie behauptet. Ich war temperamentvoll und eigenständig. Ich hatte gelernt mich zu behaupten. Ich musste das lernen, komme ich doch aus ganz einfachen Verhältnissen. Mir war mein Erfolg nicht in die Wiege gelegt worden, wie meiner Vorgängerin. Ich musste mir alles alleine erkämpfen. Ich hatte nichts, nichts ausser meiner Schönheit. Die aber hatte ich im Überfluss.

Sie müssen wissen, ich war nicht zu übersehen, so gross und schlank, wie ich war. Ich hatte ein schönes, markantes Gesicht und eine grosse Menge glänzender, dunkelbrauner Haare mit einem natürlichen rötlichen Ton. Dazu blitzende, riesige Augen mit dichten Wimpern, volle Lippen und eine Haut, die sich bei den ersten Sonnenstrahlen goldbraun färbt. Ich wusste um meine Ausstrahlung. Ich brauchte nur wenig Make-up, denn mein Gesicht war von Natur aus schon ausgesprochen ausdrucksvoll. Meine Figur war makellos mit den Traummassen 88/58/89.

Und so hatte ich die Schönheit, mein einziges Kapital, genommen und mich bei Misswahlen angemeldet. Es kam, wie ich es mir ausgemalt hatte. Eigentlich hatte ich nie daran gezweifelt. Ich habe alles gewonnen, was es zu gewinnen gab im Lande und wurde zur Schönheitskönigin ausgerufen. Es gab natürlich noch viele andere schöne Mädchen, aber gegen meine Ausstrahlung hatten sie alle keine Chance. Nun hatte ich also den Titel und wollte das Jahr meiner »Regierung« gut nützen und den Grundstein für meine Karriere legen.

Die Angebote und Einladungen liessen nicht auf sich warten. Ich wurde überallhin beordert, wo es möglich und lukrativ war. Ich hatte Auftritte im Fernsehen, machte Modeshootings und an bedeutenden Werbekampagnen mit, gab Interviews, mein Konterfei war auf mehreren Titelblättern zu bewundern, und natürlich wurde ich bei Empfängen und den verschiedensten Events gern gesehen. Überall wo die Reichen und Schönen zugegen waren, konnte man mich antreffen. Ich liebäugelte bereits mit einer Filmkarriere, als ich ihn zum ersten Mal traf.

2.

Er war gross und gutaussehend. Mein Manager sagte mir, dass das der Gartenmöbelkönig sei, der mit seiner Erfindung und Vermarktung von diesen witterungsbeständigen In-Gartenmöbeln, die nunmehr in jedem Gartenrestaurant und auf jedem Privatsitzplatz stehen, die nur ein bisschen was auf sich halten, ein riesiges Vermögen gemacht hätte. Er lasse immer neue, raffiniertere Modelle in China billig herstellen, um die Möbel dann ziemlich teuer und ausserordentlich gewinnbringend an den Mann, die Frau oder das Unternehmen zu bringen.

Natürlich hatte auch er mich sofort bemerkt, welcher Mann tat das nicht. Er kam auf mich zu geschlendert in einer unnachahmlich lässigen Art und brachte mir unaufgefordert ein Glas Champagner.

»Das einzig richtige Getränk für eine Königin!« Das waren die ersten Worte, die er an mich richtete. Ich weiss noch genau, was ich trug an diesem denkwürdigen Abend, der mein Leben für immer verändern sollte. Ich steckte in einem wirklich todschicken, fliessenden, tiefausgeschnittenen, leicht transparenten Seidenfummel in einem warmen, dunklen Rot. Darunter trug ich einen schwarzen Spitzen-BH und ebensolche Leggins. Der Stilist hatte mir für diesen Anlass eine super Frisur verpasst. Nur ein Teil meine Haare waren asymmetrisch mit einer Spange aufgesteckt, der Rest ringelte sich gekonnt ungekämmt aussehend um meine Ohren. Ich wusste genau, dass ich umwerfend aussah.

Und was trug der Möbel-König? Er fand es nicht nötig wie die meisten anderen Herren im langweiligen Smoking zu erscheinen, sondern trug einen lässigen, schwarzen Massanzug und darunter ein dunkelrotes Hemd. Es sah aus, als hätten wir unsere Kleidung aufeinander abgestimmt. Wir waren mit Abstand das schönste Paar im Saal. Ich glaube die Leute hielten den Atem an, als er auf mich zutrat, mir zuprostete und mich in ein Gespräch verwickelte. Jedenfalls klickten die Scheinwerfer um uns wie verrückt. Ich wusste, dass wir in den nächsten Tagen in mehreren Klatschspalten der Boulevard-Presse abgelichtet sein würden. Aber das konnte mir ja nur recht sein.

Ich stand am Anfang meiner Weltkarriere, wie ich damals zumindest annahm, und konnte solche Publicity nur allzu gut gebrauchen. Hätte mir jemand an diesem Abend prophezeit, dass ich in wenigen Jahren auf einem weltabgeschiedenen Schloss Kindermädchen spielen und mich fast zu Tode langweilen würde, ich hätte diesen Menschen glatt für verrückt erklärt.

Hätte ich zudem geahnt, dass ich in 20 Jahren in der Presse total verrissen und in der Öffentlichkeit zur Unperson würde, als Hexe verschrien, ja sogar Mordversuchen bezichtigt, ich hätte fluchtartig den Saal verlassen. Aber vielleicht auch nicht, denn ich glaube, es hatte mich bereits im ersten Augenblick erwischt. Es war wie Magie, Liebe auf den ersten Blick! Mir, die ich bis jetzt immer die Männer tanzen liess, die sich rühmte einen kühlen Kopf zu behalten und behauptete, niemals für einen Mann die Karriere aus den Augen zu verlieren, musste das passieren!

Ob es ihm gleich erging? Ich weiss es nicht. Um seinen Mund spielte so ein leichtes, spöttisches Lächeln. Seine Augen jedoch, die mich förmlich verschlangen, sagten etwas anderes. Trotz meiner Jugend, ich war damals gerade 20 Jahre alt, kannte ich mich bereits aus mit dem »starken Geschlecht«. Jedenfalls sprach er schon sehr bald von einer grösseren Werbekampagne, die er mit mir machen möchte, was natürlich eine wunderbare Gelegenheit war, mit mir den Kontakt weiter zu pflegen. Aber egal, was der Grund war, mich für seine Werbung auszuwählen, seiner Möbel-Kollektion ist diese Entscheidung sehr gut bekommen. Ich verwies ihn an meinen Manager, der davon sehr entzückt war. Die offizielle Anfrage kam bereits am nächsten Tag.

3.

Ich räkelte mich also bald an wunderschönen Orten auf wunderschönen Gartenmöbeln, in wunderschönen Kleidern, bzw. Badekostümen, mit wunderbaren Drinks in der Hand. Das Leben war damals recht angenehm. Für mich war das Posieren vor den Kameras immer ein Vergnügen gewesen, das Reisen in herrliche Gegenden, das Wohnen in tollen Hotels, das ganze Drum und Dran! Das war das Leben, für das ich geschaffen bin. Ich kann nicht verstehen, warum so viele Models jammern, wie anstrengend ihre Arbeit sei. Für mich war das alles damals wie ein Märchen.

Und das Schönste, der Herr Gartenmöbel-König war sich nicht zu schade, seine Werbekampagne selber zu überwachen. Er gab uns Tipps, rückte immer wieder kritisch ein Möbelstück ins rechte Licht, liess dekorative Blumen, Früchteplatten, Häppchen, in der Farbe passende Gläser und andere Utensilien herbeischaffen. Er hatte einen exzellenten Geschmack und war erst zufrieden, wenn alles ganz genau seinen Vorstellungen entsprach. Wir fotografierten für einen umfangreichen Katalog und drehten kleine Werbespots fürs Fernsehen. Das Wetter war stets strahlend schön und die Orte des Geschehens wahrlich paradiesisch, neben riesigen Hotelpools, in Gärten von traumhaften Villen, am Meeresstrand, auf Terrassen von Nobel Hotels und so weiter und so fort.

Und am Abend, nach getaner Arbeit sassen wir zusammen, assen fein, tranken dazu die besten Weine, unterhielten uns köstlich, tanzten auch hie und da. Und es kam wie es nicht anders kommen konnte. Schon bald lud mich der Gartenmöbelkönig in seine Suite auf einen Schlummertrunk ein.

Oh nein, er war nicht der erste Mann in meinem Leben. Ich war ein frühreifes Mädchen gewesen und hatte schon allerhand kurze Affären hinter mir. Aber was ich nun erlebte, liess alles verblassen und vergessen. Die Liebeskünste meiner Eroberung standen Lichtjahre über denen meiner früheren Kumpane. Er war ja, wie ich nun erfuhr, auch über 10 Jahre älter als ich. Aber das allein war es nicht. Er war einfach etwas ganz Besonderes, hatte Stil, war galant und rücksichtsvoll, aber trotzdem heissblütig und total verrückt nach mir. Ich war ja so verliebt. Wir bemühten uns sehr diskret zu sein, denn mein Liebhaber wollte kein grosses Aufsehen.

»Wenn die Presse von unserem Verhältnis Wind bekommt, ist es mit unserer Ruhe vorbei«, meinte er, sicher zu Recht. Mir allerdings wäre das egal, ja sogar recht gewesen. Denn meinen Zukunftsplänen wäre ein bisschen Rummel um meine Person nur entgegengekommen. Andererseits genoss ich es auch, ihn auf diese Weise wirklich für mich allein zu haben. Eigentlich war es mir ziemlich unwichtig. Später dann habe ich mich schon einige Male gekränkt gefühlt, dass er mich sozusagen versteckt hat vor seinen Bekannten, dass er mich nie seinen Leuten vorgestellt und mich an Familienfesten nicht eingeladen hat.

So hat die Crew vermutlich nichts erfahren von unserer Liebesbeziehung. Bis auf meinen Manager. Der hat eines Morgens den riesigen Strauss roter Rosen in meinem Zimmer entdeckt und hatte schon seit einiger Zeit die Blicke, die zwischen uns hin und her gingen richtig gedeutet. Er kannte mich, seinen Schützling, ja auch am besten von allen Leuten. Ihm ist nicht entgangen, dass das Blitzen meiner Augen in ein einziges Strahlen übergegangen war. Ich glaube ich war nie schöner, als in dieser Zeit. Er warnte mich vor dem Möbel-König.

»Pass auf, Mädchen! Der ist ein Playboy, der spielt nur mit dir. Wenn es dir Spass macht mit ihm, so geniesse es, aber erwarte nicht mehr von ihm. Der ist in festen Händen. Ich glaube seine Verlobte lebt zur Zeit irgendwo im Ausland.«

Aber ich lachte nur:

»Ach was, du bist ja nur eifersüchtig. Und ich werde mit jeder ‘Verlobten’ fertig.« Ich hielt mich damals wirklich für unwiderstehlich. Ich war der festen Überzeugung, dass es keine Frau mit mir aufnehmen könnte. Falls da wirklich noch eine andere im Kopf meines Liebhabers rumschwirren sollte, würde ich ihm diese Erinnerung bald austreiben.

Und ich genoss es wirklich. Nachdem die Werbekampagne zu Ende war und wir wieder in heimische Gefilde zurückkehrten, führten wir unsere Beziehung noch intensiver weiter. Mehrmals täglich rief er mich an. Wann immer es die Zeit zuliess, trafen wir uns, wie stets diskret, auf dem Land in abgelegenen kleinen Hotels, für einen kurzen Trip nach Paris oder ans Meer. Leider war unsere Zeit ziemlich beschränkt. Er hatte viele geschäftliche Verpflichtungen und auch ich musste im Jahr meiner »Regentschaft« so manchen Termin einhalten.

Einmal nahm er mich mit auf eine Geschäftsreise ins Ausland. Dadurch musste ich einen Fototermin sausen lassen (Kopfschmerzen!) Mein Manager schäumte vor Wut. Er wusste ganz genau, was es mit meinen »Kopfschmerzen« auf sich hatte.

Mach was du willst in deiner Freizeit, aber wenn du jetzt beginnst deine Verpflichtungen zu vernachlässigen, schmeisse ich den Bettel rasch hin,« drohte er mir. Ich bezichtigte ihn wieder der Eifersucht, versuchte dann aber wieder alle Termine einzuhalten. Es gelang mir leidlich. Es kam eben doch wieder einmal vor, dass ich zu spät kam. Das Flugzeug, mit dem wir von einem unserer kurzen Auslandtrips zurückfliegen sollten, konnte wegen einem Orkan erst mit grosser Verspätung fliegen.

4.

Inzwischen hatten wir zwei Verliebte uns näher kennen gelernt. Ich wusste nun, dass mein König kein Selfmade-Man war, sondern aus altem Geldadel stammte. Seit mehreren Generationen verdiente seine Familie sehr gut mit immer neuen, innovativen Gartenmöbel-Kreationen. Sogar schon der zusammenlegbare Liegestuhl gehe auf eine Erfindung seiner Vorfahren zurück, erzählte er mir.

Später hätten sein Grossvater und sein Vater dann leichte, stapelbare Plastikstühle vertrieben, wieder später mit Festgarnituren »abgesahnt«. Anscheinend hatten sie immer den richtigen Riecher, was von der Bevölkerung gerade gewünscht wurde.

Er war also im goldenen Nest geboren, hatte Betriebswirtschaft und Marketing studiert und aus Freude an der Sache, nicht aus Notwendigkeit die neuen formschönen Möbel entworfen und herstellen lassen, die wie eine Rakete eingeschlagen hatten.

Die Familie besass seit mehreren Generationen ein Schloss mit viel Umschwung, ziemlich weg vom Schuss an einem Waldrand gelegen, das er mir aber noch nicht gezeigt hatte. Er besass ja noch eine wunderschöne Maisonette-Wohnung in der Stadt. Trotzdem hätte ich das Schloss natürlich schon sehr gerne besichtigt, traute mich aber nicht, darauf zu bestehen. Ich wusste damals natürlich nicht, dass ich das Schloss bald zur Genüge kennen- und hassen lernen würde.

Schnell fand ich auch heraus, dass er in allen Sparten der Kultur sehr bewandert war, wie es halt so bei reichen Familien üblich ist. Man liest, geht ins Theater und spricht am Familientisch darüber, was auf der Welt passiert. Er wusste demzufolge auch bestens Bescheid über Welt-Politik, über die neuesten technischen Errungenschaften und war mir in allen Dingen haushoch überlegen.

Ich hingegen war in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Meine Mutter war alleinerziehend gewesen, ich ihre einzige Tochter. Sie stammte ursprünglich aus Ungarn, von ihr habe ich mein hübsches Gesicht und mein Temperament. Sie besass einen winzigen Coiffeur- und Kosmetiksalon, der sie alles andere als wohlhabend machte, in dem ich aber ganz gerne manchmal ausgeholfen und so ganz beiläufig gelernt hatte, wie man seinem guten Aussehen noch etwas nachhelfen kann.

Mein Vater war Zeit seines Lebens ein Filou gewesen. Er war zwar eigentlich ein ganz biederer, kaufmännischer Angestellter, jedoch gross, schlank und wie meine Mutter, sehr gutaussehend. Von ihm habe ich meine stattliche Grösse und die schlanke Statur geerbt. Er hatte so einen besonderen Charme. Die Frauen flogen auf ihn, was er sich gerne gefallen liess. Bis zu seinem Lebensende schwirrten immer einige »Haremsdamen« um ihn herum, die er betreut und in allen Lebenslagen beraten hat. Bald wurden die wiederholten Affären meiner Mutter zu viel. Sie liess sich scheiden.

Ich selber besuchte ohne Probleme die obligatorischen Schuljahre. Ich war schon als Kind sehr hübsch, wuchs und wuchs und wurde schöner und schöner.

Glauben Sie bitte nicht, dass es Eitelkeit ist, wenn ich immer wieder meine Schönheit betone, es ist nichts als die Wahrheit. Ich hatte immer schon meinen unbestechlichen Spiegel, indem ich mich, so lange ich mich zurück erinnern kann, täglich betrachtete. Ich hielt so was wie Zwiesprache mit ihm, und er sagte mir zuverlässig, welche Frisur ich tragen solle und welche Kleider meine Figur am besten zur Geltung bringe. Das ist wirklich keine Hexerei, man hat doch schliesslich Augen im Kopf.

Ich kann nicht verstehen, wieso die Models und Schauspielerinnen immer behaupten, dass sie sich selber hässlich finden. Ich jedenfalls habe immer gewusst, dass ich sehr schön war und auch nichts anderes verlauten lassen.

Andererseits kann ich ebenso wenig nachvollziehen, wieso sich dickliche Frauen in hautenge Leggins oder ebensolche kurze Röcke zwängen, womöglich noch die Bluse oder das T-Shirt in den Bund reinstecken. Haben diese Personen keinen Spiegel zu Hause? Oder warum ziehen sich manche von Natur aus hübsche Mädchen so ausgesucht hässlich an? Sie überschminken sich derart, dass sie wie Nutten wirken, oder, wenn es gerade die Mode verlangt, verstecken sie ihre hübschen Formen vor allen Blicken. Alles, nur nicht hübsch sein, scheint ihre Devise zu sein.

Nach der Schulzeit absolvierte ich ein Praktikum in einem renommierten Kosmetiksalon, machte einen Mannequinkurs und war dann ein Jahr in England, um die Sprache zu lernen.

Dann jobbte ich ein bisschen herum und bewarb mich schliesslich bei den Schönheitskonkurrenzen. Meine Eltern freuten sich für mich, hätten es aber schon auch gerne gesehen, dass ich erst eine richtige Ausbildung absolviert hätte. Meinen grossen Erfolg nahmen sie irgendwie mit Erstaunen zur Kenntnis. Es ging ihnen fast ein bisschen zu schnell, vermute ich.

Zurück zu meinem Freund! Das viele Geld konnte das Unglück leider nicht von seiner Familie abhalten. Vor einigen Jahren sind seine Mutter und seine einzige Schwester mit dem Auto tödlich verunfallt. Ich dachte, es sei dieser erlittene Schock, der noch in ihm nachwirkte. Plötzlich wurde er sehr nachdenklich, oder er rief ohne Grund einige Tage nicht an. Anfangs nahm ich jeweils an, dass ich ihn irgendwie verletzt hätte. Nachdem ich aber erfahren hatte, was ihm Schreckliches passiert war, hatte ich für seine plötzlich wechselnde Laune Verständnis.

5.

Dann war das Jahr meiner Dienstzeit als »Schönste des Landes« vorbei. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge übergab ich die Krone meiner Nachfolgerin, einer sicher schönen, aber etwas faden Blondine. Ich verstehe übrigens bis heute nicht, warum wir Mädchen nicht mehrmals zur Wahl antreten können. In jeder Sportart kann man doch auch mehrere Jahre lang Landes- und Weltmeister sein, warum hier nicht. Ich bin sicher, dass ich die Konkurrenz noch mehrmals gewonnen hätte.

Andererseits war ich froh. Jetzt konnte ich die Fototermine und Einladungen nach meinen Entscheidungen annehmen und war die Repräsentationspflichten los. So hatte ich auch mehr Zeit für meine grosse Liebe. Ich hatte ja keine Ahnung, dass mir nur noch zwei Monate des reinen Glücks blieben mit meinem Schatz.

Es stand zwar noch eine internationale Schönheitskonkurrenz ins Haus. Mein Manager bestürmte mich, dafür Vorbereitungen zu treffen. Aber irgendwie war ich nur mit halbem Herz bei der Sache.

»Du musst das Eisen schmieden, solange es heiss ist,« bekniete er mich. Ich war mir aber sicher, dass ich ohne grosse Werbetrommeln wieder gewinnen würde.

Wie bereits schon einmal während unserer Zeit, flog mein Freund für eine Woche nach Amerika. Der amerikanische Markt sollte noch besser ins Rollen kommen, erklärte er mir. Ich wäre sehr gerne mitgereist, hatte ich doch gerade ein Zeitfenster ohne feste Verpflichtungen. Doch mein Freund wollte davon nichts wissen.

»Ich habe wirklich diesmal keine Zeit für dich. Es wird alles ganz hektisch,« gab er ziemlich genervt zur Antwort. Ich insistierte nicht. Auf keinen Fall wollte ich zu so einer klebrigen, unselbständigen Geliebten mutieren, die ihrem Freund keinen Freiraum lässt.

Ich vertrieb mir die Zeit mit Besuchen bei Mutter und Vater, die ich in letzter Zeit ziemlich vernachlässigt hatte, schaute mich in schicken Mode-Boutiquen um, besuchte ein irisch-römisches Bad und wunderte mich nur wenig, dass mein Freund nur zweimal ganz kurz telefonierte und auch in meinem E-Mail-Briefkasten keine Nachricht von ihm zu finden war. Schliesslich hatte er mir ja mitgeteilt, wie stressig sein Aufenthalt in den amerikanischen Grossstädten sein werde.

Darauf folgte die intensivste Zeit unserer Liebe. Wir trafen uns fast täglich. Er erzählte mir von seiner Mutter und Schwester, und vor allem liebte er mich auf eine fast schon erschreckende Weise. Manchmal kam er mir vor wie ein Ertrinkender.

Und ich war sein letzter Anker! Vielleicht sollte er eine psychologische Behandlung in Angriff nehmen, um den erlittenen Schock richtig zu verarbeiten, dachte ich, denn noch immer führte ich sein Verhalten auf den grässlichen Unfall zurück.

Dann der grosse Knall! Das Unglück begann damit, dass er einige Tage nicht angerufen hatte. Wir hatten weder eine Verabredung noch elektronischen Kontakt in dieser Zeit, was sehr aussergewöhnlich war. Ich war besorgt und versuchte ihn mehrmals zu erreichen. Sein Telefonbeantworter sagte mir jedes Mal, dass er im Moment nicht zu erreichen sei, und auf meine E-Mail blieb die Antwort aus. Nach einer Ewigkeit, wie mir schien, schrieb er mir, dass er unbedingt mit mir reden müsse und schlug ein abgelegenes Restaurant vor, indem wir uns treffen sollten.

Ich war total verunsichert, was war nur geschehen. Bei unserem letzten Zusammensein war er so lieb gewesen und hatte sich kaum von mir losreissen können. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er an diesem Abend – endlich – vorgeschlagen hätte, zusammen zu ziehen.

Ich traf ihn also im Restaurant. Er bestellte Apéro, Wein und Essen wie immer, nur dass er irgendwie nervös und fahrig wirkte. Ich versuchte, ihn in ein leichtes Gespräch zu verwickeln, bekam aber kein Echo. So verstummte ich.

Dann eröffnete er mir die Sachlage. Seine Freundin, mit der er seit sieben Jahren zusammen sei, und mit der er so was wie verlobt sei, wäre nun aus New York zurückgekommen. Sie hätte dort während zwei Jahren eine renommierte Kunstakademie besucht. Er liebe mich, dass wisse ich sicher, aber er könne nun unsere Beziehung unmöglich weiterführen. Seine Verlobte sei ihm die ganze Zeit beigestanden, als das unfassbare mit seiner Mutter und Schwester passiert sei. Umgekehrt habe er ihr geholfen, denn auch ihre Mutter sei ganz am Anfang ihrer Bekanntschaft an Krebs gestorben. Diese Schicksalsschläge hätten sie untrennbar zusammengeschweisst. Es sei ihm total unmöglich, sie zu verlassen. Es tue ihm so leid, aber so sei es.

6.

Ich war wie erstarrt und konnte die ganze Zeit kein Wort herausbringen. Es hätte auch nichts genützt. Ich wusste instinktiv, dass alles zwecklos gewesen wäre. Ich fragte ihn nicht einmal, ob er sie, seine Verlobte denn noch liebe. Ich wusste, ich hatte ihn verloren. Ich stand einfach auf, nahm meine Tasche und verliess wort- und grusslos das Lokal. Ich weiss nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen bin. Er war noch hinter mir hergelaufen und hatte auf mich eingeredet, glaube ich mich zu erinnern. Ich habe nichts mehr verstanden. Ich war wie in einem Schock, bin einfach in mein Auto gestiegen und nach Hause gefahren.

Ich habe später nie richtig verstanden, warum ich nicht das Gespräch gesucht hatte. Meinem Temperament entsprechend, hätte ich ihm eigentlich eine Szene machen sollen.

Zu Hause allerdings musste ich mir irgendwie Luft machen. Ich wollte mir etwas Hochprozentiges einschenken, doch das erste Glas schmiss ich mit aller Kraft an die Wand, dem zweiten erging es ebenso und erst beim dritten gelang es mir ein grosses Glas Whiskey einzuschenken, das ich in einem Zug austrank und mich anschliessend ins Bett verkroch.

Es war Wochenende und ich hatte frei. So blieb ich über zwei Tage liegen, stand nur mal kurz auf zum Wasser trinken und –lösen. Ich schlief fast die ganze Zeit, was mich sehr wunderte. Das ganze erinnerte an eine schwere Krankheit. Ich träumte viel in diesen Tagen. Immer war ich glücklich zusammen mit meinem Freund. Wenn ich erwachte fiel mir die grausame Realität ein, worauf ich mich sofort wieder in den Schlaf flüchtete.

Am Montag-Nachmittag hatte ich eine kurze Werbeaufnahme. Ich stand auf, duschte und wusch mir die Haare, ass etwas Kleines, schminkte und kleidete mich sorgfältig, alles wie in Trance. Ich konsultierte meinen Spiegel, der mir eine Schönheit zeigte, eine Schönheit mit einem Schatten im Gesicht, den ich jedoch gekonnt wegpuderte und überschminkte.

Irgendwie überstand ich die Aufnahmen. Anschliessend stand ein Gespräch mit meinem Manager auf dem Programm.

»Wie siehst denn du aus?« rief er als erstes. Natürlich hatte er, der mich so gut kannte, meine Veränderung sofort bemerkt. Ich ging nicht darauf ein, sondern bat ihn alles Nötige für die World-Konkurrenz zu veranlassen und mir neue Aufträge, je mehr, desto besser zu verschaffen. Er nickte wissend. Natürlich hatte er die Lage erfasst. Ich habe es ihm hoch angerechnet, dass er mich nicht darauf ansprach und vor allem, dass er nicht sagte, dass er mich ja gewarnt hätte. Ich glaube bei der kleinsten Frage, wäre ich zusammengebrochen.

So stürzte ich mich wieder in meine Karriere und ausserdem in verschiedene kurze, heftige Affären. Einige Wochen war ich mit dem Frontmann einer Rockband liiert, dann hatte ich eine Romanze mit einem Starfotografen, später war ein Industriellen-Sohn mein Lover und so weiter und so fort. Aber nichts konnte mich über meinen Verlust hinwegtrösten. Die Männer erschienen mir wie Marionetten und konnten nicht im Geringsten mein Herz berühren. Meine Arbeit wurde zur Sucht.

Mein Herz? Was war mit ihm geschehen? War es gebrochen? Ich weiss es nicht. Es war wie nicht vorhanden, lag wie ein Stein in meiner Brust. Ich erlaubte mir nicht, es irgendwie zum Leben zu erwecken, denn ich glaube, das hätte mich zerbrochen.

So verging über ein Jahr. Die internationale Schönheitskonkurrenz war ein Desaster. Ich kam zwar ins Finale, wurde schlussendlich jedoch nur Fünfte, was gerecht war, denn mein inneres Feuer und damit meine Ausstrahlung, meine Selbstsicherheit und Unbekümmertheit waren dahin.

Ohne grosses Bedauern kehrte ich in mein Land zurück, wo ich mit offenen Armen empfangen wurde und mehr als genug Aufträge bekam. Und auch mein Spiegel sagte mir nach wie vor, dass ich in meinem Land die Schönste sei. Allmählich, ganz allmählich begann ich mich von meinem Schock etwas zu erholen. Ich spürte, dass ganz langsam die Freude am Leben zurückkam.

7.

Dann geschah das Unglaubliche: Ganz kurzfristig wurde ich eingeladen zu einer Preisverleihung. Die innovativsten Jungunternehmer des letzten Jahres sollten ausgezeichnet werden. Eigentlich sollte die amtierende Miss die Preise an die Gewinner übergeben, aber diese lag mit einer starken Grippe im Bett. Wie es das Schicksal anscheinend vorgesehen hatte, war ich gerade frei und sagte ohne grosse Erwartung zu. Solche Anlässe hatte ich im Jahr meiner "Regierung" zur Genüge erlebt.

Ich hatte mir nicht mal die Namen der Nominierten angesehen, sondern konzentrierte mich darauf schön auszusehen. Ich musste ja nichts anderes tun als einen Blumenstrauss und ein Dokument übergeben und den obligatorischen Kuss entgegennehmen. Dann vielleicht noch eine kurze Fotosession für die Presse, in die Kameras lächeln und das war’s dann.

Sie ahnen es bestimmt: Einer der drei Nominierten war mein Ex-Geliebter. Als ich ihm seinen Preis übergab, (er wurde übrigens nur Zweiter, gewonnen hat so ein Internet-Typ, der irgend so ein Netzwerk, um Freunde zu finden, oder so was Ähnliches entwickelt hatte) zitterte ich am ganzen Körper. Und als er mich, wie vom »Drehbuch« vorgesehen, auf die Wange küsste, traf mich beinahe der Schlag. Es war, als würde die kaum verheilte Wunde aufgeschlitzt, als risse man ein Pflaster weg, mit dem ich versucht hatte, den Schmerz zurück zu halten.

Aber natürlich war ich Profi. Ich lächelte in die Kamera wie immer, und man musste mich schon sehr gut kennen, um zu merken, wie es um mich stand. Dann war die Feier vorbei und eigentlich wollte ich gleich auf mein Zimmer verschwinden (Die Verleihung hatte im Saal eines Grandhotels stattgefunden, indem wir auch übernachten sollten.) Aber sehen Sie, das kann man einfach nicht machen. Man ist sozusagen verpflichtet danach zusammen zu essen, Konversation zu betreiben und Kontakte zu knüpfen. Mein Manager hätte überhaupt kein Verständnis dafür gehabt, wenn ich bei den anschliessenden Festivitäten gefehlt hätte.

Ich versuchte einen Platz möglichst weit weg von ihm zu bekommen, was mir gelang. Ich vermied den ganzen Abend krampfhaft ihn anzusehen, was mir ebenfalls einigermassen möglich war. Ich ass und sprach auch reichlich dem Wein zu, was einfach nötig war, um den Abend zu überstehen. Als es irgendwie zu verantworten war, schlich ich mich davon, stieg in den Lift, um mein Zimmer aufzusuchen und nur noch zu schlafen.

Aber das Schicksal hatte etwas anderes vor. Ich trat aus dem Lift, suchte eben vor meiner Zimmertür den Chip heraus und wer trat aus seiner Suite, die gleich vis-à-vis von meinem Zimmer lag? Er! So standen wir uns im sonst menschenleeren Gang gegenüber, und im nächsten Augenblick lagen wir uns in den Armen. Rasch zog er mich in seine Suite, schloss die Türe und was dann geschah, war höhere Gewalt.

Mein Denken hatte ausgesetzt und das seine anscheinend auch. Ich schwöre Ihnen, ich hatte damals keine Ahnung, dass seine Frau zu Hause mit den Übelkeiten ihrer Schwangerschaft kämpfte und deshalb nicht an die Preisverleihung kommen konnte. Ich hatte zwar einmal gehört, dass er diese junge Künstlerin geheiratet hatte, mir sonst aber strikt untersagt, irgendwelche Nachforschungen über sein Leben anzustellen.

Wir lagen also ineinander verschlungen im Bett und konnten nicht genug bekommen voneinander. Es war, als hätte es die Zeit unserer Trennung überhaupt nicht gegeben. Doch auch die schönste und längste Liebesnacht ist irgendwann zu Ende, und die Wirklichkeit holt uns unerbittlich ein.

Am nächsten Morgen wussten wir nicht viel zu sagen. Das Handy meines neuen alten Geliebten läutete. Natürlich war es seine Frau, der es gar nicht gut ging, wie es schien. Er musste also sofort zu ihr fahren. Ich wagte nicht zu fragen, ob wir uns wiedersehen würden. Ich wusste auch nicht, ob ich das überhaupt wollte.

Das Leben ging weiter. Nach einiger Zeit rief er mich an. Er klang ziemlich zerknirscht und hatte anscheinend ein sehr schlechtes Gewissen.

»Ich möchte nochmals mit dir reden«, bat er, »wir müssen unsere Beziehung doch auf eine gute Art beenden.« Ich wusste nicht, was ich von seinem Wunsch halten sollte. Ich hielt das Treffen eigentlich für keine gute Idee. Was sollte das schon bringen? Aber ich willigte trotzdem ein. Schliesslich hatte ich nur zu deutlich gespürt, dass ich ihn immer noch liebte.

8.

Wir schafften es nicht Schluss zu machen. Die körperliche Anziehung war viel zu stark. So kam es, dass wir uns immer wieder heimlich trafen, vielleicht durchschnittlich einmal in der Woche. Unsere Vereinigungen waren leidenschaftlich, aber auch traurig. Der Zauber unserer ersten gemeinsamen Zeit war nicht mehr vorhanden. Schliesslich war er ja jetzt verheiratet, und seine Frau erwartete zudem ein Kind. Ich wusste, dass unsere Beziehung ein Ende haben musste. Aber es war so unsagbar schwer einen definitiven Schlussstrich zu ziehen.

Inzwischen hatte ich begonnen zu recherchieren. Es war wie ein Zwang. Ich las im Internet und in den Zeitschriften alles, was ich über meinen Geliebten und seine Frau finden konnte, sogar in Zeitungs-Archiven im Web stocherte ich herum.

Ich sah, dass seine Ehepartnerin auch schön war. Sie hatte dunkle Haare, war ebenfalls ziemlich gross, wirkte aber im Gegensatz zu mir zerbrechlich. Sie besass ganz helle Haut und blaue Augen. Ich las, dass auch sie aus einer sehr vermögenden Familie stammte, alter Geldadel, hiess es. Ferner erfuhr ich, dass sie 27 Jahre alt war und bereits Erfolge als Künstlerin aufzuweisen hatte. Sie machte Textilkunst, hatte vor über zehn Jahren begonnen zu weben. Zuerst hatte sie wunderhübsche Miniaturbilder hergestellt. Dann begann sie filigrane Collagen zusammen zu nähen. Mit diesen Arbeiten war sie an mehreren Gruppenausstellungen vertreten gewesen. Später hatte sie zu sticken begonnen.

Sie stickte damals meist mit Goldfäden wundersame Bilder, teils gegenständlich, teils abstrakt. Es waren sozusagen gestickte Gemälde. Ich hatte nie zuvor solche Werke gesehen.

Ich verstand nicht viel von Kunst. Wenn schon, gefielen mir grosse, pompöse Ölgemälde besser. Trotzdem hatten diese Arbeiten etwas an sich. Ich konnte es mir nicht richtig erklären. Sie schienen irgendwie nicht von dieser Welt zu sein, so zart, so filigran, irgendwie fast überirdisch.

Dann kam eine Zeit, in der ich meinen Geliebten kaum sah. Ich vermisste ihn, aber andererseits war es mir auch recht, denn ich sah sowieso keine Zukunft für unser gemeinsames Leben. Ausserdem war mein Terminkalender gestopft voll mit Terminen. Ich machte damals vor allem Modeaufnahmen für eine namhafte Modezeitschrift, weswegen ich oft auch im Ausland tätig war.

Nun war seine Frau hochschwanger. Während der ganzen Schwangerschaft war es ihr gar nicht gut gegangen. Sie musste viel liegen, verbrachte beinahe die ganze Zeit im Schloss, das ich bis dahin immer noch nicht gesehen hatte. Mein Freund fühlte sich verpflichtet seine freie Zeit möglichst bei ihr zu verbringen, was ich ja irgendwie verstehen konnte.

Mehrere Wochen hörte ich rein gar nichts von ihm. Wieder dachte ich, nun ist es endgültig vorbei, was mir eigentlich recht war. Ich war jetzt knapp 23 Jahre alt, hatte meine geliebte Arbeit und das ganze Leben lag noch vor mir. Ich musste ihn aus meinem Leben verabschieden, dann würde ich irgendwann einen anderen Mann kennen lernen, den ich genauso lieben könnte wie ihn.

9.

Sein Hilferuf kam für mich völlig unerwartet. Ich hatte vor einiger Zeit mit dem sinnlosen Stochern in seinem und im Leben seiner Frau aufgehört. Ich fühlte mich wieder frei und so gut wie lange nicht. Ich hätte den Hörer beinahe nicht abgenommen, als ich auf dem Display seine Nummer sah. Ich tat es aber doch, wieder wie durch einen inneren Zwang.

Seine Stimme war völlig verändert.

»Hilf mir, bitte hilf mir!«, hauchte er. Er war völlig verzweifelt. Seine Frau war bei der Geburt ihrer Tochter gestorben und hatte ihn alleine zurückgelassen mit einem Baby, das so zart war und dauernd nach seiner Mutter schrie.

»Bitte komm zu mir, ich hab’ sonst niemanden,« flehte er. Ich überlegte. Was sollte ich bei ihm machen. Ich hatte keine grosse Freude an Neugeborenen. Gab es nicht andere Personen in seiner Verwandtschaft, die besser geeignet wären, ihm und dem Kind beizustehen. Richtig, die beiden Mütter bzw. Grossmütter lebten nicht mehr. Auch die Schwester des Möbelkönigs war ja gestorben. Sein Vater hatte das Schloss, das seit mehreren Generationen im Familienbesitz war, verlassen und eine grosse Luxus-Attikawohnung in der Stadt bezogen. Die junge Familie sollte ungestört sein, und in der Stadt war der Weg zu seinem Büro kurz und seine Freunde wohnten in der Nähe. Die Firma und die Freunde, mit denen er Schach und Golf spielte, waren sein ganzer Lebensinhalt.

Was war mit der Verwandtschaft seiner Frau? Sie besass nur einen Bruder, der jedoch vor Jahren nach Australien ausgewandert war und dort einen Zweig der Firma ihrer Familie leitete. Freunde? Angestellte? Ich meinte, dass ein so reicher Mann bestimmt Möglichkeiten hätte, seine Tochter betreuen zu lassen. Er aber entgegnete:

»Das ist es nicht. Natürlich habe ich Hauspersonal. Was wir aber brauchen, ist eine feste Bezugsperson, ein Mutterersatz, eine starke, stabile Persönlichkeit, meine Tochter braucht das und auch ich.«

Er insistierte:

»Ich weiss, es ist viel verlangt von dir. Aber komm doch wenigstens einmal vorbei! Schau dir das Anwesen in Ruhe an und auch das Kind, alles ganz unverbindlich! Dann kannst du dich entscheiden, ob du uns helfen möchtest.«

Heute bin ich davon überzeugt, dass es nicht so ist. Man kann nicht immer selber entscheiden, ob man etwas tun soll oder nicht. Manche Dinge sind vorbestimmt, da hat man keinen freien Willen mehr.

Teil 2: Schneewittchen

1.

Oh mein Gott, ich hatte doch tatsächlich zugesagt! Ich wusste nicht, was mit mir geschah. Wie immer, wenn ich diesem Mann in die Nähe kam, schien mein Verstand auszusetzen. Es war, als ob irgend Jemand oder etwas Besitz von mir ergriffen hatte und mein Wille ausgeschaltet war.

Worauf hatte ich mich da eingelassen? Ich war noch völlig durcheinander. Der Gartenmöbel-König hatte mich von der Schloss- und Kindsbesichtigung zurückgebracht. Hatte mich zärtlich geküsst zum Abschied und nicht aufgehört mir zu danken, und ich stand einfach so da, stand irgendwie neben mir.

Ja, ich hatte schliesslich eingewilligt, das Schloss mitsamt dem Neugeborenen zu sehen. Die Neugier hatte gesiegt. Schliesslich war es schon so lange mein Wunsch gewesen das Anwesen zu betreten, dass es mir jetzt sozusagen zustand. Der junge Wittwer holte mich also ab, und wir fuhren ohne viele Worte zu seinem Heim. Es war eine längere Fahrt. Das Schlossgut stand wunderschön gelegen mitten im Grünen auf einer Anhöhe mit prächtigem Ausblick. Gleich hinter dem Haus begannen grosse hügelige Wälder. Es war eine Wucht! Schon die Auffahrt durch ein grosses Schmiede-Eisentor und durch einen schön angelegten parkähnlichen Garten mit Schwimmteich und altem Baumbestand! Seitlich des Haupthauses erblickte ich auf der einen Seite die Pferdestallung mit angrenzenden Weiden und auf der anderen einen Tennisplatz.

Alles war so gepflegt und stilvoll. Wir gingen zusammen die kurze, breite Treppe hoch und betraten das Gebäude. Auch hier, alles grosszügig, nichts überladen, das meiste mit traditionellen antiken Möbeln eingerichtet, mit wenigen modernen Akzenten und natürlich modernster Technik! Nichts wirkte verstaubt oder muffig. Jeder Gegenstand schien genau am richtigen, nur für ihn geschaffenen Ort zu stehen.

Ich hatte ja in den letzten Jahren viele schöne Villen und Hotels gesehen, was ich aber hier erblickte, übertraf alles. Doch ich bekam wenig Zeit das Anwesen zu bewundern, denn der Schlossherr drängte darauf, mir seine Tochter zu zeigen. Auf Zehenspitzen betraten wir das ganz in weiss gehaltene Kinderzimmer und standen an der wirklich ganz süssen Wiege.

Und was lag da in seligem Schlummer? Das schönste Kind, das ich je erblickt hatte. Es sah so zart und zerbrechlich aus, hatte fast weisse Haut wie aus Porzellan, rote Wangen und Lippen und schon eine ganze Menge pechschwarzer Haare.

»Mein Gott, ist die süss!« entfuhr es mir unwillkürlich, obwohl ich mir bis jetzt nie viel aus Babys gemacht hatte.

»Ja, das ist sie wirklich! Wir nennen sie Schneewittchen,« meinte der stolze Vater, doch in seiner Stimme lag viel Verzweiflung.

»Sie soll doch nicht mutterlos aufwachsen. Ich möchte das unbedingt verhindern. Sie vermisst ihre Mutter jetzt schon. Sie spürt, dass die verschiedenen Personen, die sie bis jetzt betreut haben, das nicht mit der richtigen Herzenswärme tun. Wenn sie nicht schläft, schreit sie meistens.«

Er erzählte mir, dass sie jetzt fünf Wochen alt sei, dass sie etwas zu früh geboren worden sei und deshalb knapp vier Wochen im Spital bleiben musste. Vor zehn Tagen durfte sie nach Hause, und nun sei er total überfordert mit der Situation. Er müsse ja auch noch den Tod seiner Frau verkraften und wisse nicht mehr weiter. Er versuche natürlich so viel Zeit wie möglich mit seinem Kind zu verbringen. Aber die Mutter ersetzen könne er doch nicht. Er könne auch seine Geschäfte nicht völlig vernachlässigen, schliesslich hingen mehrere hundert Arbeitsplätze von ihm ab.

So sprach er, und das Kind schlief in seinem Bettchen, und man hätte denken können, dass es eine wunderschöne Puppe sei, so makellos war sein Gesichtchen. Nur das federleichte Heben und Senken des Spitzendeckchens verriet, dass es sich um ein lebendiges Wesen handelte, das hier in der Wiege lag.

»Komm ich zeige dir die Wohnung, die ich dir überlassen könnte, wenn du einwilligst zu meinem Kind zu schauen. Ich kann dir auch soviel Lohn bezahlen, wie du willst. Geld spielt absolut keine Rolle. Es gibt auf dem Schloss eine Hausdame, die kocht und das Haus im Stande hält. Einmal in der Woche kommt zudem eine Frau aus dem Dorf, die ihr bei der Reinigung hilft. Wir haben auch einen Gärtner. Wie gesagt, es geht mir nur um das Kind … und um mich« fügte er nach einer Pause ein, »ich ertrage es kaum, am Abend ins leere Haus zu kommen, und dich liebe ich …«

Seine Stimme versagte. Die Situation war wirklich grotesk. Was ich mir so sehr gewünscht hatte, war nun eingetroffen. Doch völlig anders, wie ich es mir ausgemalt hatte. Nur über den Tod seiner Frau, wurde mein Wunsch erfüllt. Und dann war da das fremde Kind. War ich dem gewachsen? Und was war mit meiner Karriere, mit meiner geliebten Arbeit? Wie sollte die weitergehen?

Wir wollten eben das Kinderzimmer verlassen und die Wohnung im obersten Geschoss besichtigen, als das Kind erwachte und beinahe übergangslos zu schreien begann. Der Vater nahm es hoch, doch es wollte sich nicht beruhigen.

»Sie hat bestimmt Hunger«, meinte er, »kannst du sie bitte halten, bis ich ihr das Fläschchen warm gemacht habe?«

Ohne meine Antwort abzuwarten, drückte er mir das Neugeborene in die Arme und verschwand in die Küche. Und in diesem Moment geschah es. Das Kind hörte plötzlich auf zu weinen, öffnete die Augen und sah mich völlig ernst an. Es hatte wunderschöne, grosse, tiefblaue Augen und einen Blick …es war reine Magie!

Und so war es passiert. Ich hatte keine Wahl. Was immer später über mich gesprochen wurde, es war das Kind und nicht der Vater, dem ich nicht widerstehen konnte.

Dieser kam dann mit dem Fläschchen zurück, völlig erstaunt, dass sich seine Tochter so rasch beruhigt hatte. Er wollte sie mir abnehmen, doch ich winkte ab. Ich fütterte also das Baby, und es trank, und alles war richtig. Es war so, als hätte ich nie etwas anderes getan.

Was er mir später noch vorschlug betreffend Wohnung, Lohn und so weiter, habe ich total vergessen. Ich habe einfach zugesagt und mir nur ausbedungen, meine laufenden Verpflichtungen einzuhalten. Er war mit allem einverstanden und meinte auch, dass ich natürlich kleinere Aufträge jederzeit annehmen könne, da er und die Hausdame auch noch da seien und das Kind auch schnell grösser und selbständiger werden würde. Frischgebackene Eltern haben ja überhaupt keine Ahnung, was es heisst, ein Kind zu haben. Aber auch ich wusste das damals natürlich nicht.

2.

So zog ich zwei Wochen später im Schloss ein. Meine kleine Wohnung in der Stadt behielt ich vorläufig. Ich fand es praktisch, dort hie und da zu übernachten, wenn ich Aufträge hätte. Meine Möbel wurden ja auch nicht gebraucht, da meine neue wunderhübsche Wohnung im Dachgeschoss mit traumhafter Aussicht auf See und Berge völlig möbliert war. Sie bestand aus einem grossen Wohnzimmer mit moderner, kleiner offener Küche, einem Kamin, zwei weiteren kleineren Zimmern und einem luxuriösen Bad, sogar mit einem Whirlpool. Das einzige Möbelstück, das ich aus meinem Besitz mitbrachte, war mein grosser, goldgerahmter Spiegel, den ich von meiner Grossmutter geerbt, und der mich seit Kindheit an begleitet hatte. Wie oft hatte ich mich darin betrachtet, Frisuren und Kleider aus- und anprobiert, als ich klein war, alte Stoffe um mich drapiert und mich als Prinzessin gefühlt.

Nach meinem Einzug begann ich sofort mit der Betreuung des Neugeborenen. Zum Glück hatte ich etwas Erfahrung mit Kleinkindern, hatte ich doch ein Jahr in England bei einer Familie gewohnt und dort geholfen ihre beiden kleinen Söhne zu hüten. Trotzdem staunte ich nicht schlecht wie viel Arbeit so ein Baby verursacht. Nun hatte ich ja die Hauptverantwortung, das war etwas ganz anderes. Es brauchte sechsmal am Tag die Flasche, da es immer noch sehr klein und zart war. Jedes Mal musste es dann gewaschen und frisch gewickelt werden, einmal pro Tag zudem gebadet, und tägliche Spaziergänge an der frischen Luft waren auch unumgänglich. Wenn es wach war, begann es regelmässig zu schreien und beruhigte sich erst, wenn ich es auf die Arme nahm. Dann aber schmiegte es sich vertrauensvoll in meine Arme und begann bald mich anzulächeln.

Die kurze Zeit, wenn Schneewittchen schlief, benütze ich, um mich mit dem Schloss vertraut