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Dieses Buch befasst sich mit den Möglichkeiten und Grenzen der Identifizierung eines Menschen. Die Verfahren und Untersuchungen werden mit Hilfe ausgewählter Beispiele aus der polizeilichen Praxis erläutert. Hinweise für die Erstellung eines Untersuchungsantrages und Angaben zu den Untersuchungsstellen ergänzen die Ausführungen. Neben bekannten Identifizierungsverfahren werden in dem vorliegenden Werk auch neue Möglichkeiten beschrieben, wie z.B. die biometrische Identifikation.
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Seitenzahl: 293
Lehr- und StudienbriefeKriminalistik / Kriminologie
Herausgegeben vonHorst Clages, Leitender Kriminaldirektor a.D.Klaus Neidhardt, Präsident der Deutschen Hochschule der Polizei i.G.
Band 4Identifizierung von Personen
VonWolfgang Thiel
VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBHBuchvertrieb
Forststraße 3a • 40721 Hilden • Telefon 02 11 / 71 04-212 • Fax -270E-Mail: [email protected] • Internet: www.VDPolizei.de
1. Auflage 2006© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2006
E-Book© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2013
Alle Rechte vorbehalten.Unbefugte Nutzungen, wie Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oderstrafrechtlich verfolgt werden.
Satz und E-Book: VDP GMBH Buchvertrieb, HildenISBN 978-3-8011-0536-5 (Buch)ISBN 978-3-8011-0686-7 (E-Book)
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Vorwort
In Deutschland werden jährlich über zwei Millionen Straftäter bekannt. 40% der männlichen Täter und 25% der weiblichen Täter sind Wiederholungstäter. Rund 6 500 Täter begehen mehr als zehn Straftaten.
Die Zahl der in Deutschland als vermisst gemeldeten Personen beträgt jährlich 61 000. Es werden 100 unbekannte, hilflose Personen aufgegriffen und 300 unbekannte Tote gefunden.
Ein Ziel der polizeilichen Ermittlungstätigkeit ist die Identifizierung dieser Personen. Die Identifizierung bedeutet die individuelle, eindeutige Wiedererkennung eines Menschen. Diese gründet sich auf unveränderliche, einmalige Erscheinungsformen, die von der Natur geschaffen sind und kein zweites Mal auftreten. Der Fingerabdruck des Menschen ist dafür ein bekanntes Beispiel.
In der polizeilichen Arbeit werden darüber hinaus Methoden angewandt, deren Ergebnisse Identifizierungsmerkmale für eine Wiedererkennung liefern. Hier sind weitere Ermittlungstätigkeiten erforderlich, um die Identität einer Person festzustellen.
Außerdem sind in der polizeilichen Praxis Situationen bekannt, bei denen auf Grund der Untersuchung von Personen oder Sachen nur Hinweise für eine spätere Identifizierung erlangt werden. Durch die Isotopenanalytik kann beispielsweise der bisherige Aufenthaltsort einer Person festgestellt werden. Eine Identifizierung ist heute mit diesem Verfahren noch nicht möglich.
Dieses Buch befasst sich mit den Möglichkeiten und Grenzen der Wiedererkennung eines Menschen. Die Verfahren und Untersuchungen werden mit Hilfe ausgewählter Beispiele aus der polizeilichen Praxis erläutert. Hinweise für die Erstellung eines Untersuchungsantrages und Angaben zu den Untersuchungsstellen ergänzen die Ausführungen. Es handelt sich hierbei um keine abschließende Auflistung.
Neben bekannten Identifizierungsverfahren werden in dem vorliegenden Werk auch neue Möglichkeiten beschrieben, wie z. B. die biometrische Identifikation. Dabei werden ein oder mehrere spezifische Merkmale eines Menschen automatisch vermessen und für die individuelle Unterscheidung genutzt.
Das Buch richtet sich an den erfahrenen Praktiker im polizeilichen Bereich und gleichzeitig an die in der Ausbildung befindlichen Nachwuchskräfte.
Es ist Absicht des Verfassers, mit den vorliegenden Aufzeichnungen auch Anregung zur Einführung oder Erprobung für heute wenig genutzte Identifizierungsverfahren zu geben.
Sowohl die hierfür verwendete als auch die weiterführende Literatur hat der Verfasser inhaltlich geordnet am Ende eines jeden Kapitels zusammengefasst. Dies ermöglicht eine leichte und praxisnahe Handhabung.
Der Dank des Verfassers gilt den Menschen, die bei der Erstellung dieses Buches mit Rat und Tat geholfen haben. Dabei sind folgende Personen besonders zu nennen:
Herr Splet, LKA NRW (Kapitel Handschrift), Herr Dr. Köster, BKA(Kapitel Sprechererkennung), Herr Otto und Frau Otto, PP Wuppertal (Kapitel Daktyloskopie), Herr Ehses, PP Köln (Kapitel Ohrabdruckspur), Herr Peeters, Institut für Aus- und Fortbildung der Polizei Nordrhein-Westfalen (Kapitel Geruchsspuren), Frau Prof. Dr. Wittwer-Backofen, Universitätsklinik Freiburg (Kapitel Gangbild und Kapitel Kennzeichnung), Herr Dr. Dr. Grundmann, Institut für Rechtsmedizin der Stadt Duisburg (Kapitel Zahnmedizin), Herr Geide, BKA (Kapitel Körpermessverfahren und Kapitel Personenbeschreibung), Herr Kohlhoff, LKA NRW (Kapitel Lichtbild), Dr.Schäfer, Aachen (Kapitel DNA), Herr Dr. Schmitter (Kapitel Biometrie).
Für das kritische Lesen des gesamten Buches danke ich Herrn Dr. A. Schäfer, Aachen, Frau Rumsmüller und Herrn Paffrath, beide LR Mettmann und meiner Ehefrau Sabine Thiel.
Der Verfasser
Haan, im Juni 2006
Inhaltsverzeichnis
Identifizierung von Personen
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1
Die Handschrift
1.1
Die Bedeutung der Handschrift
1.2
Die handschriftliche Aufzeichnung als Ermittlungsgrundlage
1.3
Die Ermittlungstätigkeit zum objektiven Beweis der Handschrift
1.3.1
Das unbefangene Handschriftenmaterial
1.3.2
Die Schriftprobenabnahme
1.3.3
Der Untersuchungsantrag
1.4
Der Schriftsachverständige
1.5
Die Entwicklung der individuellen Handschrift
1.6
Das Gutachten
2
Die Stimme
2.1
Die Stimme als individuelles Verhalten
2.2
Die Aufzeichnung der Stimme
2.3
Die Ermittlungstätigkeit zum objektiven Beweis der Stimme
2.3.1
Untersuchungsstellen für forensische Sprecherkennung
2.3.2
Aufgaben der Untersuchungsstellen
2.3.3
Der Untersuchungsantrag
2.4
Der Sachverständige für Sprechererkennung
2.5
Die Entstehung der Sprache
2.6
Das Gutachten
3
Der Finger- und Handflächenabdruck
3.1
Die besondere Beschaffenheit der menschlichen Haut
3.2
Die technische Erfassung von Finger- und Handflächenabdrücken
3.3
Die Finger- und Handflächenspur am Tatort
3.3.1
Die Sicherung der Finger- und Handflächenspuren am Tatort
3.3.2
Auswertungsmöglichkeiten – Spurenrecherche
3.3.3
Der Untersuchungsantrag
3.4
Identifizierungsmöglichkeiten – Personenrecherche
3.5
Der Sachverständige für Daktyloskopie
3.6
Das Gutachten
4
Der Ohrabdruck
4.1
Die Anatomie des menschlichen Ohrs
4.2
Der Ohrabdruck am Tatort
4.2.1
Die Suche nach und Sicherung von Ohrabdruckspuren
4.2.2
Untersuchungsstellen für Ohrabdruckspuren
4.2.3
Der Untersuchungsantrag
4.3
Der Ohrabdruck als Teil der erkennungsdienstlichen Behandlung
4.4
Auswertungsmöglichkeiten von Ohrabdruckspuren
4.5
Das Gutachten
5
Das Gebiss
5.1
Die Zähne des Menschen von der Geburt bis zum Tod
5.1.1
Der Aufbau des menschlichen Zahns
5.1.2
Das Zusammenwirken der Zähne
5.1.3
Die Zahnbezeichnung durch den Fachmann
5.2
Anwendungsmöglichkeiten zahnmedizinischer Erkenntnisse
5.2.1
Suche und Sicherung von Bissspuren
5.2.2
Der Zahnstatus
5.2.3
Untersuchungsstellen für Bissspuren, Gebiss und Zahnstatus
5.3
Die Erhebung des Zahnstatus oder Abnahme des Gebissabdrucks
5.4
Auswertungsmöglichkeiten von Bissspuren und Zahnstatus
5.5
Das Gutachten
6
Der (Eigen-)Geruch
6.1
Die Entstehung des menschlichen Geruchs
6.2
Aufnahme und Identifizierung von Gerüchen
6.3
Geruchsrückstände an Beweisstücken
6.4
Der Einsatz eines Polizeidiensthundes
6.4.1
Der Untersuchungsantrag
6.4.2
Die Aufnahme der Geruchsvergleichsspur
6.4.3
Die Durchführung des Geruchsspurenvergleichsverfahrens
6.5
Die Dokumentation des Geruchsspurenvergleichsverfahrens
7
Das Gangbild
7.1
Die Fortbewegung des Menschen
7.2
Die Sicherung von Fortbewegungsspuren
7.3
Mögliche Einschränkungen bei der Erfassung der Bewegungsabläufe des Menschen
7.4
Auswertbarkeit und individuelle Besonderheit des Ganges
7.5
Die Feststellung von Gangspuren und Verhaltensmustern
7.6
Die Sicherung und Beweiserhebung von Gangspuren und Verhaltensmustern
7.6.1
Die Tatortarbeit zur objektiven Sicherung der Gangspur
7.6.2
Die Vernehmung zur Dokumentation des Gangbildes und Verhaltens
7.7
Feststellung des Ganges einer tatverdächtigen Person
7.8
Vergleichsuntersuchung eines am Tatort gesicherten Gangbildes mit dem eines Tatverdächtigen
8
Das Körpermessverfahren
8.1
Der menschliche Körper als Ausgangspunkt für Messungen
8.2
Die historische Entwicklung des Körpermessverfahrens
8.3
Der polizeiliche Einsatz von Körpermessverfahren heute
8.4
Der deliktsbezogene Einsatz von Körpermessverfahren heute
8.5
Untersuchungsstellen für Körpermessverfahren
8.6
Das Ergebnis / Gutachten
8.7
Körpermessverfahren – eine Identifizierungshilfe auch in der Zukunft
9
Die Körperkennzeichnung
9.1
Möglichkeiten der Körperkennzeichnung
9.1.1
Die menschliche Haut als Träger von Kennzeichnungen
9.1.2
Dauerhafte Kennzeichnungen
9.1.3
Vorübergehende Kennzeichnungen
9.2
Bedeutung einzelner Kennzeichnungen
9.3
Auswertungsstellen für Körperkennzeichnungen
9.4
Die polizeiliche Bedeutung von Körperkennzeichnungen
9.5
Körperkennzeichnungen als dauerhafte Identifizierungshilfe
10
Die Personenbeschreibung
10.1
Grundlagen für die Wiedererkennung
10.2
Historische Betrachtung
10.3
Elektronische Erfassung und Auswertung
10.4
Praktische Bedeutung und Anwendung
10.5
Möglichkeiten und Grenzen
11
Das Lichtbild
11.1
Möglichkeiten der (Lichtbild-)Aufnahme
11.2
(Lichtbild-)Aufnahmen aus dem privaten oder beruflichen Bereich
11.3
Historische Betrachtung
11.4
Die (Lichtbild-)Aufnahme als Teil der erkennungsdienstlichen Behandlung
11.5
Die (Lichtbild- oder Video-)Aufnahme einer unbekannten Person und ihre polizeilichen Auswertungsmöglichkeiten
11.6
Rechtliche Betrachtung
11.7
Möglichkeiten und Grenzen
12
Die Desoxyribonucleinsäure (DNS)
12.1
DNA und DNS
12.1.1
Die allgemeine Aufgabe der DNA im menschlichen Körper
12.1.2
Die spezielle Untersuchungsmöglichkeit der menschlichen DNA
12.1.3
Geeignetes Spurenmaterial und Spurenträger für eine DNA-Analyse
12.1.4
Die Vergleichsprobe
12.2
Einsatzmöglichkeit der DNA-Analyse
12.2.1
Im Bereich der Eigentumskriminalität
12.2.2
Im Bereich von Vermisstenfällen
12.3
Rechtliche Betrachtung
12.4
Untersuchungsstellen für DNA-Analysen
12.5
Der Untersuchungsantrag
12.5.1
Im Rahmen möglicher Eigentumsdelikte
12.5.2
Im Rahmen möglicher Vermisstenfällen
12.6
Die DNA-Analyse-Datei (DAD)
12.7
Die forensische DNA-Analyse – ein Ausblick
13
Die Isotopenanalytik
13.1
Die Isotope – eine Definition
13.2
Die Speicherung von Isotopen im menschlichen Körper
13.3
Forensische Auswertungsmöglichkeiten
13.4
Das Untersuchungsmaterial
13.5
Die Untersuchungsstellen für forensische Isotopenanalyse
13.6
Die Isotopenanalyse – ein Ausblick
14
Die Biometrie
14.1
Die Biometrie in der heutigen Gesellschaft
14.2
Biometrie und forensische Ermittlungstätigkeit
14.2.1
Der Bezug zur Daktyloskopie
14.2.2
Das Auge
14.2.3
Die Gesichtserkennung
14.2.4
Die biometrische Möglichkeit der Personenidentifizierung
14.3
Möglichkeiten und Grenzen
14.4
Datenschutz-Schutz für den Einzelnen oder Behinderung von Ermittlungen?
14.5
Die Biometrie im Blickpunkt globaler Sicherheitsbestrebungen
Zum Autor
Abkürzungsverzeichnis
a.a.O.
am angegebenen Ort
AFIS
Automatisiertes Fingerabdruckidentifizierungssystem
AG Kripo
Arbeitsgemeinschaft Leiter des BKA und der Landeskriminalämter
BKA
Bundeskriminalamt
CD
Compact Disc (Speichermedium)
DAD
DNA-Analyse-Datei
DNA
deoxyribonucleic acid (engl. Bezeichnung für DNS)
DNA-Profile
DNA-Identifizierungsmuster
DNS
Desoxyribonukleinsäure
DRUGS
Datenbank regionaler Umgangssprachen
(engl. e-mail, Kurzwort aus electronic mail =) elektronische Post
ENFSI
Europeaen Network of Forensic Science Institutes
FDI
Fédération Dentaire Internationale
f.
folgende
Hrsg.
Herausgeber
IM
Innenministerium
JVEG
Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz
KP
kriminalpolizeilicher Vordruck
KT
Kriminaltechnik
KWT/ ED
Kommission Kriminalwissenschaft und Technik/Erkennungsdienst
LKA
Landeskriminalamt
LR
Landrat als Kreispolizeibehörde
o.ä.
oder ähnlich
NRW
Nordrhein-Westfalen
PCR
polymerase chain reaction
RNA
ribonucleic acid (engl. Bezeichnung für RNS)
RNS
Ribonukleinsäure
PP
Polizeipräsidium
S.
Seite
STR
short tandem repeat
SMS
short message service(Telekommunikationsdienst zur Übertragung von Textnachrichten)
StPO
Strafprozessordnung
u.a.
unter anderem
VS-NfD
Verschlusssache - Nur für den Dienstgebrauch
z. B.
zum Beispiel
z. T.
zum Teil
1 Die Handschrift
1.1 Die Bedeutung der Handschrift
Der Mensch ist ein Wesen mit einem ausgeprägten Verhältnis zur Kommunikation. Zusätzlich zur Verständigung mit der Stimme oder auch als Ersatz dafür wird die schriftliche Mitteilung als Möglichkeit der persönlichen Weiterleitung von Informationen gewählt. Die modernen technischen Einrichtungen, z. B. E-Mail, SMS, Fax, schaffen heute zunehmend Gelegenheiten, um Informationen automatisiert zu transportieren. Trotz der vielseitigen technischen Einrichtungen zur Weiterleitung von gedruckten Schriften wählen Menschen auch heute noch die handschriftliche Aufzeichnung als persönliche Mitteilungsform. Dabei werden mit einem Schreibgerät Buchstaben und Zeichenfolgen auf eine Unterlage aufgetragen und so zur Abbildung gebracht. In diesem Schreibvorgang sind individuelle Abläufe vorhanden, die besonders geschulten Fachleuten eine Identifizierung der Handschrift ermöglichen, wenn Vergleichsschriften vorhanden sind. Diese Situation führt heute dazu, dass Gerichte und Privatpersonen handschriftliche Aufzeichnungen zu Identifizierungszwecken nutzen.
1.2 Die handschriftliche Aufzeichnung als Ermittlungsgrundlage
Am Beispiel eines Sachverhalts aus der polizeilichen Praxis soll die Bedeutung der Handschrift als Wiedererkennungsverfahren für Personen dargestellt werden:
Der arbeitslose M. überlegt, wie er seine finanzielle Situation ohne große Anstrengungen und ohne Wissen des Arbeitsamtes verbessern kann. Er verwendet einen bisher nicht benutzten Überweisungsvordruck seines früheren Arbeitgebers und trägt handschriftlich die erforderlichen Angaben in das Formular ein. Dabei veranlasst er eine Überweisung von 1000 Euro auf das Konto eines Bekannten. Hierbei handelt es sich um den B. M., der den Überweisungsvordruck bisher nicht berührt hat, zieht sich Handschuhe an, um Finger- und Handflächenabdruckspuren zu vermeiden. Dann schützt er seinen Mund, um auch mögliche Speichelspuren auf der Formularoberfläche zu vermeiden. Anschließend füllt er mit einem Kugelschreiber das Überweisungsformular aus. Er setzt dabei die Konto-Nummer sowie den Namen des B. ein. Dieser hat sich auf Nachfrage bereit erklärt, den Betrag nach Geldeingang abzuheben und persönlich an den M. zu überreichen. Für diese Hilfeleistung wird er 50 Euro erhalten. M. bringt den von ihm ausgefüllten Vordruck zu der Niederlassung des Kreditinstituts bei dem das Firmenkonto seines früheren Arbeitgebers geführt wird. Dabei trägt er Handschuhe. Der Überweisungsauftrag wird von dem Kreditinstitut ausgeführt. Der frühere Arbeitgeber von M. bemerkt wenige Tage später, dass der ausgeführte Überweisungsauftrag nicht vom Unternehmen stammt und erstattet Anzeige. Bei der anschließenden kriminalpolizeilichen Ermittlungsarbeit wird zunächst B. als tatverdächtige Person festgestellt. Im Rahmen einer Beschuldigtenvernehmung und einer später durchgeführten Observation wird auch der M. ermittelt. Der Sachbearbeiter des Ermittlungsdienstes erhält auf Nachfrage vom Kreditinstitut in einer transparenten Papiertüte den Überweisungsvordruck mit den handschriftlichen Aufzeichnungen von M. für weitere kriminalpolizeiliche Tätigkeiten.
1.3 Die Ermittlungstätigkeit zum objektiven Beweis der Handschrift
Gemäß § 163 StPO ist es die Aufgabe der Ermittlungskräfte der Polizei, Straftaten zu erforschen und alle keinen Aufschub gestattenden Anordnungen zu treffen, um die Verdunkelung einer Sache zu verhindern. Der Ermittlungssachbearbeiter wird daher im vorliegenden Fall Vernehmungen von Zeugen und tatverdächtigen Personen durchführen, um damit den Personalbeweis juristisch korrekt zu konkretisieren. Der handschriftlich ausgefüllt vorliegende und möglicherweise vom Täter selbst geschriebene Text im Überweisungsvordruck kann als objektiver Beweis im späteren Gerichtsverfahren eine besondere Aussagekraft erlangen. Dazu sind zuvor weiterführende Nachforschungen und Maßnahmen vom Ermittlungssachbearbeiter vorzunehmen. Er muss feststellen, ob es im vorliegenden Fall tatverdächtige Personen gibt, die Schreiber der handschriftlichen Eintragungen auf dem Überweisungsvordruck sein können. Hier sind die Personen M. und B. zu nennen, die als Verfasser der Eintragungen auf dem Vordruck nicht ausgeschlossen werden können. Voraussetzung für eine weiterführende Untersuchung der handschriftlichen Eintragungen auf dem Vordruck, auch Tatschreiben genannt, ist die Beschaffung von unbefangenem Schriftmaterial der tatverdächtigen Personen. Darunter werden handschriftliche Aufzeichnungen verstanden, die der Verfasser in freier Willensentscheidung und ohne äußere Beeinflussung vorgenommen hat, wie z. B. bei dem Schreiben eines Briefes, dem Ausfüllen eines Formulars oder bei der Erstellung von Notizen zu einem Vortrag.
Die tatverdächtigen Personen sind zu befragen, ob sie mit der Aufnahme von Schriftproben einverstanden sind. Diese werden bei der vergleichenden Untersuchung durch den Sachverständigen für Handschriften in die Gutachtertätigkeit zu diesem Sachverhalt einbezogen.
Außerdem sind Informationen zur Entstehung der Handschrift auf dem Überweisungsvordruck zu beschaffen, damit diese bei der freiwilligen Schriftprobe berücksichtigt werden können. Liegt das unbefangene Schriftmaterial vor und sind Schriftproben mit Zustimmung der betroffenen Personen aufgenommen worden, dann erstellt der Sachbearbeiter einen Untersuchungsantrag mit einem konkreten Untersuchungsziel. Oft ist dabei im Vorfeld ein informelles Gespräch mit einem Schriftsachverständigen hilfreich, um z. B. Möglichkeiten und Grenzen der konkreten Untersuchung anzusprechen. Der Untersuchungsantrag wird mit dem zusammengestellten Untersuchungsmaterial an einen Sachverständigen für Handschriften versandt.
1.3.1 Das unbefangene Handschriftenmaterial
Der Sachverständige für die Untersuchung von Handschriften benötigt umfangreiches Untersuchungsmaterial für eine vergleichende Untersuchung. Dies ist Voraussetzung für eine optimale Begutachtung der Tatschrift und der Vergleichsschrift sowie die folgende Vergleichsuntersuchung. Professor Dr. Lothar Michel beschreibt in seinem 1982 erschienenen Buch „Gerichtliche Schriftvergleichung“ u. a. die Anforderung an unbefangenes Schriftmaterial. Danach ist von den Personen, die als Urheber der fraglichen Tatschrift in Frage kommen, umfangreiches Schriftmaterial zu beschaffen. Das Schriftmaterial sollte zeitnah zu der vorliegenden Tatschrift entstanden sein. Bei der Beschaffung des Materials hat der Sachbearbeiter darauf zu achten, dass eine große Palette von variierenden Schriftdarstellungen der tatverdächtigen Person vorhanden ist. Von der gut lesbaren Handschrift bis hin zu undeutlich erkennbaren Notizen sollten unterschiedliche Schriftzüge der tatverdächtigen Person beschafft werden. Dies bietet dem Schriftsachverständigen einen Einblick in die Variationsbreite der Handschrift des Schreibers.
Idealerweise beschafft der Ermittlungssachbearbeiter Schriftmaterial, das mit einem gleichartigen Schreibgerät hergestellt worden ist wie das Tatschreiben. Geeignetes, unbefangenes Vergleichsmaterial sollte nicht nur aus dem direkten privaten Umfeld der tatverdächtigen Person stammen. Handschriftliche Unterlagen sind ebenso aus dem beruflichen Tätigkeitsfeld heranzuziehen. Es handelt sich hierbei um Beweismaterial, das durch Sicherstellung oder Beschlagnahme in das Verfahren eingeführt werden kann. Im vorliegenden Fall findet eine Durchsuchung der Wohnungen von M. und B. zur Auffindung von geeignetem Untersuchungsmaterial statt. Da M. arbeitslos ist, können zusätzlich von ihm ausgefüllte und beim Arbeitsamt vorliegende Formulare als unbefangenes Vergleichsmaterial herangezogen werden. An der Arbeitsstelle von B. ist eine Durchsuchung mit dem Ziel der Auffindung von Handschriften vorzunehmen. Bei der Suche nach geeignetem, unbefangenem Schriftmaterial ist darauf zu achten, ob an den durchsuchten Orten Schreibgeräte vorhanden sind, die bei der Erstellung der Tatschrift benutzt wurden. Es ist nicht auszuschließen, dass überwiegend latente Durchdrückspuren der Tatschrift auf den Schreibunterlagen oder anderen dort vorliegenden Papieren festzustellen sind. Ein solcher Fund wird die Beweissituation wesentlich verbessern und die Handschriftenuntersuchung erleichtern. Es ist nicht auszuschießen, dass der Schriftsachverständige nach Beginn seiner Gutachtertätigkeit weiteres unbefangenes Schriftmaterial anfordert, um Schriftzüge besser identifizieren zu können. Weitere Fundstellen für unbefangenes Schriftmaterial können beispielsweise Behörden oder Ämter sein. Insbesondere dann, wenn beim Einwohnermeldeamt, Standesamt oder Krankenkassen von der tatverdächtigen Person Formulare handschriftlich ausgefüllt wurden und diese dort noch aufbewahrt werden. Außerdem können z. B. bei Verwandten und Bekannten der tatverdächtigen Person Briefe oder Postkarten mit handschriftlichen Aufzeichnungen sichergestellt werden.
1.3.2 Die Schriftprobenabnahme
Seit 1964 gibt es bundeseinheitliche Richtlinien für die Beschaffung von Schriftproben für den Handschriftenvergleich. Die Leiter der Landeskriminalämter haben zusammen mit dem Bundeskriminalamt diese Bestimmung geschaffen und 1977 überarbeitet. Seit 2002 prüft eine Gruppe von Experten (Sachverständige für Handschriften des Bundes und der Länder) regelmäßig die Aktualität der Richtlinien und legt Vorschläge für weitere Modifizierungen vor. Diese Empfehlung der Spezialisten enthält Aussagen zur Handschriftenuntersuchung über grundsätzliche Anforderungen an das Schriftmaterial.
Michel weist in seinem Buch „Gerichtliche Schriftvergleichung“ darauf hin, dass in den vorliegenden Richtlinien lediglich allgemeine Hinweise für eine Schriftprobenabnahme genannt werden. Daher kann in Einzelfällen ein Abweichen von diesen Richtlinien geboten sein. Die Rücksprache mit einem Schriftsachverständigen vor einer Schriftprobenabnahme ist dabei hilfreich. Michel führt weiter aus, dass seit Einführung der Richtlinien in zunehmendem Maße ein für Untersuchungszwecke geeignetes Schriftmaterial vorgelegt wird.
Die Richtlinien für die Beschaffung von Schriftproben für die Handschriftenvergleichung sehen vor, dass Schriftmaterial für die Untersuchung benötigt wird. Damit sind aktuelle Schriftproben und unbefangene Vergleichsschriften gemeint. Diktatschriftproben und ein Bericht über die Abnahme der freiwilligen Schriftproben ergänzen die vorzulegenden Unterlagen.
Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Schriftmaterial nicht in die Ermittlungsakte eingeheftet werden darf, um eine Beschädigung des Untersuchungsmaterials zu verhindern. Ein Lochen oder Zusammenheften ist ebenfalls zu unterlassen. Die Kennzeichnung des Schriftmaterials ist nur mit Bleistift an solchen Stellen vorzunehmen, an denen keine Handschrift vorhanden ist. In besonderen Fällen ist grundsätzlich der eingesetzte Schriftsachverständige zu befragen, wie mit dem Material umgegangen werden soll. Das gilt insbesondere für die Verpackung und den Versand der zu untersuchenden Schriften. Bei nicht zu transportierenden Schriften, z. B. Schriften an Hauswänden, entscheidet der Sachverständige, wie die Sicherung und Übersendung zu erfolgen hat.
Bei der Abnahme von Schriftproben sehen die Richtlinien vor, dass die Diktatschriftprobe in der gleichen Schreibweise vorgenommen wird, wie das Tatschreiben verfasst wurde. Keinesfalls darf der tatverdächtigen Person das Tatschreiben dabei zur Ansicht vorgelegt werden. Im Rahmen der Vorbereitung ist darauf zu achten, dass eine ruhige, störungsfreie Atmosphäre geschaffen wird, damit sich die tatverdächtige Person auf das Schreiben konzentrieren kann. Die Sitzstellung oder Haltung der schreibenden Person ist von dieser so einzunehmen, wie es beim Schreiben der Tatschrift erfolgte. Für die freiwillige Schriftprobe wird ein gleichartiges Schreibgerät gewählt, wie es für die Schrift im Tatschreiben eingesetzt wurde. Weiterhin ist darauf zu achten, dass auch gleichartiges Papier für die Schriftprobe vorhanden ist.
Beispielsweise werden im vorliegenden Fall Papierblätter mit Linien und ausreichende, unbeschriebene Überweisungsvordrucke zu beschaffen sein. Vor Beginn der eigentlichen Schriftprobe wird der tatverdächtigen Person Gelegenheit gegeben, selbstständig und ohne Vorgabe zu schreiben. Dazu kann beispielsweise eine Begebenheit aus jüngster Zeit oder der Lebenslauf aufgeschrieben werden. Gibt eine Person an, dass sie die Schriftart in der die Tatschrift geschrieben wurde, nicht beherrscht, wird angeregt, dass das Alphabet in der Form aufgeschrieben wird, wie das Tatschreiben verfasst wurde. Die Schreibgeschwindigkeit ist dabei so zu wählen, wie sie bei der Erstellung der Tatschrift vorhanden war. Das Papier wird bei der Schriftprobenabnahme immer nur einseitig beschrieben, dabei ist darauf zu achten, dass die Papierseiten zur Vermeidung von Durchdruckspuren nur einzeln verwendet werden. Der als Diktat verwendete Text darf von der tatverdächtigen Person keinesfalls abgeschrieben werden. Soweit es sich dabei inhaltlich um die Tatschrift handelt, ist der Text bis zu 20mal zu schreiben. Dabei ist darauf zu achten, dass für jede Wiederholung des Textes ein neues Blatt vorhanden ist. Im vorliegenden Fall sind das Überweisungsvordrucke in ausreichender Zahl. Das zuvor beschriftete Papier wird so abgelegt, dass ein Abschreiben vom Vorblatt verhindert wird.
Bei der Schriftprobenabnahme von Unterschriften ist so zu verfahren, dass erst die eigene Unterschrift der tatverdächtigen Person mehrfach geschrieben wird. Später wird dann die Unterschrift aus dem Tatschreiben diktiert. Der Bericht zur Schriftprobenabnahme wird neben den Personalien der schreibenden, tatverdächtigen Person auch Angaben zum ausgeübten Beruf und der schulischen Bildung haben.
In den Richtlinien für die Schriftprobenbeschaffung ist vorgesehen, dass außerdem die Reihenfolge der Schriftproben dokumentiert wird. Wird von den Empfehlungen der Richtlinie abgewichen, dann ist dies in dem Bericht festzustellen. Besondere Verhaltensweisen des Schreibers, wie z. B. das Schreiben mit der linken Hand, sind zu erwähnen. Der Zeitpunkt der Schriftprobenabnahme, die Dauer und der Name des eingesetzten Beamten sind in dem Bericht zu erwähnen. Die im Rahmen der Schriftprobenabnahme erhaltenen Unterlagen und der Bericht sind ein wichtiger Teil des objektiven Beweises. Das Ergebnis des späteren Gutachtens zur Schriftvergleichung wird wesentlich durch die korrekte Schriftprobenabnahme bestimmt.
1.3.3 Der Untersuchungsantrag
Der kriminalpolizeiliche Sachbearbeiter wird sich vor der Erstellung eines Untersuchungsantrages überlegen, welchen Beweis er mit der Untersuchung des vorhandenen Schriftmaterials (z. B. Tatschreiben, unbefangenes Schriftmaterial, Schriftprobenmaterial) führen will. Diese Zielrichtung wird in der Formulierung des Untersuchungsantrages deutlich erkennbar, verständlich und nachvollziehbar sein.
Im vorliegenden Beispiel könnte der Untersuchungsauftrag lauten: „Es wird um die Erstattung eines Schriftvergleichgutachtens gebeten. Dabei ist festzustellen, ob die handschriftlichen Eintragungen in dem als Tatschrift bezeichneten Überweisungsvordruck von M. oder B. stammen.“
Außerdem wird der Untersuchungsantrag erforderliche Angaben enthalten, z. B. zum Delikt, zur möglichen Tatzeit und dem Tatort, Sicherstellungszeit und -ort des beigefügten Schriftmaterials. Hinweise auf weitere wichtige Informationen zum beigefügten Untersuchungsmaterial einschließlich der Schriftprobenabnahme, Hinweise auf weitere beabsichtigte Untersuchungen und darauf, ob das Material beschädigt werden darf, ergänzen die Unterlagen. Angaben zu einer zeitlichen Dringlichkeit und Angaben zum Sachbearbeiter mit dessen Erreichbarkeit sind hinzuzufügen. Fehlt dem Sachbearbeiter die erforderliche fachliche Kenntnis zur Formulierung des Untersuchungsantrages, wird eine Kontaktaufnahme mit der nächsten kriminaltechnischen Untersuchungsstelle oder einem Schriftsachverständigen empfohlen. Der Versand des Untersuchungsmaterials hat so zu erfolgen, dass eine Beschädigung oder Beeinträchtigung vermieden wird.
1.4 Der Schriftsachverständige
In der Bundesrepublik Deutschland sind speziell ausgebildete Personen als freie Schriftsachverständige tätig. Zusätzlich verfügen beispielsweise Polizeibehörden über ausgebildete Gutachter, die als so genannte Behördengutachter in diesem Bereich eingesetzt werden.
Michel schreibt (a.a.O, S. 16), dass in der Bundesrepublik Deutschland etwa 100 Schriftsachverständige hauptberuflich oder regelmäßig nebenberuflich tätig sind. Eine annähernd gleich große Zahl von Personen arbeitet gelegentlich als Schriftsachverständiger. Fraglich erscheint dabei, inwieweit die gelegentlich tätigen Sachverständigen über ausreichende Sachkunde und Erfahrung verfügen, um ein fundiertes, gerichtsverwertbares Gutachten zu erstellen. Michel hebt (a. a. O., S. 17) den Schriftsachverständigen mit einer wissenschaftlichen Grundausbildung hervor, gleichzeitig betont er jedoch auch, dass derzeitig eingesetzte, nicht akademische Sachverständige auch für die Schriftvergleichung geeignet sind. Er betont auch, dass beispielsweise auf dem Gebiet der Schriftvergleichung langfristig und sorgfältig eingearbeitete Kriminalbeamte eine gründliche Arbeit leisten. Eine Gefährdung für die Gutachtertätigkeit sieht Michel dann, wenn der Schriftsachverständige zusätzlich im graphologischen Bereich tätig ist (a. a. O., S. 16). In diesen Fällen wird eine Schriftdeutung im Gutachten vorgenommen. Dies ist eine für den Schriftsachverständigen nicht durchführbare und aus Michels Sicht realitätsfremde Arbeit für den Bereich der Schriftvergleichung.
In vielen Landeskriminalämtern in der Bundesrepublik Deutschland, im Bundeskriminalamt, im Zollkriminalinstitut und im Posttechnischen Zentralamt in Darmstadt sind Schriftsachverständige tätig und werden für Gutachtenerstellungen auf diesem Spezialgebiet herangezogen.
Einen nur für Schriftsachverständige vorgesehenen Studiengang an einer Hochschule gibt es bisher nicht. An der Universität Mannheim werden Lehrveranstaltungen zum Thema Schriftvergleichung im Rahmen des Psychologiestudiums angeboten. Dadurch bleibt dem zukünftigen Schriftsachverständigen nur die Möglichkeit, sich selbst durch das Eigenstudium und einen praktischen Ausbilder die erforderlichen Kenntnisse für diese Tätigkeiten zu verschaffen. Das Bundeskriminalamt hat für die bei Behörden eingesetzten Schriftsachverständigen eine für den staatlichen Exekutivbereich geschaffene Ausbildungs- und Prüfungsordnung unter Einbeziehung der Ländervertreter entwickelt.
Während der Ausbildung und der anschließenden Schriftsachverständigentätigkeit bieten regelmäßig stattfindende internationale Fachkongresse und Workshops Gelegenheit, Erfahrungen auszutauschen und von neuen Untersuchungsmöglichkeiten zu erfahren.
Immer trifft das Gericht die Entscheidung, welcher Schriftsachverständige oder welche Behörde mit der Untersuchung beauftragt wird. Häufig folgen die Entscheidungsträger auch der Empfehlung des kriminalpolizeilichen Mitarbeiters. Die gründliche und fachlich fundierte Ausbildung sowie die Erfahrung des Schriftsachverständigen auf seinem Spezialgebiet ist eine wesentliche Voraussetzung für die spätere juristische Akzeptanz des vorgelegten Gutachtens.
1.5 Die Entwicklung der individuellen Handschrift
In der Bundesrepublik Deutschland beginnt die Ausbildung der Handschrift des Kindes in der Regel in der Grundschule. Hier wird dem Kind von ausgebildeten Personen, z. B. Lehrern, die geordnete Darstellung von Bildern in Form von Buchstaben vermittelt. Dabei reproduziert der junge Mensch grundsätzlich das erlernte Darstellen von Buchstaben. Michel bezieht sich auf verschiedene Untersuchungen zu der Schreibentwicklung in der kindlichen Entwicklungsphase (a.a.O. S. 30 ff.). Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass bereits in Grundschulklassen manchmal und sogar in der Vorschulzeit eine z. T. erkennbare, eigene Darstellungsform entwickelt wird, die durch den neutralen Beobachter erkennbar ist. Während der Schulzeit entwickelt jeder Mensch eine für ihn eigene und im Einzelfall auch durch einen Nicht-Schriftsachverständigen erkennbare, individuelle Schreibform. Während der Entwicklungszeit vom Kind zum Jugendlichen werden in unterschiedlichen Schulformen vom jungen Menschen umfangreiche handschriftliche Arbeiten erstellt. Dabei festigt sich das individuelle Schriftbild der einzelnen Person immer mehr. Eine einmal erworbene und über Jahre fortgesetzte Schreibform wird nach Darstellung von Michel in den weiteren Lebensjahren beibehalten. Der Erwachsene reduziert in der Regel seine handschriftliche Leistung nach Abschluss der Ausbildung. In der weiteren Lebenszeit wird die einmal erlernte und dann immer wieder geschriebene, individuelle Schriftform beim Schreibvorgang beibehalten. Michel stellt dar, dass die Handschrift keine nur durch das ausführende Organ Hand gestaltete motorische Fähigkeit ist (a.a.O., S. 43 ff.). Vielmehr liegt auch eine Steuerung des Schreibvorgangs durch das Gehirn vor. Selbst wenn eine Person, die üblicherweise mit der rechten Hand das Schreibgerät führt, zur Verstellung der Schrift auf einmal mit der linken Hand schreibt, können noch individuelle Schreibformen der Ursprungsschrift festzustellen sein. Eine Beeinflussung des Schriftbildes z. B. durch das Schreibgerät, die Körperhaltung des Schreibers und andere umweltbedingte Faktoren sind denkbar und werden vom Schriftsachverständigen bei der Untersuchung berücksichtigt. Eine durch das Alter bedingte Veränderung wird von Michel als möglich betrachtet, jedoch muss es nicht bei jedem Menschen zu einer aus Altersgründen veränderten Schriftführung kommen. Michel nimmt zu der Schrift ausländischer Personen Stellung (a.a.O., S. 219). Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass in anderen Ländern ein anderes Schriftbild vorhanden ist. Durch Besucher oder in Deutschland arbeitende Personen können solche ausländischen Schriftbilder auch für den hiesigen Schriftsachverständigen im Rahmen von Untersuchungen auftreten. Nach Michel beruht die Einmaligkeit der Handschrift auf der Gestaltungsmöglichkeit und -breite der dargestellten Merkmale in der individuellen Schrift.
1.6 Das Gutachten
Im siebten Abschnitt der Strafprozessordnung wird der Begriff des Sachverständigen erläutert. Der § 93 StPO nennt das Schriftgutachten und den dazu erforderlichen Sachverständigen. Wird der Schriftsachverständige für eine Behörde tätig, muss er sein Gutachten nicht persönlich vor Gericht vertreten. Im § 256 StPO wird die Möglichkeit der Verlesung eines Gutachtens einer Behörde genannt. Die Gliederungsform eines Schriftvergleichgutachtens zeigt Parallelen zur Gliederung von Gutachten aus anderen Fachbereichen, beispielsweise zu einem Gutachten über den Vergleich von daktyloskopischen Spuren. Daher ist die vorgestellte Form des Schriftgutachtens in der Grundstruktur auch in anderen kriminalistischen Fachbereichen anzutreffen.
Der Sachverständige erhält bei der Arbeit für eine Justizbehörde/Polizeibehörde einen konkreten Untersuchungsauftrag. Dieser Auftrag ist so zu formulieren, dass er eindeutig, verständlich und nachvollziehbar ist. Im Gutachten wird dieser Auftrag wiederholt und als Grundlage der Untersuchung betrachtet. In der weiteren Darstellung des Gutachtens sind die zur Untersuchung vorhandenen Gegenstände einzeln aufzulisten und einer Eignungsbetrachtung für die vorgesehene Gutachtertätigkeit zu unterziehen. Es wird von der so genannten Materialkritik gesprochen.
Das Gutachten ist in allen Teilen so zu formulieren, dass ein Nichtfachmann die vorgenommenen Untersuchungen und das dadurch erreichte Ergebnis nachvollziehen und verstehen kann. Sind weitere Unterlagen für die Gutachtenerstellung erforderlich, so enthält der siebte Abschnitt der StPO Rechtsgrundlagen, die die Beschaffung dieser Gegenstände regeln. Es handelt sich dabei um Anknüpfungs- und Befundtatsachen. Im Gutachten ist die Einbeziehung dieser zusätzlichen Beweismittel zu nennen. Die weiteren Ausführungen im Gutachten beschreiben die vom Schriftsachverständigen angewandten Methoden, die im vorliegenden Fall für die Untersuchung ausgewählt worden sind. Es wird die physikalisch-technische Untersuchung und die eigentliche Befundanalyse der Tathandschrift beschrieben. Im Fall eines Zweit- oder Drittgutachtens haben die zusätzlich eingesetzten Schriftsachverständigen dadurch die Möglichkeit, den bisher gewählten Untersuchungsweg und das dabei erzielte Ergebnis nachzuvollziehen. Der Schriftsachverständige stellt das Ergebnis seiner Befunde der Schriftvergleichung vor. Er entscheidet im Einzelfall wie ausführlich die einzelnen Abschnitte des Gutachtens formuliert werden, insbesondere, ob im Einzelfall Fotos oder Zeichnungen zur Verdeutlichung der Gutachtenausführungen mit vorgestellt werden. Schließlich wird der Schriftsachverständige das Gesamtergebnis der von ihm vorgenommenen Schriftvergleichung formulieren. Die von den Schriftsachverständigen gewählten Formulierungen unterscheiden sich dabei in der gewählten Form. Dabei sind die Wahrscheinlichkeitsgrade, „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“, „mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit“, „mit hoher Wahrscheinlichkeit“, „wahrscheinlich“ und „nicht entscheidbar“ zu verwenden. Weitergehende oder anders formulierte Ergebnisse sind nicht auszuschließen. Eine geringere Stufe der Wahrscheinlichkeit bedeutet dabei nicht, dass Zweifel bestehen. Es ist möglich, dass das vorhandene Schriftmaterial keine konkretere Aussage zulässt. Bezogen auf den Beispielsachverhalt wird das Endergebnis lauten: „Eine Urheberschaft von Herrn M. an den fraglichen Eintragungen und der Unterschrift auf dem Überweisungsvordruck kann im vorliegenden Fall mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als erwiesen betrachtet werden. Eine Urheberschaft von Herrn B. an den fraglichen Schriften auf dem Überweisungsvordruck ist auf Grund der Befunde der Schrift vergleichenden Analyse auszuschließen.“
Weiterführende Literatur:
Ackermann, R. / Clages, H. / Roll, H.: Handbuch der Kriminalistik. Kriminaltaktik für Praxis und Ausbildung. 2., aktualisierte Auflage. Boorberg Verlag, Stuttgart 2003.
Biedermann, A. / Taroni, F.: Befundbewertung in der forensischen Handschriftenuntersuchung. Notwendigkeit eines logischen Ansatzes. In: Kriminalistik 06/05, S. 369.
Böhle, K. / Wildensee, P.: Forensische Handschriftenuntersuchung. Bemerkungen über den Wissenschaftlichkeitsanspruch. In: Kriminalistik 02/05, S. 106.
Burghard, W. / Hamacher, H. W. / Herold, H. / Howorka, H. / Kube, E. / Schreiber, M. / Stümper, A. (Hrsg.): Kriminalistik Lexikon. 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Kriminalistik-Verlag, Heidelberg 1996.
Groß, H. / Geerds, F.: Handbuch der Kriminalistik. Wissenschaft und Praxis der Verbrechensbekämpfung. Band 1: Die Kriminalistik als Wissenschaft. Die Technik der Verbrechen. Kriminaltechnik. 10., völlig neu bearbeitete Auflage. Schweitzer Verlag, Berlin 1977.
Hecker, M.: Forensische Handschriftenuntersuchung. Eine systematische Darstellung von Forschung, Begutachtung und Beweiswert. 1. Auflage. Kriminalistik-Verlag, Heidelberg 1993.
Hecker, M.: Handschriften. In: Kriminalistik – Handbuch für Praxis und Wissenschaft. Kube, E. / Störzer, U. / Timm, K. (Hrsg.). Band 1, Kapitel 18. Boorberg Verlag, Stuttgart [u. a.] 1992.
Heindl, R.: System und Praxis der Daktyloskopie und der sonstigen technischen Methoden der Kriminalpolizei. 3., neu bearbeitete und vermehrte Auflage. de Gruyter Verlag, Berlin 1927.
Howorka, H.: Forensische (gerichtliche) Handschriften- und Maschinenschriftenunter-suchung. In: Kriminalisten-Fachbuch – Kriminalistische Kompetenz. Eine Verbindung aus Kriminalwissenschaft, kommentiertem Recht und Kriminaltaktik für Studium und Praxis. Loseblattwerk in 2 Ordnern, Stand: 2000. Band 1, Kapitel KT 15. Schmidt-Römhild Verlag, Lübeck 2000.
Köller, N. / Nissen, K. / Rieß, M. / Sadorf, E.: Probabilistische Schlussfolgerungen in Schriftgutachten. Zur Begründung und Vereinheitlichung von Wahrscheinlichkeitsaussagen im Sachverständigengutachten. In: Polizei und Forschung, Band 26. 1. Auflage. Luchterhand Verlag, München 2004.
Kube, E. / Störzer, U. / Timm, K. (Hrsg.): Kriminalistik – Handbuch für Praxis und Wissenschaft. Band 1. 1. Auflage. Boorberg Verlag, Stuttgart [u.a.] 1992.
Michel, L.: Gerichtliche Schriftenvergleichung. Eine Einführung in Grundlagen, Methoden und Praxis. 1. Auflage. de Gruyter Verlag, Berlin [u.a.] 1982.
Seibt, A.: Forensische Handschriftenuntersuchung. Wahrscheinlichkeit als Hypothesenvergleich. In: Kriminalistik 03/05, S. 175.
Seibt, A.: Forensische Schriftvergleichung und Schriftpsychologie. In: Kriminalistik 04/04, S. 267.
Walder, H.: Kriminalistisches Denken. 6., völlig überarbeitete Auflage. Kriminalistik-Verlag, Heidelberg 2002.
Weihmann, R.: Kriminalistik. Für Studium und Praxis. 8. Auflage. Verlag Deutsche Polizeiliteratur, Hilden 2005.
Weihmann, R.: Lehr- und Studienbriefe Kriminalistik / Kriminologie. Band 2, Kriminaltechnik I. 1. Auflage. Verlag Deutsche Polizeiliteratur, Hilden 2005 und Band 3, Kriminaltechnik II. 1. Auflage. Verlag Deutsche Polizeiliteratur, Hilden 2005.
Zirk, W. / Vordermaier, G.: Kriminaltechnik und Spurenkunde. Lehrbuch für Ausbildung und Praxis. FH-Schriftenreihe Polizei. 1. Auflage. Boorberg Verlag, Stuttgart, Weimar, Dresden [u. a.] 1998.
2 Die Stimme
2.1 Die Stimme als individuelles Verhalten
Bereits bei der Geburt wird das Stimmorgan des Neugeborenen zum ersten Mal mit lautem Schreien aktiviert. Dabei wird der Säugling dazu gebracht, die eigene Stimme in Form von lautem Schreien hörbar zu produzieren. Manchmal wird mit einem leichten Schlag auf das Gesäß nachgeholfen. Die an der Geburt beteiligten Personen erfahren dadurch, dass eine vitale Reaktion des neuen Erdenbürgers vorliegt und die Stimme grundsätzlich hörbar vorhanden ist. Dieser erste Schrei wird in den weiteren Lebensjahren des Kindes durch bewusste Einflussnahme der in der Umgebung anwesenden Menschen weiterentwickelt. Ziel ist es dabei, dass das Kind neben einem Schrei auch eine nachvollziehbare Reihe von Lauten erzeugen kann, die für andere Personen verständlich sind. Diese auch als Sprache bezeichnete Ausdrucksweise ermöglicht eine Verständigung mit anderen Menschen. In Verbindung mit weiteren Organen des menschlichen Körpers, wie z. B. dem Gehirn, den Augen, den Händen, sind dabei eine intensive Verständigung und ein Austausch mit anderen Menschen möglich.
Mit zunehmendem Alter und der Weiterentwicklung der an dem Sprechvorgang zusammenwirkenden Organe kann es gelingen, andere Sprachen, Dialekte oder sogar Stimmen anderer Personen sehr ähnlich klingend nachzusprechen. Die Stimme des Menschen verändert sich im Verlauf des Lebens unter anderem ein wenig in der Stimmlage, bleibt jedoch in der ursprünglichen Ausdrucksform erhalten. Dadurch ist ein Wiedererkennen des Sprechers durch Verwandte oder bekannte Personen allein durch das Hören der Stimme möglich. Dieser Vorgang wird täglich bei der Benutzung des Telefons oder anderer nicht visueller Kommunikationswege bewiesen. Ein Anrufer nennt bei dem Telefongespräch nicht seinen Namen, sondern lediglich allgemeine Informationen. Wenn der Angerufene die Stimme des Anrufers von anderen persönlichen Kontakten her kennt, dann wird er selbst eine Identifizierung des Anrufers vornehmen und vielleicht im Verlauf des Telefongespräches darauf eingehen.
Die menschliche Stimme kann in ihrer individuellen Form auch auf unterschiedliche Tonträger aufgezeichnet werden. Bei einer späteren realen Wiedergabe der Aufnahme ohne technische äußere Veränderungen ist ein Wiedererkennen der Stimme auch durch den Laien möglich. Dies ist z. B. bei dem Kauf einer CD-Aufnahme eines Sängers festzustellen. Beim Abhören der Aufnahme wird die Stimme des Interpreten wieder erkannt und gerne gehört.
Eine Beeinträchtigung oder Umgestaltung der Stimme eines Menschen kann dann einsetzen, wenn eine Veränderung oder Beeinflussung der am Sprechvorgang mitwirkenden Organe bewusst oder unbewusst durchgeführt wird. Als Beispiel für eine solche Beeinflussung wird der Täter eines Banküberfalls genannt, der zur Tarnung eine Strumpfmaske aufgesetzt hat und zusätzlich ein Tuch über den Mund zieht, damit seine Stimme möglichst unerkannt bleibt. Der Patient, der auf Grund einer Erkrankung im Kehlkopfbereich operiert worden ist, wird nach Abschluss der Behandlung möglicherweise mit einer verändert klingenden Stimmlage sprechen. Bei dem älteren Menschen, der im Rahmen einer Zahnbehandlung erstmals eine Prothese im Ober- und Unterkieferbereich erhalten hat, ist insbesondere zu Beginn der Tragezeit die Stimme in einer etwas von der früheren Sprechweise abweichenden Klangform zu hören.
2.2 Die Aufzeichnung der Stimme
Polizeiliche Ermittlungen werden wesentlich durch die vorgeschriebene Beweisführung im Strafverfahren bestimmt. Dabei handelt es sich bei der Bearbeitung des Personal- und Sachbeweises um die überwiegende Ermittlungstätigkeit. Der folgende Sachverhalt stellt ein praxisnahes Beispiel für die Identifizierung einer menschlichen Stimme dar:
Die 25 Jahre alte M. aus Polen studiert seit fünf Jahren Germanistik in der Stadt K. in der Bundesrepublik Deutschland. Sie wohnt mit ihrem Freund T. aus der Ukraine zusammen, der als Kraftfahrer arbeitet. Da sich beide gerade in finanziellen Schwierigkeiten befinden, überlegen sie eine Möglichkeit, schnell und unkompliziert in den Besitz von Geld zu kommen. T. hat den Einfall, dass sich durch eine anonyme Erpressung der Flughafengesellschaft der Stadt K. Geld beschaffen lässt, ohne dass aus seiner Sicht dadurch eine Person direkt geschädigt wird.