Identität und Gedächtnis - Hans-Hermann Höhmann - E-Book

Identität und Gedächtnis E-Book

Hans-Hermann Höhmann

0,0

Beschreibung

Deutsche Freimaurer tun sich schwer mit dem Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen. Dies zeigt ihr Umgang mit der eigenen und mit deutscher Geschichte. Sie neigen dazu, unbequeme Wahrheiten über die Vergangenheit zu verdrängen und die Sicht auf die Realität des Gewesenen mit selbst gemachten historischen Kulissen zu verstellen. Besonders ausgeprägt ist diese Haltung in Bezug auf die 1920er und die frühen 1930er Jahre, im Hinblick auf die Zusammenhänge zwischen Freimaurerei, Nationalismus und Nationalsozialismus. Hier dominieren bis heute selbst verordnete Amnesie, Geschichtsklitterung und wolkiges Deuten. Höhmann als sozialwissenschaftlichen Autor und engagierten Freimaurer hat das kollektive Wegschauen großer Sektoren der deutschen Freimaurerei gegenüber so mancher völkischen Verirrung seit langem bedrückt, und er empfand es zunehmend schlicht als peinlich, unbequeme historische Wahrheiten immer nur von Wissenschaftlern beschrieben und analytisch erörtert zu sehen, die nicht dem Freimaurerbund angehören. Deshalb legt er, gegründet auf inzwischen wieder zugängliche Quellen, mit dieser Schrift eine erweiterte Fassung seiner bisherigen Arbeiten zur völkischen Vergangenheit der deutschen Freimaurerei in den Jahren von 1918 bis 1935 und zur freimaurerischen Erinnerungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg vor.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 140

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Identität und Gedächtnis

Die „völkische Freimaurerei“ in Deutschland und wie man sich nach 1945 an sie erinnerte

Hans-Hermann Höhmann

eBook EPUB: ISBN 978-3-96285-122-4

Print: ISBN 978-3-943539-25-7

Copyright © 2014/2020 by Salier Verlag, Leipzig

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: Gemälde von Petra Talsma

Satz und Herstellung: Salier Verlag, Bosestr. 5, 04109 Leipzig

www.salierverlag.de

Inhalt

Zum Geleit: Von der Macht der Vergangenheit und der Pflicht zu erinnern

Teil 1: Völkische Freimaurerei – Dimensionen einer freimaurerischen Verirrung

Ausgangslage: Freimaurer als Weltbürger und Patrioten

Den Frieden retten: Pazifistische Aktionen europäischer Freimaurer

Deutsch-nationale Radikalisierung mit „völkischen“ Elementen, Abgrenzung der „christlichen“ von den „humanitären“ Großlogen

Teil 2: Erinnerungs(un)kultur: Umgang mit der „national-völkischen“ Orientierung und ehemaligen Nationalsozialisten in der deutschen Freimaurerei nach dem Zweiten Weltkrieg

Umdeutungen und Verdrängungen

Nachkriegsrolle „völkischer Freimaurer“ und ehemaliger Nationalsozialisten

Angemaßte Opferrolle und wirkliche Opfer

Die „Schuld der Machthaber, die unsere Feinde waren“

August Horneffer nach dem Zweiten Weltkrieg

Versäumte Erinnerungspflicht

Aufarbeitung durch Freimaurer und externe Forscher

Dennoch: Mythen und Legenden leben fort

Schlussbemerkung: Hoffnung auf heilsame Verärgerung

Anmerkungen

Prof. Dr. Hans-Hermann Höhmann

Nichtwissen

tut niemand weh

mit Ausnahme derer

denen weh getan werden kann

weil niemand es weiß.

Erich Fried, Vorteile der Unwissenheit

Zum Geleit: Von der Macht der Vergangenheit und der Pflicht zu erinnern

In seinem „Buch vom Lachen und vom Vergessen“ lässt Milan Kundera, als Akteur des Prager Frühlings engagierter Anwalt innerer und äußerer Freiheit in der Tschechoslowakei und seit den 1970er Jahren als Romancier von weltweiter Bedeutung in Frankreich lebend, einen seiner Helden, den Historiker Mirek, über das Verhältnis von Macht und Vergessen nachdenken. Mireks Ergebnis: „Der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen.“ Dies gilt zunächst für die Macht totalitärer Herrschaft. Dies gilt aber auch für die Macht der gesellschaftlichen Anpassung, die Macht der Gedankenlosigkeit, der Gewöhnung an vermeintliche Sachzwänge, für den Freiheitsverlust durch bloßes Mitschwimmen im Trend der Zeit. Gegen Macht in jeder Form hilft das Gedächtnis, die Bereitschaft, zentrale Ereignisse im Leben von Men­schen und Gesellschaften erinnernd zu reflektieren, hilft der Mut, vergangenes Erbe „aufzubewahren für alle Zeit“ (Lew Kopelew).

Deutsche Freimaurer tun sich schwer mit dem Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen. Dies zeigt ihr Umgang mit der eigenen und mit deutscher Geschichte. Sie neigen dazu, unbequeme Wahrheiten über die Vergangenheit zu verdrängen und die Sicht auf die Realität des Gewesenen mit selbstgemachten historischen Kulissen zu verstellen. Besonders ausgeprägt ist diese Haltung in Bezug auf die 1920er und die frühen 1930er Jahre, im Hinblick auf die Zusammenhänge zwischen Freimaurerei, Nationalismus und Nationalsozialismus. Hier dominieren selbstverordnete Amnesie, Geschichtsklitterung und wolkiges Deuten. Analyse wurde durch Metaphern ersetzt. „Dunkle Zeit“ und „Zeit der Menschheitsferne“ beschworen Schicksalhaftes, ohne Rechenschaft darüber abzulegen, wie sehr man selbst an diesem Schicksal beteiligt gewesen war. Auch zeitgeschichtliche Forschung ist innerhalb der Freimaurerei lediglich eine anerkennenswerte Ausnahme. Mich als sozialwissenschaftlichen Autor und engagierten Freimaurer hat das kollektive Wegschauen großer Sektoren der deutschen Freimaurerei gegenüber so mancher völkischen Verirrung seit langem bedrückt, und ich empfand es zunehmend als unangemessen, unbequeme historische Wahrheiten immer nur von externen Wissenschaftlern, also Nicht-Freimaurern, beschrieben und analytisch erörtert zu sehen, zumal die Wahrnehmung dieser Arbeiten innerhalb der Freimaurerei begrenzt blieb. Deshalb lege ich mit diesem Büchlein eine erweiterte Fassung meiner bisherigen Arbeiten zur völkischen Vergangenheit der deutschen Freimaurerei in den Jahren von 1918 bis 1935 und zur freimaurerischen „Erinnerungspolitik“ nach dem Zweiten Weltkrieg vor.

Selbstkritische Veröffentlichungen zur Geschichte der deutschen Freimaurerei im 20. Jahrhundert finden freilich außerhalb der Freimaurerei mehr Anerkennung als im Bund selbst.1 Kritisch reflektierende Distanz zum eigenen Bund wird immer wieder als Bedrohung liebgewordener, aber überholter Auffassungen erlebt, wenn nicht gar als „Nestbeschmutzung“ abqualifiziert.

Dabei geht es mir in dieser Schrift nicht um Schuldzuweisungen. Es geht darum, zu wissen, wie es war. Es geht um Abschied von Legenden. Es geht um eine möglichst präzise Ermittlung von Fakten und um Interpretationen, die Tatsachen in den Kontext von Geschichte und freimaurerischen Prinzipien stellen. Wenn ich mich bei diesen Prinzipien am Leitbild einer an Humanismus und Aufklärung ausgerichteten Freimaurerei orientiere, so bin ich mir freilich bewusst, dass „mit jedem Begriff ... bestimmte Horizonte, aber auch Grenzen möglicher Erfahrung“ gesetzt werden (Reinhart Koselleck2), was auch die Gefahr beinhaltet, komplexen Sachverhalten nicht immer gerecht zu werden. Vergangenheit ist ja nie zurückzuholen „so wie sie war“. Immer brauchen wir „symbolische Stellvertreter, die niemals einfache Abbildungen (sind), sondern immer schon Modellierungen, Deutungen, Konstruktionen dessen, worauf Bezug genommen wird“.3

Für den Freimaurer-Bürger von heute geht es schließlich auch um die historisch begründete Einsicht, wie nötig es für die Lebensfähigkeit einer Demokratie ist, die Mitte der Gesellschaft vor dem Vordringen extremer Vorstellungen zu bewahren. Denn es war ja diese bürgerliche Mitte

außerhalb und innerhalb der Freimaurerei, deren ideologische Verblendung und fehlende Bereitschaft, sich für Demokratie und gesellschaftlichen Pluralismus einzusetzen, den Aufstieg Hitlers und die damit verbundene deutsche Katastrophe möglich machten.

Die historischen Studien, die seit 1980 zum Verhältnis von Freimaurerei und Nationalsozialismus auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft vorgelegt wurden, insbesondere die Arbeiten von Helmut Neuberger4, Ralf Melzer5 und Marcus Meyer6, stimmen darin überein, dass es zwischen 1918 und 1935 in der deutschen, insbesondere der christlich-altpreußischen Freimaurerei, repräsentiert durch die Große National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ (GNML „3WK“), die Große Landesloge der Freimaurer von Deutschland (GLL FvD, Freimaurerorden) und die Große Loge von Preußen genannt „Zur Freundschaft“(GL von Preußen)7, erhebliche nationalistisch-völkische Tendenzen gegeben hat. Die Autoren unterscheiden sich jedoch in der Einschätzung des Ausmaßes dieser Tendenzen. Während Neuberger den Standpunkt vertritt, es habe sich „bei den Anbiederungsversuchen der deutschen Freimaurereien nach rechts … überwiegend eher um Anpassungsbestrebungen an eine erfolgreiche politische Strömung gehandelt als um eine bewusste Förderung der nationalsozialistischen Staatsidee“8, kommen Melzer und Meyer im Generationsabstand zum Ergebnis, dass die politische Orientierung großer Teile der deutschen Freimaurerei in den 1920er und frühen 1930er Jahren ein Prozess hin zu zunehmender konzeptioneller Übereinstimmung mit völkischen Einstellungen und schließlich dem Nationalsozialismus gewesen ist, der über eine bloße Anpassung hinausging. So gern ich Neuberger als Anwalt eines gewissermaßen „kleineren Übels“ folgen würde: die Aussagekraft der Quellen, insbesondere der inzwischen wieder zugänglichen Archivmaterialien in Berlin und Moskau9, lässt keinen Zweifel daran, dass Melzer und Meyer zuzustimmen ist. Zu früh in den 1920er Jahren hatte die völkische Ausrichtung in der deutschen, vor allem der altpreußischen Freimaurerei Platz gegriffen, zu intensiv waren die Übereinstimmungen mit der NS-Ideologie und mit der – vor allem in Teilen der SS heimischen – nordisch-ariosophen Esoterik ausgefallen, die dann ja auch Eingang in die Rituale der altpreußischen Großlogen fand, zu weit gingen die – selbstbewusst und über jede Kritik erhaben – vorgenommenen Abweichungen von den Traditionen und Regularitätsvorstellungen der Weltfreimaurerei, als dass dieser Prozess mit dem Begriff der „Anpassungsbestrebungen an eine erfolgreiche politische Strömung“ (Neuberger) – oder gar als bloße „Tarnung“ – hinreichend beschrieben werden könnte.

Nach dem Krieg mussten sich die deutschen Freimaurer um eine neue Identität bemühen, aber – so zeigte sich bald und im Zeitablauf bis in die Gegenwart immer mehr – ohne Bereitschaft zum Erinnern geht das nicht. Verdrängte Vergangenheiten machen Selbstdarstellungen heutiger Freimaurer unglaubwürdig. Identität und Gedächtnis gehören zusammen. Gewiss: Sich an geschichtliche Wahrheiten zu erinnern, kann unbequem sein. Es erfordert Mut und die Bereit­schaft, auf bequeme „Neuerfindungen der Vergangenheit“ zu verzichten. Es ist dem Politikwissenschaftler Stefan Wolle darin zuzustimmen, dass alles, was gemeinhin unter dem Signum von „Aufarbeitung“ und „Vergangenheitsbewältigung“ rubriziert wird, der natür­lichen Gravitationskraft des Alltagsdenkens widerstrebt, und dass die „Schlussstrichzie­her aller Zeiten“ stets den gesunden Menschverstand auf ihrer Seite zu haben scheinen.10

Wir Heutigen haben als Bürger und Freimaurer nicht die Vergangenheit der 1920er und 1930er Jahre zu verantworten. Wohl aber sind wir verantwortlich für das, was wir aus dieser Vergangenheit in der Gesellschaft von heute weiterwirken bzw. wieder aufleben lassen, und wir haben die Art und Weise zu verantworten, wie wir mit Ver­gangenheit erinnernd und handelnd umgehen.

Eine entlastende und beschönigende „Erinne­rungspolitik“ wie die der unmittelbaren Nachkriegszeit mag vielleicht dem Wiederaufbau der Freimaurerei nach dem Zusammenbruch des Nazi-Systems vorübergehend förderlich gewesen sein. Sie entsprach zudem weitgehend der allgemeinen Praxis in Gesellschaft und Politik Nachkriegsdeutschlands. Doch inzwischen besteht die Gefahr, dass aus Notkonstruktionen Mythen werden, die sich im Bewusstsein heutiger Freimaurer zu Realitä­ten verdichten, die es so nicht gab. Ein Unterstreichen dieser Gefahr ist durchaus angebracht. Denn jetzt – beinahe zwei Generationen nach der „klassischen“ Periode der freimaurerischen Erinnerungspolitik in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren – muss in Bezug auf den Problemkomplex Freimaurerei und Nationalsozialismus ein neuer Verdrängungsprozess konstatiert werden, der sich über den alten schiebt: ein Prozess der Verdrängung der Verdrängung. Während nämlich inzwischen zahlreiche Studien vorliegen, die sich mit der Erinnerungspolitik der frühen Bundesrepublik beschäftigen,11 sind Fragestellungen dieser Art im Diskurs der deutschen Freimaurer kaum präsent. Aufarbeiten von Versagen im Handeln und von Versagen im Erinnern: damit tut sich die Freimaurerei in Deutschland schwer.

Ein letzter Anstoß zur Veröffentlichung dieser Schrift war die Verleihung des Humanitären Preises deutscher Freimaurer an den Verein „Gegen das Vergessen – Für Demokratie“ am 13. Oktober 2013 in Dortmund. Dieser Verein hat es sich zum Ziel gesetzt, historische Erinnerungsarbeit zum Nationalsozialismus und zur SED-Diktatur mit gegenwartsbezogenem Engagement für die Mitgestaltung der demokratischen Zivilgesellschaft zu verbinden. Daher würde eine solche Preisverleihung durch den Freimaurerbund zu einer Farce zynischer Unaufrichtigkeit verkommen, wenn sich die Freimaurer einem eigenen selbstgefälligen Vergessen hingäben und sich dem Erinnern verweigerten.

Mit dem Großmeister der Großloge AFuAM von Deutschland, dem Dortmunder Rechtsanwalt und Notar Axel Pohlmann, ist anlässlich der Preisverleihung zum ersten Mal ein Vorsteher einer deutschen Großloge mit klaren Worten vom bisherigen Kurs der Verdrängung abgerückt:

„Wir verleihen heute unseren Humanitären Preis einer Vereinigung, die sich nicht nur, aber auch der Erinnerung an die entsetzlichsten Jahre der deutschen Geschichte verschrieben hat.

Da ist es recht und billig, wenn wir feststellen, dass die deutsche Freimaurerei, 1935 endgültig verboten, bei ihrer Wiedergründung nach 1945 gern davon zehrte, zu den Opfern des Nazi-Regimes zu zählen, dass aber diese Prätention nicht den historischen Tatsachen entsprach. In der Tat wurden die Logen und Großlogen verboten, soweit sie sich nicht gleich 1933 auflösten, ihr Vermögen und ihre Archive geraubt, und es gibt einige Freimaurer – ich erwähne nur Leuschner und Ossietzky – die ihr Leben verloren, und nicht wenige, die in ihrem beruflichen Fortkommen gehindert wurden.

Leider ist das nur die halbe Wahrheit. Hier in Dortmund schrieb der Verfasser der Festschrift zur 100-Jahrfeier der Loge ‚Zur alten Linde’ 1955, ein Schulrat, vom ‚Ausbruch einer unbändigen dämonischen Kraft’ und meinte sodann: ‚Doch lassen wir diese nicht immer rühmlich gewesene Zeit heute ruhen und vergessen.’ Tatsächlich hatte derselbe Mann 1934 eine Rede in der Loge überschrieben ‚Denn er ist unser’ und meinte damit Hitler. Wir sehen in einem Individuum die jeweilige Einstellung eines großen Teils des Bürgertums gespiegelt – das Bestreben nach Einordnung in die sogenannte ‚nationale Bewegung’ 1933/34, und das Bemühen der Adenauer-Zeit, mit einem möglichst großen Schwamm die Erinnerung auszuwischen.“12

Die folgenden Dokumentationen und Analysen sollen dazu beitragen, dass eine Verleugnung unangenehmer Vergangenheiten innerhalb der deutschen Freimaurerei zukünftig nicht mehr möglich ist und der „große Schwamm zum Auswischen der Erinnerung“ endlich beiseite gelegt wird.

Natürlich werde ich oft gefragt, ob nicht eine offene Reflexion auch belastender Vergangenheiten, wie ich sie versuche, dem Ansehen der Frei­maurerei und ihrer zukünftigen Entwicklung schade.

Meine Antwort lautet im Gegenteil: Wenn Freimaurerei heute „reflexive Aufklärung“ (Helmut Reinalter) sein will, so muss sie um ihrer Glaubwürdigkeit willen sich selbst und ihre Vergangenheit in die­sen Aufklärungsprozess einbeziehen. Freimaurerei hat zu viel Substanz, als dass sie histo­rische Wahrheiten nicht vertragen könnte. Und wenn Freimaurerei vor allem als Ausdruck von Lebenskultur verstanden wird, so muss Erinnerungskultur einen festen Platz in ihr haben. Das schulden sich die Freimaurer selbst. Aber auch der von ihnen angestrebte Respekt seitens der Öffentlichkeit hängt von der Fähigkeit ab, im Umgang mit der eigenen Vergangenheit redlich und wahrhaftig zu sein.

Meine Arbeit beginnt mit einer Beschreibung der Vorgeschichte der „völkischen Wende“ in der deutschen Freimaurerei, wobei auch der Beitrag der Freimaurerei zu Friedenssicherung und Pazifismus behandelt wird. Der folgende Hauptteil der Schrift dient der Dokumentation und Analyse der „völkischen Freimaurerei“ in ihrer generellen Struktur sowie unter den drei besonderen Stichworten Erster Weltkrieg, Antisemitismus und Nationalsozialismus. Dabei lasse ich die Meinungsführer und Hauptakteure, vor allem die Vorsitzenden und publizistischen Führungskräfte der Großlogen und hier wiederum insbesondere die Leiter der beim „Übereinstimmungskurs“ tonangebenden christlich-altpreußischen Großlogen, sowie die Autoren der freimaurerischen Zeitschriften, die die hauptsächlichen Medien der völkischen Orientierung waren, mit längeren Zitaten zu Wort kommen. Denn die Ausblendung der „Urtöne“ durch Zusammenfassungen würde die offenbarende, ja oft entlarvende Qualität der Sprache verwischen. Schließlich konvergierten nicht nur die Auffassungen, sondern auch die Sprechweisen, mit denen sie ausgedrückt wurden. Im letzten Abschnitt behandele ich den mangelhaften, ja bis heute skandalös verdrängenden Umgang mit der völkischen Vergangenheit großer Teile der deutschen Freimaurerei und mit der ebenso beträchtlichen wie schwer zu begreifenden Rolle, die ehemalige Nationalsozialisten in den Jahren und Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg beim Wiederaufbau des Bundes in Deutschland gespielt haben.

Herzlich danke ich meinen Freunden Christian Meier und Thomas Forwe, die das Manuskript kritisch gelesen und mir bei der Materialbeschaffung geholfen haben. Ihre Kritik und ihre Vorschläge waren hilfreich für mich, doch es versteht sich von selbst, dass die Verantwortung für den endgültigen Text voll beim Autor verbleibt.

Teil 1: Völkische Freimaurerei – Dimensionen einer freimaurerischen Verirrung

Ausgangslage: Freimaurer als Weltbürger und Patrioten

Dass der Friede in Europa und der Welt insgesamt zwischen 1870 und 1945 in drei sich an Brutalität und Zerstörungswirkung steigernden Kriegen so gründlich verloren gegangen war, hat die Freimaurer in Handeln, Argumentieren und Reflektieren immer wieder intensiv beschäftigt. Denn die Friedensproblematik war von Anfang an Bestandteil ihrer eigenen Entwicklung. Freimaurer – so lehrten es die „Alten Pflichten“ – als Männer „von allen Nationen, Zungen, Geschlechtern und Sprachen“ sollten sich zwar aus politischen Streitigkeiten, insbesondere aus internationalen Konflikten heraushalten. Aber sowohl ihre Utopien als auch die Arten und Formen ihrer Einbettung in konkrete gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungsprozesse von Nationen ließen sie bald (erst auf indirekte, dann immer mehr auf direkte Weise) politisch aktiv werden.

Ihrer Utopie nach waren die Freimaurer kosmopolitisch eingestellt. Sie verstanden sich als Weltbund der Brüderlichkeit, als „moralische Internationale“ (Reinhart Koselleck). Dies gilt mit unterschiedlicher Akzentuierung für alle frühen Ausprägungen der Freimaurerei. Die ersten deutschen Freimaurer waren anglophil und frankophon. Auch im „klassischen Freimaurerdiskurs“1 der deutschen Spätaufklärung stehen kosmopolitische Anschauungen im Vordergrund: „Der Freimaurer als solcher ist als Bürger ein Weltbürger“, rief Christoph Martin Wieland in seinem Vortrag „Über das Fortleben im Andenken der Nachwelt“ seinen Brüdern in Weimar zu.2 Lessing wünschte sich in seiner Schrift „Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer“, dass es in jedem Land Männer gäbe, „die über die Vorurteile der Völkerschaft hinweg wären und genau wüssten, wo Patriotismus Tugend zu sein aufhöret“.3 „Ehrwürdig in der größten aller Gesellschaften, der Welt“ leitet den wahren Maurer „der Wunsch, der Welt tugendhafte Bürger zu erziehen“, hieß es in einer Logenrede des Berliner Freimaurers Christian Karl Süßmilch.4 Karl Christian Friedrich Krause veröffentlichte 1814 nach dem Sieg über Napoleon eine Reihe von Aufsätzen, die danach auch zusammengefasst unter dem programmatischen Titel „Entwurf eines europäischen Staatenbundes als Basis des allgemeinen Friedens“ veröffentlicht wurden. Die diesbezüglichen Wirkungsmöglichkeiten der Freimaurerei hatte Krause schon einige Jahre zuvor umrissen:

„Sofern die Freimaurerbrüderschaft ihrem in ihrer eigenen Geschichte deutlich ausgesprochenen wesentlichen Begriffe gemäß ist, erkenne ich sie in ihrer Grundlage und ihrem reinen Geiste nach für einen nach Zeiten und Orten beschränkten und bis jetzt bewußtlosen, dennoch aber für den bis jetzt einzig bestehenden geselligen Versuch an, die Ideen der Menschheit, des Menschheitslebens und des Menschheitsbundes zur Anschauung zu bringen, in rein menschlichem Geiste zu leben und den offenenMenschheitsbund in abgesonderten Hallen von Vernunftinstinkt geleitet vorzubereiten.“5

Die Rhetorik dieser kosmopolitischen Ausrichtung der deutschen Freimaurerei hielt – wenn auch nicht ohne Unterbrechungen und Einschränkungen – bis in die Jahre vor dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, ja teilweise noch darüber hinaus, an.

„Nicht enge Grenzen sind’s. O, nein!

Die ganze Erde soll es sein“,

so hieß es 1866 in einer freimaurerischen, den Nationalismus des Originals überwindenden Umdichtung des Vaterlandlieds von Ernst Moritz Arndt „Was ist des deutschen Vaterland?“6 Unter „Entwicklung zur Humanität“ verstand noch 1889 ein Autor des „Bundesblattes“ der Grossen National-Mutterloge „3WK“ „die Entwickelung des einzelnen Menschen, des Volkes und der Menschheit zur möglichsten Vollkommenheit“, und er folgerte daraus:

„Auf diese Weise sind wir Brüder der Sauerteig, der die Menschenseelen aller Völker und aller Religionen durchdringt, nicht um diese zu zerstören, sondern zu veredeln; nicht um etwas ihnen Fremdes hineinzutragen und so sie äusserlich zu einförmiger Gestaltung zu zwingen, sondern um sie geistig und sitt­lich zu befreien, indem wir das Wesen derselben zu vertiefen suchen.“