Im Bann der rollenden Kugel - Nicolai Weizenthal - E-Book

Im Bann der rollenden Kugel E-Book

Nicolai Weizenthal

4,4

Beschreibung

Erfolgreicher Spieler und Roulette-Forscher beschreibt sein Leben und gibt Teile seiner Spielweise preis. Seit Jahrzehnten, von Hamburg bis Monte Carlo, lebt er bis heute von den Casinogewinnen. Aber Geld und Reichtum sind nicht alles, das musste er am eigenen Leib bitter erfahren. Sie werden eintauchen in die Welt eines Berufsspielers mit seinen Höhen und Tiefen. Sein Werdegang, der geprägt war von Schicksalsschlägen, führte zu einer packenden Autobiographie, die hier als Roman niedergeschrieben wurde. Sowohl für Frauen als auch für Männer eine interessante und unterhaltsame Lektüre, und für Spieler sowieso!

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Mein besonderer Dank gilt Günter, ohne ihn wäre das Buch nicht zustande gekommen.

Und meinen Lektoren

Beate und Pascal,

die mir eine große Hilfe waren.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Epilog

Und den Spielern sei geraten

Zum besseren Verständnis einige Erklärungen der Fachausdrücke

Vorwort

Zum Gedenken an Paul

Erwarten Sie bitte kein literarisches Meisterwerk, ein Schriftsteller oder Schreiber bin ich nicht.

Ich möchte nur mit meinen Worten mein bisheriges Leben erzählen – ein Leben als Berufsspieler. Vor allem möchte ich einen kleinen Einblick in meine Spielweise denjenigen vermitteln, die bisher im Casino ihr Geld verloren haben. Vielleicht können diese Personen, wenn sie das Buch sorgfältig studieren, ihre falsche Spielweise ändern und etwas von ihrem verlorenen Geld zurückgewinnen.

Solche Spieler, die nur der Entspannung wegen das Casino aufsuchen, sollten dies weiterhin tun.

Und solche, die ernsthaft mit dem Spielen anfangen wollen, kann ich nur sagen, dass es ein harter, steiniger Weg ist. Außer dem nötigen Kleingeld und Wissen braucht man viel Geduld, Ausdauer, Disziplin und Charakterstärke.

Es soll niemand dazu verführt werden, mit dem Spielen anzufangen.

Dieses Buch soll einen Einblick in die Welt eines Berufsspielers geben.

Das Leben mit seinen Höhen und Tiefen und seinem ewigen Auf und Ab, weist oft die gleichen Schwankungen auf wie im Spiel selbst. Oft sind Dinge auf sonderbare Weise miteinander verbunden und das Leben fordert eben seinen Ausgleich, denn die Schwankungen – die Ecarts – sind im Spiel wie im Leben gegeben. Sie zeigen die gleiche Figurenverteilung und sind sich sehr ähnlich. Man darf daher nicht alles in einem zu engen Rahmen sehen.

Der Ausgleich des Glücks kann sich auf Generationen erstrecken. Es gibt Leute die haben ein Leben lang nur Pech, andere nur Glück. Der Ausgleich kann in der nächsten oder erst in der übernächsten Generation kommen. Wenn man die Gewissheit und die Erkenntnis erlangt, dem letzten fehlenden Mosaiksteinchen sehr nahe gekommen zu sein – und selbst wenn man die absolute Wahrheit weiß – ist es immer noch ein langer und mühevoller Weg, um so weit zu kommen, wie Paul und ich gekommen sind.

Eines Tages wird die Berechnung den Zufall besiegen. Das Chaos, welches den Zufall beherrscht, wird sich kurzfristig manifestieren. Dadurch werden sich Möglichkeiten ergeben, die einen kleinen Vorteil zu Gunsten des Spielers mit sich ziehen.

Vielleicht ist es uns schon gelungen, den Zufall zu besiegen.

Uns, also Paul und mir! Paul war mein Spielpartner und väterlicher Freund.

Dieses Buch ist ihm gewidmet.

Nizza, im Oktober 1998/ März 2016

© Nicolai Weizenthal – Günter Gerstenberg

Kapitel 1

Eigentlich hatte sich nicht viel verändert. Der Cappuccino schmeckte noch genauso gut wie vor zehn Jahren und das Treiben vor dem Casino war noch dasselbe. Hier im Café de Paris machte es immer wieder Spaß den Leuten zuzuschauen. Es war genau vor zehn Jahren gewesen, als ich die schicksalhafte Begegnung mit Paul hatte: Er war damals neben mir gesessen und hatte genüsslich an seiner Davidoff geraucht.

Paul war inzwischen 58 Jahre alt, nein alt ist nicht der richtige Ausdruck. Er sah jünger aus: zwar ist er etwas untersetzt bei 1,70 Meter Größe, aber mit seinem Oberlippenbart und seiner Ausstrahlung hätte er einem französischen Gutsherren alle Ehre gemacht.

Es war wieder eine Schar Touristen angekommen, wie so oft ausschließlich die ältere Generation. Ein bisschen verschwitzt, aber voller Erwartung waren sie die Stufen des Casinos emporgestiegen. Die Mehrzahl waren Frauen gewesen, die Männer dagegen in der Unterzahl wie fast immer in dieser Altersklasse. Ja, richtig: die Mehrzahl waren Frauen gewesen und genau dieser Beobachtung hatten Paul und ich unseren gehobenen Lebensstandard zu verdanken. Es ist inzwischen schon etliche Jahre her, als uns die geniale Idee gekommen war, aber davon später mehr.

Paul will sich nun zurückziehen. 15 Jahre seien genug, Roulette und Geld seien nicht alles auf dieser Welt. Ich konnte es verstehen, wenn er seinen Lebensabend in seinem Haus mit herrlichem Garten in einer ruhigen Gegend verbringen möchte. Es war ein schönes Fleckchen Erde, das er sich in der Gegend bei Nizza ausgesucht hatte. Er hatte schon viele Tiefs in seinem Leben durchgemacht. Jetzt war er oben angekommen und ich konnte es ihm nicht verdenken.

Ich glaube, dass er nie eine Familie gehabt hatte, beschäftigte ihn im Alter mehr, als er erwartet hatte. Paul war immer der Meinung, dass sich Familie und Spiel nicht vertragen würden. Höchstwahrscheinlich hatte er mit dieser Ansicht recht. Vier Wochen im Jahr wollten wir in Zukunft noch arbeiten, den Rest des Jahres wollte Paul mit Gartenarbeit, Lesen und Kochen verbringen.

Denn kochen konnte Paul. Ein Hobby das ihm oft, wie er sagte, aus dem Tief – das übrigens jeder Spieler einmal erlebt – hinweggeholfen hatte.

Er hatte einen Freund in Menton, der ein wunderschönes Restaurant besaß, in dem er, wenn er pleite war, immer kochte. Pascal – so hieß sein Freund – schickte immer seinen Koch in Urlaub und Paul kochte für 5.000 Francs im Monat. Wir waren inzwischen nur noch gelegentlich bei Pascal zu Gast, aber diese Abende waren immer ein kulinarisches Vergnügen.

„Wollen wir gehen, Nicolai?“

Paul riss mich mit diesen Worten aus meinen Erinnerungen, denn wir hatten an diesem Tag noch zu arbeiten. Also bezahlten wir und gingen ins Casino.

Paul war heute mit der Schreibarbeit dran. Wir wechselten uns immer ab: einer war mit der Schreibarbeit, der andere mit dem Setzen der Jetons beschäftigt. Solange wir spielten, sprachen wir kaum miteinander. Keiner durfte sich ablenken lassen, denn ein Fehler könnte uns schließlich viel Geld kosten. Paul saß auf einem Stuhl etwas abseits und hatte seine Aufzeichnungen aufgeschlagen. Meine Aufgabe war es jetzt, ihm immer die gefallene Zahl des Tisches mitzuteilen. „Heute wird es etwas dauern, bis wir zum Satz kommen“, meinte Paul. Ich nickte nur und ging zurück zum Spieltisch. „Wie sich die Leute doch überall in den Casinos ähneln“, dachte ich. Die Gesten, ihr Verhalten, der Ausdruck der Freude oder der Niedergeschlagenheit. Jeder mit sich selbst beschäftigt und immer auf die weiße Elfenbeinkugel starrend.

Wie sie ihre Jetons auf Tableau legen: der eine sehr verhalten und vorsichtig, ein anderer den grünen Tisch wahllos mit seinen Chips zupflasternd. Der Faszination des Spiels, ob Frau oder Mann, können sich nur wenige entziehen. Ihre Unwissenheit, ihre Ungeduld und ihre Gier lassen sie am Ende alle verlieren.

„Sieben, Rouge, Impair, Manque“, rief der Croupier mit fester Stimme aus. Da waren sie wieder, die enttäuschten Gesichter. „Jetzt kommt die Neunzehn“, machte sich ein Herr hinter Rot stehend selber Mut. Er war der typische Verlierertyp. Hinterher immer alles besser wissend, ohne Ziel und Fachwissen spielend. „Würde er sich lieber eine neue Krawatte kaufen, anstatt sinnlos das Geld zu verlieren. Scheußlich dieses bunte Muster“, dachte ich mir und ging zu Paul, um ihm die gefallene Zahl mitzuteilen. 56.000 Francs hatten wir umgetauscht. Vier Stücke à 10.000, zwei Stücke à 5.000 und 20 Stücke à 100.

Paul holte sich aus seiner Jacke sein silbernes Zigarrenetui und steckte sich eine Havanna an. Ein sicheres Zeichen, dass ich nicht so bald zum Satz kam. Ich schlenderte zurück zum Tisch. Soeben nahm eine attraktive, junge Frau einen freigewordenen Platz ein. Ihr rosarotes Kleid stand ihr hervorragend. Der Schmuck, den sie trug, verriet, dass sie sich das Spiel offensichtlich leisten konnte. Sie hatte einen ganzen Berg an 100er-Jetons vor sich liegen und begann sogleich zu setzen. Es fiel die „8“. Nachdem der Croupier die verlorenen Jetons eingesammelt hatte, blieben auf dem Tableau einige Jetons auf der „8“ und um die „8“ herum liegen. „Na so etwas“, dachte ich mir, „da hat die ‚Rosarote‘ gleich zugeschlagen.“ 28.500 Francs zahlte man ihr schließlich aus. „Wenn sie klug ist, hört sie gleich mit dem Spiel auf. Aber wer ist schon klug beim Spielen“, dachte ich, während ich sie ausgiebig musterte. „Sechs Stücke für die Angestellten“, hörte ich sie sagen. Sogleich begann sie aufs Neue zu setzen. Ohne übertriebene Hast, aber gezielt, platzierte sie ihre Jetons. Es fiel wiederum die „8“. Ein Raunen ging durch die anwesenden Spieler. Der Aufschrei einer älteren Frau lockte noch viele von den Nebentischen an. Die „Rosarote“ verzog keine Miene. Sie genoss die bewundernden Blicke der umstehenden Menge. 52.000 Francs schob man ihr in Jetons zu. Selbst Paul hatte sich von seinem Platz erhoben und schaute interessiert dem Treiben am Spieltisch zu.

Aber sogleich ging er wieder an seinen Platz zurück und machte seine Aufzeichnungen. Ich beschloss am Tisch stehen zu bleiben und die „Rosarote“ noch ein wenig zu beobachten. Ich musste mir selber eingestehen, dass sie mir gefiel. Die nächsten Zahlen brachten ihr keinen Gewinn mehr. Pro Spiel setzte sie so um die 3.000 Francs. Es waren neun Zahlen gefallen, als sie wieder mit der „17“ einen Gewinn von 32.000 Francs ausbezahlt bekam. Ob sie nun aufhören würde?

Ich ging zu Paul, um ihm die gefallene Zahl mitzuteilen. Er machte seine Berechnungen und sagte nur: „Schwarz“. Aus meiner Innentasche zog ich ein 10.000er Jeton und ging ohne große Hast zu unserem Tisch, um den Jeton auf „Noir“ zu platzieren. 200 Francs gab ich dem Croupier für das Abdecken der Zéro. Schon als die Kugel am Rollen war, platzierte dieser die Chips mit einem gekonnten Wurf auf das Feld der Zéro. „Zweiunddreißig“, hörte ich den Croupier sagen. Die „Rosarote“ hatte auch nichts gewonnen und unsere Blicke trafen sich. Ich verzog mein Gesicht zu einem Lächeln und zog ein wenig die Augenbrauen hoch.

„So ist das Leben“, raunte ich ihr aufmunternd zu und ging sogleich zu Paul. Es mussten noch achtzehn Zahlen geworfen werden, bis wir wieder zu einer Satzgelegenheit kamen. Diesmal setzte ich 15.000 Francs auf Rot. Mit 300 Francs deckte ich die Zéro ab. Der Stapel Jetons der „Rosaroten“ nahm bedenklich ab. Ihrem forschen Vorgehen zu Anfang wich nun ein zögerndes Setzen. Als sich unsere Blicke wieder trafen, sprang die Kugel gerade in die „3“. Ich nahm meinen Gewinn wie selbstverständlich vom Tisch und ging zu Paul. Gedanken über Gewinn oder Verlust machte ich mir schon lange nicht mehr. Wenn man bedenkt, dass bei einem Gewinnüberschuss von acht Prozent sechsundvierzig Mal verloren und vierundfünfzig Mal gewonnen wird, so sind Verlustsätze normal.

„Rot müssen wir spielen, Nicolai“, sagte Paul. Also ging ich wiederum zum Tisch und platzierte Rot mit 10.000 Francs. Zéro deckte ich selbstverständlich wieder mit 200 Francs ab. Der Croupier setzte die Kugel in Bewegung, und sie fiel in das Fach mit der „26“. „Schwarz, Pair, Passe“, hörte ich noch, als ich schon unterwegs zu Paul war. Wieder ein Satz von diesen 46 Verlustsätzen.

Paul musste noch 14 Zahlen notieren, bis wir wieder eine Satzgelegenheit auf Schwarz hatten. 15.000 Francs kamen dieses Mal wieder zum Einsatz. Die „Rosarote“ hatte ihren letzten 5.000er Jeton vor sich liegen, den sie sogleich in 100er-Jetons umwechseln ließ. War in ihrem Blick schon Resignation? Hastig platzierte sie die Jetons um die Zahl „14“ herum. Der Croupier hatte die Kugel schon abgeworfen, als mir bewusst wurde, dass ich noch die Zéro zu setzen hatte. Ich kramte in meiner Tasche nach drei 100er-Jetons. Hastig zog ich sie hervor und gab sie dem Croupier. „Das Spiel ist abgesagt“, sagte er mir und schob mir die Jetons wieder zu. Die „15“ fiel und ich atmete erleichtert auf. Das durfte mir nicht passieren. Ich machte mir schwere Vorwürfe, dass ich mich so hatte ablenken lassen. Erlöst nahm ich meinen Gewinn vom Tableau. Die „Rosarote“ hatte jeweils vier Stücke auf Cheval und Carrè gelegt. „Eine Schonfrist“, dachte ich insgeheim. Der Ausgang schien mir klar zu sein. Paul notierte die letzte Zahl und verstaute danach seine Aufzeichnungen in einer Mappe, die er immer bei sich hatte.

„Das war‘s“, hörte ich ihn murmeln. Wir hatten zweimal verloren und zweimal gewonnen. Aber durch das halbe Stück Überlagerung nach einem Verlustsatz hatten wir ein Stück gewonnen. Die „Zéro-Kosten“ mussten wir natürlich vom Gewinn abziehen. So verblieb uns ein Reingewinn von 9.300 Francs. Etwas mehr als der Durchschnitt, den wir bis jetzt hatten verbuchen können. Dieser Durchschnitt lag bei zwei Drittel Stücke pro Spieltag. In Stücke gerechnet hört sich das eher bescheiden an. Aber durch die Stückgröße, die wir uns leisten konnten, waren es immerhin fünf bis sechstausend Francs pro Sitzung.

Nachdem ich die Jetons umgewechselt hatte, nahmen wir an der Bar Platz. Paul bestellte sich einen trockenen Martini, ich einen Espresso.

„Was macht eigentlich die junge Frau, die anfangs so gewonnen hat?“, fragte mich Paul.

„Sie verliert“, gab ich ihm knapp zur Antwort.

„Das übliche, sie können einfach nicht aufhören“, bemerkte Paul. „Wenn sie bei der Bank acht Prozent Zins herausholen, sind sie überglücklich. Hier müssen es 1000% am Tag sein. Denkt eigentlich keiner darüber nach?“

Ich nickte nur und dachte an die „Rosarote“. „Vielleicht spielt sie nur aus Zeitvertreib, und die Gewinne oder Verluste sind ihr egal.“

„Kann schon sein. Nun komm und trink etwas schneller, Nicolai“, mahnte mich Paul zur Eile. „Wir sollten um 21 Uhr in Menton sein. Pascal erwartet uns.“

Paul saß am Steuer unseres Wagens. Er saß eigentlich immer am Steuer. Er fuhr gerne Auto. Als Ausgleich für den Alltagsstress, wie er immer sagte. Mir war das egal, denn ich konnte mich mehr entspannen, wenn ich nicht selber fahren musste. Also lehnte ich mich zurück und lockerte mich. Ich musste unweigerlich an die „Rosarote“ denken. „Ob sie verheiratet war? Ja. Bestimmt hat sie einen Mann“, dachte ich. Paul fuhr ziemlich schnell, sodass wir noch etwas Zeit hatten, als wir ankamen. Nach einer herzlichen Begrüßung mit Pascal gingen wir auf unser Zimmer, welches Pascal für uns immer reservierte, wenn wir in Menton waren. Wir machten uns frisch und gingen danach ins Restaurant.

Pascal hatte für uns den üblichen Tisch am Fenster reserviert. Die Flasche Rotwein – ein besonders auserlesener Tropfen – stand schon auf dem Tisch. „Das Essen kommt gleich“, rief Pascal. Er wusste, was wir gerne aßen und stellte immer ein herrliches Menü zusammen.

Während des Essens sprachen Paul und ich eigentlich immer sehr wenig.

„Morgen arbeiten wir hier in Menton, danach machen wir das Wochenende frei“, bemerkte er, als die Vorspeise kam. Ich nickte nur. Das Wort „spielen“ verwendete er nie, er sprach immer nur von arbeiten. Eigentlich hatte er recht, denn mit „spielen“ hatten unsere Sitzungen im Casino nichts zu tun.

Ein Cognac für Paul und ein Espresso für mich rundeten schließlich das vorzügliche Mahl ab. Dabei zündete sich Paul die obligatorische Havanna an.

„Wir sollten wieder einmal nach San Remo gehen“, sagte er. „Ich will mir demnächst zwei Statuen für meinen Garten kaufen. Dazu brauche ich ein paar Lire.“

„Gerne“, antwortete ich, „ich habe nichts dagegen, von mir aus können wir schon am Montag los.“

„Okay, dann starten wir am Montag“, erwiderte Paul und zog seine Mappe hervor. Jetzt kam er mir wieder wie ein Buchhalter vor. Paul führte genau Buch über Gewinne und Verluste, sowie unsere sonstigen Ausgaben. Unser Gewinn betrug bis jetzt in diesem Monat 85.200 Francs. Die Ausgaben beliefen sich auf 25.000 Francs. Ich hatte volles Vertrauen zu Paul und überließ ihm gerne die Geldangelegenheiten. Wir hatten in der Schweiz ein gemeinsames Konto, über das wir beide verfügen konnten. Da wir beide keine Familie hatten, war es am besten so.

„Sollen wir noch zu Luise gehen?“, fragte ich Paul.

„Ich bin ziemlich müde und werde mich auf mein Zimmer zurückziehen. Aber geh du doch alleine“, erwiderte Paul.

Ich winkte Pascal heran. Er kam sofort und zog ein Zehn-Franc-Stück hervor. Wie immer warf er es in die Luft, fing es geschickt wieder auf und legte es auf seinen linken Arm. Das Zehn-Franc-Stück zeigte uns die Zahl „10“. Das bedeutete für uns, dass wir die Rechnung begleichen mussten. „Schon wieder“, murmelte Paul und Pascal freute sich diebisch. Es war immer dasselbe: mal freuten wir uns, mal er. Aber wir hatten immer einen großen Spaß dabei.

Ich trat ins Freie und merkte sofort, dass es doch recht kühl geworden war. Das Taxi stand jedoch schon da und ich ließ mich noch zu Luises Bar bringen.

Als ich den Frühstücksraum betrat, saß Paul schon am Tisch und bestrich gerade ein Croissant mit Butter. „Guten Morgen, Paul“, sagte ich noch etwas verschlafen. „Guten Morgen, Nicolai. Na, hast du noch eine lange Nacht gehabt?“

„Du weißt ja, bei Luise kommt man nie nach Hause. Jetzt brauche ich erst einmal eine Aspirin“, gab ich ihm zur Antwort.

„Als ich so jung war wie du, kam ich noch später nach Hause und hab nie eine Aspirin gebraucht, aber ihr jungen Leute könnt ja nichts mehr vertragen“, scherzte Paul. „Wollen wir nicht draußen frühstücken?“, bemerkte ich. „Nein, viel zu windig, denn wir müssen noch Aufzeichnungen machen. Da können wir keinen Wind gebrauchen.“

„Na gut“, sagte ich und nickte, obwohl mir etwas frische Luft bestimmt gut getan hätte. Viel essen konnte ich nicht, aber den schwarzen Kaffee ließ ich mir schmecken. Nach dem Frühstück begannen wir unsere Aufzeichnungen. Sorgfältig verbuchten wir jede Zahl, die gestern im Casino gefallen war. Wir hatten einen großen Ordner, in dem wir alle Aufzeichnungen aufbewahrten. Nach zwei Stunden waren wir fertig und hatten den „Schlachtplan“ für heute festgelegt.

„Langsam müssen wir aufpassen, die persönliche Permanenz ist zu gut. Es fehlen die zusammenhängenden Minus-Serien“, sprach Paul bewusst langsam. Ich hatte jedoch sofort verstanden, was er meinte. Hoffentlich würde es nicht ein „Großkampftag“ sein, denn das käme mir sehr ungelegen. Ich fühlte mich aufgrund meines Ausflugs ins Luises Bar logischerweise nicht so fit, obwohl sich das ja bis abends noch ändern konnte.

„Würdest du heute die Schreibarbeit übernehmen?“, fragte ich Paul. Er nickte nur. Der Schreiber hatte insgesamt doch die größere Verantwortung. Ein Gedankenfehler, oder eine kleine Unaufmerksamkeit könnte uns um den Tagessieg bringen. „Wollen wir irgendwo zu Mittag essen oder gehen wir an den Strand?“, fragte mich Paul. „Mir wäre der Strand lieber“, entgegnete ich. Vielleicht konnte ich dort etwas Schlaf nachholen. „Das habe ich mir schon gedacht und habe deshalb schon zwei Liegen bei Pierre bestellt“, bemerkte Paul lachend.

Das war typisch Paul. Er hatte immer die richtigen Vorahnungen, so wie in diesem Augenblick.

In Menton spielten wir immer erst am Abend, denn die meisten Gäste kamen ebenfalls in den Abendstunden. Mittags war an den Spieltischen nicht viel Betrieb und wir wollten schließlich nicht auffallen. Diskret im Hintergrund war unsere Devise. Wenn uns jemand ansprach, gaben wir kurz und knapp, aber freundlich Antwort, jedoch immer mit dem Zusatz, dass wir doch alle auf Dauer verlieren würden. Mit dieser Devise fuhren wir am besten. Die meisten ließen uns danach in Ruhe und den besonders Hartnäckigen gaben wir einfach keine Antwort mehr. Diese zogen dann zwar beleidigt von dannen, aber wir konnten uns wieder voll und ganz auf das Spiel konzentrieren. Denn wenn man mit hoher Stückgröße spielt, zieht man bekanntlich häufig die Aufmerksamkeit der Casinobesucher auf sich. Schon aus diesem Grunde spielten wir immer in verschiedenen Casinos.

Wir holten unsere Badesachen aus unseren Zimmern und begaben uns an den Strand.

Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere. Bei diesem Wind konnte man einfach nicht schlafen. Was würde jetzt die „Rosarote“ machen? Wieso ging sie mir nicht mehr aus dem Kopf? Ein Gedanke jagte den anderen, bis ich aufstand und ein Bad im Meer nahm. Langsam fühlte ich mich besser.

Paul lag im Liegestuhl und las ein Buch. Er las eigentlich immer. Sehr selten ging er ins Meer zum Baden. Nur an diesem Tag war er schon zweimal im Meer. Ich sah auf den Einband seines Buches.

Es war ein Gedichtband eines unbekannteren Autors. Ich ging zu Pierre an die Strandbar, um einen Espresso zu trinken. Er servierte ihn mir in einer rosaroten Tasse. Und schon musste ich wieder an die Spielerin denken, sie ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Das hatte mir noch gefehlt. Hände weg von Leuten, die Probleme bereiten könnten, hatte Paul immer gesagt. Und Paul hatte immer, oder fast immer recht. Noch zwei Stunden hatten wir Zeit. Ich bestellte noch einen Espresso, aber in einer weißen Tasse. Pierre schaute mich etwas verdutzt an, servierte mir aber, um was ich ihn bat. „Probleme?“, fragte Pierre, worauf ich verneinte. Oder hatte Pierre recht, sollte ich mich…aber nein, ein absurder Gedanke, oder? Ich musste auf andere Gedanken kommen und verlangte die Zeitung. Ich konnte mich nicht konzentrieren und ging wieder zurück zu Paul. Dieser lag da und schlief. „Wenigstens er kann schlafen“, dachte ich und legte mich ebenfalls auf meine Liege. Aber ich konnte mich noch so anstrengen, an Schlaf war nicht zu denken. Ich war sichtlich erleichtert, als Paul mich zum Gehen aufforderte und mir den Schlüssel für die Umkleidekabine zuwarf.

In der Nähe des Casinos gab es ein Steakhaus, indem wir etwas zu uns nahmen. Alkohol tranken wir vor dem Spiel nie. Wir hatten unsere Prinzipien und das war eines davon.

„Also dann“, sagte Paul und wir begaben uns auf den Weg ins Casino. Das Casino war heute ordentlich besucht. Wir suchten uns einen Platz zum Sitzen und ich wechselte unser Geld in Jetons um.

Da kam wieder dieses Gefühl in mir auf: Die Empfangshalle des Casinos war in rosarot gestaltet und ich musste unweigerlich an „SIE“ denken. „Bitte, der Herr“, sagte der Kassierer und riss mich unweigerlich aus meinen Gedanken. „Geben Sie mir fünfzig Tausender-Jetons und zwanzig Hunderter“, erwiderte ich und legte ihm 52.000 Francs in Scheinen hin. Ohne eine Miene zu verziehen, gab er mir die gewünschten Jetons. Paul hatte schon die ersten beiden Zahlen notiert, als ich zu ihm trat.

„Wir spielen an Tisch Nr.3“, bemerkte er. „Da spielt übrigens wieder dieser Großkotz“. Ich warf einen flüchtigen Blick in Richtung des Spieltisches. Es war ein Industrieller aus Nizza. Er war ein sehr beleibter, kleiner Mann und immer wenn er spielte, war eine ganze Traube von Menschen um den Tisch herum versammelt. Er gehörte zu der Kategorie Spieler, die den ganzen Tisch mit Jetons zulegten. Da er immer mit 500er-Jetons spielte, erregte er somit große Aufmerksamkeit.

Uns konnte das nur recht sein, so fielen wir nicht auf. Der Nachteil war sicherlich, dass die Zeit zwischen zwei Würfen etwas länger dauerte. Der Dicke war sicherlich im Berufsleben erfolgreich und ein gerissener Geschäftsmann, aber im Spiel war er von allen guten Geistern verlassen. Er war natürlich keine Ausnahme, die Casinos leben von solchen Spielern und indirekt auch wir. Es fiel die „18“. Der Dicke stieß einen wilden Fluch in Richtung des Drehcroupiers aus. Als ob dieser, und nicht der Zufall dafür verantwortlich wäre.

Kopfschüttelnd ging ich zu Paul und teilte ihm die gefallene Zahl mit. Er notierte sie sich, wie immer ohne große Hast. Ich blickte in Richtung Eingang, als ob ich erwartete, dass die „Rosarote“ gleich hereinkommen würde. Aber es kam nur ein älteres Ehepaar, das mit den Händen aufgeregt gestikulierte. „Höchstwahrscheinlich Italiener“, dachte ich.

„Rot“, sagte Paul und riss mich aus meinen Gedanken.

„Jetzt schon?“, bemerkte ich verwundert.

„Ja“, sagte er nur kurz. Ich schritt an den Tisch. Nachdem ich zwei ältere Damen, die das Spiel beobachteten, ein wenig zur Seite gedrängt hatte, setzte ich zehn 1.000er Stücke auf Rot und gab dem Croupier 200 Francs für die Zéro. Der Dicke legt noch eifrig seine Stücke, wobei er anscheinend das letzte Dutzend bevorzugte, denn dort lag eine Unmenge von seinen Jetons. Der Croupier warf die Kugel ab. Es entstand das typische Geräusch, welches man hört, wenn die Kugel im Kessel rollt. „Zéro“, rief der Croupier aus. Der Dicke schnaufte laut und setzte einen wütenden Gesichtsausdruck auf. Obwohl er zwei Stücke auf Zéro gesetzt hatte, ärgerte er sich doch sichtlich. Links neben der Zéro lag die „26“, rechts davon die „32“: mit diesen beiden Zahlen hätte er dagegen einen beachtlichen Gewinn erzielt. So musste er sich mit zwei Stücken auf Plein zufrieden geben. Ich bekam für meine 200 Francs 7.000 Francs ausbezahlt. 200 Francs gab ich dem Croupier für die Angestellten. Wie selbstverständlich nahm er sie entgegen. Nachdem alle Gewinne ausbezahlt waren, ließ ich meinen gesperrten Satz auf Rot teilen. So erhielten die Bank 5.000 Francs und ich 5.000 Francs. Für das nächste Spiel setzte ich wiederum 10.000 Francs auf Rot. Auf der Zéro hatte ich ja noch die 200 Francs liegen, sodass ich diese nicht mehr legen musste.

„Können sie nicht aufpassen?“, herrschte der Dicke eine ältere Dame an, als diese ihn kurz mit dem Arm berührte. Er war wohl mit dem Spiel und mit sich selbst unzufrieden.

„Achtzehn, Rouge, Pair, Manque“, rief der Croupier mit fester Stimme aus. Als ich mit meinem Gewinn zu Paul schritt, hörte ich hinter mir noch immer den Dicken mit den Angestellten diskutieren. Großkotz – das war der richtige Ausdruck für solch einen Spieler.

Das Spiel war für heute beendet. „Gott sei Dank“, dachte ich. Heute einen längeren Kampf und diesen unsympathischen Typen am gleichen Tisch, das wäre nichts für meine Nerven gewesen. Paul ließ so etwas eher kalt. Er nahm es, wie es kam und die Menschen so, wie sie waren. 11.600 Francs betrug heute unser Gewinn. Aber das schönste daran war das bevorstehende Wochenende: ein Wochenende, an dem wir nicht spielen würden und Freizeit hatten – natürlich abseits der Casinos. Paul packte seine Sachen zusammen und wir gingen an die Bar.

„Zwei Cognac“ bitte, sagte Paul zu dem herbeieilenden Barkeeper.

„Cognac?“, sagte ich.

„Ja. Entweder es war das Steak oder der Knoblauch, ich habe so einen Druck im Magen.“

„Aber sonst ist doch hoffentlich alles in Ordnung?“, bemerkte ich.

„Ja, sonst ist alles in Ordnung“, entgegnete mir Paul, jedoch nicht gerade überzeugend. Paul hatte heute Abend noch keine Havanna geraucht. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Ich sagte aber nichts. „Ich habe Mario schon informiert. Er hat für uns zwei Zimmer reserviert.“

Mario war der Besitzer vom Hotel „Nizza“ in San Remo und ein guter Freund von uns. Es war ein eher kleines Hotel, aber ein sehr gemütliches. Seine Frau kochte eine herrliche Pasta. Ich liebte die italienische Küche und die Menschen. Vielleicht lag es auch daran, dass ich die italienische Sprache besser beherrsche als die Französische. Auf alle Fälle kam mir die lockere, ungezwungene Art sehr entgegen.

„Morgen gehe ich zum Friseur, danach in die Sauna, und dann muss ich noch ein paar Hemden kaufen. Am Sonntagabend können wir zu Jacques gehen“, erklärte mir Paul.

„Okay, ich habe am Samstag auch noch einige Einkäufe zu tätigen“, erwiderte ich. Ich tauschte die Jetons um, und wir verließen das Casino.

„Lass uns noch ein Stück zu Fuß gehen“, sagte Paul.

„Na gut, wenn du unbedingt möchtest.“

Paul gefiel mir an diesem Abend wirklich nicht.

Kapitel 2

Am Montag starteten wir gleich in den Morgenstunden. Neben mir saß Paul am Steuer unseres Citroëns. Wir fuhren auf der Autobahn nach San Remo.

„Wir sind gleich da“, bemerkte Paul, als er gerade einen Lastwagen überholte. Ich blickte nur kurz von meiner Zeitung auf. „Hast du noch immer Bauchschmerzen?“, fragte ich ihn.

„Ein wenig, mal stärker, mal schwächer.“

„Paul, mach mir einen Gefallen und konsultiere einen Arzt.“

„Ach Ärzte, die finden immer etwas. Nur wenn man krank ist, können die Geld verdienen“, gab mir Paul zur Antwort.

„Sollte es schlimmer werden, bestehe ich aber darauf“, erwiderte ich.

„Ja, wenn es schlimmer wird, werde ich deinen Rat befolgen“, versuchte mich Paul zu beruhigen.

Wir nahmen die nächste Autobahnausfahrt und konnten von hier oben ganz San Remo überblicken. Die Stadt lag im grellen Sonnenlicht und das Meer schimmerte hell. Es sah eigentlich aus wie immer an solch einem Sonnentag. Langsam fuhr Paul die kurvenreiche Straße hinunter, bis wir unten in die Hauptstraße einbogen. Die Straßen waren stark befahren, wie es nicht anders zu erwarten war. Richtung Innenstadt fahrend, bogen wir kurz vor dem Casino links ab. Das Hotel lag nicht weit vom Casino entfernt. Wir fuhren in den Park, wo wir unser Auto abstellten.

Mario kam uns schon von Weitem entgegen, wie immer mit den Händen gestikulierend.

„Paul, Nicolai, herzlich Willkommen“, gab er begeistert von sich und schüttelte jedem von uns die Hand.

„Schön, dass wir wieder einmal bei dir sein können“, erwiderte Paul ebenso herzlich.

„Ich habe schon von Mamas Pasta geträumt“, schwärmte ich. Mario strahlte über sein sonnengebräuntes Gesicht und strich mit Daumen und Zeigefinger über seinen Oberlippenbart. Seine Figur verriet, dass er auch gerne Mamas Pasta mag.

Lachend gingen wir ins Hotel und begrüßten Marios Frau Marie, die Mario in punkto Figur in nichts nachstand. Sie war die typische italienische Mama mit einer herzlichen, offenen Art und ihre ganze Ausstrahlung war sehr sympathisch.

„Heute Mittag gibt es etwas Besonderes für euch“, sagte sie ohne nähere Angaben zu machen.

„Sicherlich wollt ihr euch erst einmal etwas frisch machen“, gab sie lauthals von sich und überreichte uns die Zimmerschlüssel. „Zimmer 14 und 16, wie immer“, sagte sie und verschwand in Richtung Küche.

Das war sie wieder, die Herzlichkeit, die ich so angenehm empfand. Bevor wir uns auf unsere Zimmer zurückzogen, gab Paul Mario einen Umschlag, in dem sich 100.000 Francs befanden. „Leg das in den Tresor und gebe uns für heute Mittag 15 Millionen Lire. Wir wollen so gegen 17 Uhr das Casino aufsuchen.“

„Nach dem Mittagessen gebe ich euch das Geld“, bemerkte Paul und wir stiegen die Treppe zu unserem Zimmern empor.

Trotz des hervorragenden Essens aß Paul sehr wenig.

„Schmeckt es euch nicht?“, bemerkte Marie, als sie uns das Dessert brachte.

„Vanillepudding mit Karamell, eure Lieblingsspeise“ sagte Marie etwas unsicher und blickte fragend in die Runde.

„Doch es ist wunderbar, nur Paul hat Probleme mit seinem Magen“, gab ich ihr zur Antwort. Erleichtert erhellte sich ihre Miene.

„Soll ich dir einen Magenbitter bringen, Paul?“, fragte sie schnell.

„Nein danke, keinen Alkohol“, sagte Paul und versuchte zu Lächeln.

„Ich lege mich noch eine Stunde aufs Ohr. Wir treffen uns gegen 17 Uhr vor dem Casino“.

„So machen wir’s“, erwiderte ich.

Paul gefiel mir gar nicht. „Vielleicht ist es nur eine vorübergehende Magenverstimmung“, dachte ich und versuchte mich zu beruhigen.

„Den Espresso nehme ich in einem Straßen-Café ein“, sagte ich zu Marie und stand ebenfalls auf.

Auf dem Weg dorthin kaufte ich mir zwei Zeitungen und eine besonders gute Davidoff-Zigarre. Vielleicht konnte ich Paul damit eine kleine Freude machen. Unterhalb des Casinos setzte ich mich in ein Straßen-Café und bestellte mir einen Espresso und ein Aqua Minerale.

Was ist, wenn Paul einmal ausfällt? Solche Gedanken hatte ich mir noch nie gemacht. Und dass, obwohl ich fünfzehn Jahre jünger war.

„Ich sollte mir nicht so viele Sorgen machen“, dachte ich, und vertiefte mich in meine Zeitung.

„Können wir, oder willst du die Zeitung noch zu Ende lesen?“, hörte ich Paul sagen und schaute erschrocken auf.

„Oh, ist es schon 17 Uhr. Selbstverständlich können wir, ich muss nur noch bezahlen.“ Und auf die Zeitung deutend bemerkte ich: „Die Taylor hat…“, weiter kam ich nicht, denn Paul winkte sogleich ab und erwiderte: „Das ist für mich genauso interessant wie wenn in Accapulco die Klotür zuknallt.“

Ich musste unweigerlich lachen. Paul hatte also seinen Humor nicht verloren. Ein gutes Zeichen.

Die Zeitungen ließ ich liegen und wir schritten die Treppen des Casinos empor. Im Speisesaal herrschte schon ein munteres Treiben.

„Ich setze mich auf den Stuhl vor dem Fenster da hinten. Geh du das Geld umwechseln. Wir spielen das Stück mit zwei Million Lire“, wies Paul mich an. Ich wechselte also vierzehn Millionen in vierzehn Stücke zu je einer Million und eine Million in kleinere Stückgrößen um.

Normalerweise musste ich an diesem Tag die Schreibarbeit ausführen. Aber Paul und ich haben uns geeinigt, dass Paul dies übernehmen sollte, bis die Magengeschichte wieder besser wird. Mir war es eigentlich egal und ich ging an den Tischen vorbei zu Paul.

Paul saß da und war in seine Aufzeichnungen vertieft. Ich streckte ihm die gekaufte Davidoff entgegen, die er mit einem Lächeln entgegennahm und sogleich ansteckte. „Danke, Nicolai“, sagte er „wir spielen an dem Tisch vor uns“.

So nach einer halben Stunde kamen wir zu unserem ersten Satz.

Ich legte Rot mit zwei Millionen Lire und die Zéro mit 30.000 Lire. Es kam die „4“ und wir hatten unseren ersten Einsatz verloren. Sechs Zahlen später musste ich wiederum auf Rot legen. Diesmal mit drei Millionen Lire und 50.000 Lire auf Zéro. Die Kugel rollte und fiel in das Fach mit der „8“. Wiederum war es eine schwarze Zahl und wir verloren auch dieses Stück.

„Heute wird es etwas länger dauern“, dachte ich mir und ging zu Paul, um ihm die gefallene Zahl mitzuteilen. Ohne eine Miene zu verziehen, notierte er sich diese. Den dritten Satz mussten wir nach sechzehn weiteren Zahlen tätigen. Diesmal musste ich auf Schwarz setzen. Die Stückgröße ging wieder auf zwei Millionen Lire zurück. Es fiel die „36“ und damit Rot. Wir hatten auch dieses Stück verloren.

„Es können sich jetzt größere Minus-Serien ankündigen, wir spielen ab sofort mit einer Stückgröße von Hunderttausend Lire“, bemerkte Paul und zog leicht an seiner Davidoff. Paul hatte recht. Wir verloren noch zweimal, um mit dem sechsten Satz das erste Mal zu gewinnen.

„Wir bleiben bei dieser Stückgröße“, gab Paul als Anweisung.

Bei einem Jeton-Wert von 100.000 Lire deckten wir die Zéro nicht ab, die prompt beim siebten Satz erschien. Der Satz auf Rot war gesperrt und ging auch verloren, da nach der Zéro die „26“ kam. Wir sollten noch dreimal verlieren, bis wir wieder einen Gewinn mit dem elften Satz hatten.

„Für heute ist es genug, wir brechen das Spiel ab. Morgen ist auch noch ein Tag“, sagte Paul bestimmend. Mir war es recht. Fünf Stunden waren auch genug und es wurde auch langsam Zeit für das Abendessen.

Die Jetons wechselte ich nicht um und so verließen wir das Casino, um in ein Lokal zu gehen, das in einer Nebenstraße lag.

Paul bestellte sich nur einen Salat „Italia“ und ein Mineralwasser. Ich hatte direkt ein schlechtes Gewissen, als ich mir ein kleines Menü aussuchte und dazu eine Flasche Rotwein.

„Du hattest recht mit deiner Vermutung, Paul“, sagte ich.

„Ja“, erwiderte er und machte eine kleine Pause, „es war zu erwarten.“

„Alle, die keine Aufzeichnungen machen und ein paar Tage gewonnen haben, laufen ins offene Messer: Die Spieler, die eine Progression im Verlustfalle verwenden verlieren schneller, die anderen eben langsamer. Das Ergebnis ist aber das gleiche, der Gewinn ist verloren und schließlich auch das eingesetzte Kapital.“

„Ja, das stimmt, manchmal tun sie mir wirklich leid. Sie gewinnen über eine mehr oder weniger längere Strecke und meinen dann, dass sie das unverlierbare System gefunden haben. Wie schrecklich ist dann das Erwachen. Uns ging es früher auch nicht anders. Paul kannst du dich noch erinnern, als wir unser „Unverlierbares“ mit Champagner gefeiert haben und nur drei Tage später kam dann die große Ernüchterung?“.

„Wie könnte ich das vergessen, Nicolai. Wir hatten einen großen Fehler gemacht. Wir haben unser System zu starr gespielt. Und alle Systeme die starr gespielt werden, sind zum Scheitern verurteilt. Ich glaube jedes System ist zum Scheitern verurteilt, weil es keines geben kann. Können wir unser Spiel ein System nennen? Ich glaube nicht. Es ist eine Erkenntnis und eine Philosophie. Man muss es nur zu lesen wissen und mit seiner individuellen Plus-Minus-Kurve leben. Bei den ersten Anzeichen die richtige Entscheidung fällen. Ausdauer und Geduld haben. Aber an erster Stelle steht das Wissen. Wer weiß etwas und vor allen Dingen, wer weiß das Richtige?“

„So ist es. Wenn tausend Spieler im Casino stehen, spielt jeder etwas anderes. Und da es kein System geben kann, so erst recht nicht tausend verschiedene.“

„Im Endeffekt verlieren sie alle“, steigerte sich jetzt Paul richtig in die Diskussion rein. Völlig in Gedanken steckte er sich eine Davidoff an.

„Du wolltest doch nicht mehr rauchen“, merkte ich an und deutete auf seine Zigarre.

„Du hast recht, aber ich war jetzt so in Gedanken vertieft, dass ich es gar nicht bemerkt habe.“ Ich fuhr mit der Diskussion fort: „Du weißt, wer das Werk von Marigny de Grilleau nicht kennt und vor allem wer es nicht versteht, der weiß nichts, aber absolut nichts über das Roulette. Die Erkenntnis, die man aus diesem Buch gewinnt, lässt nur zwei Entscheidungen zu: erstens, man gibt das Spiel sofort auf oder zweitens, man stellt sich der sehr großen Anforderung, die extrem mühsam und zeitaufwendig ist.“ „Richtig“, warf Paul ein, „das Problem, das es zu lösen galt, war es, ob es unmöglich ist, gegen eine Roulette-Maschine anzutreten, die nur einen Vorteil von 1,35% auf den einfachen Chancen hat, und die uns aber dafür die Wahl überlässt, wie hoch wir setzen, wann wir setzen und wann wir das Spiel beenden. Was war es doch für ein Zufall, als wir die richtige Erkenntnis erlangten. Das war das letzte Mosaiksteinchen, das uns noch fehlte. Und hinterher kam es uns so einfach vor. Aber ist nicht alles einfach, wenn man die richtige Erkenntnis hat?“

„Ich habe jetzt die Erkenntnis, dass wir bezahlen und noch etwas die Beine auf der Promenade vertreten sollten“, gab ich Paul zur Antwort.

Frische Luft würde Paul sicherlich gut tun.

Am nächsten Morgen schliefen wir bis 10 Uhr. Wenn ich etwas an Italien auszusetzen hatte, dann war es das Frühstück. Aber Marios Frau wusste, was wir gerne zum Frühstück aßen. Sie brachte zum Kaffee immer Schinken, Käse und ein Ei. Nach dem Frühstück machten wir unsere Hausaufgaben: Wir verbuchten wiederum sämtliche Zahlen vom Vortag.

„Wir müssen die Minus-Serien sich austoben lassen, Nicolai“, bemerkte Paul.

„Spielen wir wieder mit 100.000 Lire?“, erwiderte ich den letzten Schluck Kaffee trinkend.

„Ja“, gab Paul knapp zur Antwort.

Ein langer Sitzungstag war damit vorprogrammiert. Ichwollte gerade aufstehen, als mir Paul zuvorkam.

„Wollen wir noch etwas am Meer spazieren gehen?“, schlug Paul vor.

Heute war es etwas bewölkt und der Wind blies leicht vom Meer her. Draußen tummelten sich etwa eine Handvoll kleine Boote. Es war wenig los am kleinen Strand. Wir zogen unsere Schuhe aus und gingen barfuß durch den Sand, der letztendlich doch mehr Kies war, weshalb wir unsere Schuhe nach ein paar Metern wieder anzogen.

„Wie es aussieht werden wir noch einige Tage in San

Remo verweilen müssen“, bemerkte Paul.

„Ich habe nichts dagegen, ich bin gerne in San Remo“, gab ich ihm zur Antwort.

„Die Minus-Serien sind längst überfällig. Ich hoffe, es erscheinen genügend davon. Da müssen wir jetzt durch, denn es ist nur eine Frage der Zeit bis auch diese Phase vorübergeht“, schlussfolgerte Paul.

„Ist es nicht schizophren? Wir sind froh, wenn Minus-Serien erscheinen. Die meisten Spieler würden uns für verrückt halten. Und was machen wir? Wir frohlocken.“