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Im Dschungel hört dich niemand schreien. Die amerikanische Filmschauspielerin Scarlett Cox und ihr Ehemann, der Hotel-Magnat Salvador Brazza, reisen nach Afrika, um ihre angeschlagene Ehe zu kitten. Als man ihnen kurz darauf das Geld und ihre Pässe raubt, suchen sie in der amerikanischen Botschaft in Dar es Salaam Hilfe – am selben Tag, als die Al Qaeda einen Terroranschlag darauf verüben. Binnen weniger Sekunden werden sie als Geiseln genommen und über die Grenze in den Kongo entführt, eine der letzten wilden Gegenden dieses Planeten. Im Kampf gegen Terroristen, tödliche Wildnis und kannibalistische Rebellen müssen Scarlett und Salvador einen Weg finden, in dieser gewalttätigen und urwüchsigen Umgebung zu überleben. Und die einzige Person, die sie retten könnte, ist der Attentäter, der ausgesandt wurde, sie zu töten … In seiner Romanreihe »Die beängstigendsten Orte der Welt« entführt Jeremy Bates seine Leser an real existierende verfluchte, beängstigende oder berühmt-berüchtigte Schauplätze auf der ganzen Welt, und verbindet den Mythos dieser Orte geschickt mit fiktiven Begebenheiten. Und gerade dieser Bezug zu realen Orten, die der interessierte Leser nach der Lektüre im Prinzip vor Ort selbst erforschen kann, macht diese Romane zu einem Wagnis – oder einem besonderen Vergnügen. Lesen als Grenzerfahrung.
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Seitenzahl: 407
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This Translation is published by arrangement with Jeremy Bates Title: CONGO. All rights reserved. First Published 2021.
Deutsche Erstausgabe Originaltitel: CONGO Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert Übersetzung: Sylvia Pranga
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-837-9
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Verloren hab ich fast den Sinn der Furcht. Es gab `ne Zeit, wo kalter Schaur mich fasste, Wenn der Nachtvogel schrie, das ganze Haupthaar Bei einer schrecklichen Geschicht empor Sich richtete, als wäre Leben drin. Ich hab mich vollgeschluckt mit so viel Grauen. Entsetzen, meinem Mordsinn eng vertraut, Schreckt nun mich nimmermehr.
Will, Macbeth
Donnerstag, 26. Dezember, 17.53 Uhr, 2008
Daressalam, Tansania
Der Attentäter starrte mit ausdruckslosem Gesicht auf den Fernseher im Hotelzimmer.
»Mindestens dreiundzwanzig Menschen wurden bei gleichzeitigen Angriffen auf die Botschaften in Nairobi und Daressalam getötet«, sagte der Nachrichtensprecher in Anzug und Krawatte.
Er stand vor einem Videobild des Logos der Botschaft der Vereinigten Staaten. Auf dem Nachrichtenband war zu lesen: »Eilmeldung.«
»Unser Korrespondent für Afrika, Sebastian Briers, hat die neuesten Nachrichten aus Daressalam. Sebastian, guten Abend.«
Die Kamera sprang zu einem düster blickenden Berichterstatter, der eine Khakihose und ein weißes Leinenhemd trug. »Guten Abend, Cary. Die Angriffe, bei denen offensichtlich Auto- oder Truck-Bomben gezündet wurden, ereigneten sich beide in der Nähe der Tore der Botschaftsanwesen. Es gab, wie du, glaube ich, gesagt hast, bisher dreiundzwanzig Todesopfer. Elf davon hier in Daressalam. Vier waren wahrscheinlich Sicherheitsleute von den Marines, die am Eingangstor stationiert waren. Zeugen berichten, dass sie kurzes Gewehrfeuer gehört haben, gefolgt von einer lauten Explosion, bei der es sich wahrscheinlich um einen Granatenangriff auf das Pförtnerhaus handelte. Dann folgte eine wesentlich lautere Explosion, die man meilenweit hören konnte.« Die Kamera wechselte erneut zu einer wackeligen Videoaufnahme der Botschaft mit schlechter Auflösung. Auf dem Gelände wimmelte es vor Notfallteams. Schwarze Rauchschwaden stiegen in die Luft auf. Der Nachrichtensprecher sagte aus dem Off: »Die Bilder, die Sie sehen, wurden direkt nach dem Angriff mit einem Handy aufgenommen und auf dem Gulf News Sender gezeigt. Doch dies war nicht das erste Mal, dass in diesen beiden Ländern Angriffe auf amerikanische Botschaften verübt wurden. Vor genau zehn Jahren explodierten Bomben in LKW vor …«
Der Attentäter wechselte den Sender.
»… verschiedene Bekennernachrichten sind bereits von Gruppen mit Bezug zu al-Qaida auf Websites von Dschihadisten aufgetaucht. Eine beinhaltete weitere Drohungen gegen amerikanische und britische Einrichtungen in Übersee. Trotz kürzlicher Bemühungen, militante Gruppen zu unterdrücken, sind die heutigen Ereignisse eine grausige Erinnerung daran, dass diese Zellen …«
Klick.
»… obwohl es bisher nicht von offizieller Seite bestätigt wurde, haben wir gerade erfahren, dass die amerikanische Schauspielerin Scarlett Cox und ihr Mann, der amerikanische Milliardär und Hotel-Manager Salvador Brazza, zu den Menschen gehörten, die heute entführt wurden, was eine neue Taktik Al Quaidas zu sein scheint. Sasha, was hältst du von dieser neuen Herangehensweise?«
»Wir können nur spekulieren, Nicole. Doch wenn man sich die Bombenangriffe von 1998 ins Gedächtnis ruft, waren von den über zweihundert Todesopfern zwei Amerikaner. Heutzutage sind Botschaften – besonders diese beiden, die erst vor Kurzem erbaut wurden – so konstruiert, dass sie Bombenexplosionen standhalten. Daher sind die meisten Verletzte Menschen, die auf der Straße vorbeigingen oder Arbeiter, die sich in den Nachbargebäuden befanden. Was wir also hier sehen, scheint, wie du gesagt hast, ein völlig neuer Angriffsplan zu sein. Eine erste Bombe, die so viel Zerstörung und Verwirrung wie möglich verursacht, bevor die Terroristen heranstürmen, um Geiseln zu nehmen.«
»Ein Doppelschlag.«
»Ganz genau. Und man muss auch bedenken, dass es jedes Jahr auf der ganzen Welt hunderte von Terroristenangriffen gibt. Die Medien berichten nur über die schlimmsten ausführlich, und selbst die verschwinden nach ein oder zwei Tagen aus den Nachrichten. Ich meine, erinnert sich noch irgendjemand an den Angriff auf die amerikanische Botschaft in Islamabad letzten Juli? Wenn andererseits Geiseln betroffen sind, wird über die Story berichtet, bis die Situation geklärt ist, so wie wir es im September in Mumbai erlebt haben. Also, ja, ich denke, dass es definitiv eine neue Strategie ist, die wir hier sehen. Und wer immer dafür verantwortlich ist, hat das große Los gezogen. Es gibt kaum zwei prominentere Amerikaner, abgesehen vom Präsidenten und der First Lady.«
»Leider muss ich dir zustimmen. Danke, Sasha. Als Nächstes schalten wir live zu unserer freiberuflichen Korrespondentin Kim Berkhoff, die Informationen darüber hat, was Scarlett Cox und Salvador Brazza überhaupt in der Botschaft in Daressalam gemacht haben …«
Sonntag, 22. Dezember, 13.44 Uhr Los Angeles, Kalifornien, vier Tage zuvor
Wenn Scarlett Cox gewusst hätte, dass sie innerhalb der nächsten sechzig Sekunden eine zwölf Meter lange Schlucht hinunterschlittern würde, hätte sie wahrscheinlich den Sicherheitsgurt angelegt. Allerdings war sie nicht hellsichtig, und sie hatte den weißen Aston Martin Vantage bis auf fünfzig Meilen beschleunigt, fünfzehn Meilen über die Geschwindigkeitsbegrenzung. Sie wusste, dass sie nicht rasen sollte. Sie hatte gerade die Kreuzung mit dem Mulholland Drive passiert, und vor ihr lagen viele Haarnadelkurven und Schlaglöcher. Doch sie fühlte sich hinter dem Lenkrad des Vantage entspannt. Der Verkäufer hatte ihr erzählt, dass es ein Vorderer-Mittelmotor Sportwagen war, was bedeutete, dass sicher der Motor tief hinter der Vorderachse befand, direkt vor der Fahrerkabine, was den Schwerpunkt des Autos tiefer legte und die Handhabung und Bodenhaftung verstärkte. Außerdem hatte sie gerade die Produktion ihres neuesten Films abgeschlossen. Sie fühlte sich gut, befreit. Sie hatte die Tachonadel auf fünfundfünfzig hochgetrieben.
Sie ließ eine Hand am Lenkrad und drehte mit der anderen Magic Carpet Ride von Steppenwolf herunter, das laut im Radio spielte. Gab es eine andere Art, Musik zu hören, wenn das Verdeck heruntergelassen war? Sie tastete in ihrer Handtasche, die auf dem Beifahrersitz stand, nach ihrem Handy. Der Verkäufer hatte ihr auch gesagt, dass der Vantage so ein Bluetooth Ding hatte, das das Signal ihres Telefons mit der Stimmerkennungstechnologie des Autos und den Lautsprechern synchronisieren konnte. Das war zu viel Knight Rider für sie, also checkte sie ihre Sprachnachrichten auf die altmodische und illegale Art: Sie gab Ziffern in das Zahlenfeld des Telefons ein. Die erste war von ihrem Friseur, der ihren Termin um halb drei bestätigte. Tschüss blond, hallo rot, dachte sie. Die anderen beiden waren von Gloria, ihrer Presseagentin, die einige Details wegen der Geburtstagsparty an diesem Abend klären wollte. Der Dreißigste. Himmel. Es schien ihr, dass sie gerade erst ihren Neunundzwanzigsten gefeiert hatte. Sie drückte auf Beenden und warf das Telefon zurück in die Tasche.
Scarlett schlingerte um eine scharfe Kurve und sah, dass sie sehr schnell zu einem schwarzen Pick-up aufschloss. Sie hatte gewusst, dass ihr Glück nicht ewig währen würde. Der Verkehr auf dem Laurel Canyon Boulevard zwischen dem San Fernando Valley und West Hollywood war mitten am Nachmittag nur leicht, aber wenn man in einem Bereich, wo nur fünfunddreißig erlaubt war, fünfundfünfzig fuhr, musste man früher oder später jemanden ins Heck fahren. Sie überlegte, ob sie den Pick-up überholen sollte, aber nur eine Sekunde lang. Die Straße war mit einer durchgezogenen gelben Doppellinie unterteilt. Sie raste vielleicht, wenn sie damit davonkam, aber es gab einige Dinge, mit denen sie sich nicht anlegen wollte: Pitbulls, reizbare Blondinen – echte Blondinen, was auf sie nicht zutraf – und gelbe Doppellinien.
Der Pick-up war ein alter Chevy mit einer langen CB-Antenne, die vom Dach aufragte, und weißen Frauen-Silhouetten in provokanten Posen auf den Schmutzfängern. Auf den beiden Stickern auf der Chrom-Stoßstange stand: »Mein anderes Auto ist ein Hybrid« und »Wenn du meine Spiegel sehen kannst, zeig mir deine Titten!«
Stilvoll.
Scarlett verlangsamte auf vierzig und hielt eine Autolänge Abstand. Wenn sie näher heranfuhr, würde sie sich wahrscheinlich eine Geschlechtskrankheit holen. Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Mann Sal und ihr wurde erschrocken klar, dass sie sich heute Abend seit über einem Monat zu ersten Mal wiedersehen würden. Die Trennungszeit war die Idee ihrer Eheberaterin gewesen. Sie hatte gesagt, dass es ihnen guttun würde. Es würde ihnen eine neue Perspektive auf ihre Beziehung eröffnen. Zugegebenermaßen war es gut für sie gewesen – zumindest war es gut für Scarlett gewesen. Sie hatte Sal immer noch nicht vergeben, was er getan hatte. Doch sie glaubte ihm, als er sagte, dass er fest entschlossen war, ihre Ehe zu retten, und während ihrer Trennungszeit war sie zu dem Fazit gekommen, dass sie sie ebenfalls retten wollte. Es war noch nicht so, wie es zuvor gewesen war, und so würde es wahrscheinlich nie wieder sein, aber sie hatten es vom Eis geschafft und waren jetzt auf dem Weg zu festem Boden.
Die Bremslichter des Chevys leuchteten auf und lenkten Scarletts abschweifende Gedanken auf die Straße zurück. Sie trat auf die Bremse und hielt Abstand. Noch ein Aufleuchten. Sie runzelte die Stirn, verlangsamte aber nicht. Sie waren auf einem relativ geraden Abschnitt der Straße. Dann streckte sich ein sehniger, tätowierter Männerarm aus dem Fahrerfenster. Sein Mittelfinger erhob sich aus der Faust. Scarlett verdrehte die Augen. Nichtsdestotrotz ließ sie sich zurückfallen und dem guten alten Jungen seinen Raum zu lassen.
Der Chevy schlingerte.
Scarlett dachte, dass Bubba ein weiteres Spielchen abzog, aber dann tauchte vor ihr ein riesiges Schlagloch auf. Der Vantage krachte hinein, rüttelte sie auf ihrem Sitz durch und erweckte die Migräne zu neuem Leben, die sich während der letzten Stunde zu einem langsamen, dumpfen Pochen verringert hatte, das sie fast hatte ignorieren können. Sie verzog das Gesicht. Manchmal waren die Migräneanfälle mild und erträglich. Manchmal waren sie so stark, dass sie mit den Zähnen knirschte und sich den Kopf rieb, während sie den Minutenzeiger der Uhr bei seinen Runden beobachtete, als würde so die Zeit irgendwie schneller vergehen. Und manchmal fühlte sie sich dabei, als würde ein kleiner Kobold einen Pressluftbohrer durch ihren Schädel in ihr Hirn treiben und dabei sarkastisch grinsen. Heute war einer der Kobold-mit-Pressluftbohrer-Tage gewesen.
Sie griff wieder in ihre Handtasche und tastete herum, bis sie die Aspirin-Dose fand, die sie aus dem Wohnwagen auf dem CBS-Gelände in Studio City mitgenommen hatte. Sie versuchte, den Deckel mit dem Daumen zu öffnen, aber es gelang ihr nicht. Dann erinnerte sie sich, dass es sich um einer dieser Sicherheitskappen handelte, die Vierjährige davon abhalten sollten, an Aspirin zu gelangen. Sie brachte den Pfeil auf dem Deckel mit dem Pfeil auf der Flasche in eine Linie und versuchte es erneut. Dieses Mal ploppte der Deckel wie ein Feuerwerkskörper ab. Die Tabletten flogen überallhin. Sie fluchte. Wenn es einer dieser Tage war, war es eben einer dieser Tage. Sie sah auf das dreieckige Stück roten Leders zwischen ihren Innenschenkeln hinunter. Zwei weiße Tabletten glitten auf die Einbuchtung zu, die ihr Hintern auf dem Sitz verursachte. Sie griff danach und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße …
Ihre Augen traten hervor. Ihr blieb der Mund offenstehen. Ein lautes, hohles Geräusch erfüllte die Luft, als der Vantage durch die Leitplanke krachte. Sie trampelte auf die Bremse, aber das bewirkte nichts. Unter ihr befand sich keine Straße mehr.
Scarlett hatte das Übelkeit erregende, unnatürliche Gefühl zu fliegen, und den Bruchteil einer Sekunde dachte sie, dass sie träumen musste, denn sie hatte zu viel Angst, um es sofort zu begreifen. Dann neigte sich die Motorhaube des Sportwagens. Der graue Himmel verschwand. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber es kam nichts heraus. Nicht einmal ein Keuchen. Die Furcht hatte ihr die Stimme geraubt.
So würde sie also sterben, bei einem Autounfall, eine Zahl in einer Statistik.
Der Vantage krachte mit unglaublicher Wucht wieder zu Boden und raste wild die Schlucht hinunter, durch Vegetation, die vor ihren Augen verschwamm. Dann teilte sich die grüne Wand plötzlich, und sie sah den schwarzen Stamm eines riesigen Baums.
Aufprall.
Sonntag, 22. Dezember, 9.30 Uhr Dubai, Vereinigte Arabische Emirate
»Es sind zwei Polizisten hier, die Sie sehen wollen, Sir«, informierte Salvador Brazzas Sekretärin Lucy ihn über die Sprechanlage.
»Haben sie gesagt, worum es geht?«
»Nein, Sir. Nur, dass es dringend ist.«
»Schicken Sie sie herein.«
Sal drehte seinen Stuhl mit der hohen Lehne zu Edward Lumpkin herum, einem großen, blassen amerikanischen Anwalt, der die letzten sechs Jahre in Dubai verbracht hatte, und davor vier Jahre im Oman. Sie hatten über die Vorteile eines unentgeltlichen Rechtssystems für zukünftige Hotelgäste diskutiert, die wahrscheinlich ein paar kulturelle Grenzen überschreiten würden, während sie in den Emiraten waren. »Warum bleibst du nicht noch ein paar Minuten, Ed«, sagte er zu dem Anwalt. »Vielleicht brauche ich deinen Rat.«
Die Bürotür öffnete sich, und Lucy führte die beiden Polizisten hinein. Sal und Lumpkin standen auf. Der größere Mann stellte sich als Brigadier Khaled Al Zafein vor, stellvertretender Direktor der Abteilung für strafrechtliche Sicherheit. Er war formell mit einer Schirmmütze und einer hellbraunen Uniform mit Rangabzeichen am Hemdkragen und einer roten Binde, die unter den linken Arm und durch die linke Epaulette geschlungen war, gekleidet. Der kleine, dicke Mann sagte, dass er Inspektor Abu Al Marri sei. Sein Barett saß verwegen schief, und auf seinem hässlichen Mondgesicht lag ein listiges Lächeln. Sal mochte ihn auf Anhieb nicht. »Was verschafft mir die Ehre, meine Herren?«, fragte er, ohne ihnen einen Platz anzubieten.
»Ich fürchte, dass wir ziemlich beunruhigende Nachrichten haben, Mr. Brazza«, sagte Al Zafein in fließendem britischem Englisch. »Es geht um den Brand, den es vor ein paar Wochen im Prince Hotel gegeben hat.«
Sal runzelte die Stirn. »Ich habe schon mit den Brandermittlern gesprochen.«
»Ja, natürlich. Allerdings haben sich die Umstände geändert. Es sind neue Hinweise aufgetaucht, die uns vermuten lassen, dass der Brand vielleicht nicht durch fehlerhafte Verkabelung entstanden ist, wie wir zuerst glaubten.« Er machte eine Pause. »Wir denken jetzt, dass jemand absichtlich das Feuer gelegt hat.«
»Brandstiftung?«, sagte Sal und konnte seine Überraschung nicht verbergen. »Wovon reden sie?«
Al Marri sprach ebenso fließend Englisch wie sein Vorgesetzter: »Lassen Sie mich damit anfangen, Mr. Brazza, dass Brandstiftung eines der am einfachsten zu begehenden Verbrechen ist, aber am schwierigsten zu erkennen und zu beweisen ist.«
»Verzeihen Sie mir meine Offenheit, Inspektor«, sagte Sal, »aber ich brauche keinen Unterricht in Brandstiftung.«
»Bitte, Sir, würden Sie mir eine Erklärung erlauben?« Er lächelte entschuldigend. »Allgemein gesprochen, beginnen die Ermittler ihre Untersuchung eines Brandes in einem v-förmigen Muster, von dem Bereich mit dem geringsten Schaden zu dem mit dem größten Schaden, wo gewöhnlich das Feuer angefangen hat – und das ist im Fall Ihres Hotels das Zimmer 6906, wo sich in der Wand um die Steckdose herum die vermeintlich fehlerhafte Verkabelung befand.«
»Das ist mir alles bewusst. Wie ich bereits sagte, habe ich schon mit den Brandermittlern gesprochen.«
»Bitte, Sir?« Al Marri schenkte ihm erneut sein geübtes Lächeln. Es zwängte seinen dicken Schnurrbart zwischen Oberlippe und Nase ein, wodurch der Schnurrbart wie eine fette, schwarze Nacktschnecke aussah.
»Ich sagte, dass der Bereich mit dem größten Schaden gewöhnlich der Ursprung des Feuers ist. Doch das ist nicht immer der Fall. Viele Faktoren können die Dynamik eines Feuers verändern. Beispielsweise die Belüftung. Oder der vorhandene Brennstoff. Oder die einmaligen Eigenschaften der Umgebung. Selbst das Wasser und der Löschschaum, den die Feuerwehrmänner benutzen, kann die Interpretation des typischen Brandmusters verwirren. In vielen Fällen – so auch bei Zimmer 6906 – kann das Feuer das Stadium nach dem Übersprung erreichen, wodurch es heiß genug wird, dass es wichtige Beweismittel zerstören und Effekte hervorrufen kann, die sonst von brennbaren Flüssigkeiten hervorgerufen werden, so wie verkohlte Muster auf dem Unterboden und Abplatzungen. Warum erzähle ich das alles?« Er öffnete die kleinen, gepflegten Hände, als würde er beten. »Wir haben vor Kurzem erfahren, dass einer der ersten Feuerwehrmänner, die durch die Tür kamen, behauptete, dass er in der Nähe der betreffenden Steckdose schwarzen Rauch gesehen habe. Das Holz und die meisten anderen brennbaren Sachen in Zimmer 6906 verbrennen mit braungrauem Rauch. Beschleuniger – einschließlich Chemikalien mit niedrigen Zündtemperaturen wie Benzin, Kerosin und Alkohol – verbrennen schwarz. Im Licht dieser neuen Information waren die Ermittler gezwungen, die Beweismittel ein zweites Mal zu prüfen. Sie verwarfen ihr ursprüngliches Ergebnis einer fehlerhaften Verkabelung zugunsten der Theorie, dass jemand versucht hat, es wie einen Kabelbrand aussehen zu lassen.«
Sal nahm sich ein paar Sekunden, um diese Information zu verarbeiten, eine Art verzögerte Verwirrung durchflutete ihn. »Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Warum sollte jemand ein Feuer legen? Das Hotel war – und ist immer noch – leerstehend. Warum sollte jemand es niederbrennen wollen?«
»Ihrer Aussage nach«, sagte Al Marri, »waren nicht alle Zimmer unbewohnt.«
»Natürlich waren sie das …« Sal schloss den Mund. Das Hotel war nicht völlig leerstehend gewesen. Er hatte fast den gesamten Dezember dort gewohnt, in der Royal Suite, die sich im siebzigsten Stock befand, genau über Zimmer 6906. In der Nacht des Feuers hatte der Alarm ihn um 4:12 Uhr morgens geweckt. Nachdem er sich angezogen hatte, war das Treppenhaus voller Rauch gewesen. Er konnte nicht nach unten, also ging er aufs Dach hinauf. Fünfzehn Minuten später holte ihn sein Ex-Mossad Sicherheitschef Danny Zafir mit einem Hubschrauber aus dieser Hölle. Aus der Luft hatte er einen klaren Ausblick auf die Feuersbrunst, die zu diesem Zeitpunkt die beiden obersten Stockwerke zerstört hatte, ebenso wie das dreißig Meter hohe Schild mit dem Hotelnamen. Wenn Danny nur ein paar Minuten später gekommen wäre, hätte er wahrscheinlich nicht überlebt.
»Sie wollen mir also erzählen, dass jemand versucht hat, mich umzubringen, Inspektor?« Sal schüttelte den Kopf. »Verzeihen Sie mir meine Skepsis, meine Herren. Ich finde das extrem schwierig zu glauben.«
»Wir haben das Motiv des finanziellen Gewinns bereits ausgeschlossen«, sagte Al Marri. »Es bleiben willkürliche Gewalt, Pyro-Terrorismus oder Rache.«
»Kennen Sie irgendjemanden, der sich an Ihnen rächen will, Mr. Brazza?«, fragte Al Zafein.
»Mir liegt es nicht, zu spekulieren, Mr. Zafein.«
»Sie sollten wissen, Sir«, fügte Al Marri ernst hinzu, »dass dies zu einer Ermittlung in einem versuchten Mordfall geworden ist. Es wäre im Interesse aller, wenn wir den Fall lösen.«
»Ich bin kein Ganove, Inspektor. Und ich mache auch nicht gemeinsames Spiel mit Kriminellen.«
Al Marri warf dem stellvertretenden Direktor einen kurzen Blick zu und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder Sal zu. »Ich bin sicher, dass sie ein vielbeschäftigter Mann sind, Sir.« Er reichte Sal eine Visitenkarte. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, irgendetwas, zögern Sie bitte nicht, Kontakt mit mir aufzunehmen.«
Die beiden Polizisten gingen.
Edward Lumpkin verschränkte die dünnen Arme vor der Brust, seine Miene war nachdenklich. »Himmel, Sal. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Wird das irgendeine Auswirkung auf die Eröffnung des Hotels haben?«
»Schwierig zu sagen, aber ich würde die Reservierungen ein paar Wochen nach der Inbetriebnahme im Auge behalten. Ein versuchter Mord im Hotel könnte möglicherweise viele Familien abschrecken. Zum Glück ist das nicht unsere Kernzielgruppe.«
»Das wird ein verfluchter Zirkus werden.«
»Ich habe gehört, was du den Cops gesagt hast, Sal. Aber sei offen zu mir. Kannst du dir irgendjemanden vorstellen, der ein Hühnchen mit dir zu rupfen hat?«
»Jeder hat Feinde, Ed.«
»Aber auch jemand, der es so ernst meint, dass er dich tot sehen will?«
Sal antwortete nicht.
»Könnte es etwas mit der Gewerkschaft zu tun haben?«, fragte Lumpkin plötzlich.
Als Sal letzten Sommer gewerkschaftsfrei mit dem Prinzen gearbeitet hatte, hatten die Arbeiter gestreikt und er hatte Todesdrohungen bekommen. Jemand hatte gedroht, die After Texas, seine sechzig Millionen teure, fünfzig Meter lange Jacht, die im Segelklub angedockt lag, in die Luft zu jagen, während ein anderer ihm versprochen hatte, ihm die Augen auszustechen, während er schlief.
»Diese Gewerkschaftler reden nur«, sagte Sal einfach. »Doch sie sind weder geneigt noch fähig, so etwas durchzuziehen.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn du mich entschuldigst, Ed, ich muss ein paar Anrufe machen. Schreib auf, worüber wir diskutiert haben, und wir treffen uns nächste Woche wieder.«
Als Lumpkin gegangen war, rief Sal seinen Sicherheitschef Danny Zamir an und fasste die vorangegangenen zwanzig Minuten zusammen. »Ich will, dass du alles herausfindest, was du nur kannst«, schloss er. »Verstanden?«
»Ja, Chef«, sagte Danny. »Verstanden.«
Sal legte auf und sah aus der Fensterfront auf Dubais Business Bay, das neueste Multi-Millionen-Dollar Projekt des Stadtstaates. Während er zusah, wie ein Kran auf einem hochstrebenden Wolkenkratzer nach Osten schwang, dachte er über all das nach, was die Cops ihm erzählt hatten.
Jemand wollte ihn tot sehen.
Die Sprechanlage auf seinem Schreibtisch summte. Er drückte auf den Sprechknopf. »Was gibt es, Lucy?«
»Das Auto wartet, das Sie zum Flughafen bringen soll.«
»Gut.«
Er streifte seinen Blazer über, nahm seine Aktentasche und verließ das Büro. Er konnte es plötzlich kaum erwarten, aus Dubai herauszukommen.
Scarlett öffnete die Augen. Helligkeit. Gott, es war so hell, dass es wehtat. Sie versuchte herauszufinden, wo sie war, aber ihre Gedanken waren benommen und nicht gerade kooperativ. Sie roch einen Anflug von Desinfektionsmittel und Jod, und dann konnte sie Formen erkennen. Sie lag auf dem Rücken in einem Bett – ein mechanisches Bett mit Seitengeländer, sodass man nicht herausfiel. Neben ihr stand ein Monitor, der ihren Blutdruck anzeigte, und ein Infusionsständer. Ein Schlauch führte von dem Beutel, der an dem Ständer hing, zu einer Nadel, die in einer Vene in ihrem rechten Unterarm verschwand.
Okay, sie war also in einem Krankenhaus. Und es schien ein sehr schönes Krankenhaus zu sein, was man an dem gebohnerten Laminatboden, den hochglänzenden Ahornholzwänden und dem Fernseher mit dem großen Bildschirm erkannte. Selbst das Leinen-Bettzeug war von hoher Qualität. Die Tür zum Bad war nur angelehnt, und sie konnte glänzende blaue und graue Fliesen sehen, noch mehr Ahorn und Oberflächen aus künstlichem Granit. Auf dem Beistelltisch waren keine Blumen oder Karten. Sie ging davon aus, dass das zweierlei bedeuten konnte. Sie war gerade erst eingeliefert worden und niemand hatte Wind davon bekommen, was auch immer ihr widerfahren war. Oder sie hatte eine höllisch lange Zeit im Koma gelegen, und alle hatte sie längst aufgegeben.
Scarlett wackelte mit den Zehen. Sie bewegten sich. Sie hob eine Hand zu ihrem Kopf und spürte einen Verband, den ihre Finger erkundeten. Eine Stelle in der Mitte ihrer Stirn tat weh und war empfindlich. Was war passiert? Hatte man sie ausgeraubt? Auf sie geschossen? Auf sie eingestochen? Hatte sie einen Autounfall …?
Sie erinnerte sich mit einer Flut von Bildern: der Laurel Canyon Boulevard, das Durchbrechen der Leitplanke, wie sich ihr der Magen umgedreht hatte und sie dem Boden entgegengestürzt war. Sie erinnerte sich an die krachende Landung, wie sie wild und außer Kontrolle die Schlucht hinuntergerumpelt war, der Baum …
Aber ich lebe.
Die Zimmertür öffnete sich, und Sal kam mit gesenktem Kopf herein. Sein Blick klebte an einer Story auf den Seiten des Wall Street Journal. Als sie ihn sah, empfand Scarlett einen Ausbruch von Dankbarkeit und Zuneigung. Er war hier, zurück aus Dubai. Wenn sie die Kraft dazu gehabt hätte, wäre sie aufgesprungen und hätte ihn umarmt.
Er trug ein frisches weißes Hemd und einen dunkelblauen Anzug aus Merino-Wolle, einer dieser Maßgeschneiderten von William Fioravanti in Manhattan, zu dem man nur mit einem Termin kam. Es war etwas, das Al Capone gefallen hätte, wenn er heute noch leben würde. Tatsächlich scherzte sie oft, dass Sal einem italienischen Gangster ähnelte. Er hatte kurzgeschnittenes schwarzes Haar, dunkelbraune Augen und eine scharfe römische Nase. Und er war Sizilianer, was dem Ganzen die Krone aufsetzte.
»Scarlett!«, sagte er, warf die Zeitung auf einen der Ledersessel und eilte zu ihr. Er kniete sich neben das Bett und nahm ihre Hand. »La mia bella donna.«
Nachdem sie so lange voneinander getrennt gewesen waren, trafen das Gefühl seiner Berührung, der Klang seiner Stimme und der Duft seines Rasierwassers sie wie ein Lastwagen, der die Spinnweben in ihrem Kopf zerriss, und ihr wurde plötzlich bewusst, wie kurz sie davor gewesen war, all diese Empfindungen nie wieder zu erleben. Sie hatte einen Autounfall gehabt, der schlimm genug gewesen war, um sie bewusstlos werden und in einem Krankenhaus landen zu lassen. Sie fühlte sich sehr zerbrechlich. Das Leben fühlte sich sehr zerbrechlich an.
»Ist das alles, was ich für dich bin?«, zog sie ihn auf und war glücklich, festzustellen, dass sie sprechen konnte. »Schön?« Ihr Hals war trocken. Die Worte waren wie ein raschelndes Flüstern.
»Was sonst ist eine Schauspielerin als ein hübsches Gesicht zum Anschauen?«
Sie wollte lachen, aber stattdessen entschlüpfte ihr ein Schluchzen. Eine Träne lief ihre Wange hinunter. »Sal …« Sie schluckte und versuchte, Speichel zu sammeln. »Es tut mir leid.«
»Was denn?«
Sie wusste es nicht. Dass sie gerast war? Dass sie nicht auf die Straße geachtet hatte? Dass sie all diese schrecklichen Dinge zu ihm gesagt hatte, nachdem sie von seiner Affäre erfahren hatte? Sie schüttelte den Kopf.
»Wie fühlst du dich?«, fragte er.
»Benommen. Aber okay, denke ich. Bin ich okay?«
»Dir geht es gut.«
Erleichterung durchflutete sie, etwas in ihrer Brust, das sich sehr fest zusammengezogen hatte, löste sich. »Was ist hiermit?« Sie berührte den Verband um ihren Kopf.
»Das ist nur eine Beule.«
»Wie lange bin ich schon hier? Wie viel Uhr ist es?« Sie sah zum Fenster hinüber. Die Vorhänge waren zugezogen. Kein Sonnenlicht kam durch die Lücke.
»Du bist heute Nachmittag eingeliefert worden. Jetzt ist es fast Mitternacht.«
Weniger als zwölf Stunden. Nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. »Wie lange bist du hier?«
»Ein paar Stunden. Ich wäre früher gekommen, aber wir sind über dem Atlantik in schlechtes Wetter geraten und mussten einen Umweg fliegen.«
Scarlett runzelte die Stirn. Irgendetwas entging ihr hier. Etwas, das damit zu tun hatte, dass Sal zurück nach Los Angeles gekommen war, er kam wegen …
»Mein Geburtstag!«, sagte sie. »Die Party!«
»Mach dir deswegen keine Gedanken. Gloria kümmert sich darum.«
Scarlett stöhnte. Ihr eigentlicher Geburtstag war neun Tage zuvor gewesen, am dreizehnten Dezember. Doch wegen der Filmaufnahmen hatte sie die Feier auf heute verschoben. Normalerweise machte sie wegen Geburtstagen keinen Aufstand, aber dieser, der dreißigste, war ein großer Tag, ähnlich wichtig wie der sechzehnte und der einundzwanzigste, der letzte große Spaß, bevor man anfing, seine Geburtstage zu fürchten. Über zweihundert Einladungen waren verschickt worden. Jeder Schauspieler, der es in den letzten sechs Monaten in die Schlagzeilen geschafft hatte, wäre da gewesen – nicht zu reden von Produzenten von HBO, Castle Rock Warner und allen anderen großen Studios. Sal hatte den Bürgermeister von Los Angeles eingeladen und den ehemaligen Vizepräsidenten, die beide zu seinen engen Freunden zählten. Die Who’s Who-Gästeliste wurde von einem Boulevardblatt abgerundet, das zwei Millionen Dollar dafür gezahlt hatte, das Event fotografieren zu dürfen. Das Geld sollte einer ihrer Wohltätigkeitsorganisationen zugutekommen.
»Ich bin so eine Idiotin«, sagte sie, schüttelte den Kopf und bereute es sofort, als hinter dem Verband Schmerz aufflammte. Sie legte eine Hand auf die schmerzende Stelle. »Ich habe alles ruiniert.«
Die Zimmertür öffnete sich erneut. Dieses Mal kam ein Arzt in den Fünfzigern mit einem ergrauenden Bart und einem Pferdeschwanz herein. Scarlett hatte natürlich schon viele Männer mit Pferdeschwanz gesehen. Nur noch nie einen Arzt. Sie war nicht sicher, was sie davon halten sollte. Es war, als würde ihr Arzt Tätowierungen haben – oder, noch schlimmer, eine Fliege.
»Hallo Bill«, sagte Sal, stand auf und schüttelte dem Arzt die Hand. »Scarlett, das ist Dr. Blair, der Neurologe, der dich untersucht hat, als du eingeliefert worden bist.«
»Willkommen im Cedar-Sinai, Miss Cox«, sagte er und trat an ihr Bett.
»Cedars? Ich dachte, ich wäre im Beverly Hilton.«
»Nicht jeder bekommt ein Privatzimmer, Miss Cox. Sie können Ihrem Mann danken, dass er das für Sie arrangiert hat.« Er nahm das Klemmbrett von der linken in die rechte Hand. »Ich bin sicher, dass Sie den Verband um Ihren Kopf bemerkt haben. Sie haben sich bei dem Unfall den Kopf ziemlich hart gestoßen – zumindest hart genug, um mehrere Stunden ohnmächtig zu sein. Ihre Stirn wird wahrscheinlich noch einige Tage wehtun. Aber, wie ich schon Ihrem Mann sagte, zeigen die Röntgenaufnahmen und das CT nichts. Keine Frakturen oder Hämatome, was sehr gut ist. Wie fühlen Sie sich?«
»Etwas benommen«, sagte sie.
»Ist Ihnen schwindelig oder schlecht?«
»Jetzt nicht.«
»Im Gegensatz zu?«
»Heute Morgen. Ich leide unter Migräne.«
Er notierte sich etwas auf dem Klemmbrett. »Wie oft haben Sie Migräne?«
»Mehrmals in der Woche.«
»Wie lange haben Sie das schon?«
»Seit ein paar Monaten.«
Noch mehr Notizen. »Haben Sie Ihre Ernährung verändert? Oder Ihre Schlafgewohnheiten?«
»Nein.«
»Trinken Sie mehr Kaffee oder Alkohol als gewöhnlich?«
»Nein, nein. Daran liegt es nicht. Es ist nur Stress. Von der Arbeit – und anderen Dingen. In letzter Zeit war mein Leben etwas hektisch.«
Dr. Blair nickte, sagte aber erst einmal nichts dazu. Scarlett fragte sich, ob er von ihren und Sals Eheproblemen wusste. Gott wusste, dass die Affäre auf den Unterhaltungssendern des Fernsehens zu Tode bis zum Abwinken durchgekaut worden war, einschließlich einiger seriöser Nachrichtensender. Nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte, wenn er es wusste. Ihr war schon lange egal, als die allgemeine Öffentlichkeit über ihr Privatleben dachte. »Willkommen im Dschungel«, hatte ihre Agentin vor sechs Jahren zu ihr gesagt, als sie nach ihrem ersten großen Filmerfolg noch blauäugig gewesen war.
Dr. Blair fragte: »Ist Ihnen jetzt übel?«
»Nein.«
»Können Sie Ihre Nase berühren?«
Sie tat, um was er sie gebeten hatte.
Er hielt einen Finger vor ihr Gesicht. »Folgen Sie meinem Finger, bitte.« Er bewegte den Zeigefinger zuerst nach links, dann nach rechts. »Ist Ihre Sicht verschwommen?«
Sie schüttelte den Kopf.
Er richtete sich auf. »Offenbar haben Sie keine Symptome, die auf eine Gehirnerschütterung hinweisen. Aber ich würde Sie gerne zur Beobachtung über Nacht hierbehalten. Ich glaube, die Polizei will Sie auch befragen. Danach, morgen früh, sollten Sie entlassen werden können. Ich möchte allerdings«, fügte er hinzu, »dass Sie es langsam angehen lassen. Das heißt, die nächsten sieben bis zehn Tage nichts Stressiges. Verstanden?«
»Unmöglich«, sagte sie. »Ich habe zu viel zu tun.« Ihre Gedanken wanderten bereits voraus zum Wochenende. Zu den Anrufen und Entschuldigungen, die vor ihr lagen. Sie musste den Veranstaltungsort für die Party neu buchen, frische Einladungen verschicken, dann am Montag ihr Auftritt bei Good Morning America …
»Miss Cox«, sagte Dr. Blair. »Sie haben es doch selbst gesagt. Sie glauben, dass Ihre Migräneanfälle in letzter Zeit durch Stress ausgelöst wurden. Das klingt einleuchtend für mich. Außerdem haben Sie gerade einen schweren Autounfall gehabt. Sie haben ein leichtes bis mittelschweres Hirntrauma erlitten. Es stimmt, dass es Ihnen gutzugehen scheint. Aber man sollte jede Art von Schädelhirntrauma ernst nehmen. Nur weil Sie im Augenblick keine Symptome zeigen, heißt es nicht, dass sie nicht morgen oder übermorgen auftreten können. Und das Beste, um das zu verhindern, ist, dass Sie eine Pause machen, sich entspannen und alles langsamer angehen.«
»Ich glaube nicht …«
»Ich behalte sie im Auge«, unterbrach Sal sie.
»Das wäre das Beste. Jetzt muss ich meine Visite fortsetzen. Gleich kommt eine Krankenschwester.«
Sie bedankten sich bei Dr. Blair, und er verließ das Zimmer.
Scarlett sah Sal skeptisch an. »Du denkst nicht wirklich, dass ich eine Woche lang im Haus rumsitzen muss, oder?«
»Du hast den Mann gehört, Cara Mia. Du musst dich entspannen. Was immer du zu tun hast, kann warten.« Er nahm ihre Hand wieder in seine und rieb mit dem Daumen über ihren Handrücken. »Es ist schön, dich zu sehen.«
Sie wollte ihm dasselbe sagen, verkniff es sich aber. Sie wollte ihre Dankbarkeit, den Autounfall überlebt zu haben, nicht mit ihren immer noch unsicheren Gefühlen für ihn vermischen.
Unfähig, ihm in die Augen zu sehen, blickte sie auf seine Hand hinunter, die ihre hielt. Sie war gebräunt, maskulin, hatte manikürte Nägel, und am Ringfinger steckte der Ehering aus Platin.
»Hör zu«, sagte Sal und räusperte sich. »Wie wäre es, wenn wir irgendwohin verreisen?«
Scarlett hob überrascht die Brauen. »Du meinst, nur du und ich?«
»Klar«, sagte er und schob die Unterlippe vor. Wenn Lippen die Schultern zucken könnten, würde es so aussehen.
»Ich glaube nicht, dass das momentan so eine gute Idee ist, Sal.«
»Ich habe es so gemeint, als ich gesagt habe, dass ich das durchstehen will. Ich will, dass diese Ehe funktioniert.«
»Ich will auch, dass sie funktioniert, wirklich, aber ich glaube nicht, dass der nächste Schritt eine gemeinsame Reise ist.«
»Doch, das ist es«, beharrte er. »Es ist genau das, was wir brauchen.«
Sie blickte ihm prüfend in die Augen. »Was ist mit dem Hotel?«, fragte sie vorsichtig. »Die Eröffnung?«
»Ich hätte ja mein Telefon dabei. Ich bleibe mit dem Büro in Kontakt.«
»Ich weiß nicht …«
»Es wäre gut für dich.«
»Dann mach es mir schmackhaft. Was stellst du dir vor?«
Er zuckte mit den Schultern. »Etwas Abgeschiedenes, weg von den ganzen Leuten.«
»Die Karibik?«
»Und dann an einem Strand rumliegen?«
»Und?«
»Wie wäre es mit einer Safari?«, schlug er vor.
Sie war überrascht. »In Afrika?«
»Dubai liegt relativ nah an Kenia oder Tansania. Wenn es einen Notfall gibt und ich aus irgendeinem Grund zurückmuss, ist es nur ein kurzer Flug. Du könntest mitkommen. Dir das Hotel ansehen. Die Umzugshelfer und Innendekorateure werden diese Woche fertig.«
Scarlett dachte darüber nach. In ihrem Kopf sah sie einen Akazienbaum, der sich vor einem saphirfarbenen Sonnenuntergang abhob. Giraffen, Zebras und Elefanten versammelten sich um ein Wasserloch. Antilopen grasten auf der Savanne. Ein elegantes Urlaubsresort in der Wildnis und Zeltplätze. Es klang nett. Sie konnte fast Elton John Circle of Life singen hören.
»In Ordnung«, sagte sie, denn die Vorstellung gefiel ihr langsam. »Ich bin dabei.«
Montag, 23. Dezember, 23:11 Uhr London, England
Wie der Teufel war der Fugu unter vielen Namen bekannt – Kugelfisch, Igelfisch, Ballonfisch, Krötenfisch und andere. Er war das zweitgiftigste Wirbeltier der Welt und schwierig zu verarbeiten, weil sein Nervengift zehntausendmal tödlicher war als Zyanid. Wenn es in den Verdauungstrakt gelangte, machte das Gift Lippen und Zunge taub, rief Erbrechen und Muskellähmung hervor und führte schließlich zu Tod durch Ersticken. Wenn man irgendwie überlebte, war das Risiko hoch, dass man in ein langes Koma fiel und sich dabei grausam alles bewusst war, was um einen herum passierte, eine Art Hölle auf Erden.
Der Ire Damien Fitzgerald hatte einen solchen Fugu auf dem Schneidbrett in der Küche, kalt und tot. Er griff nach dem, was die Japaner fugu hiki nannten – ein dünnes, einschneidiges Karbonmesser – und entfernte die Augen. Er schnitt einen Kreis um das Maul herum, schob die Finger in den Einschnitt und zog die Haut zurück. Sie löste sich sauber, wie die Schale eines hartgekochten Eis. Eine gallertartige Substanz bedeckte das freigelegte Fleisch. Er entfernte sie mit Wasser und Salz. Das Mistvieh auszunehmen, war der schwierige Teil. Das meiste Nervengift war in der Leber und den Eierstöcken enthalten. Wenn man eins dieser Organe beschädigte, drang das Gift durch deine Haut in dein Fleisch ein. Ganz langsam, mit der Genauigkeit und Geschicklichkeit eines Chirurgen, entfernte er die inneren Organe und filetierte, was vom Fleisch übrigblieb, in dünne Streifen, wobei er nach oben gegen den Knochen schnitt. Danach legte er das Sashimi auf einen Teller und goss sich ein Glas 96er Domaine Laroche Chablis ein. Bevor er sich jedoch setzen und sein Abendessen genießen konnte, piepste sein Computer.
Fitzgerald warf sich ein Fischstück in den Mund – es war gallertartig, schmeckte aber nicht fischig – und ging ins Arbeitszimmer, wo ein vom Boden bis zur Decke reichendes Bücherregal mit tausenden Büchern über die Geschichte der Kriegsführung gefüllt war. Er arbeitete sich chronologisch durch die Jahrhunderte, ein Hobby, mit dem er vor neun Jahren angefangen hatte, kurz nachdem seine Frau und seine achtjährige Tochter brutal ermordet worden waren. Er hatte mit der Schlacht von Megiddo 1469 vor Christus angefangen – oder vor der Zeitrechnung, wenn man politisch korrekt sein wollte – und beschäftigte sich momentan mit der Schlacht von Talasa 751 AD, ein Konflikt zwischen den Arabern und Chinesen, bei dem es um die Kontrolle über einen wichtigen Fluss in Zentralasien ging. Die Chinesen verloren, was schade für sie war. Wenn sie gewonnen hätten, wäre Zentralasien heute wohl chinesisch statt muslimisch.
Der Computer, ein MacBook, stand auf einem Schreibtisch in der Ecke. Er setzte sich davor und loggte sich in eine spezielle, verschlüsselte Software. Er hatte eine neue E-Mail:
Wie geht es meinem Lieblingsattentäter, Redstone? Falls du nicht auf dem Laufenden bist, das FBI weiß immer noch einen Scheißdreck über deinen letzten Job. Sie wissen nur, dass der Mörder Slipper in Größe 46 trägt. Tritt das nächste Mal nicht in das verdammte Blut, okay? Sieh dir den Anhang an, wie üblich. Es gibt gute und schlechte Neuigkeiten. Die schlechte Nachricht – der erste Kerl, den wir geschickt haben, hat es versaut, also musst du es aufräumen. Die gute Nachricht – das Ziel reist für einige Tage nach Afrika, wenn du schnell bist, sollte es das etwas einfacher machen als üblich. In Afrika passiert nun mal Scheiße, nicht wahr?
Viel Glück, Gott schütze dich, M.
Fitzgerald verbrachte die nächsten paar Stunden damit, die Informationen durchzugehen, die ihm geschickt worden waren. Dann buchte er den ersten Flug nach Tansania am folgenden Morgen.
Dienstag, 24. Dezember, 10:01 Uhr Arusha, Tansania
»Wann soll ich Sie abholen?«, fragte der Reiseführer, ein gebürtiger Sansibarer. Er war klein, kahlköpfig, lächelte viel und kleidete sich genauso, wie Scarlett es sich bei einem Safariführer vorstellte. Khaki-Shorts, eine olivfarbene Weste mit bestimmt zwanzig Taschen und ein Busch-Hut aus Drillich. Er hatte Scarlett und Sal vor vierzig Minuten am Kilimandscharo International Airport getroffen und sie dann nach Arusha gefahren, der erste und letzte Halt von relevanter Größe, bevor sie die Hütte über der Kaldera des Vulkans erreichten.
»Kommen Sie in einer Stunde zurück«, sagte Sal zu ihm.
Nachdem der Reiseführer den großen Land Rover wieder in den Verkehr eingefädelt hatte, wurden Sal und Scarlett sofort von einem Dutzend Männer umlagert, die alle die billigste Safari-Rucksacktour der Stadt anpriesen. Sie erklärten immer wieder, dass sie nicht interessiert seien. Die Straßenhändler waren zum Teil hartnäckig und verärgert, gaben aber schließlich auf.
»Guter Gott«, sagte Sal und zupfte seinen Blazer zurecht.
»So machen sie es nun mal«, sagte Scarlett.
»Das ist barbarisch.« Er beschattete seine Augen mit einer Hand gegen die Morgensonne. »Hier in der Nähe sollte es einen Supermarkt geben. Ich kaufe die Vorräte. Warum siehst du dich nicht um und wir treffen uns in etwa dreißig Minuten wieder hier?«
Scarlett war einverstanden, und Sal ging, wobei er eine neue Gruppe Geier verscheuchte, die sich auf ihn stürzte. Scarlett nahm sich einen Augenblick, um sich zu orientieren. Sie stand vor einem weiß getünchten Glockenturm, umgeben von dröhnenden Lastern, Taxis und einem wilden Durcheinander von Einheimischen und Touristen in Khakikleidung. Auf der Fahrt in die Stadt waren die Gebäude wackelige Holzdinger mit Blechdächern gewesen. Hier, im Regierungsviertel des Geschäftszentrums, bestanden die meisten aus Beton und waren in verschiedenen Schattierungen von verwaschenem Weiß, Blau, Gelb und Rot gestrichen. Fast alle waren knallbunten, alten Werbeplakaten verkleistert.
Sie ging eine Straße hinunter, die ein Schild als Sokoine Road bezeichnete, und merkte sich den Namen, falls sie sich verlaufen sollte. Sie ging an Schneidereien vorbei, in denen reihenweise Nähmaschinen standen, und an Kiosks, die Süßigkeiten und Telefonkarten verkauften. Frauen mit perfekter Körperhaltung, die Körbe auf den Köpfen balancierten, während Männer Rinder und anderes Vieh trieben. In den Gassen spielten Kinder mit Spielzeug, das aus Schnüren und leeren Flaschen bestand. Sie entdeckte sogar ein paar einheimische Massai-Krieger, die ihre karierte Kleidung und Speere trugen. Aus einiger Entfernung kam der giftige Geruch von verbranntem Kohl.
Im Großen und Ganzen war Scarletts erster Eindruck von Arusha der einer Touristen-hungrigen Grenzstadt – Afrikas modernes Äquivalent des Wilden Westens. Es war faszinierend, exotisch und gleichzeitig etwas einschüchternd.
Beim nächsten Block kam sie zu etwas, was der zentrale Marktplatz zu sein schien. Ein paar hundert Käfige mit gackernden Hühnern und Hähnen umgaben den Eingang. Dahinter, unter einer Art aufgespanntem Zeltdach, befand sich ein Irrgarten von Ständen, die mit allem Vorstellbarem gefüllt waren. Sandalen, die mit Reifengummi besohlt waren, bunte Baumwoll-Kangas, traditionelle Arzneien, Gemüse in lebhaften Farben, alles, was man sich nur vorstellen konnte. Einige Menschen saugten an Affenbrotbaum-Kernen und Tamarinde-Süßigkeiten. Andere boten ihr an, ihr eine private Tour zu geben, wahrscheinlich wollten sie Trinkgeld. Sie lehnte höflich ab. Wenn sie anfing, Geld zu verteilen, würde sie diesen Ort nie in einem Stück verlassen.
Während sie die Gänge hoch und runter schlenderte, versuchten Verkäufer sie mit Rufen wie Karibu und Hallo Freund an ihre Stände zu locken.
Scarlett winkte und schenkte ihnen ein Lächeln, das sie gewöhnlich für die Paparazzi aufsparte, und fühlte sich irrational schuldig, weil sie nicht an jedem Stand stehenblieb.
Nachdem sie eine große Runde gegangen war und zum Haupteingang zurückkehrte, blieb sie an einer Auslage, bei der Perlen, Holzschnitzereien und Schmuck zum Verkauf geboten wurden, auf denen der Umriss des afrikanischen Kontinents gemalt worden war. Sie stellte mit Gesten einen Ring um ihren Finger dar. »Ringe?«, fragte sie, um es zu verdeutlichen.
Die alte Frau hinter dem Stand – sie musste zwischen fünfundsechzig und siebzig sein, weit über der Lebenserwartung in diesem Land – nickte eifrig. Sie nahm aus ihren Waren keinen Ring, sondern einen hässlichen Anhänger aus Stahl, an dem eine schwarze Schnur befestigt war. Sie brach das Ding in zwei Teile und ließ es in Scarletts ausgestreckte Hände fallen. Scarlett war überrascht, einen winzigen Kompass darin zu finden. Sie drehte ihn nach links, dann nach rechts. Die Nadel bewegte sich entsprechend. Die Frau tippte 3000 in einen Taschenrechner, offensichtlich tansanische Schillinge.
»Nehmen Sie amerikanisches Geld?« Sie zog einen Zehner aus ihrem Portemonnaie.
Die Frau entriss ihr den Schein und steckte ihn in ihre Kleidung. Sie lächelte Scarlett an und entblößte dabei einen Mund voller schiefer und abgebrochener Zähne. Scarlett erwiderte das Lächeln. Mehrere Sekunden vergingen, bevor klar wurde, dass es kein Wechselgeld geben würde. Sie war nie sehr gut im Handeln gewesen, aber dieser Tausch fühlte sich eher nach Straßenraub an. Doch die alte Frau war glücklich – was sie auch sein sollte. Zehn Dollar waren für sie wahrscheinlich der Arbeitslohn für zehn Tage.
Scarlett verließ den Markt und fand Sal beim Glockenturm. Neben seinen Füßen stand eine Sporttasche mit Reißverschluss. »Was ist das?«, fragte sie und zeigte auf die Tasche.
»Die Vorräte«, sagte er.
»Man benutzt hier keine Plastiktüten?«
»Ich denke nicht. Ich musste dieses verdammte Ding kaufen.« Er nickte zu einem kleinen Café auf der anderen Straßenseite. »Wollen wir dort etwas essen? Danach können wir uns rechtzeitig mit dem Reiseführer treffen, wenn er zurückkommt.«
Sie fanden einen Tisch auf der Terrasse im Schatten der Markise und bestellten Eier, Kaffee und eine Obstplatte. Der Kaffee kam zuerst. Währen Scarlett an ihrem nippte – mit Milch, ohne Zucker – sah sie eine Frau am Café vorbeigehen, die zwei Plastiktüten mit Lebensmitteln trug. Sie lachte leise.
»Erzählst du mir, was so lustig ist?«, fragte Sal und sah sie neugierig an. Als er sah, was sie amüsierte, verdüsterte sich seine Miene, und er stand auf.
»Wohin willst du?«
»Mir mein Geld zurückholen.«
»Bitte, Sal. Willst du wirklich den ganzen Weg zum Supermarkt zurückgehen, um über die zwei Dollar oder was auch immer diese Tasche gekostet hat zu streiten?«
»Es geht ums Prinzip.«
»Wenn du das tust, erwähne ich es in meinem nächsten Interview. Sie werden es lieben, der Millionär, der wie Scrooge ist.«
Sal zögerte, setzte sich dann aber wieder. Scarlett musterte ihn. Was ging ihm durch den Kopf? Er war wild entschlossen gewesen, auf diese Safari zu gehen, um ihre Versöhnung voranzutreiben, als sie im Cedars-Sinai Krankenhaus darüber diskutiert hatten. Doch seitdem – zu Hause, wo er in einem der Gästezimmer geschlafen hatte, im Auto, im Flugzeug – war er schweigsam gewesen, sogar geistesabwesend. Bedauert er es, mit ihr auf diese Reise gegangen zu sein? Hatte er Zweifel daran, dass sie ihre Beziehung kitten konnten? Oder hatte seine düstere Stimmung etwas mit seiner Arbeit zu tun? Vielleicht beschäftigte ihn die Eröffnung des Prince Tower mehr, als er zugeben wollte. Schließlich war die größte Konjunkturschwäche seit der Weltwirtschaftskrise nicht der beste Zeitpunkt, um ein 1,5 Milliarden Dollar teures Hotel zu eröffnen, dessen Zimmer pro Nacht achthundert bis dreißigtausend Dollar kosteten.
Sie wollte ihn gerade danach fragen, als er sich auf dem Stuhl zurücklehnte und sagte: »Weißt du, ich verstehe nicht, warum der westliche Imperialismus so stark kritisiert wird.« Er starrte an ihr vorbei zu der schmutzigen Straße und den Gebäuden, von denen die Farbe abblätterte. »Wie kann es schlecht sein, wenn man Recht und Ordnung schafft, Gesundheit und Bildung reformiert und eine moderne Wirtschaft einführt?«
»Weil wir nicht das Recht hatten, etwas zu ändern«, sagte sie. »Wie würdest du dich fühlen, Sal, wenn irgendein Teufelskerl hereinkäme und starke Veränderungen in deinem Unternehmen durchsetzen würde?«
»Das wäre unmöglich, Cara Mia, da ich sowohl Geschäftsführer als auch Vorstandsvorsitzender bin.«
Scarlett musste unwillkürlich lächeln. Seine spielerische Arroganz war eins der Dinge, die sie während ihrer Trennung am meisten an ihm vermisst hatte.
»Wir haben Japan platt gemacht«, fuhr Sal fort. »Aber sieh dir das Land sechzig Jahre später an. Es ist eine der größten Wirtschaften der Welt. Sieh dir dieses Land nach sechzig Jahren eigener Führung an. Sie haben Rückschritte gemacht. Kaum einer von zehn Tansaniern hat Elektrizität oder ein Wasserklosett. Wirf einen Blick über diese relativ wohlhabende Stadt hinaus auf die Kriege, Hungersnöte, den Völkermord, die Krankheiten, die Missachtung der Menschenrechte und die militärische Diktatur, die fast jede Ecke dieses Kontinents belasten. Hast du den internationalen Gerichtshof für Ruanda gesehen? Er ist gleich die Straße hinunter. Wir sind vorhin daran vorbeigekommen.«
Der Kellner brachte ihr Frühstück. Scarlett probierte die Eier, die glibberig, aber gut waren. Sie lutschte an einem Stück Ananas.
»Was ist mit Selbstbestimmung?«, fragte sie. Sie wusste, dass sie diese Diskussion nicht gewinnen konnte. Eins von Sals Anliegen war Afrika, so wie eines von ihren die Beendigung der Kriege in Afghanistan und im Irak war.
»Selbstbestimmung?« Er lächelte dünn. »Was ist das Gute an Selbstbestimmung, wenn deine Anführer korrupte Despoten sind? Als die Briten den Kolonialbeamten Geld geschickt haben, haben die Verantwortlichen es wenigstens der Planung entsprechend ausgegeben. Im Gegensatz dazu ist der Großteil des Geldes, das die Entwicklungshilfe seit den Fünfzigern in die Länder südlich der Sahara gepumpt hat, als Kapitalflucht in den Westen zurückgeflossen – vor allem auf Schweizer Konten der Regierungselite.«
»So einfach ist das nicht …«
»Nein, ist es nicht«, unterbrach er sie. »Was einfach ist, ist, alle Probleme Afrikas auf den Kolonialismus, Apartheid, Globalisierung und Multinationalismus zu schieben.« Er wandte seine Aufmerksamkeit endlich seinem Teller zu. Er schnitt ein großes Stück Eiweiß ab und platzierte es auf einer trockenen braunen Toastscheibe. Er schnitt den Toast, spießte es mit der Gabel auf und schob sich das Stück in den Mund. »Alles, was ich damit sagen will«, schloss er mit untypischer Bissigkeit, »ist, dass hier alles zur Hölle gegangen ist. Den Völkern Afrikas ging es unter der Führung der Briten, Franzosen, Deutschen und Portugiesen besser.«
Scarlett legte Messer und Gabel beiseite, überzeugt, dass etwas ihm schwer auf der Seele lag, etwas, das nichts mit ihrer Ehe zu tun hatte. »Wenn du ins Büro zurückmusst, Sal, dann verstehe ich das. Wir können die Safari verschieben. Ich fliege morgen früh nach Los Angeles zurück …«
»Ich gehe nicht ins Büro zurück, und wir verschieben gar nichts.« Er tupfte sich die Lippen mit der Papierserviette ab und stand auf. »Iss in Ruhe. Ich vertrete mir die Beine. Die Fahrt zum Ngorongoro-Krater dauert drei Stunden.«
Scarlett sah Sal, der den Bürgersteig hinunterging, nach, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Sie schob ihren Teller fort, lehnte sich auf dem Stuhl zurück und nippte nachdenklich an ihrem Kaffee.