Im Fegefeuer der Nachkriegszeit - Dieter Franz Loos - E-Book

Im Fegefeuer der Nachkriegszeit E-Book

Dieter Franz Loos

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Beschreibung

Die Erzählungen dieses Buches beschäftigen sich mit den Erlebnissen eines 1949 geborenen Arbeiterjungen in einer westfälischen Industriestadt am Rande des nördlichen Sauerlandes. Sie zeichen exemplarisch den Aufbruch und die Abgründe in den Lebenswelten der sogenannten kleinen Leute in den 50er und 60er Jahren der Zweiten Deutschen Republik nach.

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Inhaltsverzeichnis

Heim ins Reich

Hürtgenwald

An-Fang

Folgen

Zum Biedermeier

Borsalino

Weltuntergang

Programm

Magirusbus

Siegl

Schnaps

Niederlage

Lerchenstraße

Im Berg

Schule aus

Gloria

Brüder

Späte Geschwister

Lissabon

Cogitationes meas

Humanitatis meae

Bourgeois Personalia

Widmung und Dank

Heim ins Reich

S’ Mautner Beppl, wie er mit Hausnamen heißt, kennt jeder im Oberen Dorf. Sein richtiger Name, Josef Meixner, interessiert keinen. Außer der Kirche und der tschechischen Bürokratie ist hier oben, in dem Marktflecken des böhmischen Erzgebirges, niemand daran interessiert. Schon in jungen Jahren hat er seine Maria geheiratet.

Hochzeitsbild von Maria und Josef Meixner

Der Mautner Bepp ist von Beruf Weißbinder. Seine Berufung liegt jedoch in jeder umtriebigen Arbeit, die er sich beschaffen kann. Ständig ehrgeizig, will er für seine Familie sein Einkommen verbessern. Derzeit baut er deutsche Konsumläden in den Orten unweit seines Marktfleckens auf. Er ist viel unterwegs und bewältigt seine Wege mit seinem neu erworbenen tschechischen Motorrad. Er ist das, was man hier einen gemachten Mann nennt.

Seinen Deutschen Konsum im heimatlichen Marktflecken auf der Erzgebirgshöhe lässt er von seiner Frau Maria verwalten. Hin und wieder verkauft er hier auch selbst. Er ist sehr beliebt und anerkannt im Ort. Das gefällt ihm sehr. Ende der 20er bis Mitte der 30er Jahre jedoch wird es hier oben im Grenzgebiet mit dem Bezahlen der Konsumwaren immer schwieriger. Es fehlt an Arbeit und damit an Einkommen. Das gilt hauptsächlich für die tschechische Minderheit, weniger für die deutsche Bevölkerung des Ortes. Das Mautner Beppl ist ein Deutscher und ein Nationaler, gewiss, aber er verachtet die Tschechen nicht, obwohl sie im deutschsprachigen Marktflecken Schmiedeberg eben in der Minderheit sind. Meistens sind sie auch bitterarm und wohnen im Unteren Dorf in ärmlichen Behausungen. Gut Freund ist das Mautner Beppl ist jedoch mit allen im Dorf, den deutschen wie den tschechischen Böhmen, den Reichen wie den Armen. Den ärmeren Deutschen wie den armen Tschechen stundet er gleichermaßen das Geld für ihren Einkauf. Schon solange er hier seinen Konsum hat, lässt er sie anschreiben. Wenn die Leute am Wochenende kein Geld zum Bezahlen haben, fordert er es auch nicht ein. Er will lieber beliebt und anerkannt sein. Visitiert er die Woche über seine anderen Filialen im Tschechischen, versucht seine Frau Maria die Schuldner zum Bezahlen zu bewegen. Meistens ohne Erfolg, ist doch hier trotz der Nähe zur sächsischen Industrie die Arbeitslosigkeit hoch und einfach kein Geld vorhanden.

Überhaupt ist der Mautner Bepp ein Menschenfreund. In der Blauen Donau, dem Gasthaus nahe der Kirche im Ortszentrum, ist er oft anzutreffen mit seinen Freunden vom Deutschen Turnverein. Hier finden auch jährlich mehrere Aufführungen der Theatergruppe des Vereins statt. In ihr spielt das kleine, untersetzte Mautner Beppl in den heimatlichen Volkstheaterstücken jene Rollen, die die Leute zum Lachen bringen. Durch die vielen Jahre eines in seiner böhmischen Heimat traditionell reichlichen Biergenusses hat er Bauch angesetzt, was ihn noch lustig gemütlicher in seinen Rollen erscheinen lässt.

Henleins Hetzreden verachtet er zuerst, wie er seiner Frau gesteht. Je häufiger seine Freunde aus dem Deutschen Turnverein jedoch mehr Anerkennung für die deutschsprachige Bevölkerung in der Tschechischen Republik fordern, kommt er ins Nachdenken. Er wird sensibilisiert für ein Problem, das er nicht hat. Ist er doch anerkannt im Marktflecken und wohlhabend. Er fühlt sich sicher. Daher bleibt er vorerst ein Menschenfreund und trinkt mit seinen Freunden, Tschechen wie Deutschen, jeden Sonntagmorgen beim Frühschoppen das helle böhmische Bier.

Strudelchen, seine jüngste Tochter, nimmt er immer mit in die Gastwirtschaft. Jeden Sonntag in der Früh hat er seinen obligatorischen Waldspaziergang gemacht und mit ihr frohe deutsche Lieder gesungen. Danach nimmt er sie dann mit in die Blaue Donau, der Gastwirtschaft im Zentrum des Städtchens unweit der Kirche gelegen. Strudelchen ist sein Heimweggarant. Auf sie gestützt, kann er, dann kaum schwankend, vom Stammtisch aus nach Hause ins Obere Dorf gehen. Seine Frau Maria empfängt ihn dort zum sonntäglichen Mittagessen.

Weil sie trotz seines angetrunkenen Zustandes ihm immer wohlgesonnen freundlich bleibt, nimmt er die kleine Frau in den Arm, küsst sie zuerst schmatzend auf den Mund, um ihr dann unter die Arme zu greifen, sie hochzuheben und wild umherzuwirbeln. Das ist sein sonntägliches Einleitungsritual zum Mittagsbraten. Den kann er sich als gut situierter Deutscher in der Tschechischen Republik jeden Sonntag leisten. Nach dem Mittagessen schläft er ausgiebig.

Derweil macht sich Strudelchen auf den Weg. Sie ist ein umtriebiges, lebhaftes Mädchen, die jüngste seiner drei, nein, vier Kinder. Das dritte hieß Anna und starb vor kurzem achtjährig an einer Hirnhautentzündung. Schrecklich, wie alle ihrem Todeskampf machtlos zusehen mussten. Umso mehr liebt der Mautner Bepp nun sein Strudelchen. Sie heißt eigentlich Wilma und ist seine jüngste Tochter. Wenn die ohne Aufsicht unterwegs im Dorf ist, macht sie Ärger. Nicht nur sonntags, sondern eigentlich jeden Tag. Mutter Maria kann ein Lied davon singen. Die Freunde und auch die Nachbarn beschweren sich ja immer bei ihr, wenn Wilma es wieder mal zu toll und dreist treibt. Wenn es besonders schlimm mit ihrer Aufsässigkeit ist, sperrt Maria sie in den dunklen Keller, lässt sie dort toben und heulen. Soll ihr doch abends der Beppl die Leviten lesen.

Oma Maria

Wilma weiß jedoch, dass Papa sie ihr nicht liest. Im Gegenteil: Er befreit sie aus dem Kellerverschlag, schimpft mit seiner Maria wegen des dunklen Kellerverließes, setzt sich sein Strudelchen auf die Knie und wippt mit ihr. Zwischendurch versucht er mit ihr darüber zu reden, was denn vorgefallen sei, um sie in milder väterlicher Ansprache doch noch zur Einsicht zu bewegen. Aber was wird schon vorgefallen sein, das ihr der in sie vernarrte Vater nicht hätte verzeihen können? Sie bewirft ihren Bruder mit Steinen, spioniert seinen Rendezvous hinterher und verpetzt dieselben der großen Schwester an den Dadda. Sie verschenkt ihre Schulbrote an ihre armen Freundinnen aus dem Unteren Dorf und klaut dafür der Mutter aus Hunger die Heringe aus dem Verkaufsfass. Gern klaut sie auch Süßigkeiten aus dem elterlichen Konsum. Die verteilt sie großzügig an ihre Freundinnen. Überall spielt sie mit ihrem Spielball und wirft mit ihm Scheiben ein. Das gefällt ihr besonders. Manchmal, wenn "die elende Grott vom Teufel geritten wird", tut sie das auch gezielt mit Steinen. Außerdem schreit sie unablässig beim Spielen laut herum, ob sie nun mit anderen Mädchen oder allein spielt. So sägt sie unablässig an der erzgebirglerischen Langmütigkeit der Familienfreunde, der Nachbarn und der anderen Bewohner des Dorfes. Ihre Freundinnen stammen überwiegend aus dem Unteren Dorf, Kinder von Kommunisten, die selbst im Winter ohne Schuhe barfuß laufen müssen. Bei ihnen ist sie die großzügige Tochter vom Mautner Beppl. Das genießt sie. Da ähnelt sie dem Dadda.

Wilmas Kommunionbild

Rechnen und Schreiben will sie nicht lernen, sie lernt nur für Geschichte. Deutsche Lieder lernt sie gern auswendig. Sie liebt ihren Geschichtslehrer, deshalb lernt sie nur bei ihm. Von ihm hört sie über die Heldentaten der Grauröcke, und dass nur der Verrat der Sozialdemokraten die Deutschen drüben gedemütigt habe. Er erzählt im Unterricht auch von den farbigen ungarischen Dragonern des alten Kaisers mit den flatternden Wimpeln an den Fahnen ihrer Lanzen. Sie werden zu Strudelchens Helden. Außerdem seien ja die Tschechen selbst schuld, dass das alte Kaiserreich, das doch immer so viele Völker friedlich vereint habe, nicht mehr existiere. Wollten doch die Tschechen sich abtrennen, um ihre Republik zu gründen. In ihr leben wir Deutsche mehr schlecht als recht, meint der Lehrer. Und, so lehrt er seine Schulkinder weiter, es sei doch eigentlich für die deutsch Sprechenden in der Tschechischen Republik nur noch hier in den Randgebieten des Erzgebirges einigermaßen erträglich.

Natürlich berichtet der Geschichtslehrer seinen Schülern nicht davon, dass im Kernland der tschechischen Republik wirtschaftlich alles sehr gut läuft und die neue Republik in diesen Zwanzigern dank ihrer qualifizierten, disziplinierten, jedoch billigen Arbeiterschaft zu den ersten Wirtschaftsnationen Europas zählt. Vom liebsten Lehrer hört sie nur von der Deutschen Republik. Die ist drüben, hinter der nahen Grenze. Nicht weit entfernt bei den Deutschen laufe doch alles viel besser. Dort sei man als Deutscher auch nicht in der Minderheit. Ihr Vater erzählt seinem Strudelchen auch manchmal davon, dass es drüben besser sei. Er ist ein heimlicher Pascher, der sich oftmals im Schutz der Nacht Ware auch aus dem nahen Sachsen holt. Vater und Tochter, Deutsche in Eins, haben ihre deutschen Helden und ihre deutsche Sehnsucht. Das ganze Deutsche wird für beide fruchtbar mit Henleins schon im Turnerbund ausufernd ausgerufener Nazipropaganda. Klar, dass Vater und Tochter auch bald Heim ins Reich wollen. Zu ihrer Mehrheit, zu ihrer Sprache, zu ihren Helden. Sie denken dabei jedoch keineswegs an einen Ortswechsel.

Der Mautner Bepp muss von Berufs wegen beweglich sein. Sein neues Motorrad bewegt ihn. Das kann er sich als Geschäftsführer des Deutschen Konsums erlauben. Behelmt mit einer Ledermütze mit Kinnriemen, als Schutz für die Augen vor dem groben Staub der Straße ausgestattet mit einer doppelglasige Motoradbrille, den Oberkörper mit einer Lederjacke bekleidet, mit festen Lederhandschuhen und braunen Lederstiefeln Hände und Füße gesichert, visitiert er seine Konsumgeschäfte in den Ortschaften am südlichen Erzgebirgshang. Weipert, Preßnitz und wie sie alle heißen.

Josef Meixner auf seiner Java 500

Ein tschechischer Schnaps und böhmisches Bier gehören zu jeder Visite. Der Heimweg abends führt ihn die Hänge des Erzgebirges hinauf. Die Straßen hinauf zum Marktflecken sind grobstaubige, kurvenreiche Schotterpisten, von Vogelbeerbäumen gesäumt. Leicht gemacht vom böhmischen Bier und tschechischem Becherbitter, fliegt er dann aus einer Kurve auf einen dieser Bäume zu. Den Aufprall erleidet er, ohne sich noch einmal daran erinnern zu müssen. Mit gebrochener Schädeldecke bringt man ihn ins Mautnerhaus, legt ihn dort ins Ehebett.

Unter seiner Schädeldecke verblutet nun sein Gehirn. Alle warten an seinem Sterbebett auf seinen Tod. Auch Strudelchen darf mal zum Dadda reingucken. Ihr elfjähriges Bewusstsein vergisst diese Szene nie mehr. Der lebendige Held ihrer Kindheit stirbt. Einige Stunden später beraubt ihn sein Tod brutal der Möglichkeit, jemals das Reich in seiner Heimat zu erleben, jemals unter seinen deutschen Helden leben und arbeiten zu dürfen. Strudelchens Fröhlichkeit, ihre Unbeschwertheit und Umtriebigkeit weichen nach Daddas Tod einem zähflüssigen Lebensgefühl. Die Sehnsucht nach dem Dadda umgibt sie wie Watte, macht ihr Leben unsicher. Da gibt es keine Ortung und wenig Sicht.

Drei Jahre später findet sie nach der Schulzeit eine Arbeit als Pressenarbeiterin drüben im Sächsischen. Morgens um vier Uhr aufstehen, mit dem Zug zur Arbeit, gnadenlos lange Stunden in der Fabrik und ein müder Heimweg zurück am späten Abend. Fabrikarbeiterinnenschicksal. Am Wochenende ohne Dadda in der Blauen Donau, jetzt nicht mehr zum Frühschoppen, sondern zum Tanz.

Einen neuen Helden hat sie noch nicht gefunden. Ein Jahr später geht’s endlich Heim ins Reich. Vielstimmig bejubelt. Dank dem Führer, dem deutschen Helden. Ihm ist sie dankbar für ihr Heim im Reich. Schade um den Dadda, dass er das nicht mehr erleben darf. Jetzt, daheim im Reich, findet sie einen Helden des Tanzes. Einen Deutschen wie er im nationalsozialistischen Buche steht, mit urdeutschem Namen. Mulmig wird ihr, als er zu Heldentaten aufbricht, übel wird ihr, als ihr Held fällt. Sie kotzt unentwegt. Der Schwindel, die Übelkeit, das morgendliche Kotzen verlässt sie für viele Jahre nicht mehr. Auch später, bis ins Erwachsenenleben hinein, bleibt ihr das erhalten. Sie kotzt in jeden Zug, in jeden Postbus, später in jedes Auto. Erst im Alter hat sie sich ausgekotzt. Ende 1944 sieht sie einen Helden, tot, verkrümmt und ohne Kopf morgens auf dem Dach eines brennenden Nachbarhauses liegen. Amerikaner, Engländer oder doch ein Deutscher? Ein Opfer der nächtlichen Luftschlacht über dem Erzgebirge. Egal: Ein toter Held! Klar, dass sie auf dem Weg zur Arbeit kotzen muss. Viele Helden sind nun schon tot. Auch dieser Unbekannte. Sie träumt immer wieder von ihm, später erzählt sie von ihm. Dies scheint der Helden Weg zu sein, versteht sie endlich. Aber sie ist ja daheim im Reich, hat Arbeit für den Krieg, eine Schwester mit zwei kleinen Kindern, ihre geliebte Oma, die auch ihre Patin ist, eine Kuh im Stall, ein Dach über dem Mautnerhaus, einen lebendigen Schwager sowie ihren lebendigen Bruder in diesem Krieg der noch lebenden Helden im Kampf gegen die Untermenschen.

Als sie zwei Jahre später, daheim im Reich, aufgebrochen wird, heim ins Reich zu gehen, wird ihr Geist gänzlich in die ihr bekannte zähflüssige Watte eingehüllt. Nun gibt es für sie keinen Durchblick mehr. Gehasst und erniedrigt muss sie das Reich ihres Heimes im Reich verlassen, wechselt notgedrungen und unfreiwillig heim in eines der vier Reiche der Nachkriegsjahre. Dies wird ihr nie zum freiwillig freudig gewählten Reich ihres Heimes .Sie wollte einst mit Dadda und den andern heim ins Reich ihrer deutschnationalen Wünsche. Jetzt muss sie daheim sein im Teilreich eines geteilten und besetzen Deutschland. Dieses Deutschland startet allerseits mit tiefsten, nicht verheilen wollenden Wunden und sichtbar beschämenden Verletzungen. Die der neuen langsam aufscheinenden Zweiten Republik verbliebenen Helden sind gedemütigt, verletzt, verwundet, traumatisiert und oft gänzlich verrückt.

Mit einem dieser Helden nimmt sie Vorlieb. Ein einbeiniger Held, anscheinend unbesiegt in seinen geschlagenen Schlachten, noch jung und in sie verliebt. In ihrer Liebe zu ihrem einbeinigen Helden täuscht sie sich nicht, in dessen Unbesiegbarkeit im gemeinsamen Leben aber schon.

Karl als Kriegsversehrter im Kreis von Familienmitgliedern im Sommer 1945

Hürtgenwald

In diesen Dezembertagen 44 erwacht der friedvolle Hürtgenwald im graukalten Morgennebel eines aufziehenden Grauens. Dies schon seit Tagen und Wochen. Mit welchem Grauen würde ihm der Henker heute wieder Leid antun? Karl hat sein schmuckes Bild in blauer Fliegeruniform mit dem schräg sitzenden Schiffchen auf dem Kopf schon vor Jahren seiner Mutter geschickt.

Soldat Karl

Ein faltenloses melancholisches Gesicht schaut Karoline aus einer Fliegeruniform an. Im Unterstand kann Karl sein Soldatenbild eh nicht gebrauchen. Dreckig und neblig kalt ist es heute Morgen hier im Wald. Der Kamerad wartet schon auf ihn. Auf der Kabelrolle die Telefonleitung, die sie kurz hinter den eigenen Stellungen verlegen sollen. Karl nimmt eine weitere Kabelrolle mit. Und den kurzen Spaten, um das Erdreich aufzukratzen und das Kabel recht oberflächlich hineinzulegen. Morgen ist Heiligabend und heute ist dieser Befehl noch auszuführen. Morgen wird es vorne mal einen Tag ruhig sein. Keine kanadischen Haubitzen- und Panzergranaten. Es ist ruhig hier im Wald, im Nebel fast unheimlich, und jetzt sind sie kurz hinter ihrer Front. Sie beginnen mit der Verlegung.

Das Hands Up, neben ihnen aus dem Nebel kommend, erschrickt sie nicht. Ihre Angst wird einfach überfallen. Sie schauen in vier MP-Läufe, die MP-Läufe stoßen sie seitlich weg in den immer dichter werdenden müden Nebel. Die Hände dürfen sie wieder herunternehmen. Im Camp des Feindes angekommen, müssen sie zuerst scheißen. Jetzt hat sie die Angst doch gefangen genommen. Sie scheißen und pissen in saubere Sitzklos und benutzen zum ersten Mal seit Monaten normales Klopapier. Anschließend geht's zum Verhör, erst als ein Dolmetscher übersetzt, verstehen sie die Fragen und antworten unwillig auf sie. Sie bleiben in ihrer Angst. Den Tag verbringen sie in einer festen Unterkunft des kanadischen Panzer-Bataillons. Jetzt, kaum mehr bewacht, verlieren sie ihre Angst, unterhalten sich leise darüber, dass sie hier so schnell wie möglich wieder abhauen wollen. Die eigenen Stellungen können doch nur einige hundert Meter entfernt sein. Lass uns morgen früh abhauen Kamerad, die sind eh die ganze Zeit mit ihren vielen Panzern und mit ihrem unglaublichen Nachschub beschäftigt. Abends gibt's ein unvergessenes Essen für sie: Gebratene Putenbrust, jede Menge Gemüse und englisches Bier. Dies im Speisesaal einer Holzbarracke an einem gepflegten Tisch abseits der feindlichen Soldaten. Kein Wort zwischen Ihnen, kein Blick, jedoch das gleiche Essen. Eine Henkersmahlzeit. Die beiden deutschen Landser sind irritiert über die neue Zeit, in der sie gerade für ein paar Stunden leben müssen. Ihr bislang kurzer Aufenthalt als Prisoners of War im kanadischen Aufmarschcamp verwirrt sie so sehr, dass sie schnell ins Alte zurückwollen. Dort fühlen Sie sich trotz des Mangels an allem sicherer als hier. Im Morgengrauen des Heiligabends brechen sie schnell auf. Es hat geschneit.

Don’t call them. Shoot them! Fucking Krauts! MP-Salven surren sirrend auf sie zu. Sie hören jedoch nur das schnelle Getakker der Handfeuerwaffen. Der Henker ist da! Karl rennt im Zickzack, der Kamerad fällt in den Schnee. Karl schaut sich nicht mehr um, rennt jetzt nur noch schneller im Zickzack über die Schneise. Am Waldrand empfangen ihn Kameraden der vorderen Front. Er ist wieder im alten Gewohnten, im matschigen Mangel. Seine Angst scheißt er auf dem Donnerbalken hinter der Linie aus. Es gibt kein Klopapier. Er stinkt und zieht die Hose drüber. Zu Heiligabend gibt's für jeden eine Schoko-Kola. Deren rotweiß runde Blechdose behält er für seinen Reservetabak. Den gewinnt er aus eigenen und gefundenen Kippenresten. Die Front bleibt derweil ruhig. Karl hat drüben im Camp die Unmengen an Nachschub für die neue Zeit gesehen. Deshalb wundert er sich über die Ruhe, die sogar ein paar Tage anhält.

Der Morgen des 4. Januar 1945 bringt den neuen alten Auftrag. Telefon und Funk müssen im Wald verlegt werden. Er führt als Gefreiter die Gruppe. Mit ihm sind drei Kameraden mit Kabelrollen, Spaten, kurzen Heringsklammern. Kurz nach Verlegungsbeginn bricht ein Granathagel über die Vier herein. So schnell ist ihnen Deckung nicht möglich, das Eingraben fällt schwer, weil der Boden hart ist. Granatsplitter sirren im Hürtgenwald, bohren sich heiß in seinen Boden, zerfetzen seine Wurzeln, zersplittern sein alten Bäume. Bäume und Menschen fallen, Wurzeln und Beine zerfetzen. Werden eins als Matsch. Bäume und Menschen zerbrüllen sich. Karl brüllt nicht mehr. Zwischen seinen Ohnmachten wimmert er leise ein „Hilf mir, Kamerad“! Einer von ihnen hilft ihm, zerrt ihn zurück, weiß dabei nicht, wohin und wie lange das dauert.

Endlich kann er ihn ablegen. Karl liegt zwischen den Bäumen, sein Blut wärmt nicht mehr ihn, sondern den Boden. Der einst friedvolle Hürtgenwald trauert heute wieder, während sich der Henker seine Zeit als Folterknecht nimmt. Drei Monate später wacht Karl in der neuen Zeit wieder auf. Ein zarthäutiger junger Engel mit Rotkreuz-Käppchen badet ihn, säubert und pflegt ihn mit seinen weiblich schlanken Händen. Die Hände dieses Engels lassen ihn spüren, dass bis auf sein linkes Bein noch alles da ist. Der Engel jedoch verschwindet bald wieder aus seinem Leben.

„Ja, Papa und wollen wir nicht mal in den Hürtgenwald fahren? Kennst du das Dorf noch, wo die Granate dir dein Bein abgeschossen hat? Wollen wir das Bein nicht mal suchen?“ Der Kleine, der Zarte, will unbedingt Papas Beinknochen finden. ...! Rock me to the Bones ist Jahrzehnte später sein sommerlicher Lieblingssong gealterter Kinks. Jetzt geht er aber erst mal in sein Zimmer. Schlachtfeld spielen. Karl antwortet ja nicht auf seine dringenden Fragen.

Der hügelig friedvolle Hürtgenwald hat sich erholt. Seine Dörfer und ihre Menschen sind heutzutage sanft. Seit damals jedoch werden zu jeder Jahreszeit den zartgrauen Morgennebeln des Hürtgenwaldes feine, zarte, traurige, lebendige Nebeltröpfchen der Erinnerungen an Karl und die anderen hinzugefügt. Der kleine Zarte fühlt und erkennt sie, wenn sie sich morgens auf die Haut seiner Hände und seines Gesichtes legen. Karl's linkes Bein hat der kleine Zarte nie gefunden.

An-Fang

Wilma als junge Frau und Freundin von Karl kurz vor ihrer Ausweisung aus Kovarsca (Schmiedeberg)

Karl hatte Wilma wiedergefunden. Über Wege, die wir Heutigen nicht mehr kennen und derer sich jene Menschen bedienten, die während und nach dem Krieg auseinandergefallen waren. Karl machte sich eines Frühsommertages noch mitten im Morgengrauen auf. Vom katholischen Sümmern im Westfälischen ins protestantische Iserlohn mit dem frühesten Kreisbahnbus. Von Iserlohn aus mit dem Zug ins nahe Letmathe, von wo aus sich die noch unregelmäßig verkehrenden, immer vollen verspäteten Züge in den Süden des geviertelten Deutschland quälten.

Zu seinem Ziel würde er Tage unterwegs sein. Für einen Kriegskrüppel mit nur noch einem Schokken eine Qual. Immerhin hatte er seine schwere Holzprothese nicht umgeschnallt, zu sehr hätte ihn der Körpergurt bei diesem warmen Frühsommerwetter gedrückt und ihm die gegürtete Prothese schmerzende, stinkende, fette Abszesse an seinem Stumpf verursacht.

Er nahm also lediglich seine Krücken mit, klemmte jedoch sein leeres Hosenbein elegant vorne in den Hosengürtel. Karl war nachkriegszeitlich hungerschlank, athletisch und braungebrannt wie ein siegreicher Etappenlandser. Er wusste aus seiner Kriegserfahrung in den Frontzügen, was es hieß, tagelang unterwegs sein zu müssen. Sein Zug quälte sich also durchs Land und er sich mit ihm. Altena, Finnentrop, Olpe, Siegen, dann amerikanisch Gießen, Bad Nauheim, Frankfurt in der Bahnhofsruine. Überall in der fensterglaslosen Halle aufsteigender Wasserdampf von den ölig schmierigen Loks und im Ruhrgebiet die Ruhrseuche. Die jedenfalls glaubte er hinter sich gelassen zu haben, Tage weit nun entfernt, obwohl sich die Ruhrbakterien auf den Klos der Züge breit gemacht hatten. Aber davon wusste Karl nichts. Von Frankfurt aus langsam weiter nach Darmstadt, Traisa, Ober-Ramstadt, Reinheim, Brensbach, Beerfurth, Bockenroth bis „Reichelsheim/i.ODW“, so das Bahnhofsschild. Das Reichelsheim im Odenwald war Bauernland, ohne feste Straßen noch. Ab Reinheim hatte Karl die private Schmalspurbahn, „es Lies’sche“ genannt, durch das weithüglige Gersprenztal nach Reichelsheim genommen. Viele, vor allem die Jungen, konnten neben ihr hergehen, während sie fuhr, und machten sich einen Spaß daraus, von Wagen zu Wagen zu springen. Langsames Züglein!

Der junge, einbeinige Karl konnte das nicht, er saß auf dem Kriegsversehrtenplatz und zeigte dem Schaffner statt einer Fahrkarte seinen roten Schwerbehindertenausweis. Er reiste umsonst in des Wortes vielfältiger Bedeutung, worüber er aber auch nichts wusste.

Das Lieschen im Bahnhof von Reichelsheim 1962

Es war ein heißer Odenwald-Frühsommertag gewesen, an welchem Karl seinem Ziel näherkam. Spätnachmittags hatte dieser Sommertag sich ebenso erschöpft wie der Kriegsversehrte. Die letzten schwülen Kilometer, zu Fuß auf seinen Krücken, fragte er sich durch. Vom Reichelsheimer Bahnhof aus also hoch ins Eberbacher Tal. Dort waren die Schwestern Therese und Wilma mit ihren Kindern, Walter und Jörg, dem Bauern Reider zugewiesen worden. Die Vier waren mit einem der letzten Züge der Vertriebenen deutschen Böhmen gekommen. In Viehwagons gesperrt, von denen die Letzten des Zuges endlich in Südhessen entladen wurden, nachdem sie vorher tagelang langsam ganz Süddeutschland durchfahren und immer wieder Vertriebene ausgespuckt hatten.

Karl hatte erfahren, dass Wilma und Therese mit den Kindern in Südhessen ausgeladen und dann beim Reider einquartiert worden waren. Er hatte viel darüber gehört, dass eine freundliche Aufnahme von Vertriebenen in dieser Nachkriegszeit eher selten vorkam. Diese angstvolle Ungewissheit, seine unruhige Sehnsucht nach Ruhe für sein Leben und die Gier nach einer Gleichmäßigkeit für seine Liebe, hatten ihn bis hierhin getrieben. Erst nach langen Stunden war er abends endlich angekommen und humpelte durch das verschlafene Dorf.

Der Reiderhof im Eberbacher Tal bei Reichelsheim mit dem alten Wohngebäude heute

Heute nun lag der einstmals alles Glück verheißende, versprochene reindeutsch-nationale weite Osten für ihn, wie für alle Ostler, ganz weit im angstvoll engen Westen. Genau das spürte er in seinen Gefühlen. Sie zehrten ihn aus. Ebenso körperlich ausgelaugt von der langen Reise, schaffte er den Weg bis zum Hof nicht mehr. Er legte sich unter einen der vielen Apfelbäume die den Weg säumten ins Gras. Die Krücken neben sich abgelegt, schlief er wie bewusstlos die Nacht durch.

Morgens rief die Magd des Reiderhofes laut in den Hof, man solle schnell einen Heuwagen anspannen, unten an der Weggabelung liege im Gras unter einem Apfelbaum fest schlafend ein braungebrannter, gutaussehender Einbeiniger. Man weckte Karl in der Morgensonne, um ihn abzuholen und ihn an den gemeinsamen Frühstückstisch zu bitten. Hinten im Heuwagen sitzend, die Krücken neben sich, fuhr er durchs Hoftor. Wilma und Karl erkannten sich sofort. Einige Tage später, abends auf dem gemütlichen Heuboden erkannten sie sich genauer. Hier lag Roberts Anfang, in jener Erzählung von Wilma und Karl, aus der heraus er wurde.

Folgen

Nach zwei Viertelchen. Syrah. Aldi. 99 Cent. Aus Roberts Dunklem schält sich ein frühes Grau der späten 40er. Verregnet und neblig kalt liegt es auf den Feldern Sümmerns. Nur die Kühe grasen noch auf dem schmierigen Kamp. Zwischen ihren eigenen Fladen.

Karl war als beinamputierter Kriegskrüppel in seine kleine tschechischen Heimatgemeinde Böhmisch-Wiesenthal, vis-a-vis vom sächsischen Oberwiesenthal gelegen, heimgekehrt.

Karl nach dem Krieg in Oberwiesenthal im Erzgebirge

Den Frühling und fast den ganzen 45er Sommer hatte er im Narkosekoma verschlafen. Im 46er Winter dann hatte der Einbeinige seine Mutter Karoline geschultert und über den Grenzbach nach Oberwiesental ins Sächsische getragen. Die Knüppel der tschechischen Landsleute waren ihm zusehends gefährlicher geworden. Diesseits des Grenzbaches war das Leben der deutschen Tschechen keinen Heller mehr wert. Des Menschen Leben ist seine erinnerte Biographie. So erschien dem Karl seine Realität. Unmissverständlich, nachts wie Tags. Wer sie, wie Karl, damals dort im Böhmischen lesen konnte, musste sich damals entschließen, aus dieser elenden Realität zu flüchten.

Oberwiesenthal im Erzgebirge in den 1930er Jahren

Therese und Wilma hatten ihren Bruder Eberhard in Empfang genommen. Eberhard war Spätheimkehrer. Mit Glück und eisernem Willen wollte er im russischen Lager der deutschen Kriegsgefangenen weiterleben. Deshalb hatte er jede seiner Zigarettenrationen gegen winterhartes Brot getauscht. Um zu arbeiten und dabei zu überleben. Gezwungen, gearbeitet, wieder gezwungen, immer weitergearbeitet, auch mit 41 Fieber, aber weiterleben. Als Kriegsgefangener, beim Russen im Bergwerk. Seine Gesundheit war danach ruiniert. „Russische Gefangenschaft halt,“ sagte Wilma. Ihre Schwester Therese stimmte ihr zu. Auf dem Reiderbauernhof im Odenwald hatten sie Aufnahme gefunden, Arbeit und nahrhaftes selbstgebackenes Brot. Ihrer beider Hunger war nun zu ihrem Glück gestillt und deshalb waren sie gesund. Sie kannten zwar noch ihre Angst und den bohrenden Hunger aus den Viehwaggons des Potsdamer Abkommens, aber hier beim Reider war beides schon bald vergessen. Mit den letzten, im Südhessischen abgehängten Waggons waren sie zu ihrem Glück nach Reichelsheim in den Odenwald gekommen. Zum Bauern Reider in Eberbach. Vertriebene Zugereiste aus dem Osten. Eine späte, teure Bezahlung ihrer ehemaligen Heim-ins-Reich-Rufe. Nun folgten sie ihrem feigen Führer unfreiwillig ungern Heim ins neue Viertel-Reich. Und dann fanden sich alle wieder zusammen.

Karl mit Robertle

Patentante Therese

Onkel Eberhard

Oma Karoline

Wilma mit Robertle

In einer Dachmansardenwohnung des Schmieds Häusler im westfälischen Ostsümmern trafen sie sich wieder. In den dunklen Tagen des Dezembers 1949. Draußen, am Abend des Tages, regnete es feine Schnürchen in den Abendnebel. Drüben vom Kamp des Bauern Schulze hörten sie das Kuhgemuhe. Noch mussten die Kühe draußen bleiben. Oben in den beiden angemieteten Zimmern war es gemütlich warm. Zu viert standen sie um den Esstisch herum. Auf dem lag, in einer Stoffwindel, das kleine schwarzhaarige Bübchen. Vor der Therese, dem Eberhard, der Karoline und dem Karl lag es auf dem Esstisch, daneben eine Schüssel warmen Wassers. Das Bübchen schrie. Die fünfte im Zimmer, Wilma, lag auf dem abgeriebenen Sofa. Sie hatte ihren Kopf der Tischgemeinschaft zugewandt. Und ihrem vier Wochen alten Bübchen. Ihre Schwester Therese hob das Bübchen leicht an, wickelte es ganz vorsichtig aus der Windel. Das Baby schrie nun mehr und mehr, lauter und immer kreischender, während Therese seinen blutigroten Popo abwischte, seinen verkrusteten Rücken säuberte, sein wundes Hodensäckchen abtupfte. Dafür benutzte sie warmes Wasser aus der Blechschüssel. Mit einem weichen Waschlappen wusch sie den Unterkörper des zarten Menschleins.

Eberhard nickte Karl zu: „Gut, dass du ihn heute doch aus dem Krankenhaus geholt hast.“ Karl war wütend und außer sich. „Ich habe den Schwestern gesagt, dass ich das kleine Robertle jetzt sofort sehen will. Sie wollten es mir erst nicht zeigen“, antwortete Karl seinem Schwager. „Dann habe ich ihnen mit meinem Stock gedroht und gesagt, dass ich ihn sofort sehen will. Auch Wilma sollen sie herrichten, habe ich sie angeherrscht, damit sie sofort mit mir und Robertle das Krankenhaus verlassen kann. Ich kann beide zuhause besser versorgen, allemal dann, wenn der Kleine hier sofort immerzu nur schreit, habe ich wütend zu ihnen gesagt. Eberhard, da wusste ich ja noch gar nicht, weshalb der Bub so schreit. Erst jetzt sehe ich es ja. Hätte ich’s dort im Krankenhaus schon gesehen, hätte ich die beiden Schwestern mit meinem Knüppel erschlagen, das kannst du mir glauben!“ Karl wütete immer noch.

Aber alle in der warmen Wohnküche schauten währenddessen auch Therese bei der Pflege zu. Sie sahen auf ein zerschundenes Körperchen. Und alle waren entsetzt über das, was sie sahen. Karl war immer noch außer sich vor Wut. „Ich hätte diese katholischen Kinderschwestern sofort mit meinem Knüppel erschlagen sollen. Dieses widerwärtige katholische ‚Gesockse‘. Hätte ich Robert und Wilma doch nur schon viel früher geholt“, klagte sich Karl nun vor den anderen an. Eberhard beruhigte ihn. „Jetzt sind ja Therese und ich da und helfen dir, dem Jungen und deiner Wilma.“ Er fasste Karl an die Schulter, um ihn zu halten, bevor der sein einbeiniges Gleichgewicht verlor und fuhr fort: „Du konntest ja nicht wissen, wie sie ihn wickeln und dabei so schlecht seine offenen Wunden pflegen. Und Wilma lag ja mit ihrer eitrigen Brust doch noch bis vor einigen Tagen auf Leben und Tod dort im Krankenhaus. Und alles ohne Penicillin. Das haben ja nur die Tommis. Das hätte mit Wilma ja auch schief gehen können. Komm Karl, jetzt sind wir ja zusammen, um euch zu helfen. Beruhige dich. Wir bleiben ein paar Tage. Emil schafft sein Geschäft in Reichelsheim, sein Café in der Sandgrube, schon ein paar Tage auch allein. Seine Buben sind ja auch schon größer und helfen ihm. Also, wir bleiben mindestens zehn Tage oder so lange, bis die offenen Stellen beim Robertle verkrustet sind.“

„Ich koch uns mal die Graupensuppe fertig“, warf die ältere Frau am Herd ein. „Bauer Schulze hat mir ein schönes großes Stück Schweinefleisch als Einlage mitgegeben. Wir sollen am Sonntag nach der Kirche alle zum Essen rüber zu ihnen kommen und den Kleinen im Kinderwagen mitbringen. Zur Taufe wollen sie dann das Taufessen ausrichten.“ Die ältere Frau wandte sich wieder dem Herd zu, auf dem die Graupensuppe in einem Blechtopf vor sich hinblubberte. Karoline war eine harte Frau. Erzogen, herangereift und geprüft in den dürftigen Sommern und den bitterkalten Hungerwintern auf den Höhen des böhmischen Erzgebirges. Drei Jungen hatte sie allein erziehen müssen. Alwin, Karl und Willi. Ihr Mann Karl, Straßenarbeiter in Böhmisch-Wiesenthal, war schon Ende der 20er an Krebs verstorben. Sein Leichnam im eisigen Sarg, hatte sie ihn mitten im Januar im steinharten Boden des Friedhofs von Böhmisch-Wiesenthal beerdigen müssen. Von nun an war sie auf sich allein gestellt. Die drei Söhne hatte sie als in Heimarbeit tätige Näherin und Handschuhmacherin mit ihrem schmalen Lohn allein durchbringen müssen.

Die politischen Grenzen waren ihr angesichts ihrer täglichen Not ums Brot ziemlich egal. Ebenso egal war ihr ihre katholische Religionszugehörigkeit. Den Kirchgang ersetzte sie allzu oft durch ihre einfachen Gebete. Zu allererst böhmisch-österreichisch, dann ohne ihr Wollen tschechisch-republikanisch, noch später großdeutsch-tausendjährig und anschließend einige Zeit wohl auch noch tschechisch-kommunistisch beherrscht, war sie deshalb auch mit ihrer Flucht aus diesen erbärmlichen Lebensverhältnissen auf den kargen Höhen des Erzgebirges im Frühjahr 1947 einverstanden. Sie sollte diese Flucht in die neue deutsche Republik auch nie bereuen. Ihr jüngster Sohn Willi blieb im Krieg. Er war als Fallschirmjäger in Russland verschollen.

Fallschirmjäger Willi

Der mittlere Sohn Karl war als Einbeiniger aus dem Krieg zurückgekommen. Karoline lebte mit ihm nach ihrer gemeinsamen Flucht aus dem nunmehr wieder tschechisch gewordenen Böhmisch-Wiesenthal im westfälischen Ostsümmern. Sie und Karl waren nach ihrer Flucht aus Böhmen deshalb hierhergekommen, weil Karolines ältester Sohn Alwin schon seit einigen Jahren in Sümmern lebte. Ihrer aller Wünsche, als Familie weiter zusammen zu bleiben, gingen somit glücklicherweise in dem neuen westfälischen Zuhause in Erfüllung. Auch, wenn dieses Zuhause ihnen zunächst viele Jahre lang keine Heimat war.

Alwin war körperlich heil über den Krieg gekommen. Weitab von allen Fronten, hatte er während des Krieges hier in Sümmern die Tochter eines katholischen Kleinfabrikaten kennengelernt und sie geheiratet. Jahre vor dem Krieg schon hatte Alwin in seiner böhmischen Heimat mit dem kargen Lohn eines Oberkellners im Sporthotel des sächsischen Ober-Wiesenthal seiner Mutter Karoline dabei geholfen, seine beiden jüngeren Geschwister Karl und Willi durch die brotlose Zeit der Weltwirtschaftskrise zu bringen, bis es ihn, wohl Ende der dreißiger Jahre, nach Westdeutschland verschlug. Nach dem Krieg war Alwin viele Jahre in der CDU der neuen Republik als anerkanntes Gemeinderatsmitglied der Gemeinde Sümmern bei Iserlohn tätig. Zweifelsohne war Alwin ein politischer Mensch. Für die Familie seines jüngeren Bruders Karl zeigte der um einige Jahre ältere Alwin in den ersten Nachkriegsjahren große Mitverantwortung. Er unterstützte Karl in vielen alltäglichen Notwendigkeiten wie Wohnungssuche, Arbeitssuche und Lebensmittelversorgung.

Karl fühlte sich Alwin auch deshalb in dieser frühen Nachkriegszeit sehr verbunden, zumal die Brüder ja durch den Verlust ihres jüngsten Bruders Willi sowie durch ihre Flucht aus der ehemaligen Heimat seelische und materielle Verluste familiär erlitten und zu verarbeiten hatten. Immer drehten sich ihre Gespräche um diese für sie schwer zu ertragenden Verluste. Alwin, das Familienoberhaupt, konnte mit den damals bescheidenen Möglichkeiten einer kleinen finanziellen Hilfe seines Bruders Karl sowie einer größeren seiner großzügigen Schwiegereltern in Sümmern sein Haus ausbauen, das bald eine große Familie bewohnte.

So gebar die Nachkriegszeit auch in dieser Familie vielerlei Hilfen. Wie oft war Karl mit seinem Sohn Robert bis in die 60er Jahre hinein, meistens Sonntagmorgens, oftmals ein gern gesehener Gast dort. Und immer sprach man über den verschollenen Bruder Willi, über die alten Freunde und die zurückgebliebenen Familienangehörigen in der erzgebirgischen Heimat, politisierte über die SPD und die CDU, begutachtete die Politik der Gewerkschaften und bedauerte die Unmöglichkeit, wieder in die alte Heimat zurückkehren zu können. „De Schneeschuh warn ma nie mär unnerschnollen känne un nie mär warn ma vom Hong hinnerm Heisel nooch Wiesenthoal nunnerfoor känne.“ Die Brüder weinten jedoch nicht.

Die böhmische Familie Sprecha in ihrer neuen Heimat in Sümmern

Demgegenüber hatte Schwager Eberhard, der Bruder von Wilma, Karl immer wieder gebeten, doch zur Familie seiner Frau, in den Odenwald zu ziehen. Hier lebt man doch viel billiger, war immer sein Hauptargument, das er dann auch noch weiter in einem Briefwechsel mit Karl, aus der Mitte des Jahres 1948 stammend, weiter ausführte: „Komm lieber zu uns in den Odenwald und leg dort deine Kriegsrente an. Du könntest sie ja auf ein paar Jahre hin kapitalisieren lassen. Hier kannst du von deiner Kriegsrente selbst ein Haus bauen. Außerdem hat deine Wil, wie ihr Bruder Eberhard seine Schwester nannte, hier ihre Schwester, die Therese, auch den Emil und die Kinder. Und ich lebe ja auch hier. Hier würdest du dann zu unserer Familie gehören. Und mit der Bahn könntest du doch auch Alwin und Karoline dann immer besuchen. Von den Bauern hier im Odenwald kannst du ebenso Gutes erfahren wie in Ostsümmern vom Bauern Schulze. Du weißt ja, wie gut wir es in Eberbach beim Reider in der ersten Zeit hatten, als Therese und Wilma mit den Vertriebenentransporten hier ankamen. Der Emil hat jetzt sein Konditorgeschäft in der Sandgrube und fährt sein gutes Speiseeis im Sommer durch den Ort. Und bei uns hier sieht es ein wenig so aus wie auf unseren Erzgebirger Höhen.“ Daraufhin hatte Karl ihm einen Brief mit folgendem Inhalt zurückgeschrieben: „Ich finde bei euch doch keine Arbeit. Zum Opel reinfahren kann ich nicht, mit meinem einen Schokken. Dort am Band arbeiten geht schon gar nicht. Nein, ich bleib lieber hier. In Menden und Iserlohn ist überall kleine Eisenindustrie. Die bietet gute Verdienstmöglichkeiten und sie müssen ja auch Kriegsbeschädigte einstellen. Hier sind viele Flüchtlinge, viele von ihnen auch katholisch wie wir. Der Pfarrer kümmert sich auch um uns. Alwin hat über Hildegard eine Menge Beziehungen, von denen wir auch profitieren. Er sagt, dass ich ja überall hier in der Umgebung leicht Arbeit finde und alles mit der Kreisbahn für mich auch gut zu erreichen ist. Er will mich hier bei sich haben und die Karoline will sowieso nicht, dass wir weggehen.“

Dieser Briefwechsel war nun, im Herbst 1949, ein Jahr her. Karl war in Sümmern geblieben, hatte Arbeit in einer Mendener Lampenfabrik und dort zwei gute Freunde gefunden. Das Ehepaar Wilhelm und Ulla Ham- mes. Mit ihnen verbrachten Wilma und er jede freie Zeit am Wochenen- dende. Das Paar hatte auch einen Jungen bekommen und für Karl hätte nun, mit dem für November zu erwartendem Kind, mit seiner Frau Wilma und seiner auskömmlichen sicheren Arbeitsstelle die Nach- kriegszeit beginnen können. Aber, an einem Dezemberabend des Jahres 1949 angesichts des offenen Fleisches seines Sohnes und wegen der in den Wochen nach der Geburt vorangegangenen Behandlung seiner Frau im Mendener Krankenhaus, ging Karl doch erneut das damalige Angebot seines Schwagers Eberhard bitter durch den Kopf. Das auch deshalb, weil Schwager Eberhard im Raum war. Karoline kochte ja an diesem Abend in der kleinen Wohnküche eine Graupensuppe. Schwägerin Therese war ebenfalls da und rieb Robertles Hodensäckchen, Popo und unteren Rücken mit gutem Sonnenblumenöl vom Bauern Schulze ein. Danach wickelte ihn Therese in frische Windeln, drückte ihn noch- mal an ihre Brüste, warm und ganz fest hielt sie ihn dazwischen. Dann erst reichte sie ihn ihrer jüngeren Schwester Wilma, Robertles Mutter, während sie zu ihr sagte: „Morgen kaufen wir in der Engelapotheke in Iserlohn Penuten-Creme. Ehrhard will sowieso nach Iserlohn reinfahren und bringt die Creme dann mit. Dann wird’s dem Robertle bald besser gehen.“ Karl hatte derweil das Milchfläschchen im Wasserbad ange- wärmt. Wilma setzte sich nun etwas höher aufs Sofa, nahm den Kleinen und gab ihm das Fläschchen. Ihre vereiterten Brüste ließen das Stillen nicht zu. Aufstehen konnte sie aus Schwäche auch noch nicht. Jeden Abend musste ihr Karl die Wunden an den aufgeschnittenen Brüsten säubern und die Verbände erneuern. Das kleine Wesen hatte sich nun wundgeschrien und nahm nur zögerlich das Milchfläschchen. Als sei ohne Schmerz besser zu leben als ohne Essen. Die andern saßen um den Küchentisch, aßen die Graupensuppe mit der gütigen bäuerlichen Fleischeinlage, löffelten und redeten gleichzeitig über ihre verlorene Heimat, „vum Aarzgebaarch, vu unern duden gefollnen Bossen, vu dan Russn un vu dan elenden Tschechn, dene mer all dos elendiche Laabm zu verdonken hom.“ Für Karl war also während dieser Dezembertage des Jahres 1949 die Hilfe der Familie seiner Frau rechtzeitig im Westfälischen eingetroffen. Tatsächlich: Roberts Kleinkindjahre vergingen.

Robert auf dem Rädchen am Iserlohner Jugendstilbad

Robert war vor gut zwei Stunden von zu Hause abgehauen. Samstagmittag. Mit seinem Rädchen. Rache wollte er. Weil ihn Mama und Papa nicht liebhatten. Und sie sollten mal sehen, wie es ist, wenn er nicht mehr bei ihnen ist. Meine Oma in Sümmern hat mich aber immer lieb, denkt er während des Radelns am Straßenrand der Baarstraße, die ihn aus Iserlohn herausführt. Oma Karoline erzählt ihm nämlich