Im Himmel warten Bäume auf dich - Michael Schophaus - E-Book

Im Himmel warten Bäume auf dich E-Book

Michael Schophaus

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Beschreibung

Michael Schophaus hat seinen Sohn 600 Tage bis zu dessen Tod betreut und begleitet. Aus seinem Buch sprechen Trauer, Wut und Fassungslosigkeit, aber auch eine große Liebe zu Jakob und das Glück, das sie zusammen erlebt haben. Indem der Vater versucht, das Unbegreifliche fassbar zu machen, kommt uns der kleine Jakob ganz nahe. Mit seinem Leiden, seiner Tapferkeit und seiner zauberhaften Kindlichkeit, die zutiefst berührt.

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Seitenzahl: 190

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Michael Schophaus, geboren 1956 in Bottrop. Studium der Sportwissenschaften in Köln. Ausbildung an der Hamburger Journalistenschule. Seit 1987 Journalist, u.a. für »Stern«, »Zeit-Magazin«, »Männer Vogue« und »Sports«. Danach Chefredakteur mehrerer Kundenmagazine in Hilden, später sechs Jahre lang Textchef beim »Lufthansa Magazin«. Zur Zeit ist er u.a. als Berater beim Verlag Hoffmann & Campe tätig. Er wohnt und arbeitet von seiner Frau getrennt lebend in Hamburg.

Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter www.allitera.de

E-Book-Ausgabe Juli 2013 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2013 Buch&media GmbH, München Umschlaggestaltung: Alexander Strathern, München ISBN 978-3-86906-568-7

Für Martina, Jonas, Simon, die Großeltern, und für alle anderen, denen Jakob immer ein kleiner, kranker Held bleibt.

Vorwort

Oft ging ich vom Krankenhaus über den Hamburger Hauptbahnhof zur Arbeit. Ich hatte in der Nähe ein kleines Büro, und immer, wenn mir Zeit blieb, arbeitete ich dort als freiberuflicher Journalist. Das heißt, ich versuchte meine Gedanken jedes Mal so zu ordnen, dass irgendetwas Lesbares dabei herauskam und ein wenig Geld für meine Familie. Denn oft war ich müde von den Nachtschichten auf der Krebsstation, und die Bilder aus dem Krankenzimmer verfolgten mich so sehr, dass eine Flucht vor ihnen völlig sinnlos schien. Bilder von mageren Kindern, die ihr Essen erbrachen und die abgelösten Fetzen ihrer Mundschleimhaut. Bilder von blassen Glatzköpfen und leisen Gespenstern, die nur laut wurden, wenn ihnen das Morphium zu Kopf stieg. Aber auch Bilder von kleinen Helden, die sich mutig und fröhlich auf so viel Raum bewegten, wie ihnen die Länge ihres Katheterschlauches erlaubte.

Solche Bilder schwirrten in meinem Kopf herum, wenn ich am Hauptbahnhof ankam. Sie wirkten traurig, dicht, undurchdringlich, und sie abzuschütteln gelang mir niemals richtig, bevor ich mich anschließend mit Fußballtrainern beschäftigen musste und den schlimmen Krankheiten ihrer Spieler. Ich dachte an Jakob, wie er jetzt da lag im Bett und sich an jeder Minute ohne Schmerzen freute; an seinen Blick, der einen unbeugsamen Willen verriet im Kampf gegen den Krebs – und dann sah ich regelmäßig diese Gestalten. Diese jämmerlichen Gestalten! Die ihr Leben wegwarfen für den nächsten Schuss ins kurze Glück, und die sicher vor Freude besoffen gewesen wären, wenn ich ihnen die starken Medikamente aus der Kinderklinik mitgebracht hätte.

Ich konnte den Anblick der Junkies nicht ertragen. Obwohl ich wusste, dass sie im Grunde arme Schweine waren, die bloß ausgeliefert ihrer Sucht folgten, war ich stets missmutig und entsetzt darüber, dass sie sich täglich ihren Drogen und dem Teufel verschrieben, während ein paar Kilometer weiter kleine Menschen gegen das Böse ihrer Zellen ankämpften. Immer und immer wieder, ohne sich aufzugeben und zu klagen, dem Tod trotzend mit kindlichem Ernst. Die alles hinnahmen, um nur weiterzuleben.

Und dann das hier jeden Morgen! Humpelnde Leichen, die verwahrlost auf den Straßen lebten und sich das Vergessen über ihr Dasein in die Venen pumpten. Haste mal ne Mark? fragten sie mich und rempelten mich an. Ich hasste sie, hasste sie abgrundtief nach den Nächten, in denen ich um Jakob bangte, doch die Junkies klebten an mir wie eine Klette. Ich versuchte ihnen davonzulaufen, schlug sogar um mich, und manchmal nannte ich sie wütend »Abschaum!« und »Gesocks!«, zwei Wörter, derer ich mich sonst fürchterlich geschämt hätte. Doch schon lange fand ich, seitdem mein Sohn so tapfer, aber aussichtslos gegen die Krankheit kämpfte, meinen Hang zum freiheitlichen Denken nicht mehr wieder. Diesen guten, linken Geist, der sich – natürlich! – gegen Atomkraftwerke wandte, mit großem Anstand für verfolgte Minderheiten einsetzte, sich stark machte gegen Tierversuche und verzweifelt versuchte, die Dinge immer aus der Sicht der Schwachen zu sehen.

Jetzt aber war alles ganz anders. Seit ich Kinder mit amputierten Oberschenkeln sah, Dreijährige mit Mundschutz, weil sie schon ein Schnupfen umbringen konnte, und Mädchen mit Tumoren in ihren winzigen Gebärmüttern. Seit ich mein Kind mit Handschuhen anfassen musste, weil sein Kot hochgradig giftig war. Die Sichtweise hatte sich verändert, und die Wut auf alles und jeden, der sich der Gesundheit nicht in jeder Sekunde seines Lebens bewusst war, wuchs. Ich dachte nicht mehr daran, mich auch nur noch über eine Maus aufzuregen, die sich in langen Tierversuchen quälen musste, und von mir aus hätte man so einem Nager bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren ziehen können, wenn es meinem Sohn Jakob nur irgendwie geholfen hätte. Selbst zur Radioaktivität hatte ich nun eine andere Meinung, befürwortete sie zur Behandlung meines Kindes und bat die Ärzte sogar, sie in hohen Dosen anzuwenden.

Jedenfalls kam ich jeden Morgen zu dem eigentlich nicht sehr überraschenden Entschluss: Die Welt ist ungerecht. Besonders die Welt zwischen den Gesunden und Kranken, zwischen den Großen und Kleinen, zwischen denen, die an Krebs leiden, und denjenigen, die blutende Arme vom Einstechen der Nadeln haben. Wie konnte das nur gleichen Ursprungs sein, was ich da morgens auf dem Weg zur Arbeit sah, und am liebsten hätte ich jeden Junkie einzeln ans Krankenbettchen meines Kindes gezerrt. Schau hin, hätte ich dann gerufen, schau ganz genau hin, hier kämpft ein braver Meter Mensch, seit Wochen, seit Monaten, seit Jahren mit der Geduld eines Engels darum, dass der Himmel gefälligst warten möge! Hier liegt mein Sohn Jakob mit Geschwüren im Bauch und in der Backe, und trotzdem erfreut er sich an allen schönen Gelegenheiten, die ihm das bisschen Leben bietet. Er hängt an Tröpfen voller Gift, er spielt glücklich mit seinen Autos, während ihm die vielen Schläuche aus dem Körper baumeln, er bezwingt die Angst durch kleine Liedchen und ist heilfroh, wenn man ihn nur in Ruhe lässt. Dann stellte ich mir vor, wie ich sie anschließend im hohen Bogen aus dem Zimmer werfen würde und ihnen nachrief: Und denkt daran bei eurem nächsten Schuss!

Dabei war mir natürlich klar, dass ich selbst ungerecht war. Aber ich glaubte in dieser schweren Zeit die Enttäuschung und das Leid auf ewig gepachtet zu haben, sie gehörten mir, mir allein, meiner Frau und meinen Söhnen, und sonst keinem. An Gott und die Gerechtigkeit glaubte ich sowieso schon lange nicht mehr, und nach dem Warum zu fragen machte keinen Sinn. Ich witterte überall Verrat, falsches Mitleid und Verachtung, weil ich ein krankes Kind hatte, und wurde das Gefühl nicht los, dass getuschelt wurde, kaum dass ich jemandem den Rücken kehrte. Es grenzte manchmal an Verfolgungswahn, denn keiner meiner Sinne funktionierte so wie früher, ich war empfindlich in der Furcht um meinen Sohn, sah häufig Abgründe und Särge, denn die ständige Sorge um ihn und die Angst vor seinem frühen Tod überlagerten alles.

Derart gereizt und völlig ohne Trost, nahm ich die Arbeit auf, und wenn mir dann einer erzählte, er habe Sorgen wegen des Handbruchs seines Torwarts, versuchte ich offen und fair zu bleiben für die Probleme eines Menschen, der wahrscheinlich noch niemals in einer Kinderkrebsklinik war. Früher hätte ich stundenlang geredet, denn ich nahm mich immer sehr wichtig als Journalist und war stolz auf jede gemeine Geschichte, unter der mein Name stand. Früher hätte ich Zynismen benutzt und jede Gelegenheit ergriffen, um auf die Wichtigkeit meines Tuns hinzuweisen.

Nun aber sagte ich ja und sagte nein, und eigentlich interessierte mich nichts von dem, was ich mir da auf meinem Block notierte. Ich war bei Jakob, auch wenn ich nicht bei ihm war, und dachte: Warum musste er erst an Krebs erkranken, damit ich die Bedeutung von Leben verstand?

Langenfeld, im April 2000

Wind kommt auf

Als Jakob starb, weinte der Himmel. Es war dunkel, der Regen nieselte traurig herunter, und es war so ein Tag, an dem man nicht wusste, wann der Morgen aufhörte und der Abend begann. Kein Wind ging zu Beginn des Tages, und als Jakob sein kurzes Leben aushauchte, sah ich mit roten Augen zum Fenster hinaus. Plötzlich bewegten sich die Bäume, seine Bäume, die er vom Sofa aus so ausdauernd ernst betrachtet hatte, sie bewegten sich in einem heftigen Wind, der keinen Widerstand zuließ, und während ich die Händchen meines Sohnes hielt, fühlte ich in seinen Adern den Puls schwinden. Ich dachte nur: Hol Luft! Warum holst du keine Luft? Doch schon während ich mir heulend diese Frage stellte, wusste ich, dass sie so sinnlos war wie die nach dem Warum seiner Krankheit. Er riss seine blauen Augen weit auf, zwischen den Lippen hörte ich ein letztes Zischen, und dann streckte er erleichtert seine Beine aus, die er seit Wochen vor Schmerzen gekrümmt halten musste. Bevor sich seine Seele auf den Weg machte, sah er noch einmal auf den Weihnachtsbaum. Draußen tobte jetzt ein Sturm.

Jakob liebte Bäume. Bäume in allen Farben und Größen. Baum war eines der ersten Worte, das er kannte, und noch zwei Tage vor seinem Tod waren wir mit ihm im Wald, Bäume gucken, wie er das nannte. Oft wollte er sie berühren, die raue Rinde fühlen oder einfach nur in kindlicher Neugier um sie herumlaufen, und dabei hob er seinen Kopf und schaute staunend und voller Bewunderung vor ihrer Erhabenheit bis in die Krone. Oft breitete er seine Arme aus, so weit, dass er den Stamm umfassen konnte, und küsste ihn mit großem Eifer. Er konnte gar nicht genug davon kriegen und freute sich, unter die dichten Dächer seiner Bäume zu huschen. Schon im Herbst sprach er vom Tannenbaum, und zu Weihnachten, das er bewusst nur zweimal erlebte, wünschte er sich einen Tannenbaum. Keine Eisenbahn, kein Auto, keine Bauklötze. Einen Tannenbaum und sonst nichts.

Das Jahr war gerade vier Tage alt, als Jakob starb mit Blick auf den geschmückten Baum. Die Bescherung hatte er glücklich und gefasst über sich ergehen lassen, denn seine Wahrnehmung war schon getrübt durch eine Pumpe am Gürtel, die ihm ständig über einen Katheter Schmerzmittel in die Venen trieb. Mit zitternden Händen riss er das Papier seiner Geschenke auf, die es dann doch für ihn gab, und spielte mit großer Überzeugung an einem kleinen Bohrer herum. Abends aß er sogar einen Pudding, während wir uns den Bauch vollschlugen, und als er außerdem nach einem kleinen Stück Schokolade verlangte, war es uns so, als habe Jakob zur Feier des Tages seinen trägen Magen überredet. Es war ja schließlich Weihnachten.

Doch jetzt lag er da, hübsch, weiß, wächsern, wie ein zerbrechlicher kleiner Engel. Nach so vielen Eingriffen mit Gift, Skalpell und Radioaktivität. Lag da mit leicht nach rechts geneigtem Kopf, denn die Leichenstarre hatte längst eingesetzt, und wären seine Augen nicht geschlossen gewesen, hätte er mit Zufriedenheit die ihm lieben, irdischen Dinge bemerkt, die wir ihm in den Sarg legen wollten. Seine Wärmeflasche, seinen Teddy, sein Lieblingsbuch, ein Album mit Klebebildern, und um den kalten Hals trug er einen schwarzweißen Schal, den ihm sein Bruder Jonas gestrickt hatte. Er war gewaschen und bekleidet mit seinen buntesten Sachen, doch wenn er von der angelegten Windel gewusst hätte, wäre er bestimmt aufgesprungen vor Empörung. Zwar war er mit seinen drei Jahren längst trocken, aber zuletzt hatte er überhaupt kein Wasser mehr lassen können, und wie aus einer besorgten Gewohnheit heraus banden wir ihm hastig eine Pampers um. Bestimmt ist er uns böse, sagte meine Frau, und ich erwiderte ihr: Engel können nicht böse sein. Schon gar nicht wegen einer Windel.

Die letzte Nacht war hart gewesen. Jakob hatte kaum geschlafen und immer wieder über sein Aua im Bauch geklagt. Er konnte nicht liegen, nicht stehen, nicht sitzen, nicht leben, nicht sterben, und nur in einer Stellung, die der eines Embryos ähnelte, gelang es ihm, die Schmerzen einigermaßen mit Würde zu ertragen. Er verdrehte die Augen, atmete schwer, schrie auf, wenn ich ihn nur berührte, und trotzdem wollte er, dass ich das schmale Bett mit ihm teilte. Sein dürrer Körper, abgemagert bis auf die Knochen, zitterte unaufhörlich aus Angst und Schwäche, und irgendwann am frühen Morgen schrie ich ihn an: Geh, wenn du willst! Du kannst gehen! Ich erlaube es dir!

Eine Ärztin hatte mir erzählt, es könnte den Kindern helfen beim Sterben. Wenn man ihnen laut sagte, dass man sie loslassen wolle. Loslassen! Freiwillig! Nach dieser langen Zeit der Nähe, des Schmusens, des Immerdaseins und der stillen Sorge um jedes Grad Fieber. Geh! Geh! Geh! Ich schrie es aus Liebe. Sieben Stunden später war Jakob tot. Umso schöner war es, ihn im Tode lächeln zu sehen. Mir schien dies bei aller verdammten Trauer ein wunderbarer Genuss. Nach sechshundert Tagen erlebter Krankheit, nach sechshundert Tagen, in denen er oft keinen Frieden fand, nach sechshundert Tagen zwischen Hoffen und Bangen und der traurigen Erkenntnis, dass wir ihn nur am Leben halten konnten mit einer angeblich so modernen Medizin, die tagtäglich über tausend Mark kostete. Aber sollten wir deswegen ein schlechtes Gewissen haben? Hätten wir gleich aufgeben sollen in einem Kampf, der von Anfang an verloren war? Nein, ganz entschieden nein! Denn Jakob hatte sein Leben geliebt zwischen den Schmerzen und dem ans Bett Gefesseltsein. Er hatte sich sein kurzes Glück gesucht und manchmal auch gefunden, ob beim Reiten, Radfahren oder Malen, und ihn jetzt so entspannt zu sehen, in der Gelassenheit des Todes, mit spitzem Mund und überlegenen Zügen, war uns wie eine Bestätigung dessen, was wir schon zeit seines knappen Daseins wussten: Er nahm das Leben, wie es kam, das Schöne, das Schlechte, das Gute, das Böse, das Aua, das Lachen, das Weinen, und wenn man tot ist, dann ist man eben tot. Die Bedeutung des Todes allerdings war ihm nicht klar. Wie soll ein Kind auch wissen, was der Tod ist, wenn es noch nicht einmal das Leben kennt?

Jakob hatte sich mit einem schnellen Wind davongemacht. Mit einem zarten Hauch, unaufdringlich und bescheiden, wie er nun einmal war. Wie ein kleiner Schmetterling, der sich hinsetzt, wo es ihm gerade gefällt, und dann wegfliegt für immer, als hätte es ihn nie gegeben. Weggepustet in einer Laune der Natur, durchsichtig und leicht, und vielleicht war er wirklich ein verpuppter Engel, der nun von Wolke sieben aus über uns wacht. Ich hab dich lieb! hatte Jonas ihm während seines Sterbens ins Ohr geflüstert, und er war sich ganz sicher, dass sein Bruder ihn noch hörte. Zehn Minuten vor seinem Tod hatte ihn Jakob zu sich gerufen, wollte ihn sehen, denn Jonas war erst einen Tag zuvor von einer Reise über Neujahr zu seinen Großeltern zurückgekehrt. Jakob hatte auf ihn gewartet, sich noch Silvester zum Essen gezwungen, damit die Kraft reichte, und jetzt, wo sein großer Bruder wieder da war, entschloss er sich zu gehen. Kurz vorher bekam er Wahnvorstellungen, wollte springen, aufstehen, in die Badewanne und Apfelsaft mit dem Strohhalm trinken. Den gab es auf seinem dritten Geburtstag für seine wenigen, kleinen Gäste, und nun stieg ihm dies noch einmal als eine der letzten, schönen Erinnerungen hoch. Jonas gab ihm den Apfelsaft, doch er war schon zu erschöpft, um am Strohhalm zu saugen.

Als die Ärztin Dr. S. kam, wirkte Jakob kraftlos und leer. Ihr Wagen war nicht angesprungen an diesem Montagmorgen, sie bat um Nachsicht, entschuldigte sich und zog eine Spritze mit einem Schlafmittel auf, als sie hörte, dass Jakob keine Ruhe gefunden hatte in der Nacht. Er ist sehr, sehr müde, meinte sie fast beschwörend, und schon während sie ihm das Medikament mit gekonnter Ruhe injizierte, entkrampfte er sich zum ersten Mal an diesem Tag. Er klammerte sich nicht mehr ans Leben, und er sah so aus, als gäbe er sich nun doch endgültig geschlagen in seinem mutigen Trotz gegen den Krebs. Frau S. ging wieder nach unten, ans Auto, um ihr Abhörgerät zu holen, und ließ uns aus Rücksicht, glaube ich, ganz kurz mit unserem sterbenden Kind allein. Jonas weinte, Martina weinte, ich weinte, und während wir uns in Tränen auflösten und unsere fürsorgliche Ärztin wieder eintraf, machte sich Jakob davon.

Zitternd hielt ich ihm einen nassen Finger unter die Nase, um zu prüfen, ob sein Atem noch ging. Doch er ging nicht mehr, seine Augen waren halb geöffnet, gerade so, als wolle er sich noch ein bisschen Neugier auf das Leben erhalten, doch als Dr. S. das Stethoskop an seine Brust legte, schüttelte sie den Kopf und wischte sich selbst ein paar Tränen aus den Augen. Jakob wurde rasch leichenstarr, es war nicht einfach, seinen dürren Körper zu bewegen, und nach dem Waschen nahm ich mir zitternd einen großen Schluck Schnaps. Wenig später ging das Telefon. Unser Pfarrer war dran, er rief zufällig an und konnte nicht glauben, dass Jakob tot war. Er kam sofort vorbei und sprach ein Vaterunser. Stumm hörten wir ihm zu.

Neun Stunden blieb Jakob noch bei uns. Neun Stunden, die für uns friedliche Beklemmung, aber auch Freude bedeuteten, weil er einfach noch da war im Ablauf eines hektischen Alltags mit drei, beziehungsweise plötzlich zwei kleinen Kindern. Wir zwangen uns zum Essen und versuchten Simon, einjährig, neugierig und rotzfrech, davon abzuhalten, den toten Jakob an den Haaren zu ziehen. Immer glaubten wir ihn rufen zu hören von seinem Sofa aus: Mama, Durst!, Papa, Aua!, Simon, lass das! Aber er war still, still für immer, und bis zum Abend genossen wir seinen Anblick und weinten um sein Gehen und dachten daran, wie selten er nur so daliegen durfte in seinem eiligen Leben. Jonas kniete sich vor ihm auf den Boden und heulte drei Stunden lang wie ein Schlosshund, und als Jakob am Abend von zwei Männern in Schwarz abgeholt wurde, hatte er sich so ganz langsam gefasst im Tröste der Verzweiflung. Ich nahm Jakob und legte ihn in den Sarg. Meine Frau bettete ihm sein Spielzeug hinein, schob ihm noch ein Büchlein unter den Kopf und streute rote Rosen über seinen Leichnam. Wir nahmen Abschied, denn der Sarg sollte nicht mehr geöffnet werden. Martina sprach ihm noch einmal sein kleines Gedicht zum Schlafengehen vor, so wie sie es immer tat am Abend, ich küsste ihm die kalte Stirn. Beim Schließen verklemmte sich eine Rose, die Männer hoben den Deckel wieder an, gewährten uns einen letzten, unverhofften Blick, dann trugen sie ihn hinaus. Draußen leuchtete der weiße Sarg in der Dunkelheit. Ich schnüffelte an Jakobs Kissen und sog gierig seinen zarten Geruch ein. Nach drei Tagen war auch er verschwunden. Als Jakob weg war, brachen wir den Tannenbaum ab.

Krebs haben immer nur die anderen

Wir lebten beschaulich. Ganz normal im allgemeinen Trott der Zeit. Wir hatten unser Auskommen, unseren Stress, unsere Probleme, unsere gepflegten Spießigkeiten, und wenn ich am Ende eines Monats auf mein Bankkonto schaute, verfluchte ich jenen unbedachten Menschen, der das Arbeiten erfunden hatte. Aber Kinder haben zu wollen war nie ein Streitpunkt zwischen meiner Frau und mir, wir wollten sie, wir wollten sie unbedingt, auch wenn man im feinen Hamburg zuerst einmal an die Karriere zu denken hatte und zusehen musste, dass man sich das Feld bestellt in seinem Beruf und sich der vielen Ellenbogen erwehrt, die einen versuchten abzudrängen auf seinem Weg ins Schaffensglück. Doch 1990 beschlossen wir, eine Familie zu werden, und ließen uns dabei nicht vom Zeitgeist, von schlechten Ratschlägen oder Steuerberatern beirren. Jonas kam und machte uns Freude, Jakob kam und machte uns Freude, und eigentlich dachten wir, es ginge alles so weiter auf einem Pfad, den tausend andere Familien auch einschlagen: Kinder kriegen, Geld verdienen, zweimal jährlich Urlaub machen, den Wunsch nach Reihenhaus und Gesundheit pflegen. Gut und bescheiden war die Gewissheit, Zusammenhalt zu haben in der Gemeinschaft, und die Erkenntnis, dass wir so schöne, schlaue Kinder hatten. Nette, neunmalkluge Rabauken, die sich schon mit der schwierigen Technik eines Videorecorders auskannten, während ihre Hintern noch in Windeln steckten.

Jakob wurde am 12. März 1995 geboren, einem wunderschönen, warmen Sonntag, der den Namen auch verdiente, und er schien uns ein widerstandsfähiger Fratz zu werden. Er entwickelte sich prächtig, schien die Mühen des Lebens nicht zu scheuen, war kräftig, frech und mollig, und als er zwei Jahre alt wurde, konnte er sogar ein wenig sprechen. Oder zumindest das, was er darunter verstand. Schokolade hieß bei ihm Koko, mit Totos meinte er Autos, und wenn er Lala rief, war das eine große sprachliche Ehre für jeden, der Abschied von ihm nahm.

Nur ein Wort konnte er aussprechen, klar, deutlich und ernst: Es hieß Baum.

Freitag, 11. April 1997

Jakob schaufelt sein Frühstück in sich hinein. Ein bisschen Müsli, ein großer Esser war er nie. Plötzlich schreit Martina auf, sieht ihm aufgeregt in den Mund. Die linke Seite ist stark angeschwollen, so wie man das von Entzündungen der Backentaschen kennt. Doch diese Schwellung ist so gewaltig, dass uns Angst überkommt. Noch am Morgen fährt meine Frau zum Kinderarzt Dr. F., einem netten älteren Herrn, der sie aber ins Universitätskrankenhaus Eppendorf überweist. In die Kieferklinik zu unserem Freund Rüdiger, der dort als Zahnarzt tätig ist.

Rüdiger glaubt nicht an eine Entzündung. Auch nicht an einen Abszess, ein Kollege bereitet alles für einen operativen Eingriff vor, und schon am Abend ist es soweit. Jakob wird die Backe von innen aufgeschnitten, aber es kommt kein Eiter. Und Eiter kommt immer bei Entzündungen. Der Schnitt ist lang und tief, wie üblich in solchen Fällen wird eine Gewebeprobe entnommen. Am nächsten Dienstag wissen wir mehr. Ich schaue in die Gesichter um mich herum, sie drücken zwanghafte Zuversicht aus. Wirdschonwieder! Istjanichtsoschlimm! Wir müssen die nächsten Tage auf der Station bleiben, Jakob ist zum ersten Mal im Krankenhaus, er fürchtet sich sehr, obwohl ich bei ihm bin. In der Nacht schreit er zwei Stunden lang. Eine Krankenschwester kommt herein, blond, streng, groß. Sie fragt: Jetzt wollen wir doch wohl mal leiser sein, oder? Wir wagen nicht zu widersprechen.

Dienstag, 15. April 1997

Der Befund ist da. Bösartiger Tumor, wie bösartig, weiß man noch nicht. Jedenfalls hat er sich schon bis in den Kiefer gefressen. Wir werden viel Geduld haben müssen, sagt der Oberarzt, Chemotherapie ist so gut wie sicher. Bald werden wir wissen, ob der Krebs sich noch weiter ausgebreitet hat. Martina und ich weinen viel, wir müssen stark sein, reden wir uns ein. Nachts schmiege ich mich ganz fest an meinen Sohn, habe schreckliche Angst, ihn zu verlieren. Da wächst etwas in seinem kleinen Körper, das bedrohlich ist, einnehmend und unberechenbar. Bisher dachte ich, Krebs hätten immer nur die anderen.

Donnerstag, 17. April 1997