Im Jenseits ist es auch nicht besser - Marianne Birkmann - E-Book

Im Jenseits ist es auch nicht besser E-Book

Marianne Birkmann

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Beschreibung

Gabi ist tot. Sie bemerkt es erst, als sie von ihrer Umwelt nicht mehr wahrgenommen wird. Um ihren Frieden zu finden muss sie eine schwere Aufgabe erfüllen und stellt fest, dass die Existenz im Jenseits alles andere als einfach ist. Sie durchlebt viele Höhen und Tiefen, bevor sie erlöst wird und an einen Ort kommt, an dem sie gerne für immer und ewig bleiben möchte. In diesem Buch hat die Autorin aus wahren Begebenheiten mit viel Phantasie eine spannende Geschichte über das Leben nach dem Tod geschrieben. Ob ein Leben nach dem Tod wirklich aussieht wie hier geschildert? Wer weiß.

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Die Autorin

Marianne Birkmann, geboren 1960 in Mecklenburg-Vorpommern, ist mit vier weiteren Geschwistern in einem kleinen Dorf im Bezirk Schwerin aufgewachsen.

Von 2002 bis Ende 2018 lebte sie in der Nähe von Stuttgart und hat dort das Pilgern und auch das Bücherschreiben für sich entdeckt.

Inzwischen ist die Mutter von drei Kindern und dreifache Oma wieder zurück in Ostsee- und Familiennähe gezogen.

Neben mehreren Büchern über ihre Pilgerreisen und einer Biographie beweist sie nun ihre Vielseitigkeit in dem Roman über die verstorbene Gabi, die allerlei Abenteuer in der Parallelwelt erlebt.

Bücher sind fliegende Teppiche in das Reich der Phantasie.

(Verfasser unbekannt)

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 1

Funkelnd leuchtete der Sternenhimmel über ihr. Sie konnte den großen Wagen erkennen und der hellste Stern von allen musste der Polarstern sein. Mehr kannte Gabi nicht. Aber diese hier, die hatte sie erkannt. Stolz erfüllte ihre Brust, während sie allmählich zur Besinnung kam.

Eigentlich hieß sie Gabriele, aber alle nannten sie Gabi. Außer die Stiefmutter, wenn sie mal wieder mit ihr schimpfte, dann rief sie sie immer bei vollem Namen. Aber das ist schon lange vorbei.

Erstaunt sah sie sich um. Warum lag sie hier im Dunklen hinter ihrer Villa? Durch den Lichtschein, der vom Wohnzimmer hinausdrang, konnte sie die raue Fassade erkennen.

Der weiße Anstrich ihres Hauses hatte ihr noch nie gefallen, sie würde es streichen lassen. Aber wie? Irgendeine auffällige, knallige Farbe. Vielleicht Pink, dachte sie kichernd. Die Vorstellung, dass ihre Stiefmutter darüber entsetzt gewesen wäre, ließ sie frohlocken. Die Beiden haben sich nicht besonders gut verstanden. Seit dem Tod der alten Dame lebte Gabi alleine hier.

Aber Pink war auch nicht gerade IHRE Farbe und nur aus Trotz das Haus verschandeln? Nein, das musste nun auch wieder nicht sein. Sie mochte Erdfarben. Vielleicht ein Anstrich in Ocker oder Beige? Sie würde sich in der nächsten Woche im Baumarkt einmal umschauen und Anregungen holen.

Erst jetzt wurde ihr so richtig bewusst, dass sie hier draußen auf der kalten Erde lag. Im trüben Mondlicht war die Hecke zu erkennen, die dunkel das kleine Grundstück von dem der Nachbarn abgrenzte.

Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierhergekommen ist. Sollten das die ersten Anzeichen einer Demenz sein, dachte sie besorgt.

Hastig erhob sie sich, während es kurz im Gebüsch raschelte. Sicher hatte sich eine Maus vor Schreck schnell wieder in ihr Loch verzogen.

Unfassbar, wie schnell sie wieder auf den Beinen war. Noch vor wenigen Stunden konnte sie sich kaum vom Sofa erheben, so schlecht ging es ihr. Jetzt hatte sie das Gefühl, sie könnte „Bäume ausreißen“. Also haben Hildes Tropfen doch geholfen, vermutete sie erfreut und beschloss, ihrer Freundin gleich davon zu berichten.

Warum nur hatte sie hier draußen auf dem Boden gelegen? Nachdenklich strich Gabi sich übers Gesicht und bemerkte eine schmierige rote Flüssigkeit, die sich nun zäh über ihrem Handrücken verteilte. Was war denn das? Hatte ihr jemand Ketchup ins Gesicht geschmiert? Aber wann und warum? Auch daran fehlte ihr jegliche Erinnerung.

Wütend dachte sie an die beiden Nachbarsjungen, die immer zu einem Schabernack aufgelegt waren. Vor zwei Wochen haben die beiden bösen Buben ihr Spinnen durch das angekippte Fenster ins Haus gesetzt. Gabi hatte es gerade noch rechtzeitig gesehen und die beiden Nachbarskinder sofort beschimpft und sie aufgefordert, die hässlichen „Tierchen“ wieder einzusammeln.

Sollten sie doch ihre Eltern damit überraschen! Glücklicherweise hielt sich ihre Spinnenphobie in Grenzen.

Letztendlich hatten die beiden Jungs etwa sieben „Achtbeiner“ unterschiedlicher Größe in ihr Glas gesammelt. Es war wirklich ekelig, wie es darin herumwuselte. Bei dem Gedanken daran musste sie sich schütteln.

Eigentlich war Gabi ein gutmütiger Mensch und ging gerne jedem Konflikt aus dem Weg. Aber in diesem Falle wurde sie doch sehr wütend und wenn sie wütend war, dann konnte sie sich auch mal durchsetzen.

Ihr Unmut war dann zu dem Zeitpunkt auch schnell wieder verflogen und sie hat den Eltern der Beiden nichts von diesem Streich erzählt.

Auch jetzt spürte sie wieder diese Wut in sich. Na, die können was erleben! dachte sie zornig und nahm sich vor, gleich am nächsten Morgen zu den Eltern zu gehen, um sich zu beschweren. Bei der Gelegenheit könnte sie auch gleich das mit den Spinnen ansprechen. Vielleicht waren die Bengel ja noch in der Nähe. Während sie mit raschen Schritten um die Ecke lief und Ausschau hielt, dachte sie darüber nach, was sie mit den Übeltätern anstellen würde, wenn sie sie gefasst hatte.

Sie würde sie am Kragen packen. Und dann? Nachdenklich blieb sie stehen. Ja, was dann? Was würde sie dann mit ihnen machen? Ihr Zorn schmolz dahin, wie der Schnee im Frühling.

Wieder fiel ihr auf, wie schnell und agil sie plötzlich war. Ihre Brille musste bei dem Sturz von der Nase gefallen sein, der Nasenrücken fühlte sich so leer an.

Suchend ließ Gabi ihren Blick durch die Gegend streifen. Aus einem der Nachbarhäuser klang Stimmengewirr herüber, dann fielen Schüsse und Reifen quietschten mit spannender Hintergrundmusik. Jemand sah sich wohl gerade einen Krimi an. So etwas hat sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen.

Früher, als sie jung war, da hat sie nur Actionfilme und Krimis gesehen, und Horrorfilme. Schmunzelnd dachte sie an die Zeit zurück. Sie hatte sich manchmal welche in der Videothek ausgeliehen und sich dann in ihrem Zimmer eingeschlossen. Oft polterte die Stiefmutter dann gegen die Tür, weil es ihr zu laut war. Aber in diesen Dingen hat Gabi sich nicht reinreden lassen, sie konnte auch aufmüpfig sein und hat einfach weiter geschaut, ohne das Gerät leiser zu schalten.

Wann hatte es eigentlich angefangen oder besser gesagt, wann hat die Freude an solchen Filmen aufgehört? Mit vierzig? Oder fünfzig? Das war eigentlich auch egal. In den vergangenen Jahren waren Liebes- und Heimatfilme ihre Favoriten. Die waren so herrlich entspannend.

Nun entdeckte sie auch ihre Sehhilfe. Sie lag mit zerbrochenen Gläsern am Boden. Erneut kroch die Wut in ihr hoch. Die Brille war eine Spezialanfertigung gewesen, Gabi hatte letztes Jahr sehr viel Geld dafür bezahlt. Das würde sie sich erstatten lassen! Zum Glück hatte sie die Rechnung aufbewahrt.

„Diese unverschämten Rotzlöffel!“ Wütend ballte sie die Fäuste und beschloss, sofort hinüberzugehen und bei den Nachbarn zu klingeln. Dieses Mal würde sie nicht bis zum nächsten Tag warten! Bis dahin wäre ihre Wut wieder verflogen und sie würde einfach nichts tun. Das kannte sie nun schon von sich selbst. Es war kein Licht mehr zu sehen, die Fernsehgeräusche kamen aus einem anderen Haus. Das war vermutlich das junge Pärchen, das zwei Häuser weiter vor einigen Tagen eingezogen ist.

Wie spät es wohl sein mochte? Die Buben lagen sicher schon lange im Bett und die Eltern vermutlich auch, wie die dunklen Fensterscheiben bewiesen. Also würde sie doch bis zum Morgen warten müssen. Vielleicht sollte sie es ganz bleiben lassen, dachte sie versöhnlich.

Nun entdeckte sie die Laubharke, die mit den Zinken nach oben neben ihr im Gras lag. Einige Moosbüschel hatten sich zwischen den Zinken verfangen.

Hatte sie das Laub zusammengerecht? Ihr fehlte jegliche Erinnerung daran.

Sie musste schon eine ganze Weile hier draußen gelegen haben, schlussfolgerte sie. Schließlich begibt man sich nicht während der Dunkelheit hinaus, um Laub zu harken.

Vielleicht war sie ungeschickt draufgetreten und der Stiel hatte sie zu Fall gebracht?

Oder die unverschämten Buben haben sie niedergeschlagen! Ihre Wut war noch nicht ganz verraucht und diese Version gefiel ihr besser. Der Gedanke daran brachte ihr Blut weiterhin in Wallungen. Wütend presste sie die Lippen zusammen.

Vorsichtig führte sie ihre rechte Hand zum Gesicht. Es fühlte sich seltsam an ohne Brille, die nahm sie normalerweise nur zum Schlafen ab. Sie spürte eine Unebenheit an der linken Stirnhälfte, es war eine ziemlich große Wunde, die glücklicherweise keine Schmerzen verursachte. Das könnte aber auch der Schock sein. Sie wusste vom Erste Hilfekurs, dass sich die Schmerzen manchmal erst später bemerkbar machen, wenn der Schock nachlässt.

Also ist das gar kein Ketchup, sondern Blut. Sie begann zu schwanken. Wurde sie nun ohnmächtig?

Schockiert taumelte sie zur Hintertür. Sie wollte sich die Wunde im Spiegel ansehen und das Gesicht reinigen. War sie etwa betrunken gewesen und hat sich dabei die Wunde zugezogen?

Und schon war die Wut wieder gänzlich verraucht. So war es immer. Wenn sie sich nicht gleich Luft machte, wurde das nichts mehr mit der Beschwerde. Sie wusste jetzt schon, dass sie am nächsten Morgen nicht mehr die Energie haben würde, bei den Nachbarn zu klingeln, um sich zu beschweren.

Für die kaputte Brille würde die Versicherung aufkommen, da war sie sich sicher. Schließlich hatten die nicht einmal etwas zu beanstanden gehabt, als sie den wertvollen Familienschmuck ihrer Stiefmutter als gestohlen meldete.

Das war Thomas´ Idee. Thomas war Hildes Sohn und ein erfolgreicher Finanzberater und vom Fach. Er wusste wie man das macht.

Gabi und Hilde waren schon ein Paar, als die Stiefmutter noch lebte. Diese konnte Hilde nicht leiden und Gabis Liebschaft durfte zu Mutters Lebzeiten das Haus nicht betreten. Gabi empfing ihre Freundin damals heimlich, wenn die Eltern schliefen oder nicht da waren. Verschmitzt dachte sie an die Zeit zurück und ein verträumtes Lächeln erhellte ihr Gesicht. Wie lange mochte das her sein? Sicher schon zehn Jahre. Schön wars, wie sie sich heimlich unter der Bettdecke versteckt haben, als die Eltern einmal früher nach Hause kamen. Hilde musste dann warten, bis die Eltern schliefen. Erst dann konnte Gabi sie auf leisen Sohlen zur Tür bringen und in die Freiheit entlassen.

Es wurde ihnen nie langweilig, sie konnten sich damals gut miteinander beschäftigen. „Damals“, dachte Gabi traurig. Das Feuer jener Zeit war schon lange verraucht.

Hilde und Thomas wussten, wie man das Geld wieder unter die Leute brachte. Sie haben Gabi schon Unsummen gekostet.

Hilde besaß eine Boutique und benötigte immer wieder Geld, um Waren anzukaufen. Jedes Mal hat sie Gabi geschworen, es zurückzuzahlen, aber die Einnahmen waren immer so gering, dass nichts übrigblieb, um die Schulden zu begleichen.

Im Gegenteil, immer wieder bat Hilde um finanzielle Zuwendungen. Erstaunlicherweise hatte das Geld sogar noch für ein schickes neues Cabriolet gereicht. Aber egal. Gabi war bescheiden, sie brauchte nicht viel und wollte, dass ihre Freundin glücklich war.

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie hier immer noch ratlos hinter dem Haus herumstand. Es war April und eigentlich war ihr immer kalt, heute seltsamerweise nicht.

In den Blumenrabatten blühten die Narzissen und auch einige späte Krokusse in verschiedenen Farben. Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben, aber sie konnte die Blumen vage erkennen. Der Lichtkegel aus dem Wohnzimmer beleuchtete einen Teil des Beetes, während der Rest des Gartens in ein gruseliges Grau getaucht war.

Gabi hatte im vergangenen Herbst einige Tulpenzwiebeln gesteckt, leider war auch jetzt noch kein einziges Tulpenblatt zu sehen. Sie würde im Herbst bei einem anderen Gärtner die Zwiebeln erwerben und es erneut versuchen.

Wie gerne hätte sie sich ein Sträußchen Tulpen aus ihrem eigenen Garten in die Vase gestellt. Sie nahm sich vor, morgen welche aus dem Blumenladen zu holen. Früher hatte Hilde ihr manchmal welche mitgebracht, aber das war früher.

Allerdings hatte auch sie früher manchmal einen Strauß für Hilde erworben. Auch bei ihr hatte es nachgelassen, dachte Gabi selbstkritisch. Also würde sie morgen zwei Sträuße kaufen, einen für Hilde und einen für sich selber. Zumindest nahm sie sich das fest vor. Zuvor würde sie mit der kaputten Brille zum Versicherungsvertreter gehen.

Dann fiel ihr ein, dass sie ja gar kein Auto hatte und in letzter Zeit sehr schlecht zu Fuß war. Vielleicht würde sie es mit dem Bus schaffen, die Haltestelle war nur zwei Straßen weiter. Sie könnte es aber auch auf die kommende Woche verschieben. Dieser Gedanke gefiel ihr besser. Dann wäre sie sicher etwas fitter als im Moment.

Sie stand immer noch nachdenklich hinter dem Haus und wunderte sich weiterhin, dass sie nicht fror. Zurzeit waren die Nächte ziemlich kalt, vorgestern gab es sogar wieder leichten Bodenfrost.

Vielleicht lag es am Wein, der wärmt scheinbar. Sie hatte heute eine andere Sorte ausprobiert. Dabei hatte sie doch erst ein Glas oder waren es zwei? Sie wusste es gar nicht mehr so genau.

Das letzte, woran sie sich erinnern konnte war, dass sie sich ein Glas einschenkte und sich auf dem Sofa niederließ. Die Flasche stand bereits geöffnet auf dem Sofatisch. Sie wusste nicht mehr, ob schon etwas fehlte oder sie noch voll war.

Anschließend schaltete sie den Fernseher ein und nippte an ihrem Glas. Mehr wusste sie von diesem Abend nicht.

Was lief denn noch gleich im Fernseher? So sehr sie auch in ihrem Gedächtnis kramte, sie wusste es nicht.

Was war denn nur los? So vergesslich war sie doch sonst nicht. Etwas „tüddelig“, das musste sie zugeben. Aber dass sie sich an gar nichts mehr erinnerte, das kam nur bei übermäßigem Alkoholgenuss vor.

Vermutlich hatte sie vorher, in der Küche, schon von dem Whiskey getrunken, anscheinend vertrug sie das Zeug nicht mehr. Sie würde damit aufhören, nahm sie sich wieder einmal halbherzig vor.

Alkohol, der Seelentröster. Er half zu vergessen und ertragen. „Jeder hat sein Päckchen zu tragen.“ Gabi trug ein ganzes Paket mit sich herum.

„Aber das haben viele andere auch oder?“ sprach sie kleinlaut zu sich selbst. Eigentlich konnte sie sich auch gar nicht beklagen. Sie hatte ein wunderschönes Haus und ein großes Vermögen geerbt, und doch war sie die meiste Zeit ihres Lebens unglücklich.

„Geerbt, wie sich das anhörte. Das bedeutet immer, dass jemand gestorben ist.“ Ihr gehörte nach Papas Tod die Hälfte des Hauses. Seitdem auch die Stiefmutter nicht mehr am Leben war, gehörte ihr alles, allerdings war sie nun auch allein.

Schnell verwarf sie die Tatsache wieder, dass rechtmäßig eine Hälfte des Hauses und des Vermögens ihrem Stiefbruder zustand.

„Aber was solls, das Leben kann auch schön sein und ich habe es wirklich gut,“ versuchte sie, sich wieder aufzumuntern.

Sie hatte keine Geldsorgen und gute Freunde, wenn auch nur wenige. Was braucht man mehr? Gabi wusste selber nicht, warum sie ständig so deprimiert und traurig war.

Manchmal plagte sie das Gewissen. Sie hatte einige Dinge getan, die man nicht tun sollte. Nun war es allerdings nicht mehr zu ändern. Es war alles Vergangenheit.

Ihre Mutter war dem Alkohol sehr zugetan. Als sie starb war Gabi noch keine zwanzig. Brauchte auch die Mutter den Alkohol als Trost? Aber warum? Gabi konnte sich an die Zeit gar nicht mehr richtig erinnern.

Auch ihren Bruder hat der Alkohol auf dem Gewissen, er ist betrunken Auto gefahren und tödlich verunglückt. Klaus ist nur 22 Jahre geworden.

Dieser Verlust war für Gabi schlimm. Ihr Bruder war für sie immer wie ein guter Freund gewesen und sie hatte ihn sehr gern. Seit seinem Tod verkroch sie sich oft in ihrem Zimmer unter der Bettdecke und weinte vor sich hin.

Zwei Jahre danach hat ihr Vater dann wieder geheiratet. Der angesehene Professor war geblendet von der Schönheit und Intelligenz seiner Angebeteten. Sie war geschieden und so ganz anders, als seine erste Frau.

Seine Neue trank keinen Alkohol und lebte äußerst gesund. Sie achtete sehr auf ihr Aussehen, bei ihr musste immer alles perfekt sein.

Gabi mochte die Frau nicht. Immer wieder kam ihr damals die böse Stiefmutter von Schneewittchen in den Sinn. In ihrem Fall war Gabi froh, dass sie selbst keine Schönheit und die Stiefmutter auch nicht so böse wie in dem Märchen war.

Sie meinte es angeblich immer gut mit Gabi und wollte sie zwingen weniger zu essen und sich mehr zu bewegen.

Die Stiefmutter war schlank und Gabi sollte es auch werden. Schließlich sollte Gabi in die vornehme Gesellschaft passen, die nun hier oft verkehrte. Das wollte Gabi aber ganz und gar nicht.

Sie hat dann heimlich ihre Tafeln Schokolade gegessen und die Stiefmutter wunderte sich, dass ihre Diät bei Gabi nichts änderte. Mit einem lächelnd dachte Gabi an die Zeit zurück. Leider war auch ihr Vater nun schon lange tot. Der gute Mann war sehr krank und hat dann auf der Intensivstation einfach die Stecker gezogen, die ihn am Leben erhalten sollten.

Nach dem Tod ihres Vaters war Gabi mit seiner zweiten Frau allein. Nachdem auch sie vor fünf Jahren starb, bestand ihre gesamte Familie nur noch aus einem Menschen, und das war Hilde, die sie regelmäßig besuchte. Hilde war ihre Familie.

Nun sollte sie aber ins Badezimmer und die Wunde säubern, schalt sie sich selbst.

Flink begab sie sich durch die Hintertür ins Haus, im Flur brannte noch das Licht.

Was war denn mit dem Spiegel? Sie konnte sich darin nicht sehen. Nur das türkisfarbene Badehandtuch, das hinter ihr an der Stange zum Trocknen hing, leuchtete ihr im Spiegel farbenfroh entgegen.

Das musste daran liegen, dass sie keine Brille trug, schlussfolgerte sie.

Ihr Spiegelbild war ihr schon immer relativ egal. Gabi konnte sich das Blut auch abwaschen, ohne etwas zu sehen.

Aber wie sehr sie sich auch anstrengte, der Wasserhahn ließ sich nicht mehr aufdrehen. Das auch noch! Sie würde gleich am nächsten Morgen den Klempner anrufen müssen. Darauf hatte sie absolut keine Lust. Vielleicht würde Hilde oder Gabis Haushälterin das für sie erledigen.

Warum hatte sie die zerbrochene Brille nicht gleich mitgenommen? Sie ärgerte sich wieder einmal über sich selber. Der Versicherungsmann würde sie als Beweis sehen wollen und vielleicht konnte sie durch die zerbrochenen Gläser noch etwas erkennen. Erneut begab sie sich durch den hellen Flur hinaus in die Dunkelheit.

Inzwischen hatte es sich bewölkt und weder Mond, noch Sterne waren zu sehen. Sie fand den Weg hinter das Haus auch in der Dunkelheit, vorbei an den Oleandersträuchern.

Um sie herum war inzwischen alles ruhig. Der Film, der vorhin noch in der Nachbarschaft lief, war wohl vorbei und alle schliefen längst. Nur bei ihr im Wohnzimmer brannte noch Licht. Auch sie sollte allmählich schlafen gehen, ermahnte sie sich. Schließlich hatte sie am nächsten Morgen einiges zu erledigen. Oder war es schon heute? Es war sicher bereits nach Mitternacht.

Die Laubharke fiel ihr wieder ein. Sie musste aufpassen, dass sie nicht noch einmal darauf trat. Sie würde sie gleich an die Wand stellen und morgen Nachmittag das restliche Laub beseitigen.

Wieder einmal wunderte sie sich, wie sie auf die dumme Idee gekommen ist, in der Dunkelheit hinter dem Haus herum zu werkeln. Verständnislos schüttelte Gabi den Kopf und beschloss erneut, ihren Alkoholkonsum wenigstens zu reduzieren. Ein Glas am Abend wäre doch genug.

Irgendwie erschien ihr heute alles so seltsam, so unwirklich. Sie spürte weder die Wärme im Haus, noch die Kälte draußen und fühle sich so angenehm leicht, wie in Watte gepackt.

Hilde hatte recht, es war doch gut, dass Gabi schon länger auf die Einnahme ihrer Herztabletten verzichtete. Hilde war da ganz resolut und hatte Gabis Tabletten einfach entsorgt. Die Natur hat für alles ein Mittel und in der Nähe würde immer das Kraut wachsen, das man gerade benötigt, hieß es.

So war es auch. Gabi hatte in ihrem Garten mehrere Oleandersträucher. Die hatte die Stiefmutter noch zu Lebzeiten gepflanzt. Es hieß immer, dass sie giftig seien, aber Hilde kannte sich aus. Oleander war förderlich für die Herzleistung, so stand es in einigen Kräuterbüchern. Gabi hatte es selbst gelesen.

Anfangs ging es ihr damit nicht so gut. „Es dauert immer einige Zeit bis die Wirkung bei Naturheilmitteln einsetzt“, meinte Hilde. Auch das hatte Gabi schon einmal gehört. Nun war es wohl soweit und die Oleandertropfen wirkten endlich.

Die Ärzte übertreiben doch immer mit ihren Ratschlägen, dachte sie. Von wegen, ohne meine Tabletten wird es mir sehr schlecht gehen, da hat sich der Herr Doktor aber gewaltig geirrt!

Wie klug Hilde doch war. Warum hatten sie eigentlich nicht geheiratet? Inzwischen waren gleichgeschlechtliche Ehen keine Seltenheit.

Sie konnte sich noch daran erinnern, wie Hilde ihr einmal vorschlug, zu heiraten. Das war ziemlich zum Anfang ihrer Beziehung. Sie waren etwa ein Jahr zusammen und Hilde war der Meinung, mit einem Trauschein würde auch die Stiefmutter akzeptieren, dass die Beiden ein Paar waren.

Gabi war gegen eine Hochzeit, sie wusste selber nicht warum. Vielleicht war es noch zu früh, Gabi war keine Freundin von schnellen Entscheidungen. Inzwischen sind sie fast zehn Jahre zusammen und ihre Liebe ist dem Alltagstrott gewichen.

Vielleicht war es jetzt an der Zeit für einen Trauschein? Sie würde darüber nachdenken und morgen entscheiden. Oder doch eher übermorgen? Morgen waren andere Dinge zu erledigen.

Wieder ertappte sie sich, wie sie einfach nur nachdenklich dastand, die geöffnete Hintertür im Rücken. Der Mond hatte nun eine freie Stelle zwischen den Wolken gefunden und die Sträucher warfen ihre schwarzen Schatten auf den Rasen. Gabi fiel gar nicht auf, dass ihr Körper im Lichtschein keinen Schatten warf.

Warum wollte sie jetzt eigentlich noch einmal hinaus? Es war doch dunkel. Nachdenklich berührte der rechte Zeigefinger ihren gespitzten Mund. Dann fiel es ihr wieder ein. Sie wollte ihre Brille vom Hof holen und die Laubharke wegräumen.

Die Wolken verzogen sich immer weiter und der fast volle Mond tauchte den Garten in ein kühles Halbdunkel. Bedächtig verließ Gabi den Lichtkegel, der den Kiesweg durch die offene Tür beleuchtete.

Was war denn das?! Schockiert entdeckte sie einen leblosen Körper im Lichtschein des Wohnzimmerfensters. Vorsichtig trat Gabi näher, um die regungslose Person zu betrachten.

Es war eine Frau. War sie in Ohnmacht gefallen? Ihr Kopf lag in einer Blutlache. Sie konnte nur die rechte Seite des Gesichts sehen. Das halboffene Auge sah verträumt in die Ferne.

„Hallo?“ sprach Gabi die Frau vorsichtig an, aber diese rührte sich nicht. War sie nur eine gute Schauspielerin oder wirklich ohnmächtig oder gar tot? Ängstlich tippte sie die Schulter der Frau an, aber diese reagierte nicht. Dann hielt Gabi ihre Hand vor die Nase der Fremden.

Hoffentlich springt sie nicht plötzlich auf und schlägt mich nieder, dachte Gabi ängstlich. So etwas hatte man schon öfter gehört.

Es war kein Atem zu spüren, anscheinend war die fremde Frau tot.

Oh je, Gabis Herz raste und sie fürchtete nun doch, einen Herzinfarkt zu bekommen. Sie zwang sich zur Ruhe und atmete tief ein und aus.

Sie musste den Arzt rufen, vielleicht konnte er die Frau noch retten.

Ihre Knie zitterten und die Beine wollten sich nicht bewegen. Wie angewurzelt blieb sie stehen und betrachtete die Frau. Seltsamerweise trug die Fremde dieselben Spangen im Haar, wie sie selbst.

Gabis dunkelbraunes Haar war inzwischen mit Silberfäden durchzogen und ziemlich dünn. Gerne hätte sie wieder so lange kräftige Haare wie früher, als Jugendliche, aber das war einmal.

Nun reichte ihr das Haar schon fast wieder bis auf die Schultern. Ein Friseurbesuch war längst überfällig, ihr gefiel ein Kurzhaarschnitt besser. Aber in letzter Zeit konnte sie sich einfach nicht dazu aufraffen. Vielleicht fand sie eine Friseuse, die zu ihr ins Haus kam, aber das hatte auch noch Zeit.

Im Moment hielten zwei silberne Spangen ihr Haar zusammen, damit es nicht ständig im Gesicht herumhing, das kitzelte immer so.

Welch seltsamer Zufall, dass die Frau genau dieselben Spangen trug, sie waren nur durch den Fall etwas verrutscht. Instinktiv griff Gabi an ihren Kopf. Ihre Spangen saßen noch dort, wo sie hingehörten, stellte sie erleichtert fest.

Die Kleidung der Dame hatte einiges von dem Blut abbekommen. Hoffentlich konnte man es noch auswaschen. Das müsste man eigentlich gleich machen, sonst bekam man die Flecken vermutlich nicht wieder heraus.

Das jämmerliche Geschrei einer Katze schreckte sie auf. „Meine Güte, warum muss man sich nur solch lästige Viecher halten,“ fluchte sie vor sich hin. „Die sind doch zu nichts nütze und zerkratzen nur die Beete im Garten!“

Sie wollte sich schon bücken und einen Stein in die Richtung werfen, aus der das Geschrei ertönte. Aber das Katzengeschrei hinter der Buchsbaumhecke verstummte genauso plötzlich, wie es erklungen war.

Verständnislos schüttelte Gabi den Kopf. Sie konnte nicht verstehen, warum die Nachbarn solch einen schwarzen Vierbeiner mit durchfütterten. Die hatten doch schon genug Ärger mit ihren beiden Söhnen, die nur zu gerne Max und Moritz aus dem Wilhelm Busch Album nacheiferten.

Das nächtliche Katzengeschrei ging ihr jedes Mal durch „Mark und Bein“. Einmal hatte sie sich bei den Nachbarn darüber beschwert, aber die haben nur mit den Schultern gezuckt und gemeint, dass Katzen nun mal so sind.

Ihr Blick fiel wieder auf die leblose Gestalt. Besorgt sah Gabi sich die Kleidung der Frau an. Sie trug einen bequemen hellgrauen Jogginganzug und an den Füßen dicke Schafwollsocken. Ihre Gartenclogs waren von den Füßen gerutscht und lagen daneben.

Sie konnte die Fremde doch nicht einfach hier entkleiden, um die blutbefleckte Joggingjacke einzuweichen! Aber es wäre wirklich sehr schade um die Kleidung.

Gabi erinnerte sich an ihre eigene Kopfwunde und blickte nachdenklich an sich herunter. Sie trug genau den gleichen Jogginganzug. Welch ein Zufall. Auch die Socken und die dunkelgrünen Clogs sahen genauso aus.

Na nu? wunderte sie sich. War es Zufall oder wollte die Fremde eine Kopie von Gabi darstellen? Vielleicht eine Psychopathin? Sie hatte schon einmal gehört, dass es Menschen gibt, die genauso sein wollten wie eine andere, bewundernswerte Person.

Aber wer sollte Gabi bewundern? Sie war eher eine graue, unauffällig Maus, dachte sie traurig mit einem Blick auf den leblosen Körper, der vor ihr lag.

Vielleicht lag es auch am Licht. „Nachts sind alle Katzen grau,“ heißt es und vielleicht trifft es auch auf Menschen zu. Bei Tageslicht würde alles sicher ganz anders aussehen.

Aber auch die sichtbare Gesichtshälfte sah aus wie das, was Gabis Spiegel ihr täglich zeigte. Nur der Mund der Frau war zusammengekniffen und etwas verschoben. Prüfend befühlte Gabi ihren eigenen Mund. Nein, der war doch etwas anders. Sie hatte sich schon lange abgewöhnt, in unangenehmen Situationen die Lippen zusammenzupressen. Die Stiefmutter mochte das nicht.

Was für eine seltsame Nacht. Sie würde den Arzt rufen, vielleicht konnte er die Frau noch retten und dann würde sie sich einfach ins Bett verkriechen und schlafen.

Entschlossen begab sie sich zurück ins Haus, um das Telefon zu suchen. Wieder war sie erstaunt darüber, wie schnell sie, im Gegensatz zum Nachmittag, nun war.

Sie hatte den ganzen Tag auf dem Sofa gelegen. Es ging ihr gar nicht gut, sie musste sich übergeben und war sehr schwach. Deshalb fiel das Telefonat mit Hilde auch nur kurz aus. Diese war der Meinung, Gabi hätte etwas „Falsches“ gegessen. Wahrscheinlich war der Fisch, den Gabi sich mittags gebraten hatte, nicht ganz in Ordnung.

Wie war denn nur gleich die Notrufnummer? Vor lauter Aufregung fiel sie ihr nicht ein und das Telefon war auch verschwunden. Sicher hatte es sich unter der Programmzeitschrift versteckt, dachte Gabi hoffnungsvoll.

Wieso nur sah die Tote, so aus wie sie selbst? Und warum trug sie die gleiche Kleidung wie Gabi? Nachdenklich stand sie in der Tür zum Wohnzimmer. Im Fernseher lief gerade der Blaulicht- Report.

Na das passt ja, dachte sie ironisch und musste kurz über sich selbst lachen. Die können gleich vorbeikommen und eine neue Folge drehen. Wieder kicherte sie in sich hinein. Sie fand sich witzig. Dabei behauptete Hilde immer, dass sie viel zu ernst sei. Vielleicht sollte sie das mit der Heirat doch lieber bleiben lassen, sinnierte sie trotzig.

Ob die Frau da draußen eine Doppelgängerin von ihr war? Sie hatte einmal gelesen, dass jeder Mensch mindestens einen Doppelgänger auf der Welt hat.

Schade, dass die Frau tot war. Sie hätte ihre Doppelgängerin gerne kennengelernt.

Es könnte auch sein, dass sie noch eine Schwester hatte. Auch das hatte sie schon öfter gehört. Plötzlich tauchen Geschwister auf, von denen man vorher nichts wusste.

Ihr Vater war oft auf Geschäftsreisen, vielleicht hatte er noch weitere Kinder gezeugt. Gabis Mutter konnte seine ständige Abwesenheit nicht verkraften und tröstete sich mit Alkohol.

Was Hilde wohl dazu sagen würde? Es gab eine andere Frau, die so aussah wie Gabi. Vielleicht würde sich Hilde in die andere verlieben, dachte sie eifersüchtig. Zum Glück war eine Tote keine Konkurrenz. Und wenn sie doch noch lebte?

Sie musste an ihren Stiefbruder Fritz denken. Mutter und Sohn haben sich überhaupt nicht verstanden und hatten kaum Kontakt zueinander. Seitdem seine Mutter gestorben war und Gabi allein in der Villa lebte, telefonierten sie fast jede Woche miteinander.

Fritz hätte sich sicher auch über eine weitere Schwester gefreut. Er hatte noch einen jüngeren Bruder gehabt, der ertrunken ist.

Ihr fiel wieder ein, dass sie den Arzt anrufen wollte. Das schnurlose Telefon lag tatsächlich unter der Programmzeitung.

So vergesslich bin ich also doch noch nicht, dachte Gabi stolz. Ihre Hände zitterten vor Aufregung und sie konnte die Nummer nicht wählen.

Ihre Gedanken kehrten zurück zum Hinterhof und die Laubharke fiel ihr wieder ein. Sie musste die Laubharke wegräumen, bevor noch jemand dadurch zu Schaden kam!

„Sicherlich war die Frau versehentlich draufgetreten, der Stiel ist ihr dabei gegen den Kopf geschlagen und sie ist deshalb gestürzt. Dabei ist sie unglücklich gefallen. So wird es gewesen sein,“ sprach sie zu sich selbst.

Was die Fremde wohl hinter dem Haus gemacht hat? Vielleicht wollte sie Gabi erst durch das Fenster beobachten und dann entscheiden, ob es sinnvoll wäre, sie anzusprechen. Ansonsten hätte sie sich wahrscheinlich so unauffällig verzogen, wie sie aufgetaucht war, schlussfolgerte Gabi.

Irgendetwas stimmte hier nicht, es war alles so widersprüchlich, so unwirklich. Wie ist die Frau überhaupt dort hingekommen? Man konnte nur durch das Haus auf den Hof gelangen. Gabi hätte sie bemerken müssen. Von einem Glas Rotwein wird man doch nicht so blind, dass man nicht einmal mitbekommt, dass jemand durchs Haus schleicht! Außerdem waren doch alle Eingangstüren verschlossen!

Woher nur diese verblüffende Ähnlichkeit kam, wunderte Gabi sich erneut. Vielleicht war das sogar ihre Zwillingsschwester, von der sie nichts wusste? Das würde auch erklären, warum die Frau dieselbe Kleidung trug wie Gabi. Hose, Jacke, Schuhe, alles war identisch und sie lag immer noch regungslos auf dem Boden, wie Gabi durch das Fenster sehen konnte.

Gabi hatte einmal gehört, dass Zwillinge manchmal unbewusst das gleiche machen und auch, ohne es zu vereinbaren, dieselbe Kleidung trugen.

Vielleicht hatte ihre Mutter einen Zwilling gleich nach der Geburt weggegeben, weil ihr zwei Töchter zu viel waren und jetzt hatte ihre Schwester sie ausfindig gemacht. „So wird es sein, das klingt plausibel,“ sprach sie erleichtert und nickte, um diese Erkenntnis zu bestätigen.

Warum nur lag ihre Schwester blutverschmiert auf dem Hof herum? Es war nach Mitternacht, die Frau atmete nicht mehr und auch einen Puls hatte sie nicht fühlen können. Die Frau war eindeutig tot. Es würde niemanden etwas nützen, den Doktor um diese Zeit aus dem Bett zu klingeln, in diesem Fall konnte kein Arzt mehr helfen.

Gabi würde jetzt auch zu Bett gehen. In ein paar Stunden hatte Branka, ihre Haushaltshilfe hier Dienstbeginn. Branka würde wissen, was zu tun war.

Grübelnd lag Gabi nun auf ihrem Bett. Sie mochte sich nicht ausziehen, eigentlich mochte sie jetzt gar nichts mehr.

Am Morgen würde sie Hilde anrufen und ihr erzählen, dass sie Recht hatte. Die Oleandertropfen haben viel besser geholfen, als die Tabletten vom Arzt und ihr war auch gar nicht mehr übel. Meine Hilde meint es doch gut mit mir, dachte Gabi liebevoll.

Sie haben viel erlebt in all den Jahren, in denen sie ein Paar waren, verbrachten schöne gemeinsame Stunden und Urlaube miteinander. Zwei unzertrennliche Seelen. Hilde hatte ihr gezeigt wie es ist zu lieben und geliebt zu werden und wie schön körperliche Nähe sein konnte.

Gabi hatte früher ganz schreckliche Erfahrungen mit Männern gemacht, seitdem durfte kein Mensch ihr mehr so nahekommen.

Dann war da Hilde, die hübsche Boutique-Besitzerin. Natürlich war es, wie in jeder Beziehung, nicht immer einfach und sie hatten auch große Krisen zu überstehen. Allerdings mochte Gabi keinen Streit, sie war sehr harmoniebedürftig und gab daher meist nach.

Ob Hilde sich wohl auch für mich interessieren würde, wenn ich kein Geld hätte? Schnell verwarf Gabi den Gedanken wieder. Sie war froh, dass sie Hilde hatte. Hilde war ihr alles Geld wert, das sie besaß.

Gabis Stiefmutter hat Hilde nie gemocht, und ihre Geliebte durfte zu Lebzeiten der alten Dame dieses Haus nicht betreten. Nach dem Tod ihres Vaters lebte Gabi mit der Stiefmutter allein in der Villa. Gabi nannte ihre Stiefmutter heimlich die „Gräfin“, weil sie sich immer so anmutig und vornehm benahm. Ihre Eltern waren einst Gutsherren. Sie war auch noch mit 80 Jahren eine gutaussehende Frau, die immer sehr auf ihr Äußeres achtete. Wahrscheinlich war ihr Vater der „Gräfin“ wegen ihrer Schönheit dermaßen verfallen.

Gabis Vater war ein angesehener Obermedizinaldirektor und die „Gräfin“ ein wunderbares Aushängeschild, auf das die Leute flogen, wie Motten ins Licht. Sie war immer perfekt gekleidet und zurecht gemacht. Da gab es keinen Makel, sie war auch eine perfekte Gastgeberin. Gabi dagegen war das Aschenputtel und hat sich lieber zurückgezogen, während die Eltern vor ihren Gästen „glänzten“.

Eigentlich haben sie gar nicht zusammengepasst. Gabis Vater war ein liebevoller, warmherziger Mann und die Gattin eine herbe, kalte Schönheit, die Schneekönigin. Perfekt in der Optik, aber eiskalt.

Seit Thomas erwachsen war, lief es gar nicht mehr so gut zwischen Hilde und Gabi. Thomas war Hildes Sohn und ständig hatte er irgendwelche Forderungen und komische Ideen.

„Das wird noch mal ein böses Ende nehmen mit ihm,“ sprach Gabi ihre Gedanken laut aus. Sind Mütter so, dass sie alles für ihre Kinder tun und immer zu ihnen halten, egal was sie auch anstellen? Sie konnte da nicht mitreden, Gabi hatte keine Kinder.

Der Versicherungsbetrug mit dem Familienschmuck war nicht so schlimm, die Versicherung besaß schließlich genug Geld und konnte ruhig auch mal was zahlen!

Gabi musste daran denken, wie sie und Hilde gemeinsam mit Thomas einen Plan ausdachten, um die Versicherungssumme zu kassieren. Thomas war ein kluges Köpfchen und hatte den Plan gemacht. Gabis anfängliche Bedenken waren grundlos. Es hat alles wirklich gut geklappt, so wie Thomas es vorausgesagt hatte.

Die Sache mit dem Testament war schon etwas schwieriger. Gabis Gewissensbisse wegen ihrem Stiefbruder plagten sie immer noch. Eigentlich gehörte ein Teil der Erbschaft Fritz. Fritz war der leibliche Sohn der „Gräfin“, also Gabis Stiefbruder. Das Wort „Stief“ ist irgendwie komisch, woher es wohl stammt? dachte Gabi amüsiert. Fritz und sie haben sich nicht wie Stiefgeschwister gefühlt, er war für Gabi immer ihr Bruder und sie seine Schwester.

Fritz hatte seinen Pflichtteil nie einfordert. Ihm gehörte rechtmäßig die Hälfte der Villa, die ihre Eltern gemeinsam einst erbauten. Von dem Vermögen war nun auch nicht mehr viel übrig. Thomas wollte eine Generalvollmacht und hat dann eine Menge Geld von Gabis Konto abgehoben. So war das eigentlich nicht abgemacht und Gabi hatte ihn zur Rede gestellt. Daraufhin wurde er sehr wütend.

Thomas war immer sehr aufbrausend, da war es besser, sich seinem Willen zu fügen. Einmal wäre ihm fast die Hand ausgerutscht, aber Hilde konnte ihn im letzten Moment noch zurückhalten. „Was willst du alte Schachtel denn mit dem ganzen Geld? Du brauchst es doch nicht mehr. Meine Mutter und ich haben dafür bessere Verwendung,“ schrie er Gabi in seiner Rage an.

Er konnte sich an jenem Tag gar nicht mehr beruhigen und meinte, sie solle sich nicht so anstellen und nicht so geizig sein. Das waren harte Worte, aber Gabi fügte sich, wie immer. Was hätte sie auch tun sollen?

Hilde war dem Alkohol sehr zugetan. Gabi hingegen hat von diesem Zeug damals nicht viel gehalten. Schließlich waren ihre Mutter und ihr Bruder schon dem Alkohol zum Opfer gefallen und auch ihr Vater war dem flüssigen Rauschmittel nicht ganz abgeneigt gewesen.

Allerdings hat auch Gabi im Laufe der Jahre gelernt, mit diesem Seelentröster zu leben. Er war die Verbindung zu Hilde und sie hatten gemeinsam viele lustige Feiern, oft auch nur zu zweit.

Irgendwie schien es damals, als die Stiefmutter noch lebte, eine verkehrte Welt zu sein. Es war immer so, als wäre Fritz der Stiefsohn und Gabi die leibliche Tochter. Das Leben ist doch manchmal merkwürdig.

Es war testamentarisch festgelegt, dass im Falle von Gabis Ableben, Fritz alles erben sollte. Aber dann wollte Thomas, dass sie ihn als Alleinerben einsetzte.

„Fritz wird es nie erfahren, er ist mehr als 10 Jahre älter als ich und wird die Welt sicher vor mir verlassen.“ Damit beruhigte sie jedes Mal ihr schlechtes Gewissen, wenn es wieder drohte, präsent zu werden.

„Da kann es ihm egal sein, wer das Haus bekommt, wenn wir beide mal nicht mehr sind.“

So dachte sie damals und setzte Thomas als Alleinerben ein. Es war Hilde wichtig, dass ihr Sohn nach ihrem Ableben versorgt war, das konnte Gabi gut verstehen. Irgendwie war es ja auch Gabis Sohn, ihr Stiefsohn sozusagen, auch wenn sie nicht verheiratet waren und auch nicht zusammenlebten.

Dann war da aber noch die Sache mit dem Versicherungsbetrug: Thomas hatte gedroht, alles der Polizei zu erzählen, wenn er nicht Alleinerbe werden würde. Der als gestohlen gemeldete Schmuck lag immer noch unversehrt im Tresor. Sie hätten natürlich die Schuld auf Gabi geschoben.

Zwei gegen einen, da hätte sie keine Chance gehabt. Außerdem war Thomas ein angesehener Finanzberater, dem würden sie eher glauben, als ihr. Sie hätte wahrscheinlich einige Zeit ins Gefängnis gemusst. Wer weiß, was der feine Herr Sohn ihr sonst noch so angehängt hätte. Da hat sie doch lieber beim Notar das neue Testament unterschrieben.

Hoffentlich erfuhr Fritz nie von diesem Testament, das wäre Gabi sehr unangenehm. Eigentlich gehörte der Schmuck nach dem Tod seiner Mutter auch Fritz, aber er wollte ihn damals nicht haben und war der Meinung, er wäre im Tresor der Villa gut aufgehoben.

Wenn der wüsste, dachte sie voller Scham. Aber was sollte er auch mit Brillantcolliers? Sie stellte sich vor, wie Fritz mit dicken Ringen an den Fingern und einem Collier um den Hals durch das Haus lief. Welch köstlicher Gedanke! Sie musste laut lachen und konnte gar nicht mehr aufhören, bis daraus ein verzweifeltes Schluchzen wurde.

Der Schlaf wollte sich einfach nicht einstellen, zu viele Gedanken spukten im Kopf herum. Vielleicht half eine Ablenkung. Sie würde versuchen zu lesen.

„Erzähl es niemandem - die Liebesgeschichte meiner Eltern“ Eine Freundin hatte es ihr schon vor mehreren Wochen geschenkt. Seitdem lag es unbeachtet auf ihrem Nachtschränkchen. Sie war einfach immer zu erschöpft zum Lesen. Worüber handelte das Buch überhaupt? Verstohlen ließ sie ihren Blick auf den Buchrücken gleiten.

„Ohne Hitler hätte es mich nicht gegeben. Welches Gefühl ist für so einen Fall reserviert? Ich bin auf der Welt, weil meine norwegische Mutter sich in einen deutschen Besatzungssoldaten verliebt hat. Aber es gibt noch eine andere Wahrheit, die mir lange genug verschwiegen wurde.“

Das klag auch nicht gerade aufmunternd. Nein, sie wollte etwas lustiges lesen oder besser, einfach nur die Augen schließen.

Sie könnte in der Zeitschrift blättern, die sich unter dem Buch verbarg und mit ihrer bunten Titelseite penetrant um Beachtung warb. Einige Promi-Neuigkeiten, das war viel interessanter.

Allerdings benötigte sie zum Lesen die Brille. „Und schon sind sie wieder da, meine drei Probleme“, wie der Komiker Otto Walkes in einem seiner Filme oft von sich gab. Seitdem benutzte auch Gabi diesen Satz auch gerne.

Die Laubharke lag auch immer noch draußen herum, fiel ihr nun wieder ein. Sie wollte sie doch beiseitestellen, bevor noch jemand zu Schaden kam. Es wurde schon langsam hell und Gabi fragte sich, ob die Frau wohl immer noch dort hinten lag? Die kaputte Brille draußen gehörte sicher der Fremden, also musste ihre irgendwo im Haus sein. Aber wo? Sie mochte nicht aufstehen.

Vielleicht ist die Frau doch nicht tot und nur bewusstlos? Dann könnte es sein, dass sie inzwischen aufgestanden und hier im Haus ist, um sich das Blut abzuwaschen, überlegte Gabi müde. Sie hatte schon immer eine rege Phantasie. Das wurde ihr in diesem Moment wieder einmal bewusst.

Sie hätte es gehört, wenn jemand im Haus wäre. Die Frau konnte nicht mehr am Leben sein, sonst hätte sie doch vorhin noch geatmet und einen Puls gehabt, versuchte sie sich zu beruhigen.

Aber was, wenn sie sich geirrt hatte? Heute war alles so merkwürdig und sie wunderte sich schon über gar nichts mehr. Alles war möglich, wie es schien.

Sie beschloss, auf unbestimmte Zeit in ihrem Bett zu verweilen. Branka würde demnächst erscheinen und die Laubharke wegräumen. Ihre polnische Haushaltshilfe war sehr zuverlässig und Gabi im Laufe der drei Jahre, die sie nun schon hier war, eine gute Freundin geworden.

Branka würde sich um alles kümmern, das war sehr beruhigend. Gabi drehte sich nach rechts, auf ihre Schlafseite. Sie atmete tief ein und wieder aus. Noch einmal und noch einmal, aber sie konnte nicht einschlafen. Vielleicht ging es heute auf der anderen Seite besser? Also wenden. Wie ein altes Flaggschiff, dachte sie und kicherte wieder vor sich hin.

Regungslos lag sie nun auf ihrer braun-weiß gemusterten Bettwäsche. Ihr war nicht kalt und sie hatte keine Lust, sich zu zudecken. Die Knie hatte sie angewinkelt und die Hände unter der linken Gesichtshälfte verborgen. Das war eigentlich ihre Einschlafstellung, aber sie konnte einfach keinen Schlaf finden.

Der schreckliche Anblick von dem ganzen Blut verfolgte Gabi. Mit einem Seufzer drehte sie sich auf den Rücken, verschränkte die Hände auf dem Bauch und starrte an die Decke. Immer wieder sah sie die Tote vor sich. Sie sah sie an der Decke, am Schrank, an der Tür, im Spiegel, die Tote war überall. War sie nun verrückt geworden?

Wo blieb nur Branka? Sie hätte doch schon hier sein müssen. Dann könnte Branka den Arzt rufen und ihn um eine Beruhigungsspritze für Gabi zu bitten.

Sie wollte endlich schlafen, nur noch schlafen. Sie wollte ihre Ruhe und die schrecklichen Bilder vergessen. Schlafen und nie mehr aufwachen, keine Sorgen, keine Probleme mehr haben. Nur noch Ruhe, himmlische Ruhe, nicht mehr an die Vergangenheit denken und an all die Dinge, die sie lieber nicht getan hätte und vergessen wollte.

Es gibt Leute die glauben, dass man auch nach dem Tod noch weiterlebt, unsichtbar für viele andere. Sie „geistern“ dann unruhig durch die Gegend und erschrecken ihre Mitbürger, kam es Gabi in den Sinn. Aber diese Gedanken verwarf sie sofort wieder

So ein Quatsch, wenn man tot ist, ist man tot. Man sieht, hört und spürt nichts mehr. Das wäre ja schlimm, dann wäre ihre Stiefmutter ja immer noch hier und würde sie ständig zurechtweisen. Wenn sie noch als Geist anwesend wäre, hätte sie Thomas und Hilde schon längst aus dem Haus gejagt, da hätte die resolute Frau ganz sicher einen Weg gefunden. „Die ganzen Geschichten von Geistern oder irgendwelchen Wesen, die diese Welt nicht verlassen können, weil sie hier auf Erden noch etwas zu erledigen haben und den Leuten Angst einjagen, sind doch nur Märchen,“ sprach sie laut zu sich selbst und ihre Stimme wirkte beruhigend.

„Manchmal hört man ein Knacken oder seltsame Geräusche, aber das ist nur das Holz, das gerade arbeitet, oder der Wind. Da muss man nicht gleich denken, dass eine verlorene Seele versucht, auf sich aufmerksam zu machen.“ Gabi schüttelte den Kopf, was für ein Unsinn.

Sie hatte einmal einen Film gesehen, da wurde der Hauptdarsteller von seinem besten Freund umgebracht. Natürlich ging es auch in dem Fall wieder nur ums Geld. Der Ermordete war dann noch solange als Geist unterwegs, bis der Verbrecher seine Strafe erhalten hatte. Erst dann konnte der „Geschädigte“ seine Ruhe finden und hinauf ins Licht gehen.

Wenn das wirklich stimmen würde, wären wir ständig umgeben, von irgendwelchen unsichtbaren, ruhelosen Wesen, die mit uns ihre Spielchen treiben, dachte sie verständnislos.

Sie hatte inzwischen eine sitzende Position in ihrem Bett eingenommen und den Kopf an die Wand gelehnt. Nun hoffte sie, auf diese Art einschlafen zu können.

Vielleicht verschwinden bei mir deshalb manche Dinge, die dann irgendwann wieder auftauchen, obwohl ich doch überall danach gesucht habe. Sollte ihr da die verstorbene Stiefmutter einen Streich spielen? Oder etwa ihre Mutter selbst? Und der Vater? Aber der hatte ja sowieso nie viel Zeit für sie.

Wenn ich mir vorstelle, dass mein verunglückter Bruder schwer verwundet hier durch die Gegend läuft und versucht, mit mir Kontakt aufzunehmen…, dachte sie nun mit einem Frösteln und zog die Schultern hoch. „So ein Quatsch. Welch wirre Gedanken ich wieder habe!“ rügte sie sich selber. „Ich sollte mit Hilde mal wieder wegfahren und entspannen, um auf andere Gedanken zu kommen.“

Gabi nahm nun doch ihr Buch zur Hand und versuchte krampfhaft, einige Zeilen zu lesen. Sie wollte endlich auf andere Gedanken kommen. Aber die Zeilen verschwammen vor ihren Augen.

Plötzlich fiel eine Tür ins Schloss, sie hatte es genau gehört. Vielleicht war es die Frau und wollte sich mit Gabi über die Vergangenheit unterhalten? Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Gabi wollte jetzt nicht mit ihr darüber reden und ihre Ruhe haben!

In ihrer Phantasie sah sie die verletzte Frau, wie sie sich blutverschmiert ins Haus schleppt. Mit einer Hand an der Wand abstützend, geht sie schwerfällig durch den Flur, dem Badezimmer entgegen. Wahrscheinlich hat sie dabei die Brille ganz kaputtgetreten, dachte Gabi verärgert.

Ich hätte sie vorsichtshalber darauf hinweisen sollen, dass die Brille noch dort liegt. Ganz sicher hätte man die Brille noch reparieren können. Hoffentlich ist das Blut inzwischen getrocknet, sonst wäre nun der Flur damit beschmutzt, spann sie ihre Gedanken weiter.

Vorsichtig warf sie einen Blick durch die Schlafzimmertür hinaus auf den Flur. Sie hatte ihn erst im vergangenen Jahr frisch tapezieren lassen. Die weißen Tapeten gefielen ihr anfangs gar nicht, sie hätte gerne etwas mit Muster oder Blumen. Aber Hilde meinte, das wäre zu bunt und die Bilder würden dann nicht so gut zur Geltung kommen.

Als alles fertig war musste Gabi einsehen, dass ihre Freundin wieder einmal recht hatte. Hilde hatte eben Geschmack.

Im Film standen die Leute in gefährlichen Momenten meist unbemerkt im Obergeschoss, dort drohte ihnen zunächst keine Gefahr. Leider war das hier kein Film. Das Haus war damals altersgerecht und alles ebenerdig gebaut worden. Sie konnte sich nicht oben verstecken.

Nur kein Geräusch machen! Vorsichtig schlich sie durch die offene Schlafzimmertür.

Es raschelte im Flur und nun sah Gabi eine Frau vor der Flurgarderobe stehen. Sie hatte ihren Mantel ausgezogen und einen Kleiderbügel in der Hand, um ihn darauf aufzuhängen.

Hatte der Mantel etwa rote Flecken? War das etwa Blut? Gabi stockte der Atem. Nun war sie sich ganz sicher, sie war es! Die Frau aus dem Garten war ins Haus eingedrungen!

Ihr wurde ganz schwindelig vor Entsetzen. Wieder liefen ihr kalte Schauer über den Rücken. Wenn sie jetzt ohnmächtig werden würde, hätte sie verloren. Sie musste sich zusammenreißen.

Was mach ich jetzt nur? dachte sie verzweifelt und die Knie fühlten sich vor Angst an, wie Wackelpudding.

Um aus dem Haus zu laufen, musste sie an der Frau vorbei. Das ging nicht. Der einzige Fluchtweg wäre durch die Hintertür auf den Hof, aber dort säße sie in der Falle, man konnte den Hinterhof nur durch diese Tür verlassen.

Woher hatte die Frau plötzlich den Mantel? rätselte sie. Vorhin war sie doch nur mit einem Jogginganzug bekleidet.

Sie hörte den Briefkasten draußen klappern. Das war vermutlich die Zeitungszustellerin. Sie könnte um Hilfe rufen, aber die Zustellerin würde nicht ins Haus kommen können, um Gabi zu helfen. Gabi müsste ihr die Tür aufschließen und dafür müsste sie an der Frau vorbei.

Und schon hatte sie diese Chance verpasst. Die Schritte der Zustellerin verhallten bereits in der Ferne.

Vielleicht sollte sie sich einfach unter ihrem Bett verstecken und abwarten. So schwer, wie die Fremde verletzt war, würde sie sicher jeden Moment tot umfallen.

In ihren Gedanken tauchten die Bilder auf, wie die Frau im Flur in sich zusammensackte und liegen blieb. Sie würde Gabis kostbaren Läufer beschmutzen. Blutflecken bekam man schwer heraus. Sie würde ihn entsorgen und einen neuen kaufen müssen. Das wäre sehr ärgerlich, das gute Stück war eine Erinnerung an ihren Vater. Der hatte ihn damals seiner Frau aus Persien mitgebracht.

Gabi war verzweifelt und hätte am liebsten laut losgeheult, aber dann würde die Frau sie hören. Entsetzt hielt sie sich mit der linken Hand den Mund zu. Kein Laut sollte ihre Kehle verlassen, auch wenn es große Überwindung kostete.

Inzwischen hatte sich der unerwünschte Gast umgedreht und kam auf sie zu. Dabei wollte Gabi doch gerade zurück ins Schlafzimmer verschwinden und sich unter dem Bett verstecken.

Tränen füllten ihre Augen und sie sah alles nur noch verschwommen, wie durch einen Schleier.

Die Fremde musste sie bereits gesehen haben, ließ sich aber nichts anmerken. Eine gute Taktik, aber Gabi ließ sich nicht täuschen. Auch im Schlafzimmer wäre sie in der Falle. Sie musste ganz schnell an der Frau vorbeieilen und auf die Straße laufen, das war die einzige Möglichkeit zu entkommen.

Ganz fest drückte sie sich mit dem Rücken an die Wand und schob sich Richtung Ausgang. Verzweifelt wischte sie mit der linken Hand die Tränen fort. Währenddessen hatte die Frau ihren Kopf gesenkt und war mit dem Handy beschäftigt.

Vielleicht konnte Gabi doch unbemerkt entwischen. Jetzt war sie so nahe, dass sie die Frau im Flur fast berühren konnte. Diese schob nun das Handy in ihre Gesäßtasche, während sie sich zum Spiegel umwandte und sich mit geschickten Händen die Haare zu einem Zopf band.

Na wenigstens schien sie ordentlich zu sein, dachte Gabi etwas besänftigt. Hätte sie ihr etwas Böses gewollt, würde die Fremde hier nicht in aller Seelenruhe herumstehen. Der Eindringling bemerkte sie immer noch nicht.

Das Parfüm kam ihr bekannt vor. Es roch so vertraut, aber zu wem gehörte der Duft? Nachdenklich legte sie nun den rechten Zeigefinger an den Mund, so wie sie es immer tat, wenn sie angestrengt nachdachte.

Jetzt sah sie das Gesicht der Frau im Flurspiegel und eine Welle der Erleichterung durchströmte ihren Körper. Es war Branka.

Gott sei Dank! Brankas Mantel hat rote Farbtupfer, kein Blut. Erleichtert atmete Gabi aus. Sie stand inzwischen ganz nah, hinter ihrer Haushaltshilfe und atmete ihr dabei direkt in den Nacken. Die kurzen „Flaumhärchen“, die nicht in den Zopfgummi passten, wedelten lustig hin und her, bevor sie sich wieder entspannt an Brankas Hals legten.

Branka hob ihre Hand und wischte kurz mit der Hand über die Stelle, als würde sie Gabis Atem wegwischen. Sie beachtete Gabi immer noch nicht.

„Mensch Branka, hast Du mich erschreckt!“ sprach Gabi ihre Haushälterin nun vorwurfsvoll an.

„Du hättest wenigstens Guten Morgen sagen können.“ Gabi bemühte sich um einen dienstlichen Ton, schließlich war sie Brankas Chefin. Aber diese sah nur verständnislos an ihr vorbei zur offenen Tür, die zum Hof führte.

„Tut mir leid, ich hatte vergessen, die Tür vorhin zu schließen, als ich den Arzt rufen wollte.“ Gabi ärgerte sich, dass sie sich bei ihrer Angestellten entschuldigte. Es war schließlich ihr Haus und sie konnte hier machen, was sie wollte. Nun war es zu spät, die Worte waren schon heraus, hatten anscheinend aber noch nicht Brankas Ohren erreicht. Diese warf einen Blick in die Küche, dann ins Schlafzimmer.

„Stell dir vor Branka, draußen liegt eine tote Frau, die so aussieht wie ich,“ plapperte Gabi nun aufgeregt los, während sie Branka folgte. „Ich wollte den Arzt rufen und hatte vor Aufregung wohl vergessen, die Tür zu schließen. Kannst du den Arzt anrufen? Ich habe es nicht geschafft.“ Wie ein Wasserfall sprudelten die Worte nun aus ihrem Mund, aber Branka ließ sie einfach stehen. Es schien so, als würde sie etwas suchen, aber was?

„Gabi! Gaaabiii?“ rief Branka durch das Haus, nachdem sie alle Räume durchsucht hatte.

„Sehr witzig Branka, ich stehe doch hier, neben Dir. Aber gut, wenn Du es möchtest, spiele ich das Spiel mit und verhalte mich ruhig.“ Mal sehen, wie sie auf die tote Frau reagiert, dachte Gabi gespannt.

Nun begab Branka sich auf den Hof. Inzwischen hatte sich der Mond verzogen. Die Sonne schickte zaghaft ihre Strahlen auf die Erde und die Frühlingsblumen begannen ihre Blüten zu öffnen.

Entzückt blieb Branka einen Augenblick vor dem Blumenbeet stehen, um die Narzissen und die lilafarbenen Krokusse zu bewundern.

Gabi schlich ihr in gebührendem Abstand hinterher. Die Frau lag immer noch unverändert in der hinteren Ecke unter dem Wohnzimmerfenster. Gabi konnte es von hier aus sehen.

Ein kleines Zweiglein vom Haselnussstrauch hatte sich in ihrem Haar verfangen. Das Blut in ihrem Gesicht war inzwischen getrocknet und hatte eine dunkle Farbe angenommen. Das sichtbare Auge war immer noch halb geöffnet, ihr Gesicht war ziemlich verschoben und wirkte nun unnatürlich, als wäre es aus Wachs.

Jetzt hatte sie kaum noch Ähnlichkeit mit ihr, dachte Gabi beruhigt. Wahrscheinlich hatte es wirklich nur am Licht gelegen und sie sich die Ähnlichkeit nur eingebildet.

Branka löste sich nun von dem Anblick der Blumen und entdeckte die Leiche. Wie versteinert stand sie nun mit weit aufgerissenen Augen davor. Sie wollte schreien, bekam aber keinen Ton heraus. Schockiert schlug Branka die Hände vors Gesicht.