Frank - Ein Leben auf der Flucht - Marianne Birkmann - E-Book

Frank - Ein Leben auf der Flucht E-Book

Marianne Birkmann

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Beschreibung

Er ist geboren an einem kalten Novembertag, inmitten des zweiten Weltkrieges und begann vom ersten Augenblick an zu kämpfen. Gegen die strenge Mutter, die harten Schläge des Vaters, gegen die Zwänge und für sich selber. Was Heimat bedeutet erfuhr er damals nicht. Seine Eltern flohen mit ihren Kindern mehrmals vor dem Krieg und der Gewalt. Immer wieder abgeschoben ins Heim für Schwererziehbare, hat er früh gelernt sich allein durchs Leben zu schlagen. Schicksalsschläge und viele Abenteuer begleiteten sein Leben. Die zum Teil erschütternde Lebensgeschichte eines Mannes, der mehr erlebt hat, als gut für einen Menschen ist und trotzdem ein erfolgreicher Unternehmer wurde. Seine innere Unruhe und das Fluchtverhalten haben ihn ein Leben lang nicht verlassen. Abenteuerlich, spannend, dramatisch.

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Das Dreiländereck in der Rhön: Hessen, Bayern und Thüringen.
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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Deutschland 1941

Franks Eltern

Frank Woljem, geboren als Kriegskind am 17. November 1941

Januar 1945 - Flucht aus Marienburg

1945 - Flucht aus Pößneck

Anfang 1946 - Umzug nach Reinerbeck

1948 - Der Vater ist zurück

1949 – Die Teilung Deutschlands

Dezember 1950 - Neuanfang in Bad Hersfeld

1951 Ein eigenes Fahrrad für Frank

Dezember 1951 - Das erste richtige Weihnachtsfest

Weihnachten 1952

1953 – Die erste Radtour nach Hamburg

1954 - Ferien auf Fehmarn

1954 - Die Trennung der Eltern

1955 – Die Konfirmation

1956 - Wo ist Dieter?

1956 – Mit dem Fahrrad nach Rom

1957 - Wieder ein neuer Lebensabschnitt

1959 - Die erste Liebe

1962 - Ende der Lehrzeit

1962/1963 - Frank wird Vater

23. Dezember 1963 – Das erste Weihnachtsfest mit Ebba und Kind

1964 – Die Zeit bei der Bundeswehr

1965 - Umzug nach Wetzlar

1966 - Familienzuwachs

1967 - Abschied von der Bundeswehr

1968 - Umzug nach Salzgitter

1968/1969 – Die Trennung von Ebba

1970 - Urlaub mit unangenehmen Folgen

1971 - Neuanfang mit Carola

1972 - Frank wird Inhaber der Firma Woljem

1973 - Hochzeit mit Carola

1974 - Eröffnung eines weiteren Möbelgeschäftes

1976 - Einzug ins eigene Haus

1977 - Der Terrorismus erschüttert die Welt

1979 - Carolas Krankheit

Die Motorradzeit beginnt

In Hermanns Partnerschaft „kriselt“ es

1981 - Eine neue Frau in Franks Leben

1982 - Der erste gemeinsame Urlaub mit Ulla

1983 - Hermanns Demenz

1985 - Die Scheidung von Carola

1988 - Motorradausflüge zu zweit

1989 – Wiedervereinigung Deutschlands

1990 - Ein schwerer Unfall

1991 - Erneute Liaison mit Ulla

1994 - Frank wird Opa

1995 – Umzug einer Filiale nach Fulda

1998 - Die Insolvenz

2001 - Frank wurde sechzig

2002 – Der Euro wird eingeführt

2011 - Frank wird siebzig

2014 - Franks Körper streikt

2017 - Die Auflösung der Firma „Topmöbelmarkt“

2020 – Corona verändert die Welt

Nachwort

Vorwort

Kennengelernt habe ich Frank auf einer Busreise. Damals hatte ich beschlossen, Weihnachten einmal ganz anders, mit fremden Leuten in einem Hotel zu verbringen. Frank war der Fahrer, der uns am 23. Dezember 2016 von München zur Therme Tuhelj nach Kroatien fahren sollte.

Ich war guter Dinge und während der ersten Pause wohl etwas vorlaut. Dies hatte zur Folge, dass der Fahrer, der uns als Herr Woljem vorgestellt wurde, mich zum Kaffee ausschenken und kassieren verdonnerte.

Es ist wohl so üblich, dass ein Fahrgast den Busfahrer unterstützt und sich um das Wohl der restlichen Insassen kümmert. Dadurch hatte ich auf dieser Fahrt mehr Kontakt zum Fahrer als die anderen Fahrgäste.

Seine Schwierigkeiten beim Gehen sind mir schon an der Tankstelle aufgefallen. Den Grund, weshalb er während der Pause auf dem winterlichen Parkplatz trotz der Kälte keine Jacke trug, habe ich erst viel später erfahren.

Frank war und ist auch heute noch, im Jahr 2020, trotz seines Alters und seiner Behinderungen, leidenschaftlicher Busfahrer. Das Fernweh hat ihn seit seiner Kindheit fest im Griff. Er erwies sich als sicherer Fahrer, der auch schwierige Situationen mit Geschicklichkeit und Bedacht meisterte. Auch war ich beeindruckt von seiner Geduld und seinem Wissen, an dem er uns als kompetenter Reiseleiter teilhaben ließ.

Es ergab sich, dass wir beim Weihnachtsessen am 24. Dezember Sitznachbarn waren. Erstaunt erfuhr ich von dem Herrn mit den wachen, intelligenten Augen, dass er schon vor 74 Jahren das Licht der Welt erblickte. Ich hätte ihn zehn Jahre jünger eingeschätzt. Ein immer noch gutaussehender, sympathischer Herr mit weißen Haaren und einem gepflegten Vollbart. Ich habe ihn einmal scherzhaft Weihnachtsmann genannt. Er bräuchte nur noch die entsprechende Kleidung, dann wäre er der ideale „Santa Claus“. Die Tatsache, dass er immer wieder gerne anderen Menschen Geschenke macht, hat aber vermutlich nichts damit zu tun.

Seit dieser Reise sind wir befreundet. Hin und wieder hat er etwas aus seinem Leben erzählt. Ich habe erfahren, dass seine Mutter ihn mehrfach im Kinderheim untergebracht hat und er sich mit ihr – sie ist inzwischen verstorben - nie ausgesöhnt hat. Er meinte, er sei schon als Kind vor ihr davongelaufen. Was mag der Grund dafür gewesen sein? Oder spielt ihm hier nach all den Jahren die Erinnerung einen Streich?

Seinen Erzählungen zu Folge hat er im Laufe der Jahre sehr viel erlebt. Er meinte einmal lachend zu mir, dass er früher ein „Hallodri“, ein Schläger war. Genug Stoff für ein Buch.

Nun halte ich seinen Lebenslauf in meinen Händen, den er für mich aufgeschrieben hat. Daraus möchte ich ein Buch machen, etwas für die Ewigkeit und in der Hoffnung, dass der gutmütige Mann mit den blauen Augen vielleicht noch etwas von seiner Vergangenheit aufarbeitet, bevor er irgendwann diese Welt verlässt.

Vielleicht hat er am Ende dieses Buches dann auch Frieden mit sich und seiner Mutter gefunden. Lernen werden wir alle aus der folgenden Geschichte und vielleicht gibt dieses Buch dem einen oder anderen Menschen Impulse, über sich selbst und das eigene Leben und Erleben nachzudenken.

Noch weiß ich selber nicht, wie sich das Buch gestalten wird, es soll schließlich auch Spaß machen zu lesen. Aber ich bin mir sicher, die Ideen werden früher oder später meinen Kopf erreichen. Ich bin selber gespannt auf das, was kommt.

Marianne Birkmann

Frank Woljem im Oktober 2017

Zum Leben gibt es keine Anleitung, also macht man Fehler, die man manchmal teuer bezahlen muss.Frank Woljem

Deutschland 1941

Der damalige Diktator des Deutschen Reiches, Adolf Hitler, wollte mehr "Lebensraum" für das sogenannte „reinrassige“ deutsche Volk und die Überlegenheit über alle anderen Nationen. Diese Ziele konnte er nur durch einen Krieg erreichen.

Zunächst bemerkte die Zivilbevölkerung des Deutschen Reiches nicht sehr viel davon, fand der Krieg doch anfangs in anderen Ländern statt. Allerdings verlief nicht alles so, wie Hitler es geplant hatte. Ein Krieg ist sehr kostspielig und das Deutsche Reich verschuldete sich.

Jetzt war auch die deutsche Bevölkerung betroffen, und es wurde stufenweise die Zwangsrationierung eingeführt. Nun gab es Lebensmittelkarten und Bezugsscheine, alles auf Zuteilung.

Die Bevölkerung versuchte durch Musik und Unterhaltungsfilme den Krieg und die Mühen des Alltagslebens für wenige Stunden zu vergessen. Auch liefen Propagandafilme, die den Krieg und den Dienst an der Waffe verherrlichen sollten.

Irgendwann hatte dann allerdings fast jede Familie mindestens einen Sohn, Bruder oder Freund im Krieg verloren, und nicht jeder schenkte dieser Kriegsverherrlichung noch allzu viel Glauben.

Im Schatten des Krieges geschahen in Deutschland seltsame Dinge. Man munkelte etwas von Konzentrationslagern.

„Der Stärkere habe die Pflicht sich gegen den Schwächeren durchzusetzen, so sei das Gesetz der Natur, das auch für Menschen und Völker gelte.“ Das war die Meinung von Herrn Hitler. Seiner Meinung nach waren die Deutschen die Starken und u.a. Juden, Sinti, Roma, Kommunisten die Schwachen, die es gilt auszurotten.

Man hört von einigen Zeitzeugen, dass sie von den Konzentrationslagern nichts mitbekommen haben. Ich kann es mir vorstellen. Hitler konnte die Menschen gut manipulieren, er hatte viele Anhänger, die ihm blind folgten. Und wer weiß schon so genau, was hinter Nachbars Haustür wirklich geschieht.

Dieser Krieg wird später in den Geschichtsbüchern als der „ungeheuerlichste Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg der Geschichte“ bezeichnet.

Die deutsche Wehrmacht hatte im Sommer 1941 die Sowjetunion überfallen. Nach anfänglichen deutschen Erfolgen besiegten sowjetische Einheiten in der Schlacht um Moskau Ende des Jahres die Deutschen Angreifer. Weitere Siege der Sowjets sollten folgen, aber der Krieg war noch lange nicht vorbei.

Franks Eltern

Mutter Emrys wuchs in einem vornehmen Gutshaus mit einigen Angestellten auf. Ihre Eltern waren noch nicht einmal fünfzig Jahre als sie starben und Emrys mit ihrem jüngsten Bruder Richard, der damals gerade 13 Jahre alt war, allein zurückließen. Ihre Geschwister waren zu dem Zeitpunkt schon alle aus dem Haus.

Die Eltern von Franks Vater Hermann lebten in Rößel, damals ein Landkreis in der Mitte Ostpreußens. Hermann war schon lange zu Hause ausgezogen und hatte eine eigene Wohnung und eine kleine Schreinerei in Marienburg, die er trotz seines Einsatzes bei der Wehrmacht weiter betrieb.

Kennengelernt haben sich die beiden auf einer Tanzveranstaltung. Hermann gefiel die wunderschöne vornehme junge Dame sofort. Emrys war voller Eleganz und Anmut, die sie übrigens bis zu ihrem Lebensende nicht verloren hat. Man merkte ihr die Herkunft aus gutem Hause an.

Männer in Emrys Alter gab es zu der Zeit kaum im Ort. Die meisten jüngeren Herren waren im Krieg. Somit war auch Emrys entzückt über das Interesse, das der 22 Jahre ältere Herr für sie hegte. Sie lebte zu dieser Zeit mit ihrem kleinen Bruder allein auf dem Gutshof, das war gefährlich. Es gab noch einen Verwalter, der sich um die Pferde kümmerte, die für die Wehrmacht gebraucht wurden. Es war für eine Frau sicherer, einen männlichen Beschützer zu haben.

Hermann war ein leidenschaftlicher und guter Tänzer und Emrys genoss die Geborgenheit, als Hermann sie beim Tanzen in seinen Armen wiegte. Dieses wundervolle Gefühl kannte sie gar nicht. Sie wurde streng und distanziert erzogen. Tröstende Arme hatte sie nie kennengelernt. Einmal den Krieg vergessen und fröhlich sein, das tat gut.

Hermann hatte ein angenehmes Äußeres, war klug, geschäftstüchtig und seine ausgelassene Fröhlichkeit war ansteckend. Von nun an trafen sie sich täglich, bis Hermann einige Tage später an die Front musste.

Bis zu dem Tag war er in der Verwaltung eines Gefangenenlagers in der Nähe tätig, daher konnte er sich trotzdem noch um seine Schreinerei kümmern. Jetzt war er gezwungen, alles ruhen zu lassen.

Trotz aller Kriegsverherrlichung verabscheute Hermann die Tätigkeit als Soldat und hatte versucht, den Dienst an der Waffe zu vermeiden. Nun blieb ihm nichts weiter übrig, er wurde in Stalingrad gebraucht, ansonsten hätte man ihn als Kriegsdienstverweigerer erschossen. Das Paar versprach sich, in Kontakt zu bleiben.

Drei Monate später schrieb Emrys einen Brief, der Hermann einige Zeit später an der Front erreichte. Ihre gemeinsamen Treffen blieben nicht ohne Folgen, sie war schwanger.

Ohne große Formalitäten, in Mitten des Krieges im Mai 1941,s wurde geheiratet. Es war eine sogenannte Kriegshochzeit, ganz bescheiden, nur zwei Trauzeugen waren anwesend.

Zur Feier des Tages hatte Hermann Schweinebraten besorgt, den Emrys sehr geschmackvoll zubereitete. Ihre Eltern bestanden zu Lebzeiten darauf, dass sie kochen lernte. Das kam ihrem Ehemann nun zugute.

Nun wurde aus Fräulein Emrys „Frau Woljem“. Ihr Nachwuchs würde als eheliches Kind geboren werden, so wie es sich für eine Dame aus gutem Hause gehörte. Diese Umstände gaben ihr ein winziges Stück mehr Sicherheit.

Hermann musste wenige Tage später zurück an die Front, er würde nicht da sein, um für die Familie zu sorgen. Aber diesen einen Tag wollten sie genießen und um sich herum alles vergessen.

Es sah nicht gut aus für die deutsche Wehrmacht und man hoffte auf ein baldiges Ende der Kämpfe. Die Kriegszeit hatte tiefe Spuren hinterlassen und es war den Menschen bewusst, dass auch nach Kriegsende kein Mann, keine Frau und auch kein Kind mehr der Mensch sein würde, der er vorher einmal war.

Emrys verließ nach der Hochzeit das Gutshaus und zog in Hermanns Wohnung nach Marienburg, dort fühlte sie sich sicherer, obwohl sie auch hier wieder mit ihrem Bruder Richard allein war.

Als bei Emrys dann sechs Monate später die Wehen einsetzten, war sie gerade zarte 19 Jahre jung. Sie schickte Richard, um die Hebamme zu holen. Es war eisig kalt und das Holz knapp. Aber Emrys hatte genügend Decken, um das Neugeborene warm zu halten.

Hermann hatte zu dem Zeitpunkt schon das reife Alter von 41 Jahren.

Während er weiterhin mit der Waffe in der Hand irgendwo in einem schmutzigen Schützengraben lag und seine Kameraden neben sich qualvoll sterben sah, dachte er ständig an seine Frau und sein ungeborenes Kind. Würde er es je zu Gesicht bekommen oder schon vorher sein Leben hier in der unwirtlichen Kälte aushauchen?

Als der Brief von Emrys ihn erreichte, um ihn über seine Vaterschaft zu informieren, war Frank schon einige Wochen alt.

Inzwischen war auch im Deutschen Reich selbst die Angst allgegenwärtig. Von all dem ahnte der kleine Frank noch nichts, als er gegen vier Uhr morgens das Licht der Welt erblickte. War er ein Wunschkind? Ein Kind der Liebe oder nur aus Verzweiflung gezeugt, um dem Schrecken des Krieges für kurze Zeit zu entkommen? Man weiß es nicht.

Frank Woljem, geboren als Kriegskind am 17. November 1941.

Der kleine Frank hatte schon als Baby Furcht vor der Dunkelheit und raubte seiner Mutter oft den Schlaf. Er wollte immer etwas sehen und auch bei Nacht Licht haben. Deshalb wurde er scherzhaft „Kicki“ genannt, was wohl von dem Wort „gucken“ abgeleitet wurde.

Familie Woljem wohnte in der Gerbergasse in Marienburg. Marienburg war damals wie heute eine reizvolle Stadt. Im Zweiten Weltkrieg befand sich dort das Zweigwerk des Bremer Flugzeugbauers Focke-Wulf, ein begehrtes Ziel für Luftangriffe.

Emrys Bruder Richard unterstützte seine Schwester, so gut er konnte. Er brachte dem kleinen Frank das Laufen und noch viele andere Dinge bei. Er war für Frank eine Art Vaterersatz.

1944 wurde Onkel Richard, der inzwischen 16 Jahre war, zur Marine eingezogen. Nun war Frank mit seiner Mutter allein.

Manchmal kam ein älterer Mann zu Besuch, den die Mutter als „Vater“ vorstellte. Frank bekam von dem Herrn im Soldatenmantel wenig mit. Der Mann saß beim Essen schweigsam am Tisch und half der Mutter bei einigen Reparaturen. Von Frank nahm er kaum Notiz und war meist einige Tage später auch wieder so still und leise verschwunden, wie er gekommen war.

Die Zweisamkeit mit der Mutter dauerte nicht lange. Ende 1944 bekam Frank ein kleines Brüderchen. Martin war Muttis Liebling, das war für den kleinen Frank ein großes Problem. War doch seine Mutter nun noch weniger für ihn da. Ihm fehlte die Liebe, die jedes Kind braucht und auch Richard, der ihn manchmal in den Arm genommen hatte, vermisste er.

Hatte Frank vorher Probleme mit der Dunkelheit, machte sich von nun an eine große Unruhe in ihm breit, die ihn nie mehr verlassen sollte.

Ständig „büchste“ er zu Hause aus. Seine Mutter wusste sich keinen anderen Rat, als den kleinen Streuner, der immerhin schon fast vier Jahre war, mit einer langen Leine im Garten anzubinden.

Doch auch in diesem Falle wusste das kluge Kerlchen Rat. Er zog einfach seine Hose aus und ging auf Wanderschaft.

Vorbeiziehende Soldaten weckten sein Interesse. Sie freuten sich über die Gesellschaft des kleinen Buben, der nur in Unterhose bekleidet fröhlich mit ihnen mitmarschierte.

Es war nicht einfach für die alleinstehende Frau, zwei kleine Kinder zu versorgen, Unterricht in der Schule abzuhalten, Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Lebens zu besorgen und nebenbei noch den Haushalt in Ordnung zu halten.

Frank mit 3 Jahren

Das Leben in Marienburg wurde immer gefährlicher und viele beschlossen, die Heimat zu verlassen

Januar 1945 - Flucht aus Marienburg

1945 eroberte die Rote Armee das Marienburger Umland und auch die Burg, nach der die Stadt benannt wurde. Die erbitterten Kämpfe um die Stadt dauerten bis zum 9. März 1945. Es kam zu Plünderungen und Brandstiftungen, der auch die Altstadt zum Opfer fiel. Die verbliebene Bevölkerung wurde ermordet, verschleppt bzw. vertrieben. Marienburg wurde unter polnische Verwaltung gestellt und bekam nun den Namen Malbork. Emrys Woljem hatte sich zuvor noch rechtzeitig mit ihren Kindern einem Flüchtlingstreck angeschlossen. Frank bekam einen Rucksack, vollbepackt mit Kleidungsstücken, etwas Wegzehrung und einen Nachttopf auf den Rücken. Emrys hatte einen Koffer voller Habseligkeiten in der einen Hand und den kleinen Martin auf dem Arm.

Eilig marschierten sie zum Bahnhof. Frank hatte Schwierigkeiten, mit der Mutter Schritt zu halten. Angst war ein ständiger Begleiter, schon seit Frank in diese unglückliche Welt hineingeboren wurde. Nun hatte die Angst eine ungekannte Dimension angenommen. Er spürte die Todesangst der Erwachsenen und hatte keine Erklärung dafür, er war noch zu klein, um das zu verstehen.

Eigentlich ging nun sein Wunsch in Erfüllung, er hatte immer Fernweh und wollte fort. Nun würden sie mit dem Zug fahren, ein richtiges Abenteuer. Wenn nur nicht diese schreckliche Aufregung, Eile und Panik wäre.

Er lief so schnell ihn seine Füße trugen neben der Mutter her, die ihn immer wieder antrieb. Schneller, schneller. Ihm steckte ein dicker Kloß im Hals und sein Körper bebte vor Furcht, aber es kamen keine Tränen, dafür war keine Zeit.

Auf dem Bahnsteig war ein heilloses Chaos, alle liefen durcheinander. „Die Russen kommen!“ tönte es aufgeregt von allen Seiten. Leute riefen nach Personen, die sie in dem Gedränge verloren hatten.

Es war der 22. Januar 1945 und die kleine Familie erwischte noch den letzten Zug nach Deutschland, der gnadenlos überfüllt war.

Die Russen waren schon ganz nahe. Weder Emrys, noch Frank, Martin oder die anderen Menschen auf dem Bahnsteig hatten diesen schrecklichen Krieg gewollt. Aber sie gehörten zu den Leidtragenden von Hitlers Kriegsführung. Die Russen würden dem deutschen Volk das antun, was man ihnen angetan hatte. Rauben, plündern, vergewaltigen, morden.

Im Gegensatz zu vielen anderen schaffte Emrys es, sich mit dem kleinen Martin auf dem Arm in den Zug zu zwängen. Allerdings hatte sie Frank in dem Gedränge am Gleis verloren. Was nun? Verzweifelt ließ sie ihren Blick über den Bahnsteig schweifen, dann entdeckte sie ihn.

Der dreijährige Frank stand mit seinem Rucksack einige Meter vom Zug entfernt, inmitten der Menschenmenge und weinte bitterlich. Verzweifelt rief er immer wieder nach seiner Mutter.

Das Gefühl der Trostlosigkeit schnürte ihm fast die Kehle zu. Wo sollte er jetzt hin? Nach Hause konnte er nicht mehr, das war zu gefährlich, das hatte der kleine Junge begriffen. Nun stand er mit seinem Rucksack und dem Nachttopf auf dem Rücken ganz alleine, weinend in der chaotischen, wild durcheinanderschreienden Menschenmenge und war so verzweifelt wie noch nie in seinem jungen Menschenleben.

Emrys flehte die verbliebenen Menschen auf dem Bahnsteig an, ihr das Kind in den Zug zu reichen und sie hatten Glück. Einige beherzte Leute erbarmten sich. Sie schoben den Jungen mit dem Kopf voran durch das Zugfenster. Die anderen Mitreisenden haben das verstörte Kind dann im Zug über ihren Köpfen hinweg zu seiner rufenden Mutter transportiert, die nahe der Eingangstür zusammengepfercht mit anderen fremden Leuten stand.

Dann setzte sich der Zug in Bewegung. Es war so eng, dass man kaum atmen konnte. Frank stand auf einer Bank, es war vermutlich eine Sitzbank. Er war sehr erleichtert, dass er wieder in Mutters Nähe war.

Im Zug war es so eng, dass die Leute auch auf den Sitzplätzen nah beieinanderstanden. Niemand hatte Platz zum Sitzen. Es roch nach Schweiß und Angst. Der kleine Martin, der noch nicht einmal ein Jahr war, schlief unruhig auf Mutters Arm.

Anfangs war es sehr unruhig in der Bahn und die Leute redeten alle aufgeregt durcheinander. Alle waren froh, dass sie den rettenden Zug noch erreicht hatten, auch wenn sie nicht wussten, ob sie heil in Berlin ankommen würden. Dorthin sollte die Reise gehen, man hoffte dort in Sicherheit zu sein.

Nach einiger Zeit ist es aber ruhig geworden im Abteil und jeder hing seinen Gedanken nach. Nur hin und wieder hörte man ein dezentes Tuscheln, manchmal quengelte oder weinte ein Kind, aber ansonsten war etwas Ruhe eingekehrt und das Gefühl der Panik legte sich ein wenig.

Auch Frank hatte sich inzwischen beruhigt. Es war langweilig, stundenlang nur auf einer Stelle zu stehen. Frank begann zwischen den Beinen der Erwachsenen herumzukrabbeln, immer die Mutter im Blick, er wollte sie nicht wieder verlieren. Der Dreijährige konnte nicht verstehen, warum all diese Dinge geschahen und wäre am liebsten wieder nach Hause gefahren.

Dann hielt der Zug mitten auf der Strecke. Fliegeralarm. Alle mussten ganz schnell die Bahn verlassen. Es entstand ein noch größeres Chaos als auf der Bahnstation zuvor.

Menschen schrien voll Panik, Kinder weinten, Eltern waren verzweifelt. Und immer wieder ertönte die Aufforderung: Schnell, schnell. Schneller, schneller, alle raus aus dem Zug und flach auf den Boden legen.

Der Zug leerte sich in kürzester Zeit. Menschen fielen die Treppe herunter, wurden von anderen Fahrgästen überrannt. Andere stolperten und blieben entsetzt dort liegen, wo sie gefallen sind. Es war Januar und bitterkalt auf dem Boden, aber niemand wagte sich zu rühren. Einige Kinder wimmerten vor sich hin.

Dann donnerten die Bomber heran, alle lagen am Boden, nahe dem Gleisbett und hielten sich die Ohren zu.

Mutter Emrys hatte sich schützend auf die beiden Kinder gelegt. Frank klopfte das Herz bis zum Hals. Würde er jetzt sterben? Er spürte Mutters Herzschlag auf seinem Rücken. Es raste so schnell, dass es sich wie ein einziger durchgehender Ton anfühlte.

Das Motorengeräusch der Flieger verebbte in der Ferne genauso schnell, wie es gekommen war. Sie haben ihre Bomben vermutlich bei sich behalten, um sie über die Städte abzuwerfen.

Schnell, schnell, in den Zug, einsteigen! Ertönte es fordernd. Alle sprangen auf und wieder entstand ein Chaos aus aufgeregten, drängelnden und verzweifelten Menschen. Wieder wurden einige Leute überrannt, Kinder weinten, riefen nach ihren Eltern, Menschen wurden zur Seite gedrängt, jeder kämpfte um sein Leben und einen Platz im Zug, der bereits anfuhr. Einige schafften es noch aufzuspringen, andere liefen vergeblich hinterher. Verzweifelt mussten sie mit ansehen, wie die Bahn sich immer weiter entfernte.

Ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen war mit ihrem Köfferchen neben dem Gleis stehen geblieben und schaute dem davonfahrenden Zug hinterher, weinend nach ihrer Mutter rufend.

Die Mutter des Mädchens hatte im Zug vergebens nach ihrer Tochter gerufen. Als sie sah, dass ihr Kind noch draußen neben dem Gleis stand, sprang sie entsetzt aus dem fahrenden Zug, rollte die Böschung herab und blieb dort regungslos liegen.

Die Zurückgebliebenen wurden immer kleiner und verschwanden schnell am Horizont. Das kleine Mädchen und ihre Mutter, sowie alle anderen, die zurückblieben, waren nun Vergangenheit.

In der Bahn roch es immer mehr nach Angst, Schweiß, Urin und Kot. Einige hatten sich vor Angst in die Hose gemacht.

Mutter Woljem war schnell und geschickt genug, um mit ihren Kindern nach jedem Fliegeralarm wieder rechtzeitig in der Bahn zu sein. Sie hatte eine Taktik und spitze Ellenbogen.

Manchmal hielt der Zug auf einem Bahnsteig, die Lok brauchte Wasser. Über ihr war ein Turm, aus dem dieses lebenswichtige Nass spritzte und die Leute standen Schlange mit ihren Eimern oder Gefäßen, die sie dabeihatten, um Wasser aufzufangen. Auch Frank hatte einen kleinen Spielzeugeimer, mit dem er Wasser auffing.

Woher sie etwas zu essen hatten weiß Frank heute, nach über 70 Jahren, nicht mehr. Aber Hunger war jahrelang ein unliebsamer Begleiter. Wie haben die Leute im Zug geschlafen, wenn doch alle mehrere Tage stehen mussten? Und wo verrichteten sie ihre Notdurft? Viele Fragen konnte Frank mir nicht beantworten, er war damals noch zu klein

Eigentlich war Berlin das Ziel der Reise, aber die Bahnfahrt endete in Frankfurt/Oder. Berlin war zu gefährlich, die Stadt wurde bombardiert.

Angst und Sorgen um das eigene und das Leben der Kinder brachten Emrys zur Verzweiflung. Wo waren sie sicher? Wo würde sie Zuflucht finden? War sie wirklich noch das wohlbehütete Kind aus gutem Hause? Ihr kam es vor, als wäre das Leben auf dem Gutshof das einer anderen gewesen, aber nicht ihr eigenes. Sie war ein Flüchtling und versuchte ihr Leben und das der Kinder zu retten.

Auf der mehrtägigen Reise gab es auch Gespräche mit anderen Flüchtlingen, Freundschaften entstanden.

Emrys hatte sich mit einer Frau angefreundet, die im Thüringischen Pößneck Verwandte hatte. Man beschloss, gemeinsam dorthin zu gehen. Die Zugfahrt nach Pößneck erfolgte ohne besondere Vorkommnisse. Anscheinend haben die Damen die richtige Entscheidung getroffen.

Emrys fand für sich und die Kinder ein Zimmer mit Küche im Dachgeschoss eines Wohnhauses. Ein Badezimmer gab es nicht, zur Toilette mussten alle Hausbewohner über den Hof zum Plumpsklo.

Das war Frank immer sehr unangenehm, das Klo war so groß und er hatte Furcht, dass er mit seinem kleinen Hinterteil in dem Loch versinken würde. Wenn man in der Nacht einmal musste, ging es auf den Nachttopf, den der kleine Frank während der Flucht so eisern gehütet hatte.

Emrys hinterließ ihre neue Adresse beim Roten Kreuz, so wie es die meisten Menschen derzeit taten, damit die Angehörigen sie finden konnten.

Aber auch im thüringischen Pößneck war man nicht sicher. An die allgegenwärtige Angst erinnert Frank sich heute noch. Immer wieder gab es Fliegeralarm und die Menschen suchten Schutz im Bunker.

Im April 1945 wurde Pößneck von den Amerikanern bombardiert. Sie wollten auch hier der Nazi-Zeit ein Ende zu setzen. Es kamen 58 Zivilisten ums Leben. Daraufhin wurde die Stadt kampflos an die amerikanischen Truppen übergeben. Nun wurde es friedlicher, die Bombenalarme hörten auf. Aber konnte man wirklich schon aufatmen? Die Alliierten besetzten Deutschland, die Konzentrationslager wurden befreit. Hitler hatte seine Niederlage erkannt und Selbstmord begangen. War nun wirklich Frieden?

Alle hatten Hunger. Nahrung war knapp. Zu groß waren die Zerstörungen und zu tief hat sich der Schrecken des Krieges in die Seelen der Menschen eingebrannt. Die Soldaten waren immer noch präsent, allerdings waren es nun nicht die Soldaten des eigenen Volkes. Wem konnte man vertrauen? Was würde als Nächstes passieren?

Emrys war unermüdlich damit beschäftigt, Lebensmittelkarten und andere Dinge für den täglichen Bedarf zu besorgen. Die Kinder konnte sie bei den befreundeten Nachbarn lassen, wenn sie außer Haus war. Sie hielten zusammen und halfen sich gegenseitig. Der kleine Martin lag in seinem Weidenkörbchen und durfte manchmal zum Krabbeln raus. Dann musste Frank auf das kleine Kerlchen aufpassen. Der Kinderwagen ist in Marienburg geblieben.

Zum Glück war der kleine Bruder ein friedliches, zufriedenes Kind und man bemerkte ihn kaum. Bald würde er seine ersten Schritte machen. Dann müsste Frank als großer Bruder noch mehr auf ihn aufpassen, was ihm sowieso schon widerstrebte. Er spielte lieber mit Hartmut, dem Nachbarsjungen, der etwas älter war als er selbst. Die Familien waren so eng miteinander, dass Hartmut viele Jahre glaubte, Frank und er seien Brüder.

Hermann wurde in Stalingrad verwundet und kam nach Berlin ins Lazarett. Über das Rote Kreuz erfuhr er den Aufenthaltsort seiner Familie und machte sich nach seiner Genesung auf die Reise nach Pößneck.

Ende Mai 1945 kam ein fremder Soldat zu Emrys und den Kindern in die Pößnecker Wohnung. Es war der Vater, erzählte die Mutter ihren Söhnen und der Mann würde nun hierbleiben.

Bei seinen früheren Besuchen hatte Frank gar nicht wahrgenommen, dass der Mann sein Vater sein sollte. Vermutlich wusste er gar nicht, was das Wort „Vater“ bedeutete, waren die Kinder doch überwiegend mit der Mutter allein.

Frank war dieser merkwürdige, stille Mann unheimlich. Es gab oft Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Erwachsenen und manchmal hagelte es von dem ehemaligen Soldaten auch Schläge.

Frank wünschte sich sein Leben ohne Vater zurück, behielt diese Gedanken aber für sich.

1945 - Flucht aus Pößneck

Am 08. Mai 1945 teilten die Besatzungsmächte das Deutsche Reich in vier Besatzungszonen auf und übten oberste Staatsgewalt aus. Nun gab es einen amerikanischen, britischen, französischen und sowjetischen Sektor. Selbst die Reichshauptstadt Berlin wurde in vier Sektoren aufgeteilt. Die östlichen Gebiete wurden abgetrennt und von Stalin in sowjetische bzw. polnische Verwaltung übergeben.

Das 1871 von Bismarck gegründete Deutsche Reich hatte aufgehört zu existieren.

Diese schwierige Situation wurde als „Stunde null“ empfunden.

Die Menschen in Deutschland standen vor dem Nichts. Viele Städte lagen in Trümmern. Menschen hausten in Kellern oder unter Trümmern, in Barackenlagern oder notdürftig hergerichteten Behelfswohnungen. Verkehrsverbindungen und Versorgungseinrichtungen waren zerstört, in zahlreichen Orten war die Versorgung mit Elektrizität, Gas und Wasser unzureichend.

Die Alliierten versuchten nun vorrangig die Transportprobleme zu lösen und die Bevölkerung mit dem Notwendigsten an Lebensmitteln, Brennstoffen und Bekleidung zu versorgen.

Überall traf man auf Soldaten der Besatzungsmächte. Auch sie benötigten Unterkunft und Verpflegung. Nun war der Krieg zu Ende, aber noch lange kein Frieden.

Familie Woljem hatte Glück und das Haus, in dem sie lebten, blieb vom Bombenangriff verschont.

Im Juni 1945 traf der Vater eine Entscheidung. „Hier bleiben wir nicht, hier kommen die Russen“, sagte er. Gemeinsam mit zwei anderen Familien saßen sie nun an mehreren Abenden zusammen, um eine Flucht aus Pößneck zu planen.

Sie hatten einen Fluchthelfer mit Pritschenwagen gefunden. Der kannte sich aus und würde die Familien mit seinem Fahrzeug in den bayrischen Ort Hof fahren. Die Stadt Hof lag in einem Gebiet zwischen Ost- und Westzone. Dort gab es ein Auffanglager als erste Zufluchtsstätte für Heimatvertriebene. Allerdings würde der Herr das natürlich nicht ohne Gegenleistung tun.

Es dauerte einige Tage, bis die Männer genügend Geld aufbringen konnten, um den Fluchthelfer zu bezahlen.

Dann stand ein vierrädriges großes Gefährt vor der Tür und wurde heimlich in der Nacht mit einigen Habseligkeiten beladen. Viel mehr als das, was sie auf dem Leib trugen, besaßen sie nicht. Es passte in einen Koffer.

Frank trug wieder seinen Rucksack, der für ihn nichts Angenehmes bedeutete. Die Erinnerungen an die Flucht aus Marienburg hatten sich als eines der schrecklichsten Erlebnisse unvergesslich tief in seine Kinderseele eingegraben.

Wieder einmal waren sie auf der Flucht, aber dieses Mal war Emrys nicht mit den Kindern allein, die Familien standen unter männlichem Schutz. Das war eine Erleichterung, trotzdem war die Furcht vor dem Scheitern immer präsent.

Nun bekamen die Menschen die Rache der Sieger zu spüren, egal, ob sie persönliche Schuld auf sich geladen hatten oder nicht.

Von diesen Dingen wusste Frank nichts. Er wusste noch nicht, warum sie nun in der Nacht heimlich fortfuhren. Aber es schien für ihn ein spannendes Abenteuer zu werden.

Seine Kinderaugen leuchteten voller Stolz, als er gemeinsam mit den anderen Familien in den Pritschenwagen stieg. Es waren noch sein Freund Hartmut und drei andere ältere Kinder dabei, die sich schweigsam auf die Pritsche des Fahrzeugs begaben. Auch bei ihnen war die Furcht vor dem was kommt spürbar. Frank und Martin waren die Jüngsten in dem Fahrzeug. Martin schlief wie gewohnt in seinem Körbchen, das von Mutter auf der Ladefläche sorgsam bewacht wurde.

Frank durfte vorne im Fahrerhaus sitzen und das war das schönste Erlebnis, was er bisher in seinem kurzen Kinderleben hatte. Das Lenkrad erschien ihm überdimensional groß und er bewunderte den Mann, der das Fahrzeug geschickt lenkte. Nun stand für ihn fest, dass er auch einmal so ein großes Gefährt fahren würde. Wie wir heute wissen, ist der Wunsch in Erfüllung gegangen.

Eine Plane schützte die anderen Fahrgäste vor ungünstigen Witterungsbedingungen und vor den Blicken neugieriger Passanten. Sie fuhren nur nachts und ohne Licht. Von Pößneck zum Zielort Hof waren es nur etwa 80 Kilometer, die Strecke hätte man an einem Tag zurücklegen können. Aus Sicherheitsgründen hatten die Männer beschlossen, auf Umwegen zu fahren und erst nach drei Tagen am Ziel anzukommen.

Tagsüber versteckten sie sich irgendwo im Wald, dann durften die Kinder miteinander spielen. Oft spielten die Kinder Verstecken. Wenn sie zu laut waren, wurden sie von den Erwachsenen zurechtgewiesen. Man musste vorsichtig sein.

Den Kindern war gar nicht bewusst, dass sie auf diese Art spielend für den Ernstfall übten. Falls Soldaten die Flüchtigen bemerken sollten, mussten sie sich schnell verstecken, um ihnen zu entkommen. Die Männer hielten abwechselnd Wache. Auch hier waren der Hunger und die Angst ständiger Begleiter.

Die Fahrt mit dem Pritschenwagen gefiel Frank viel besser, als mit dem Zug. Hier konnte man im Wald spielen und sich austoben. Von der nächtlichen Fahrt bekam er nicht viel mit, da schliefen die Kinder meist. Sie ahnten nichts von der übermäßigen Präsenz der fremden Soldaten und waren nur immer verwundert über die Gespräche der Erwachsenen.

Manchmal kam das Fahrzeug an eine Straßensperre, die sie glücklicherweise immer rechtzeitig erkannten, bevor sie selbst entdeckt wurden. Dann mussten sie wieder umdrehen und nach einem anderen Weg zu suchen.

Am zweiten Tag gab es Unstimmigkeiten mit dem Fahrer, der wollte nicht mehr weiter und wieder zurück nach Pößneck. Ihm war das Ganze zu gefährlich.

Nun wurde stundenlang diskutiert, geschimpft und gebettelt, bis der Fahrer dann doch überzeugt werden konnte, die Familien über die Grenze zu bringen.

Die Fahrt dauerte länger als geplant, sie fuhren jeden Tag nur immer kleinere Abschnitte.

Nach etwa fünf Tagen waren sie am Ziel. Sie hatten es geschafft und das Lager in Hof Moschendorf erreicht. Mit offenen Armen wurden die Flüchtlinge allerdings nicht aufgenommen. Es waren zu viele, die hier im Lager Zuflucht suchten und die Helfer maßlos überfordert.

Die Flüchtigen aus dem Osten kamen in Scharen, dazu kamen die Ausgebombten, die ehemaligen KZ-Häftlinge und viele andere Heimatlose. Sie alle waren verzweifelt und suchten Unterkunft, Brot und Sinn bei Menschen, die selbst danach suchten.

All diese Menschen hatten, wie viele andere Kriegsverlierer, traumatische Erlebnisse hinter sich.

Die Lage war unvorstellbar chaotisch. Man hatte das ehemalige KZ-Außenlager Moschendorf zu einem Durchgangslager umfunktioniert. Es befand sich direkt zwischen den Bahnhöfen Moschendorf und Hof Hauptbahnhof.

Familie Woljem kam in einem Schlafsaal mit vielen Doppelstockbetten unter. Die Luft in den Schlafräumen war stickig, überall lagen Koffer, Wäsche und sonstige Dinge herum.

Das Stimmengewirr der Menschen war nervenaufreibend, dazwischen Baby- und Kindergeschrei. Die Menschen waren gereizt, immer wieder gab es Streit. Die Zuflucht Suchenden waren meist am Ende ihrer Kräfte, hungrig und müde.

Aber sie hatten es geschafft und waren in Sicherheit. Nun musste man sehen, wie es weitergehen würde.

Während Vater Hermann am Tage viel unterwegs war, um weitere Dinge zu regeln, wurden die Kinder hinaus ins Freie geschickt. Es gab sehr viele Spielkameraden. Es gab so etwas wie einen Speiseraum und etwas zu essen, allerdings war die Ernährung dürftig. Niemand in dem Lager hatte auch nur ein Gramm zu viel auf den Rippen.

Eine Baracke in Moschendorf

Nach etwa einer Woche im Lager hatte Vater Woljem eine Möglichkeit für einen Neuanfang gefunden. Es hieß Abschied nehmen von den Freunden. Jede Familie hatte andere Ziele.

Hermann wollte nach Nordrhein-Westfalen und hoffte, in einem Möbelzentrum Arbeit zu finden. Familie Woljem fuhr mit dem Zug weiter. Frank hat seinen Freund Hartmut übrigens viele Jahre später zufällig wieder getroffen. Hartmuts Familie ist damals nach Bebra gezogen, dort in der Nähe lebt Frank nun schon sein halbes Leben lang.

Dieses Mal gestaltete sich die Zugfahrt nicht so anstrengend wie bei der Flucht aus Marienburg und alle Familienmitglieder hatten sogar einen Sitzplatz.

Wenn er nicht gerade in seinem Wäschekorb schlief, durfte Martin auf dem Gang herumkrabbeln und Frank ging im Abteil spazieren.

Trotzdem war so eine Zugfahrt ziemlich langweilig. Erst recht, wenn der Fahrgast Fernweh und „Hummeln im Hintern“ hat wie so ein junger Mann wie Frank Woljem. Der kleine Martin kam ihm dann gerade recht als Zeitvertreib und mehr als einmal musste Emrys ihren Ältesten ermahnen, weil er wieder Unfug mit dem Kleinen trieb und der dann bitterlich weinte.

Irgendwann am Nachmittag waren sie am Ziel. Eine kleine Garage in Bad Oeynhausen, in der Nähe von Detmold, war zunächst das zuhause der vierköpfigen Familie.

Hinter den Holztüren waren auf dem Boden Matratzen ausgelegt, man hatte schon ungemütlicher geschlafen. Es gab einen Kaminofen mit einem Rohr durch die Wand. Es war Sommer und es musste glücklicherweise nicht geheizt werden.

Emrys konnte sogar auf dem Ofen kochen, das war allerdings in dieser warmen Jahreszeit etwas unangenehm, aber die Familie hielt sich sowieso überwiegend im Freien auf. Diese Unterkunft sollte nur eine Übergangslösung sein, bis Vater Hermann eine richtige Wohnung gefunden hatte.

Eine Badewanne war nicht vorhanden. Man wusch sich in einer Schüssel, das Wasser wurde zuvor in einem Topf auf dem Ofen erwärmt.

Es war nicht die beste Unterkunft, aber die Familie war froh, dass sie nun wieder für sich allein war und nicht das Lager mit vielen fremden Menschen teilen musste.

Während Emrys sich um den kleinen Martin kümmerte, der nun unbeholfene Gehschritte machte, war Frank in der umliegenden Gegend unterwegs. Es gab viel zu entdecken und das ließ ihn den Hunger zwischendurch vergessen.

Es gab Lebensmittelkarten, Geld nützte wenig. Das Angebot an Gütern war sehr gering. Oft gab es die Waren gar nicht, für die man die Lebensmittelkarten hatte.

Die Bevölkerung kämpfte weiterhin ums Überleben und der Schwarzmarkt blühte. Für amerikanische Zigaretten bekam man fast alles. Um zu überleben blieb den Menschen nichts weiter übrig, als Waren auf dem Schwarzmarkt zu tauschen.

Vater Hermann fuhr unermüdlich auf der Suche nach Arbeit mit dem Fahrrad durch die Orte. Er war manchmal tagelang verschwunden und schlief dann wohl irgendwo im Wald oder in einer Scheune.

Emrys und den Kindern machte es nicht viel aus, wenn der Vater nicht da war. Sie waren es gewohnt, ohne ihn zu leben.

Vaters zielstrebigen Bemühungen wurden belohnt, er fand Arbeit in einer Möbeltischlerei. Das war allerding nicht das, was er sich vorstellte und auch nur eine Übergangslösung.

Kurze Zeit später entdeckte Hermann in einem kleinen Ort namens Reinerbeck, etwa 50 Kilometer entfernt von Bad Oeynhausen, eine kleine leerstehende Tischlerei. Gleich nebenan war ein Wohnhaus und dort im 1. Stock sogar noch eine Wohnung frei. Das war ideal für die kleine Familie. Nun konnten sie die Garage wieder räumen.

Anfang 1946 - Umzug nach Reinerbeck

Wieder hieß es für die Familie Umziehen in einen anderen Ort. Wieder eine neue Umgebung und andere Menschen, an die man sich gewöhnen musste. Frank hatte es als Kriegskind bisher nicht anders erlebt, für ihn war es Normalität, ständig zu flüchten und an anderen Orten zu leben.

Familie Woljem reiste nun abermals mit dem Zug und das letzte Stück mit dem Bus. Die wenigen Habseligkeiten passten in ihre Koffer. Martin wurde weiterhin in seinem Wäschekorb transportiert. Ein Nest, das ihm sicherlich Geborgenheit vermittelte und vor den Unannehmlichkeiten des Alltags bewahrte. Frank trug wie gewohnt seinen Rucksack und seinen treuen Begleiter, den unentbehrlichen Nachttopf auf dem Rücken.

Alles verlief reibungslos. Inzwischen wusste auch der wilde Frank, wie er sich während der Fahrt zu verhalten hatte, ohne bei den Eltern auf Ungnade zu stoßen.

Es war von der Bushaltestelle noch ein Stück zu laufen und sie mussten mit ihrem Gepäck und dem Kind im Wäschekorb immer wieder einmal Pause machen.

Das Haus befand sich etwas abseits des Ortes, direkt neben der Schreinerei an einem Bach. Fasziniert bewunderte die Familie das Mühlrad an der Schreinerei. Das sollte nun wirklich ihnen gehören? Nach all dem, was die Woljems durchgemacht haben, erschien es ihnen wie das Paradies.

Die Wohnküche war relativ dunkel, mit Blick auf Hof und Straße. Mutter hatte nun wieder einen richtigen Herd, sogar mit Backofen und es gab eine Sofaliege in der Küche.

Das Schlafzimmer war relativ groß und hatte Platz für alle vier Betten. Franks Bett stand am Fenster, er war weiterhin der „Kiecki“, der immer schauen musste. Martins Kinderbett stand am Fußende des Ehebettes. Vater hatte schon alles vorbereitet, bevor er mit der Familie hier einzog.

Wäsche wurde in einem Bottich im Keller gewaschen. Hier wurden auch die Hasen, Hühner und Gänse geschlachtet, die Hermanns Angestellter Kochan manchmal irgendwoher mitbrachte.

Frank musste diese Prozedur glücklicherweise nie mit ansehen. Er ahnte allerdings, was dort passierte und das war schlimm für ihn. Hatte er doch in den vier Jahren, in denen er auf dieser Welt war, schon zu viele Tote und zu viel Leid gesehen.

Eine Spültoilette gab es noch nicht, man musste wieder über den Hof auf das Plumpsklo. An kalten Wintertagen musste man sich warm anziehen, wenn man zur Toilette wollte. Für lange „Sitzungen“ war es zu ungemütlich.

Unangenehm war es, wenn es gerade heftig geschneit hatte. Dann war man froh, wenn jemand schon einen Weg zum Häuschen geschaufelt hatte, ansonsten musste man durch den Schnee stapfen und konnte froh sein, dabei keine nassen Füße zu bekommen.

Zur damaligen Zeit schneite es viel mehr als heute. Zum Glück gab es für die Nächte den Nachttopf, der seit der ersten Flucht aus Marienburg immer mit dabei war.

Das Wohnhaus in Reinerbeck heute

Familie Woljem wohnte im ersten Stock und die Hausbesitzer unter ihnen. Das Ehepaar O. war schon etwas älter – zumindest in Franks Kinderaugen. Der erwachsene Sohn besaß einen Kinosaal im zehn Kilometer entfernten Barntrup. Dort halfen die O.´s oft aus. Auch reisten sie mit ihren Filmrollen über die Dörfer, um die Menschen mit den Vorführungen zu unterhalten.

Frank hatte zu den Leuten kaum Kontakt. Sie lebten sehr zurückgezogen, wenn sie nicht gerade unterwegs waren. Besonders der Herrin des Hauses ging er möglichst aus dem Weg. Sie war sehr unzufrieden und hatte immer etwas zu schimpfen

Die Familienidylle dauerte nur einige Wochen. Dieses Mal waren es die Engländer, die den Vater als ihren Gefangenen begehrten. Hermann hatte vor der Gefangenschaft und auch danach nie über das gesprochen, was er erlebt hatte. Vermutlich waren die Erinnerungen zu schrecklich und er hat sie dann bis an sein Lebensende in seinem Inneren fest verschlossen.

Fast zwei Jahre lang war die junge Emrys nun mit ihren beiden Kindern wieder auf sich allein gestellt. Richard ist nach dem Krieg nicht wieder zu seiner Schwester Emrys zurückgekehrt. Er hatte eigene Pläne, hat geheiratet und bei seinem Bruder Helmut eine Anstellung in der Weberei gefunden.

Emrys machte sich im Ort nützlich und unterrichtete in Reinerbeck Biologie und Sport.

Das Land wurde allmählich wiederaufgebaut und man bemühte sich um ein halbwegs normales Leben. Aber der Hunger war weiterhin ständiger Begleiter.

1948 - Der Vater ist zurück

Mit sieben Jahren kam Frank in die Dorfschule. Frau N. unterrichtete drei Klassen unterschiedlichen Alters in einem Raum.

Sie war eine strenge Lehrerin und es hagelte ständig Schläge mit dem Stock. Auf diese Art wurde den Kindern lesen und schreiben beigebracht. Bei jeder Gelegenheit wurde auf die Finger geschlagen, daran kann Frank sich auch heute noch gut erinnern.

Aber die Schule hatte auch etwas Gutes. Es gab eine Schulspeisung für Flüchtlingskinder. Das sogenannte Quäkeressen war nicht besonders gut und viel zu wenig um satt zu werden, aber man hatte etwas Warmes im Bauch.

Im Frühjahr 1948 stand plötzlich ein Mann in einer zerrissenen Soldatenuniform vor der Tür. Er hielt eine schmutzige Decke im Arm und sah recht furchteinflößend aus.

Frank versteckte sich vor Angst unter dem Bett. Soldaten bedeuteten nichts Gutes, das hatte er inzwischen gelernt und dieser sah besonders schlimm aus, schmutzig und übel riechend.

Mutter erklärte, dass dies der „Vater“ sei und von nun an hier wohnen würde. Der junge Frank erkannte den Mann nicht wieder. Dieser Soldat besaß keine Ähnlichkeit mehr mit dem Mann, der die Familie vor etwa zwei Jahren von Pößneck nach Bayern, von dort nach Bad Oeynhausen und dann nach Reinerbeck gebracht hatte.

In den ersten Tagen schlief der Vater viel und begann langsam, sich zu erholen. Sie waren wieder eine Familie, aber Frank spürte die Kälte zwischen den Eltern. Beide hatten sich während der letzten schweren Jahre sehr verändert. Sie waren sich fremd geworden.

Hermann war schweigsam und nachdenklich. Emrys wollte auch hin und wieder Spaß haben und lachen. Wie gerne würde sie einmal wieder ausgehen, so wie früher, als sie Hermann kennenlernte. Das ganze Leben war schon schwer genug. Aber davon wollte Hermann nichts hören.

Vater Hermann brachte die kleine Schreinerei wieder zum Laufen und stellte Näh- und Schmuckkästchen, Fußhocker und andere Holzgegenstände her. Er besorgte sich einen kleinen dreirädrigen Transporter, der auch seinen Firmennamen trug und fuhr nach Hannover zur Industriemesse, um seine Waren zu verkaufen.

Das Land war im Aufbau und die Wirtschaft florierte. Hermann fand guten Absatz für seine Waren.

Mit der Währungsreform in den drei Westzonen im Juni 1948 und der darauffolgenden Währungsreform in der Ostzone wurde die Spaltung Deutschlands zunächst finanziell vollzogen.

In der Westzone wurde die Reichsmark durch die Deutsche Mark abgelöst. Die Bevölkerung erhielt pro Person 40 DM. Vater kaufte von dem Geld Holz, um daraus Schmuckkästchen und Schachbretter zu fertigen. Die Mutter erinnerte sich wieder daran, dass sie eine Dame aus gutem Hause war und gönnte sich ein paar hübsche Schuhe und einige Kleidungsstücke.

Das war aber Auslöser für einen heftigen Ehekrach. Hermann konnte nicht verstehen, dass seine Frau nur an sich dachte und das Geld für unnötige Bekleidungsstücke ausgab, obwohl die Familie andere Dinge viel nötiger hatte.

Frank und Martin verzogen sich dann lieber an den Bach zum Spielen. Die Streiterei war für die Kinder nicht besonders angenehm.

Hermann war sehr fleißig und baute Im Laufe der Zeit einen Kundenstamm auf. Seine Schreinerei lief so gut, dass er zwei zusätzliche Arbeitskräfte einstellen musste. Es kamen noch ein Geselle und ein Lehrling dazu.

Während Vater sehr viel, manchmal auch tagelang unterwegs und die Mutter mit unterrichten, dem kleinen Martin und Haushalt beschäftigt war, musste Frank weiterhin die Schulbank drücken.

Es war eine Qual für ihn, den ganzen Tag stillzusitzen, seine Kinderbeine brauchten viel Bewegung und seine Augen wollten immer neue Dinge entdecken. Nicht nur in der Schule hagelte es dafür immer wieder Schläge.

Obwohl es der Familie nun relativ gut ging, hatte Frank weiterhin ständig Hunger. Er war im Wachstum und immer in Bewegung, da benötigt man besonders viel Energie.

Auch wenn er nun mit seinen acht Jahren schon ein Großer war, hatte er doch immer noch Angst im Dunkeln und das Gefühl, verfolgt zu werden.

Einmal in der Woche musste er vom Bauern Milch holen. Meist war dafür erst in der Dämmerung Zeit. Er schlich dann ängstlich, auf jedes Geräusch lauschend, im Straßengraben entlang. Der Graben erschien ihm sicherer, als schutzlos auf dem Weg präsent zu sein. War es ein Kriegstrauma, zurückzuführen auf die schrecklichen Erinnerungen an die Flucht?

Schläge gab es nicht nur in der Schule, sondern auch zu Hause reichlich. Die Mutter hat Frank kaum geschlagen, aber der Junge hatte mehrfach gehört, wie Mutter den Vater beauftragte, Frank zu züchtigen. Dann wurde das Kind übers Knie gelegt, die Hose strammgezogen und es hagelte Hiebe mit dem Gürtel, Stock oder manchmal auch „nur“ mit der Hand.

Der Vater war sehr jähzornig und schlug später, als Frank etwas älter war, mit allen Gegenständen, die ihm in die Hände gerieten auf den Jungen ein. Manchmal mussten ihn die Angestellten bremsen, um Schlimmeres zu verhindern.

Sein kleiner Bruder bekam kaum Schläge. Martin war meistens ein braver Junge und auch geschickt darin, seine Fehltritte Frank zu zuschieben. Dann kam es schon mal vor, dass Frank zusätzlich die Schläge bekam, die der kleine Martin eigentlich verdient hatte.

Kochan, der polnische Angestellte seines Vaters, brachte Frank das Fahrradfahren bei. Frank durfte sich Kochans Rad manchmal ausleihen. Mit diesem Gefährt konnte der Junge größere Entfernungen zurücklegen, das machte riesigen Spaß. In diesen Momenten, wenn ihm bei rasanter Fahrt der Wind um die Nase wehte, hatte er ein kleines Glücksgefühl. Es war ein Gefühl der Freiheit. Nur das Einschalten der Karbidlampe war strengstens verboten, aber die brauchte er am Tage auch nicht.

Der kleine Frank wollte mehr von der Welt sehen und wenn der Vater mit dem dreirädrigen Gefährt Ware ausliefern musste, wollte der Bub mit. Das war aber nicht erlaubt, Frank musste schließlich in die Schule.

Also schlich der Junge heimlich auf die Ladefläche. Das klappte allerdings nur einmal, dann wusste der Vater Bescheid und kontrollierte vor jeder Fahrt, ob der Junior sich wieder versteckt hatte.

Einmal sprang Frank im letzten Moment auf das Gefährt, sodass der Vater seine Gegenwart erst am Ziel bemerkte. Dass auch diese Tat nicht ohne Strafe blieb, versteht sich von selbst.

von links nach rechts: das Dreirad, Kochan (der polnische Angestellte), Lothar (Geselle), Vater (er trug fast immer einen Hut), Herr Fleißig (er hatte eine Beinprothese) und Samuel (Geselle)

Die Schule hat ihn wenig interessiert. Die Lehrerin mochte ihn nicht, so schien es und er mochte die Lehrerin auch nicht.

Der Vater musste oft in der Schule vorsprechen, um sich anzuhören, dass der Sohn selten Hausaufgaben erledigte und auch ansonsten ziemlich bequem war.

Die ehemalige Dorfschule heute

Eines Tages brachte Vater Woljem sechs Hasen mit nach Hause, für die er zuvor einen Hasenstall gebaut hatte. Kuschelige Spielkameraden für die Jungs. Gleichaltrige Freunde hatten die Woljem Brüder nicht. Sie wohnten an der Schreinerei, etwas außerhalb des Ortes und wurden von den Dorfbewohnern gemieden, weil sie Flüchtlingskinder waren. Flüchtlinge hatten ähnlich wie Zigeuner den Ruf, sie würden stehlen.

Nun mussten Frank und Martin täglich Futter für die Hasen besorgen. Das war nicht schwer. Gras und Löwenzahn gab es genügend und es war eine Freude zuzusehen, wie die hoppelnden Vierbeiner dankbar die Grashalme „muffelten“. Im Winter gab es Heu, das Vater irgendwoher besorgt hatte und Rüben, die die Jungen im Herbst von Straße und Feld aufsammelten.

In diesem Jahr erlebten die Jungen das allererste Osterfest in ihrem Leben. Mutter Emrys hatte den Kindern erzählt, dass der Osterhase die Eier versteckt. Gespannt darauf, wie so ein Osterei aussehen mochte, hielten Frank und Martin danach Ausschau.

Einen Garten hatte die Familie nicht, also begaben sie sich an den Rand des Waldes, etwa einen Kilometer entfernt von ihrem Wohnhaus.

Und tatsächlich, nach einigem Suchen fand Frank das erste farbige Ei. Es hatte eine gelblich-beige Farbe und wunderschöne Muster. Der Junge war außer sich vor Freude und Faszination.

Wie wunderschön das Ei war. Es konnte natürlich nur vom Osterhasen sein, Hühnereier waren nicht so farbig, das wusste Frank.

Martin war weniger erfolgreich und enttäuscht, dass Frank schon das zweite Ei gefunden hatte und der Kleine schaute in der Gegend umher, konnte aber nichts entdecken.

Aber dann, Martins Augen weiteten sich. Unter einer Hecke lag ein weiteres kunstvoll verziertes gelbes Ei. Mutter Emrys hat ihrem Sprössling unauffällig Hilfestellung gegeben. Frank wurde erneut fündig und war ganz stolz über seine drei „Trophäen“.

Die Mutter war nun der Meinung, sie hätten alle Ostereier gefunden, die der Hase versteckt hatte. Frank wollte es nicht glauben. Woher sollte die Mutter das wissen? Vielleicht liegt doch noch unter einem Busch oder einem Ast ein wunderschönes farbiges Ei?

Er suchte emsig, aber erfolglos weiter, bis Mutter ungeduldig wurde. Frank musste brüderlich mit Martin teilen und ihm ein farbiges Ei abgeben. Nun hatte jeder zwei Ostereier. Stolz über die „ergatterte Beute“ ging es dann wieder nach Hause.

Viel zu schnell war dieses erste Ostern wieder vorbei, aber Mutter versprach, dass der Osterhase im nächsten Jahr wiederkommen würde. Vater hatte keine Zeit, dabei zu sein. Er musste sich um die Schreinerei und den Verkauf der Produkte kümmern.

Frank glaubte zu dem Zeitpunkt, dass einer der Hasen in ihrem Hasenstall auch der Osterhase wäre und wunderte sich, dass hin und wieder einer seiner vierbeinigen Freunde verschwunden war. Sollte er sich beim Eier verstecken verirrt haben?

Er suchte dann tagelang erfolglos nach dem vermeintlichen Ausreißer und erkundigte sich bei den Leuten im Dorf, ob jemand seinen vermissten Hasen gesehen hat.

Eines Tages erwischte er dann Kochan, wie er einen Hasen an den Ohren hielt und gerade mit ihm in der Waschküche verschwand. Frank konnte sich denken, was dort mit dem Vierbeiner geschehen würde. Weinend und zutiefst enttäuscht vergrub sich Frank in seinem Bett. Er hat von dem Tag an nie wieder einen Hasenbraten gegessen.

Kochan konnte Frank leider nicht erklären, warum die Hasen geschlachtet wurden. Er war sehr kinderlieb und Frank verbrachte gerne Zeit mit ihm. Schade nur, dass sie sich kaum verständigen konnten, Kochan sprach kaum deutsch.

Ein andermal tauchten Vater und Kochan mit einem Schwein auf, das sie vor sich hertrieben. Das arme Tier ahnte, was ihm blühen würde und flüchtete quiekend vor Angst in den Bach vor dem Haus. Es war eine wilde Jagd mit viel Geschrei, bis man das todgeweihte Tier endlich in die Waschküche getrieben hatte und nach kurzer Zeit plötzlich gespenstische Ruhe eintrat.