Meine Seele geht zu Fuß - Marianne Birkmann - E-Book

Meine Seele geht zu Fuß E-Book

Marianne Birkmann

5,0

Beschreibung

Eine Pilgerreise auf dem Jakobsweg von Nordwestmecklenburg nach Baden - Württemberg: Eines Tages beschließt Marianne den Weg von der Heimat im obersten Norden Deutschlands bis zu ihrem derzeitigen Wohnort in Süddeutschland zu Fuß zu gehen. Anfangs zweifelnd, ob sie sich das überhaupt antun soll, ist sie einfach mal los gegangen. Ihre Gedanken und Gefühle, Zweifel, körperliche Schwächen während der Wanderung und Erinnerungen an vergangene Zeiten hat die ehemalige DDR-Bürgerin in diesem Buch aufgeschrieben. Was als Idee begann, wurde zur Leidenschaft und sie glaubt, ihre Mission auf diesem Weg erkannt zu haben. Kaum jemand, den sie unterwegs getroffen hat wusste es: Den Jakobsweg gibt es auch in Deutschland. Den Leser erwartet eine interessante, feinsinnige Reisebeschreibung mit 45 Farbfotos. Man erfährt neben der Wanderroute viel über Sehenswürdigkeiten, die Natur und ganz besonders über die Begegnungen mit den Menschen unterwegs. Die Autorin schreibt mit leichter Feder und hintergründigem Humor. Lesevergnügen pur, nicht nur für Wanderer.

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Seitenzahl: 448

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Der eigentliche Sinn der Pilgerschaft ist nicht, in Santiago anzukommen, sondern sein Herz zu öffnen.

(Verfasser unbekannt)

Das Buch

Eine Pilgerreise auf dem Jakobsweg durch Deutschland.

Die Autorin möchte mit diesem Buch die Jakobswege in Deutschland etwas bekannter machen. Es soll auch Leuten Mut machen, die körperlich nicht so fit sind, den ersten Schritt zu tun und ihren eigenen Weg zu gehen. Wohin der weitere Weg eigentlich führt, erfährt man meist erst beim Laufen selbst.

Die Autorin

Marianne Birkmann, geboren 1960 in der ehemaligen DDR, in einem kleinen Städtchen in Nordwestmecklenburg. Seit 2002 wohnte sie in Baden-Württemberg in der Nähe von Stuttgart und war hauptberuflich im Sekretariat einer Berufsschule tätig. In ihrer Freizeit hat sie im sogenannten „Ländle“ das Wandern und auch das Schreiben für sich entdeckt.

Ein Jahr nach dem sie ihr Ziel erreicht und in Baden - Württemberg angekommen ist, ist sie wieder zurück in den Norden gezogen.

Inhalt:

Etappe:

Veelböken – Ratzeburg (ca. 32 Km)

Ratzeburg – Mölln (ca. 14 Km)

Mölln – Büchen (ca. 23 Km)

Büchen – Artlenburg (ca. 25 Km)

Artlenburg – Lüneburg (ca. 13 Km)

Etappe

Bardowick – Lüneburg (ca. 5 Km)

Lüneburg – Medingen (ca. 30 Km)

Medingen – Ebstorf (ca. 15 Km)

Ebstorf – Süderburg (ca. 21 Km)

Süderburg – Dalle (ca. 18 Km)

Dalle – Habighorst (ca. 12 Km)

Wienhausen – Celle (ca. 12 Km)

Etappe

Celle – Engensen (ca. 20 Km)

Engensen – Saarstedt (ca. 37 Km)

Saarstedt – Hildesheim (ca. 15 Km)

Hildesheim – Werneshofen (ca.20 Km)

Werneshofen – B. Gandersheim (ca. 25 Km)

Bad Gandersheim – Northeim (ca. 25 Km)

Northeim – Nikolausberg (ca. 22 Km)

Nikolausberg – Göttingen (ca. 5 Km)

Etappe

Göttingen – Kirchgandern (ca. 30 Km)

Kirchgandern – Aspach (ca. 25 Km)

Aspach – Hülfensberg (ca. 30 Km)

Hülfensberg – Treffurt (ca. 24 Km)

Treffurt – Creuzburg (ca. 22 Km)

Creuzburg – Eisenach (ca. 15 Km)

Eisenach – Oberellen (ca. 15 Km)

Oberellen – Vacha (ca. 26 Km)

Etappe

Vacha – Mieswarz (ca. 11 Km)

Mieswarz – Geisa (ca. 10 Km)

Geisa – Hünfeld (ca. 23 Km)

Hünfeld – Fulda (ca. 21 Km)

Fulda – Thalau (ca. 25 Km)

Thalau – Kreuzberg (ca. 25 Km)

Kreuzberg – Bad Kissingen (ca. 32 Km)

Bad Kissingen – Poppenhausen (ca. 23 Km)

Etappe

Poppenhausen – Geldersheim (ca. 10 Km)

Geldersheim – Binsbach (ca. 24 Km)

Binsbach – Würzburg (ca. 26 Km)

Würzburg – Gaukönigshofen (ca. 29 Km)

Gaukönigshofen – Uffenheim (ca. 24 Km)

Uffenheim – Rothenburg o. d. T (ca. 27 Km)

Rothenb. o. d. T. – Schrozberg (ca. 29 Km)

Schrozberg – Langenburg (ca. 19 Km)

Langenburg – Schwäbisch Hall (ca. 26 Km)

Schwäbisch Hall – Murrhardt (ca. 26 Km)

Murrhardt – Backnang (ca. 24 Km)

Backnang – Ludwigsburg – Ditzingen (ca. 39 Km)

Nachwort

Wie alles begann:

Seit meiner Geburt im Winter des Jahres 1960 lebte ich 42 Jahre auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, in der Nähe der innerdeutschen Grenze. Auf einem Bauernhof aufgewachsen, hatte ich eine relativ unbeschwerte Kindheit und war zufrieden mit dem, was wir hatten und wie es war.

Ich liebte den Garten, die Tiere und auch die damit verbundene Arbeit.

Meine Eltern sind trotz der Verpflichtungen, die ein Bauernhof mit sich bringt, jedes Jahr mit uns verreist. Und doch gab es immer ein Fünkchen Unzufriedenheit, die Unruhe in mir, von der ich nicht wusste, woher sie kam und warum sie da war. Mir war klar, dass ich nicht in diese Gegend gehörte, fühlte mich dort nie wirklich heimisch, das war auch nach der Grenzöffnung nicht anders.

Trotzdem bin ich auch jetzt, nach zwölf Jahren „Exil“ in Baden-Württemberg oder vielleicht auch gerade deshalb, sehr heimatverbunden und stehe dazu: Ich bin ein Ossi. Ich wusste, dass ich irgendwann meine Heimat verlassen würde.

Einer meiner Brüder ist nach Niedersachsen gezogen und später auch meine älteste Schwester. Mir hat es dort auch gefallen und ich hätte in der Gegend gerne einen Neuanfang gewagt, aber allein mit drei Kindern? Das war mir dann doch zu riskant. Also versuchte ich meine Unruhe zu verdrängen und lebte weiterhin mein eintöniges Leben als alleinerziehende Mutter. Eigentlich hatte ich es doch gut. Ich hatte drei wundervolle Kinder, einen Garten und die Ostsee in der Nähe.

2001 lernte ich dann während eines Türkeiurlaubs einen Mann aus Baden-Württemberg kennen. Er war einige Jahre jünger als ich. Ein arbeitsloser Musiker, der mich mit seinen selbstkomponierten Liedern und seiner Stimme verzauberte.

Leider schlummert seine Musik auch heute noch unbemerkt von der Öffentlichkeit in seinem Kämmerlein. Eine Urlaubsbekanntschaft, uns trennten 750 Kilometer.

Wir blieben in Kontakt, schließlich gab es inzwischen auch in den meisten Haushalten im Osten Telefon und Internetanschluss. Hin und wieder haben wir uns gegenseitig besucht, aber das war keine Dauerlösung. Also was tun, Trennung? Ich nach Baden-Württemberg ziehen oder er nach Mecklenburg - Vorpommern?

Nach etwa einem Jahr hatte ich mich dann darauf eingelassen, ins Schwabenland umzusiedeln. „Wenn ich diese Chance jetzt nicht ergreife, werde ich es vielleicht ein Leben lang bereuen“.

Er hatte eine große Wohnung, dort könne ich bleiben, bis ich ein eigenes Heim in seiner Nähe gefunden hätte. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Mein ältester Sohn war bereits erwerbstätig und auch meine Tochter hatte inzwischen ihre Berufsausbildung beendet und mit ihrem Verlobten Zukunftspläne. Meinen jüngsten Sohn, der damals sieben Jahre alt war, würde ich mitnehmen. Ich hatte alles durchdacht. Noch lebten meine beiden Großen in der Wohnung in Carlow, so heißt der Ort, in dem ich seit 1980 mein Zuhause hatte.

Ich würde meine Möbel dort lassen, sozusagen als Hintertürchen. Falls es schief ginge, könnte ich wieder zurückkommen. Mein „Kleiner“ würde nach den Schulferien in Ditzingen die zweite Klasse besuchen. In Baden-Württemberg begannen und endeten die Sommerferien später als in Mecklenburg - Vorpommern, dadurch hatte er zwei Wochen länger Ferien als die anderen Schulkinder. Für ihn eine angenehme Begleiterscheinung des Wohnungswechsels.

Viele meiner Freunde versuchten, mir mein Vorhaben auszureden. Sie meinten, es würde nicht gut gehen und ich solle lieber hierbleiben.

Aber ich musste es tun. Man bereut doch irgendwann die Dinge, die man tun wollte und nicht getan hat.

Sehnsüchtig denke ich heute an die schöne Abschiedsparty mit all meinen Lieben zurück, ausnahmsweise waren auch wir fünf Geschwister beieinander, das kommt sehr selten vor.

Nun war ich ein Ossi im Schwabenland. Es war vorauszusehen, dass meine Beziehung damals nicht lange halten würde.

Als ich schon nach einem halben Jahr im „Ländle“ beschloss, wieder zurück in die Heimat zu gehen, kam ein Anruf von der Justizvollzugsschule in Stuttgart Stammheim. Einige Tage zuvor hatte ich dort ein Vorstellungsgespräch und mir wurde mitgeteilt, dass ich die Arbeitsstelle im Sekretariat des Kriminologischen Dienstes bekomme. Also bin ich geblieben und habe mir eine eigene Wohnung gesucht, was in und um Stuttgart nicht so einfach ist.

Inzwischen lebe und arbeite ich seit zwölf Jahren im schönen Baden-Württemberg und habe es zu keinem Zeitpunkt bereut.

„Marianne, die hat´s geschafft“, hat mal einer meiner ehemaligen Klassenkameraden bei einem Treffen gesagt. So hatte ich es noch gar nicht gesehen. Aber ja, viele meiner ehemaligen Schulkameraden leben immer noch in dem Ort, in dem sie aufgewachsen sind. Ich habe inzwischen viel erlebt und erfahren. Nicht immer nur Positives, aber auch das gehört zum Lebensweg und ist sehr lehrreich. Das Leben ist doch der beste Lehrmeister.

Jetzt, wo auch mein Jüngster seine Mutti nicht mehr braucht, genieße ich die nie da gewesenen Freiheiten und bin in meiner Freizeit sehr aktiv, habe mir sogar einen Traum erfüllt und spiele afrikanische Djembé (afrikanische Trommel).

Die ersten Jahre in Baden - Württemberg waren nicht einfach. Alles war so fremd, die Menschen sind ganz anders, als wir im Osten. Hier ist es schwer, Kontakt zu finden und ständig habe ich anfangs nach vertrauten Gesichtern gesucht.

Damals bin ich so oft es ging „nach Hause“ in den Norden gefahren, mindestens vier Mal im Jahr 750 Kilometer hin und 750 Kilometer zurück.

Auch meine Kinder und Geschwister haben damals oft die weite Strecke auf sich genommen. Inzwischen hat es auf beiden Seiten nachgelassen. Mich hatte wieder meine Unruhe gepackt, ich wollte auch andere Gegenden besuchen und nicht ständig meinen Urlaub dort verbringen, wo ich 42 Jahre gelebt habe und schon alles kannte.

Irgendwann entstand in mir der Wunsch, die Strecke, die ich mit dem Auto fahre, zu Fuß zu gehen.

Dieser Gedanke hat sich in meinem Kopf festgesetzt, er war einfach da und wollte nicht wieder verschwinden. Warum weiß ich nicht.

Heißt es nicht, „die Seele geht zu Fuß“? Dann werde ich meine Seele mal zu Fuß aus dem Norden Richtung Süden tragen. Vielleicht legt sich meine Unruhe, wenn ich dort angekommen bin, vielleicht treibt sie mich dann auch weiter. Man wird sehen.

1. Etappe

Veelböken – Gadebusch – Roggendorf – Ratzeburg (32 Kilometer)

1. Tag, Montag, 29.4.2013

Es ist 8:00 Uhr und ich habe bereits mit meinen Eltern gefrühstückt. Meine Pilgerreise beginnt.

Obwohl ich noch nie mehrere Tage hintereinander gewandert bin und schon gar nicht allein, bin ich frohen Mutes. Eigentlich ist es ein denkwürdiger Augenblick, mein aller erster Tag als Pilgerin.

Fröhlich verabschiede ich mich von meinen Eltern, als würde ich nur einen Spaziergang machen und in einer Stunde wieder zurück sein.

Meine Mutter sorgt sich: Ihre Tochter ganz allein, als Frau ist es doch etwas riskanter, aber es will auch niemand mitkommen. Meine Devise ist in so einem Fall: „Nur weil ich alleine bin, muss ich nicht auf Dinge, die mir Spaß machen verzichten, dann mache ich es eben allein“. Also gehe ich diesen Abschnitt meines Weges ohne Begleitung.

Die Strecke, die ich sonst mit dem Auto fahre, gehe ich nun zu Fuß, von meiner Heimat in Mecklenburg-Vorpommern zu meinem jetzigen Wohnort in Baden-Württemberg. Ich verspreche meiner Mutter, jeden Tag anzurufen.

Aber erst einmal muss ich zum Jakobsweg gehen. Ratzeburg ist der Beginn meines Weges, den ich bis Süddeutschland gehen werde. Bis Ratzeburg habe ich über dreißig Kilometer vor mir.

Man sagt, der Pilger geht zu Fuß von zu Hause los. Also beginne ich meine Pilgerreise im Elternhaus, in dem kleinen Dorf Veelböken, das zur Amtsgemeinde Gadebusch gehört.

Der Name stammt aus dem Plattdeutschen und bedeutet „Viele Buchen“. Den Verkaufsladen, zu DDR-Zeiten „Konsum“ genannt, und die kleine Kneipe, gibt es dort seit der Wende nicht mehr. Heute fährt zweimal in der Woche ein Verkaufsbus in das Dorf. Dafür findet man hier mehrere landwirtschaftliche Betriebe.

Die ehemalige Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, auch LPG genannt, existiert offensichtlich noch, nur unter einem anderen Namen.

Das alte Gutshaus wurde nach dem Krieg zu einem modernen Alten- und Pflegeheim umgebaut. Uns wurde als Kinder erzählt, dass die Gutsbesitzer nach dem Krieg vertrieben wurden und die Gutshäuser seitdem dem Volk gehören, so auch das in Veelböken. Heute frage ich mich manchmal, was aus den Gutsbesitzern im sowjetischen Besatzungsgebiet wirklich geworden ist.

Das Pflegeheim besteht schon, seit ich denken kann und ich könnte einige Geschichten erzählen, die wir als Kinder mit den betagten Leuten im Dorf erlebten.

Ich erinnere mich an die Zeit, als es hier noch keine Teerstraße gab und bei Matschwetter meine Stiefel manchmal im Schlamm auf dem Weg stecken blieben. Einmal habe ich meine Stiefel nicht mehr herausbekommen und bin auf Socken nach Hause gelaufen.

Meine Mutter hatte es dann geschafft, meine verwaisten Gummistiefel aus dem Schlamm zu befreien.

Abmarsch am Elternhaus

Leider habe ich keinen geeigneten Wanderweg von Veelböken nach Ratzeburg gefunden, also wähle ich den Radweg, den es erst seit einigen Jahren gibt.

Er führt direkt an der Hauptstraße entlang. Mein erster Wandertag soll bis Roggendorf gehen. Das sind 15 Kilometer. Ich kann nicht einschätzen, wie lange ich bis dort benötige, bin ja noch Anfängerin im Pilgern.

Allerdings bin ich schon gegen zehn Uhr in Gadebusch und mache eine längere Rast bei meiner Schwester.

Marktplatz in Gadebusch

Ich weiß nicht, was mich im weiteren Verlauf meines Weges alles erwartet, aber noch bin ich in heimatlichem Gebiet, da kenne ich mich aus und sehe meiner weiteren Strecke optimistisch und etwas unbedarft entgegen.

Nach Roggendorf ist es nicht mehr weit und ich beschließe, weiter bis Ratzeburg zu laufen.

Mir geht es gut, ich bin noch voller Energie und was soll ich mittags schon in Roggendorf?

Meine Schwester und ich suchen im Internet nach einer Unterkunft für heute Abend. Ich werde in Ziethen, einem Vorort von Ratzeburg, übernachten. Leider erreichen wir in der ausgewählten Herberge niemanden. Also nehme ich die Telefonnummer mit, um es unterwegs noch einmal zu versuchen. Weiter geht es auf dem Radweg, der auch das Gebiet der ehemaligen Grenze überquert.

Ein LKW hält 200 Meter von mir entfernt, am Straßenrand. Es steigt niemand aus. Mir wird etwas mulmig, sollte meine Mutter doch Recht behalten? Worauf wartet der Fahrer, mitten in der „Pampa“?

Es ist weit und breit keine Menschenseele zu sehen, niemand da, der mir zu Hilfe eilen könnte. Mein Weg führt direkt an ihm vorbei. Man hört oft so unschöne Geschichten, es wird mich doch nicht auch so ein Schicksal ereilen? Ich halte mein Abwehrspray in der Tasche griffbereit, gehe zügig am LKW vorbei und vermeide es, in das Fahrerhäuschen zu schauen. Fehlalarm, nichts passiert. Mal wieder Glück gehabt.

Bis hier her durfte man damals, in der ehemaligen DDR, gar nicht gehen. Das Sperrgebiet begann etwa fünf Kilometer vor der Grenze. Hier gab es einige Dörfer, aber es war verboten, dieses Gebiet ohne Passierschein zu betreten. Einmal wollte ich eine dort lebende Arbeitskollegin nach Hause fahren. Ich musste sie am Schlagbaum, der mit einem Wachposten besetzt war, aussteigen lassen und wieder umdrehen. Ihr blieb nichts weiter übrig, als den Rest des Weges zu Fuß gehen.

Ich habe gehört, dass in den größeren Grenzdörfern, wie z. B. Schlagsdorf, manchmal Disco war. Das muss ziemlich langweilig gewesen sein, waren dort doch immer dieselben Leute, die auch in dem Dorf wohnten. Aber ich kann das nicht richtig beurteilen, hatte keinen Passierschein und somit nicht das Vergnügen, die dortigen Bewohner mit meiner Anwesenheit zu beglücken.

Heute gibt es in Schlagsdorf ein Grenzmuseum, auf dessen Gelände man auch eine originalgetreue Außenanlage der ehemaligen innerdeutschen Grenze besichtigen kann. Hier führt mich mein Weg dieses Mal leider nicht entlang, obwohl das Museum und das dazugehörige „Café Grenzstein“ sehr zu empfehlen sind.

Ich habe 20 Jahre in Carlow gelebt, etwa sechs Kilometer vom Grenzgebiet entfernt. Wenn wir damals, zu DDR-Zeiten über die Felder spazierten, konnten wir in der Dämmerung von einem Hügel aus die Lichter der Stadt Lübeck sehen.

Damals war es unvorstellbar, dass wir jemals die Gelegenheit haben würden, diese Stadt zu besuchen. Obwohl ich inzwischen oft mit dem Auto die Strecke nach Ratzeburg gefahren bin, entdecke ich viele Dinge, die ich vorher nicht bemerkt habe. Dem Gebiet der ehemaligen Grenze widme ich besondere Aufmerksamkeit. Heute ist der ehemalige Grenzstreifen ein Naturschutzgebiet.

Ich erinnere mich noch an die Grenzöffnung im November 1989. Damals sind die Ostbürger in kilometerlangen Autokolonnen hier entlang nach Ratzeburg gefahren, um „Westluft zu schnuppern“. Wir Carlower hatten es etwas einfacher, es gab einen „Schleichweg“, der uns kurz vor der Grenze auf die Hauptstraße führte.

Die Grenzsoldaten haben uns von dort in die Kolonne einfädeln lassen. Dadurch mussten wir nicht so lange warten, wie die anderen DDR-Bürger in der Trabbi-Kolonne von Gadebusch nach Ratzeburg. Wir wurden herzlich und mit kleinen Geschenken von einer jubelnden Menschenmenge empfangen, das war sehr beeindruckend.

Ich war mit meinem damaligen Partner und den zwei kleinen Kindern dort. Wir haben das Begrüßungsgeld abgeholt und sind dann ins nächste Kaufhaus. Wir wollten den Kindern von dem Westgeld etwas kaufen und sie durften sich im Kaufhaus etwas aussuchen. Leider haben aber nichts gefunden, das sie gerne gehabt hätten. Wir auch nicht. Also sind wir ohne irgendwelche Einkäufe zu tätigen wieder nach Hause gefahren.

In Ziethen, einem Vorort von Ratzeburg und mein heutiger Zielort, gab es einen kleinen Laden, es war die letzte Einkaufsmöglichkeit vor der Grenze.

Nach der Grenzöffnung strömten die Menschen aus der damals sogenannten Zone scharenweise zum Einkaufen in diesen Laden. Man erzählt, dass es sogar Schlägereien um die letzten Bananen gab. Bei uns im Osten waren Bananen, wie viele andere Dinge, Mangelware und daher heiß begehrt.

Irgendwann ist dieser Laden einem Lebensmittel - Discounter gewichen. Ich vermute, der Ladenbesitzer hat sein Geschäft nicht als armer Mann verlassen.

Einige Tage nach unserem ersten Besuch in Westdeutschland haben wir uns dann etwas weiter bis Bad Oldesloe vorgewagt und dort ein nettes älteres Ehepaar kennen gelernt, das uns spontan zum Mittagessen zu sich nach Hause eingeladen hat.

Sie haben sich köstlich darüber amüsiert, dass wir beim Betreten der Wohnung die Schuhe auszogen. Anscheinend war es im Westen nicht so üblich und wir kamen uns ziemlich fremd und exotisch vor.

Da es bei uns damals kaum Telefone gab, sind wir manchmal etwa 15 Kilometer zur Telefonzelle von Carlow nach Ziethen gefahren, um mit unseren Freunden in Bad Oldesloe zu telefonieren.

Heute kann man es sich gar nicht mehr vorstellen, dass es einmal zwei, durch eine Mauer getrennte, deutsche Staaten gab.

Inzwischen bin ich in Mustin, dem ersten Ort auf der Westseite der ehemaligen Grenze in Schleswig - Holstein.

So langsam geht mir die Puste aus. Ich könnte hier irgendwo übernachten, aber eine Unterkunft gibt es an der Hauptstraße nicht. Also müsste ich in einer Nebenstraße danach suchen. Ob ich dann wohl eine finde, ist auch noch fraglich.

Es sind nur noch ein paar Kilometer bis Ratzeburg. Irgendwie kommt mir der Weg endlos lange vor.

Ich mache Pause im Buswartehäuschen. Es fängt an zu nieseln. Passend zu meiner Stimmung. Den ganzen Tag war herrlicher Sonnenschein, ich habe Sonnenbrand im Gesicht. Die Regenkleidung liegt griffbereit in meinem Rucksack, aber an Sonnencreme habe ich nicht gedacht.

Wäre ich im Süden gewandert, wäre wohl die Sonnencreme vor der Regenkleidung in meinem Rucksack, aber hier im Norden hatte ich mit so herrlichem Wetter gar nicht gerechnet.

Jetzt bin ich kaputt und es regnet. Wenn jetzt der Bus kommt, könnte ich einsteigen und bis Ratzeburg fahren. Die Versuchung ist groß, aber es kommt kein Bus, also geht es zu Fuß weiter.

Das heutige Ziel ist nahe. Gegen 17:00 Uhr bin ich in Ziethen. Hier wollte ich sowieso übernachten. Leider öffnet niemand in der Unterkunft, die meine Schwester und ich für heute ausgewählt hatten.

Ich habe keine Lust mehr, nach der Jugendherberge zu suchen, da müsste ich noch einige Kilometer durch die Stadt zum See laufen. Mir tun die Füße weh, ich bin müde und will nur noch eine Dusche und ein Bett.

Beim Bäcker gönne ich mir ein Stück Kuchen und eine Tasse Kakao. Endlich Sitzen, eine Wohltat für meine Füße. Ich könnte eine Toilette gebrauchen, aber die gibt es hier leider nicht.

Das kleine Teufelchen in mir schlägt vor, meine Eltern anzurufen. Mutti wäre erleichtert, sie würde mich sicher abholen und versuchen, mich davon zu überzeugen, das Vorhaben aufzugeben. Sie würde mich aber auch, auf meinen Wunsch hin, morgen wieder herfahren. Dann hätte ich eine erholsame Nacht im vertrauten Bett und könnte morgen meine Wanderung fortsetzen.

Aber nein! Schummeln gilt nicht! Also schleppe ich mich weiter Richtung Innenstadt, dort gibt es auf alle Fälle Hotels. Natürlich dann auch zu entsprechenden Preisen. Aber das ist jetzt Nebensache, ich will ein Bett!!! Zufällig fällt mein Blick auf einen kleinen blauen Wegweiser zur Pension Heckendorf. …die Erlösung! Hoffentlich ist da noch was frei.

Der Wirt erinnert mich an den Schauspieler Peter Ustinov, er ist sicher schon an die 80 Jahre und gibt mir mehrmals zu verstehen: Man erkenne deutlich, dass ich ein Ossi sei.

Auf meine Frage, woran er das erkennt meint er, weil ich nach dem Preis frage und zum Einchecken meinen Ausweis vorlege. Aha. Ist mir jetzt auch egal, ich will nur noch duschen und mich hinlegen. Ich komme rechtzeitig zum Abendessen, es gibt Rehbraten. Aber ich habe keinen Hunger, hatte gerade Kuchen. Die Übernachtung kostet mich 55,- €.

Eigentlich nicht meine Preisklasse, aber ich mag nicht mehr weitersuchen und fühle mich hier wie im Paradies. Ein liebevoll eingerichtetes Zimmer mit Kochnische im Vorraum und natürlich auch Dusche und Toilette.

Mein Blick durch das Fenster fällt auf eine Wiese mit idyllischem Gartenteich, echten Wildenten und einer Sitzecke für die Gäste. Eigentlich wollte ich noch ein wenig in die Stadt gehen, aber ich bleibe im Zimmer, bin sooo kaputt. Am rechten Fuß habe ich eine Blase und an der linken Fußsohle eine wunde Stelle, so groß, wie ein Euro Stück. Ich schau ein wenig fern, das entspannt. Den morgigen Tag werde ich in Ratzeburg verbringen und mich erholen, bin ja heute die Strecke gelaufen, für die ich zwei Tage eingeplant hatte.

32 Kilometer nur Teerweg, immer an der Hauptstraße entlang.

Ehemaliger Grenzstreifen

Blick über den Ratzeburger See zum Dom

Pilgerfrei

2. Tag, Dienstag, 30. April 2013 (Walpurgisnacht)

Ich habe relativ gut geschlafen. Die Blasen an den Füßen schmerzen etwas und mir tun die Knochen weh, aber es ist erträglich. Heute habe ich mir „pilgerfrei“ gegeben und schaue die Stadt an. Ich war zwar schon oft mit dem Auto hier, aber das jetzt ist was Anderes. Das Wetter ist angenehm, herrlicher Sonnenschein, bei 8 Grad. Heute will ich mir den Dom ansehen und das Museum.

Es ist doch ein ganzes Stück zu laufen bis in die Stadt, immerhin etwa vier Kilometer, ich wohne ja in einem Vorort.

Trotzdem zieht es mich heute zwei Mal in die Innenstadt. Das Mittagsschläfchen zwischendurch habe ich mir nach der gestrigen Tortur verdient. Die Beine und die Blasen tun noch weh, aber ich hoffe, bis morgen ist es besser.

Der Ratzeburger Dom befindet sich auf dem höchsten Punkt der Nordspitze der Altstadtinsel von Ratzeburg. Aus Richtung Ziethen kommend hat man über den See einen wunderschönen Blick auf den Dom. Er beherbergt die Gebeine des Heiligen Ansverus und wurde von Heinrich dem Löwen als Bischofskirche gestiftet.

Der Dom ist eines der ältesten Kirchengebäude in Schleswig - Holstein. Daneben befindet sich das Paul-Weber-Museum, es wurde 1973 eröffnet und ist sehr sehenswert.

Ich hätte gar nicht gedacht, dass mir die Exponate, die man in 23 Räumen besichtigen kann, so gut gefallen würden. Hier bekomme ich auch meinen ersten Pilgerstempel.

In meiner Wegbeschreibung wurde ich darauf hingewiesen, dass es den Stempel hier und nicht wie gewöhnlich, in der Kirche oder im Dom gibt.

Die Wegbeschreibung gab es übrigens nicht im Handel zu kaufen, ich habe sie mir vom Pilgerverein schicken lassen. Wahrscheinlich ist das Interesse an den Jakobswegen im Norden Deutschlands zu gering, sodass es sich nicht lohnt, dafür Wanderkarten im Buchhandel anzubieten. Ich hoffe, dass es sich irgendwann einmal ändert.

Der freundliche Herr in der Touristeninformation berät mich gut und erklärt mir, wo ich in Ratzeburg eine Jakobsmuschel, den Wegweiser für meinen weiteren Weg, finde.

Der Jakobsweg führt am See entlang. Das werde ich morgen früh finden. Jetzt muss ich erst einmal wieder in die andere Richtung zu meiner Unterkunft. Heute Abend genehmige ich mir einen Wildschweinbraten in der Pension. Der Wirt ist Jäger und erzählt mir von seinen Erlebnissen.

Eigentlich wollte ich nachher noch ins „Lookin“, die Besitzerin ist eine Bekannte von mir und heute ist doch Walpurgisnacht, ein traditionelles nord- und mitteleuropäisches Fest. Aber ich bleibe dann doch im Zimmer vor der Glotze.

Morgen wird wieder ein anstrengender Tag.

Auch wenn ich heute nicht gewandert bin, bin ich ganz sicher etwas mehr als 16 Kilometer gelaufen.

Ratzeburg – Fredeburg – Marienwohlde – Mölln (14 Kilometer)

3. Tag, Mittwoch, 1. Mai 2013

Nach einem ausgiebigen Frühstück und mit Proviant für unterwegs geht es 8:50 Uhr los, Richtung See.

Vor dem Rathaus wird gerade der Maibaum aufgestellt. Das Gefühl, etwas zu verpassen, überkommt mich, aber ich muss weiter. Heute geht´s nach Mölln, ganz sicher werde ich dort einen schönen 1. Mai mit Musik auf der Marktplatzbühne erleben. Schließlich habe ich mich vorher im Internet darüber informiert.

Auf dem Weg nach Mölln treffe ich viele Leute, der 1. Mai ist ja traditionsgemäß Wandertag. Mir ist nur eine einzige Jakobsmuschel am Ratzeburger See begegnet. Irgendwo habe ich wohl eine wegweisende Muschel übersehen, aber ich bin den anderen Wegweisern nach Mölln gefolgt. Es heißt ja „Viele Wege führen nach Rom“, nach Mölln auch. Dieser Weg gefällt mir auch und ich bin schon um 13:00 Uhr nach ca. dreizehn Kilometer am Ziel.

Ich habe Glück und finde sofort ein Zimmer. Bescheiden, aber sauber, 38,- € mit Frühstück. Das kostet die Jugendherberge auch, aber die müsste ich erst mal finden. Also bleibe ich hier. Man bedenke, dass ich zu Fuß bin und mit meinen geschundenen Füßen schon einige Kilometer hinter mir habe. Da begibt man sich nicht schnell mal in einen anderen Stadtteil, so wie man es mit einem motorisierten Gefährt tut.

Es ist eine alte Kneipe, aber nicht mehr in Betrieb. Die Besitzer sind im Ruhestand und vermieten nur noch Zimmer mit Frühstück, kein Ausschank mehr.

Meine Blasen an den Füßen haben sich neu gebildet, aber die Knochen tun nicht mehr so weh wie gestern. Ich bringe nur das Gepäck ins Zimmer, ziehe andere Schuhe an und dann ab ins Stadtzentrum, ist nicht weit.

Das Wetter ist super. Die Dame in der Touristeninfo ist erstaunt darüber, dass der Jakobsweg durch Mölln führt. Das wusste sie gar nicht, was wiederum mich in Erstaunen versetzt. Vom Stempel für meinen Pilgerpass weiß sie natürlich auch nichts. Aber dank meines Infomaterials und einer Karte von Mölln finden wir gemeinsam die Stelle, wo mein Weg morgen weiter gehen müsste.

Der Verwalter der St. Nikolaikirche ist sehr gesprächig und freut sich über meine Geschichte. Eine Verwandte von ihm ist auch schon den Jakobsweg gegangen, bis zum Ende! Er findet in einer Schublade einen Stempel, den er mir in meinen Pilgerpass drückt. Leider gibt es kein Stempelkissen und der Abdruck ist sehr blass.

Die Kirche, dem Heiligen Nikolaus von Myra geweiht, liegt über der mittelalterlichen Stadt auf dem Eichberg. Das hört sich so weit entfernt an, ist aber direkt in der Stadtmitte. Mir war bis dahin gar nicht bewusst, dass das ein Berg sein soll, man steigt nur einige Stufen zur Kirche hinauf. An der Westseite ist ein Gedenkstein eingemauert, der an die Tatsache erinnert, dass Till Eulenspiegel nach der Überlieferung senkrecht begraben wurde. Als Grund wird angegeben, dass der Sarg bei der Beisetzung abstürzte und senkrecht im Grab stand.

Über die Streiche von Till Eulenspiegel haben auch wir Ostkinder im Schulunterricht gelesen.

Am Fuße des Kirchbergs befindet sich ein Brunnen mit einer Eulenspiegel-Skulptur, deren Daumen und Fußspitzen von vielen Berührungen abgewetzt sind. Angeblich soll das Berühren der Skulptur Glück bringen. Das war mir bis dahin unbekannt. Was man doch alles lernt, wenn man die Leute beobachtet.

Ich berühre natürlich auch die Figur an Daumen und Fußspitze gleichzeitig, so wie ich es bei den anderen Leuten gesehen habe. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass es wirklich Glück bringt, aber es schadet ja auch nichts.

Ein Tourist macht auf meinen Wunsch hin ein Foto von Till und mir. Dann gönne ich mir auf dem Rathausplatz eine warme Mahlzeit. Es ist traumhaftes Wetter. Um mich herum sind viele Leute, die den Sonnenschein und den ersten Mai genießen. Das Fest war hier leider schon gestern. Heute keine Musik in Mölln, sondern in Ratzeburg. Irgendwie bin ich zur falschen Zeit am falschen Ort. Sehr schade, ich hatte mich darauf gefreut und habe doch heute noch so viel Zeit.

Mein Schwager schreibt mir eine SMS: In Veelböken, bei meinen Eltern im Garten, sitzen sie jetzt alle zusammen und grillen… und ich sitze hier, ganz ALLEIN! nur 45 Minuten Autofahrt entfernt und wünsche mir, zufällig meine Verwandten, die hier leben, zu treffen.

Zu DDR-Zeiten hatten wir kaum Kontakt zu den Westverwandten. Wir durften ja nicht rüber nach Westdeutschland. Hin und wieder war meine Tante, die Schwester meiner Mutter, mit Familie mal zu Besuch. Aber der Aufenthalt bei uns war, wenn überhaupt, immer nur ganz kurz. Schließlich hatte meine Tante noch mehr Geschwister zu besuchen.

Nach der Wende waren wir dann mehrfach bei meinem Cousin eingeladen. Hier habe ich das erste Mal Schrimps gegessen und festgestellt, dass sie mir nicht schmecken. Auch Kiwis waren mir bis dahin unbekannt und anfangs nicht mein Fall. Inzwischen haben sich die Geschmacksnerven daran gewöhnt und ich empfinde sie als wohlschmeckend. Leider habe ich mittlerweile keinen Kontakt mehr zu meinem Cousin.

Nach einem entspannten Mahl trotte ich dann weiter, schau mir die Stadt an und finde die Jakobsmuschel, mein Wegweiser für morgen. Das ist schon mal beruhigend. Am Bahnhof kaufe ich mir eine kleine Flasche Sekt. Die habe ich mir verdient, und Zigaretten für heute Abend. Eigentlich bin ich ja nur Gelegenheitsraucherin, aber jetzt brauche ich eine Zigarette als Seelentröster.

Ich vermisse jemanden zum Reden. Auf ein Gespräch mit dem Penner am Bahnhof verzichte ich dann doch lieber. Immer wieder treffe ich einen einzelnen Wanderer mit Rucksack. Ein Gleichgesinnter? Ich wage nicht, ihn anzusprechen, er erweckt nicht den Eindruck, als habe er das Bedürfnis nach einer Unterhaltung. Vielleicht denkt er von mir dasselbe und ihm geht es so wie mir?

Mit Til Eulenspiegel

Ich bin schon um 18:00 Uhr im Zimmer. Duschen, Füße verarzten. Der Fernseher hat nur drei Programme. Besser wie nichts. Vielleicht gehe ich nachher noch mal in die Stadt. Ich fühle mich ziemlich einsam, aber morgen geht’s ja wieder weiter. Ich bin erst ganz am Anfang meiner Pilgerreise und sollte mich etwas schonen und meine Kräfte nicht sinnlos vergeuden. Ich habe ein gutes Buch dabei und muss noch die Strecke für morgen aufschreiben. Das ist dann doch schnell erledigt und mir fehlt die innere Ruhe zum lesen, also werde ich doch noch einmal in die Innenstadt gehen. Es ist ja erst 20:00 Uhr. Das hier erscheint mir wie ein Geisterhaus. Die Wirtsleute sind wahrscheinlich schon gestorben und haben es noch nicht bemerkt. Und ich, der einzige Gast in diesem Hause, bin anscheinend die Einzige, die sie sehen kann. In dem großen Haus ist alles uralt und erscheint mir sehr unheimlich.

Ich lande in einer Kneipe, in der gleich die Übertragung eines Fußballspiels beginnt. Fußball interessiert mich eigentlich gar nicht, aber hier sieht es nach unterhaltsamer Gesellschaft aus, das fehlt mir jetzt. Nur fühle ich mich total fremd und frustriert und kann mich einfach nicht überwinden, auf ein Gespräch einzulassen. Ich trinke meinen Wein, rauche einige Zigaretten und begebe mich in der Halbzeit an den Tresen, um zu zahlen. Ein Herr fragt mich, ob mein Tischnachbar mich vertrieben hat. Aber nein, die Leute hier sind alle sehr nett. Jetzt ist das „Eis gebrochen“. Das wäre die Gelegenheit, das Gespräch weiter zu führen, der Abend könnte doch noch schön werden. Aber: Der morgige Tag wird wieder sehr anstrengend, also verabschiede ich mich und gehe. Ach, was bin ich doch vernünftig...

Mölln – Hornbek – Roseburg – Siebeneichen – Büchen (23 Kilometer)

4. Tag, Donnerstag, 2. Mai 2013

Ich erwache früh, nach einer unruhigen Nacht und fühle mich ziemlich matschig. Irgendetwas stimmt in diesem Haus nicht. Ich will nur weg, es ist mir immer noch unheimlich hier.

Das Frühstück ist reichlich, von allem etwas. Nur für mich allein, dem einzigen Gast im ganzen Haus. Der Wirt zieht sich mit der Tageszeitung zurück, während ich allein in dem großen Gastraum mein Brötchen verspeise. Dann kommen wir doch noch ins Gespräch. Er hatte vor Jahren einen Schlaganfall, daraufhin hat das Ehepaar beschlossen, in den wohlverdienten Ruhestand zu treten und den Gaststättenbetrieb einzustellen. Mit der Zimmervermietung verdienen sie sich ein kleines „Zubrot“.

Kurz vor neun geht’s los. Heute haben die Läden glücklicherweise wieder geöffnet und ich kaufe noch zwei Flaschen Wasser und Schokolade und lande doch tatsächlich auf dem richtigen Weg. Ich habe eine Jakobsmuschel gefunden – endlich - und es geht mir gut. Ein Erfolgserlebnis.

Die Jakobsmuschel, hier bin ich richtig.

Heute geht es nach Büchen, ca. zwanzig Kilometer. Welch Freude, immer wieder beim Anblick einer Jakobsmuschel. Das bedeutet, ich bin nicht vom rechten Weg abgekommen. Anfangs wusste ich nicht, in welche Richtung ich ihnen folgen sollte, aber jetzt weiß ich es: Die Spitze zeigt in die Richtung, der man folgen muss.

Es geht auf der Alten Salzstraße entlang. Sie ist Teil der ehemals wichtigsten Nord-Süd-Verbindung Deutschlands. Zu Zeiten der Hanse wurden große Teile des Lüneburger Salzes für den Ostseeraum hier entlang exportiert. ... weiß ich das jetzt also auch. Das Salz stammt nicht aus dem Meer, sondern aus Lüneburg. Ich stelle mir einen Pferdewagen mit einer Fuhre Salz vor, der hier entlang rumpelt. Was wohl aus dem Salz wurde, wenn es geregnet hat? Damals gab es doch sicher noch keine Planen zum abdecken...

Auf diesem Weg sind kaum Jakobsmuscheln zu finden und mich plagen immer wieder Zweifel, ob ich noch richtig bin. Eigentlich heißt es, wenn kein Zeichen ersichtlich ist, geht es weiter gerade aus. Was, wenn ich eins übersehen habe und schon längst hätte abbiegen müssen? Dann bin ich jetzt total falsch.

Zwei Stunden durch die Natur und kein Mensch in Sicht. Unfassbar, dass das hier in der Gegend möglich ist. Ich muss an meine Keniareise im letzten Jahr denken, dort waren wir auf Safari, um wilde Tiere zu sehen und Fotos zu machen.

Ich stelle mir vor, dass ich auch hier auf Safari bin. Freilebende Tiere gibt es auch in Deutschland zu sehen. Auch hier sind sie mehr oder weniger scheu, wie in Afrika. Auf einem Landweg sitzt ein Hase. Ich pirsche mich mit meiner Kamera ganz vorsichtig näher heran. Er hat etwas zum Fressen entdeckt und bemerkt mich noch nicht. Noch ein kleines Stück näher und dann... ich drücke ab. Ja! Ich habe ihn. Sein Foto ist in meiner Kamera, bevor er entsetzt davon hoppelt.

Die alte Salzstraße

Dann, endlich: Mir begegnet ein anderes zweibeiniges Wesen auf einem Fahrrad. Welch Freude, die Zivilisation naht!

Gleich bin ich in Hornbek. Hier gibt es nichts weiter zu sehen, außer einige, zugegebenermaßen schöne Häuser.

Irgendwann lande ich an einem Schild „Zum Schlachter“. Hier bin ich falsch, zum Schlachter will ich nicht. Notschlachtung ist nicht die Lösung, ich habe doch ein Ziel. Also drehe ich um und begebe mich in die andere Richtung, ein Stück an der Straße nach Roseburg entlang. Ich hatte vorhin einen Aufkleber mit der Jakobsmuschel übersehen und bin versehentlich gerade aus gegangen, anstatt links abzubiegen.

Mein mehrseitiger Reiseführer informiert mich, dass es in Roseburg einen Bioladen gibt, in den man auch auf eine Tasse Kaffee einkehren kann. Allerdings hat der Laden jetzt Mittagspause und ich müsste noch eine Stunde warten, das dauert mir zu lange.

Zwei plaudernde Damen schmücken das Dorfbild und erwecken in mir wieder Kindheitserinnerungen:

Unser Wohnhaus befand sich in der Nähe vom Milchbock, eine Art Holztisch, der in der Dorfmitte als Sammelstelle für die Milchkannen diente. Die Leute aus dem Dorf haben morgens ihre gefüllten und individuell gekennzeichneten Kannen darauf abgeladen, die dann von einem Fahrzeug abgeholt und zur Molkerei gebracht wurden.

Der Milchverkauf war eine Nebenerwerbsquelle einiger Dorfbewohner in der ehemaligen DDR, die im Besitz einer Kuh waren. Der Milchbock war nicht nur die Sammelstelle für die Kannen, hier trafen sich die Leute, während sie ihre Gefäße auf dem Bock deponierten und es entstanden mehr oder weniger lange Gespräche.

Auch an den Wochenenden gaben die Kühe Milch, die in die Molkerei musste. Als Kinder waren wir oft sehr wütend darüber, wenn wir hätten ausschlafen können und die Leute, ich erinnere mich an eine geschwätzige Dame mit besonders lauter Stimme, frühmorgens in der Nähe unseres Schlafzimmerfensters standen und lautstark über etwas diskutierten.

Die beiden Damen in diesem Ort sind sicher harmloser und stehen nicht schon so früh auf der Straße, um ihren ruhebedürftigen Mitmenschen den Schlaf zu rauben. Auf meine Frage erklären sie mir den Weg nach Siebeneichen und weiter geht’s.

Welch ein Glück ich doch habe, die ganze Zeit ist herrlicher Sonnenschein.

In Siebeneichen gibt es ein buddhistisches Meditationszentrum mit einem idyllischen Park und einem „Haus der Stille“, das leider verschlossen ist. Es ist Mittagszeit und kein Mensch in Sicht. Also lasse ich mich auf einer Bank nieder, schließe die Augen und genieße die Ruhe, den Frieden, das Rauschen der Bäume, das Zwitschern der Vögel und die Sonne auf meinem Gesicht.

Es ist fast wie zu Hause in dem kleinen Ort Veelböken. Dort habe ich mich als Kind im Sommer manchmal in den Garten gelegt und den Frieden genossen. Ich fand es damals so entspannend, in der Sonne zu liegen und dem friedlichen Gegacker der Hühner und der Kreissäge in der Ferne zu lauschen, dass ich dabei eingeschlafen war. Das passiert mir hier leider nicht, obwohl mir ein kleines Nickerchen gutgetan hätte. Also beende ich meine meditative Mittagspause und wandere weiter.

Es geht am Elbe-Lübeck-Kanal entlang. Hier ist es traumhaft schön, so idyllisch und friedlich. Auf der anderen Seite beobachte ich Wildgänse. Das hört sich spannend an, anscheinend gibt es dort einen Streit. Wildes, aufgeregtes Geschnatter und Flügelschlagen. Es ist kein Grund für die Streitereien zu erkennen. Geht es um die Rangfolge? Ich weiß gar nicht, ob es das auch bei Gänsen gibt, oder streiten sie sich um Futter? Oder vielleicht sogar um eine besonders attraktive, charmante Gänsedame? Oder gibt es gar einen Fremdling, der in die Gänseschar eindringen wollte?

Jetzt packt mich wieder das „Safari-Fieber“. Nach einiger Zeit beruhigen sie sich wieder. Gänse sind ebenso gute Hausbewacher, wie Hunde. Ein Gänsebiss kann auch sehr schmerzhaft sein.

Ganz früher, als ich noch sehr klein war, hatten wir auch mal eine Gänseschar. Damals mussten wir noch über den Hof zur Toilette gehen. Die gefiederten Zweibeiner hatten keinen Respekt vor so einem jungen Menschenkind wie ich damals eines war und zwickten mich auf dem Weg zum Örtchen manchmal in die Beine.

Das ist ihnen nicht gut bekommen. Irgendwann waren sie alle verschwunden und es tauchten nie wieder neue Gänse bei uns auf.

Ohne Schuhe laufe ich barfuß über den grasbewachsenen Randstreifen. Das tut meinen geplagten Füßen gut und ich fühle mich federleicht. Hier trifft man bei dem herrlichen Wetter auch einige Spaziergänger. Ich komme ins Gespräch und ernte Bewunderung für mein Vorhaben und Tipps für eine Abkürzung. Den Umweg zur Kirche erspare ich mir, das wäre in die entgegengesetzte Richtung. Ich biege gleich rechts nach Büchen ab.

Frohen Mutes erreiche ich gegen 16:00 Uhr den Ort und entdecke gleich am Eingang die Werbetafel vom Hotel „Alte Mühle“. Für mich steht fest: Das wird mein heutiges Nachtquartier.

In einem Imbisshäuschen verziehe ich mich mit meinem Schnitzel in die hintere Ecke und beobachte das Geschehen. Der Wirt versucht, mit einem Gast den Fernseher in Gang zu bekommen und erwecken dabei in mir das Gefühl, dass sie sich meiner Anwesenheit gar nicht bewusst sind.

Von meinem Toilettengang zurück erwische ich die Herren dabei, wie sie über meinen Rucksack, die Wanderschuhe und die seltsame Besitzerin rätseln. Sie fühlen sich ertappt und fragen, ob ich auf Wanderschaft bin. Klar, ist ja nicht zu übersehen.

Jetzt kommen wir ins Gespräch. Das tut so gut und wir lachen ein wenig miteinander. Nach einem Blick auf meine Karte empfehlen mir die Herren, am Kanal weiter zu laufen, der führt direkt bis Lauenburg, mein Ziel für morgen. Das ist kürzer, als dem Jakobsweg zu folgen. Ich erzähle ihnen, dass Lüneburg das Ziel meiner Etappe sei, bevor ich wieder zurück zu meinen Eltern fahre. Der Gast sieht es gelassen und meint, dass ich meine Wanderschaft auch in Lauenburg schon beenden könne, wenn ich keine Lust mehr hätte, weiter zu gehen.

„Das macht sie nicht!“ empört sich daraufhin der Wirt. „Sie läuft schön bis zum Ziel nach Lüneburg!“ Ist das lustig. Als wären die zwei meine Eltern und würden sich darum streiten, was am Besten für die Tochter wäre.

Fröhlich verabschiede ich mich von den Herren und laufe beschwingt weiter zur Alten Mühle. Ich bin begeistert und will dieses traumhaft schöne Zimmer nie mehr verlassen. Der Wirt ist angenehm geschäftstüchtig und beschließt, das neu erworbene Wissen lukrativ umzusetzen:

Ja, der Jakobsweg führt auch durch Büchen! Er kassiert gleich die 43,- € für Übernachtung und Frühstück und ich bin ein freier Mensch und kann morgen die Unterkunft nach dem Frühstück, ohne Formalitäten verlassen.

Im Badezimmer hängt sogar ein Fön. Den nutze ich hauptsächlich, um meine gewaschene Kleidung zu trocknen. Das Rauschen des Baches hat eine beruhigende Wirkung. Ich fühle mich hier sauwohl, es ist alles neu renoviert, die Balken im Zimmer vermitteln Gemütlichkeit. Vom Programm im Flachbildfernseher bekomme ich nicht viel mit, bin zu müde. Hauptsache eine Geräuschkulisse.

Auch auf mein Buch kann ich mich nicht konzentrieren, bin viel zu kaputt und habe so viele Eindrücke zu verarbeiten. Ich kann mich gar nicht mehr an den Weg zum Frühstücksraum erinnern und habe das Gefühl, durch endlose Flure hier her gelangt zu sein. Aber das Problem löse ich morgen früh, jetzt habe ich hier alles, was ich für heute benötige. Nach 23 Kilometern Fußmarsch mit meinen geplagten, nicht ganz intakten Füßen, genieße ich dieses wundervolle Zimmer in vollen Zügen.

Büchen – Pötrau – Wangelau – Artlenburg (25 Kilometer)

5. Tag, Freitag, 3. Mai 2013

Wieder war es eine unruhige Nacht, obwohl das Zimmer so toll ist und ich doch so müde war. Aber mich treibt nichts zur Eile und ich mache mich in aller Ruhe fertig, benutze sogar luxuriöser Weise den Fön für meine Haare und begebe mich, nachdem ich meine geschundenen Füße wieder in den Wanderschuhen verborgen habe, mit meinem Rucksack hinunter in den Gastraum. Dort wartet schon ein ausgiebiges Frühstück auf mich. Es sieht hier wirklich alles sehr ansprechend aus und ist sein Geld wert.

Ein anderer Gast gesellt sich zu mir, wir sind momentan die einzigen beim Frühstücken und unterhalten uns. Er besucht hier seine Familie und übernachtet in der Alten Mühle, weil es hier so schön sei. Ich kann ihm nur zustimmen. Gegen 8:50 Uhr verlasse ich gestärkt die „Alte Mühle“ mit der Gewissheit, hier einmal wieder zu übernachten. Das nächste Mal werde ich entspannter ankommen und dann sicherlich auch besser schlafen können.

Ich werde den Kanal bis Lauenburg weiter gehen, so wie es mir die Herren gestern empfohlen haben und nicht dem Jakobsweg dorthin folgen. Schließlich geht es mir hauptsächlich ja nicht darum, den Jakobsweg zu gehen, mein Entschluss war eigentlich, von meiner Heimat in Norddeutschland bis zu meinem jetzigen Wohnort in Süddeutschland zu Fuß zu gehen. Welchen Weg ich dabei gehe ist dabei eher Nebensache. Es ist immer noch herrlicher Sonnenschein, aber mir erscheint der Weg langsam ziemlich öde. Immer derselbe Anblick …KANAL …KANAL…KANAL.

Einmal begegnet mir sogar ein Kanalhase, den ich sofort mit meinem Fotoapparat festhalte. Kurz vor Lauenburg ist der Kanalweg gesperrt und ich muss auf meinem Umweg über die Dörfer mehrmals nach dem Weg fragen. Die Abkürzung war also doch nicht so einfach und so kurz, wie die Herren gestern dachten. Der Jakobsweg wäre sicher interessanter und schöner gewesen. Das zeigt mir mal wieder, dass im Leben nicht immer der im Moment einfacher erscheinende Weg langfristig auch der Bessere ist.

Gegen Mittag bin ich schon in Lauenburg und esse in einem Lokal an der Elbe leckeren Fisch. Hier habe ich mit den Kindern schon manchmal auf der Durchfahrt gehalten.

Ich beschließe, nicht in die Innenstadt zu gehen, obwohl ich eigentlich geplant hatte, hier zu übernachten. Das wäre wieder ein Abstecher in die falsche Richtung. Vielleicht schaue ich mir Lauenburg ein andermal an. Aber jetzt will ich weiterkommen, Richtung Süden, meinem Ziel entgegen.

Der nächste Ort auf meinem Plan ist Artlenburg. Ich könnte es schaffen, einen Tag früher nach Hause zu fahren als geplant. Irgendwie seltsam, die große Brücke über die Elbe zu Fuß zu überqueren. Hier bin ich sonst mit dem Auto entlanggefahren. Einmal konnte man von der Straße aus eine große Überschwemmung sehen. Aber heute fließt die Elbe ruhig und friedlich in ihrem Flussbett Richtung Norden. Es geht immer auf dem Deich entlang. Bei diesem herrlichen Wetter sieht die Natur sehr farbenprächtig aus und ich genieße die warme Frühlingsluft. Wer hätte gedacht, dass ich um diese Zeit in Norddeutschland ohne Jacke spazieren gehen kann. Im Süden Deutschlands regnet es. Ich bin wohl momentan zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Fix und fertig erreiche ich Artlenburg. Der Name stammt von der Ruine Ertheneburg Die Burgruine befindet sich auf dem gegenüberliegenden Ufer der Elbe und sicherte einst den Elbübergang der Alten Salzstraße von Lüneburg nach Lübeck.

Einen Teil der Alten Salzstraße bin ich in den letzten Tagen auf meiner Wanderung entlang gegangen. Ich finde ein günstiges Zimmer für nur 25,- €. Der Vermieterin entgleitet ein mitleidiges „Oh je“, als sie mich sieht. Anscheinend sieht man mir die Erschöpfung deutlich an.

Das Zimmer hat drei Betten, davor ist noch ein Durchgangszimmer mit zwei Betten. Auch hier ist ein Fernseher vorhanden. Das gehört wohl zur Standardausrüstung. Damit hatte ich gar nicht gerechnet.

Sie versichert mir, dass ich beide Zimmer ganz allein nutzen könne. Es ist ein Bauernhaus und zur Toilette müsste ich über die große Diele. Ich stelle mir vor, wie ich nachts verschlafen in der Dunkelheit nach den Lichtschaltern suche. Das wäre mir sicher etwas unheimlich. Es gibt noch ein Gasthaus hier im Ort. Es ist sicher etwas teurer, aber ich hätte Dusche und WC gleich im Zimmer. Also verabschiede ich mich in der Hoffnung auf eine bequemere Übernachtungsmöglichkeit. Die Vermieterin ist sehr verständnisvoll und schlägt mir vor, falls es mit dem Zimmer im Gasthaus nicht klappen sollte, könnte ich gerne wiederkommen. Es gäbe hier auch einen sonnigen Garten zum Ausruhen.

Gerne wäre ich bei den netten Leuten geblieben, aber ich weiß, dass ich hier, in diesem Zimmer wieder keinen erholsamen Schlaf finden würde. Im Gasthaus ist noch etwas frei. Nichts Besonderes: ein Bett, eine Dusche und auch hier wieder ein Fernseher und sogar ein Radiowecker. Die Wanderschuhe dürfen sich im Zimmer erholen und ich humpele in Straßenschuhen zur Kirche.

Meine wunden Füße schmerzen inzwischen bei jedem Schritt. Das erinnert mich an die kleine Meerjungfrau, die ihre Flosse aus Liebe zu einem Mann gegen Füße eingetauscht hat. Der Preis dafür war, dass jeder Schritt schmerzte, als würde sie auf Stecknadeln laufen. In der Kirche stehen sogar Wasserflaschen für durstige Wanderer. Das ist sehr gastfreundlich. Sollte es hier doch mehr Wanderer geben, als ich dachte? Ich habe mein Wasser dabei und überlasse diese Getränke den Wanderern, die es dringender benötigen, als ich. Aber einen Stempel für meinen Pilgerpass kann ich nicht finden. In Baden-Württemberg liegen die Stempel in einigen Kirchen für die Pilger griffbereit und man kann sie sich selbst in den Pass drücken. Aber hier sind Pilger und daher wohl auch die Stempel seltener. Ich mag nicht im Pfarrhaus klingeln und danach fragen. Auch kann ich keine Muschel finden, die mir den Weg für Morgen weist. Aber das ist ein Problem, mit dem ich mich heute nicht mehr belasten möchte. Morgen ist auch noch ein Tag.

Mit einer Zeitung und einem Glas Wein setze ich mich an einen der Tische, die vor dem Hotel stehen. Das Wetter lädt ein, im Freien zu sitzen. Obwohl ich hier allein bin, fühle ich mich wohl. Entspannt trinke ich meinen Wein, rauche eine Zigarette und lese nebenbei die Zeitung. Und mein Handy habe ich auch dabei. Eigentlich wollte ich es nur im Notfall benutzen, aber in Anbetracht dessen, dass ich allein bin, erweist es mir doch seelsorgerische Dienste.

Ich bin soooooo kaputt und begebe mich rechtzeitig in mein Zimmer.

Heute habe ich trotz der wunden Füße ca. 25 Kilometer zurückgelegt.

Blick über die Elbe auf Lauenburg

Deich von Lauenburg nach Artlenburg

Artlenburger Mühle

Artlenburger Kirche

Artlenburg – Barum – St. Dionys – Lüneburg (13 Kilometer)

6. Tag, Samstag, 4. Mai 2013

Einigermaßen ausgeruht begebe ich mich gegen 8:00 Uhr zum Frühstücken. Das Zimmer hier ist zwar ähnlich, wie in der Möllner Unterkunft, aber aus unerklärlichen Gründen fühle ich mich hier viel wohler. Es ist Leben im Haus. Hier scheinen sogar Familien mit Kindern Urlaub zu machen und ich bin erstaunt, dass ich im Frühstücksraum viele gedeckte Tische vorfinde. Eine angenehme Überraschung, war ich doch sonst zum Frühstück meist allein, im Höchstfalle zu zweit.

Es sitzen auch schon einige Gäste dort. Mit den Bauarbeitern aus Dresden, unterhalte ich mich quer durch den Saal. Man erkennt sich – niemand weiß wie und woran – und versteht sich sofort. Wir Ossis halt.

Weiter geht’s. Ich frage mich im Ort durch, bis ich endlich wieder eine Muschel an einem Laternenpfahl finde. Witzig, dass die Einheimischen der Meinung sind, hier gibt es keinen Aufkleber mit der Jakobsmuschel, dabei laufen sie ständig daran vorbei. Man achtet eher auf andere Dinge.

Ich muss nach Barum und sehe in der Ferne zwei Orte, von denen ich nicht weiß, welcher von beiden Barum ist. Es ist kein Wegweiser zu entdecken. In welche Richtung muss ich jetzt gehen? Der Himmel schickt mir drei Nordic Walkerinnen, die sich freuen, dass außer ihnen noch jemand anderes so früh draußen unterwegs ist.

Sie sind begeistert von meinem Vorhaben und würden am liebsten gleich selbst mitlaufen. Ich muss schmunzeln, sie erscheinen mir wie drei kleine Mädchen, die bewundernd, mit großen Augen meinen Geschichten lauschen und dabei aufgeregt von einem Bein aufs andere hüpfen. Das motiviert mich erneut. Allerdings mache ich schon bald wieder, kurz vor Barum, Rast.

Meeeeineee Füüüßeeee!!! Dabei ist noch nicht mal Mittagszeit und es sind bis Bardowick, der nächste etwas größere Ort auf meiner Tour, nur noch fünf Kilometer. Im Vergleich zu den vergangenen Tagen grenzt das doch fast an Erholung. Inzwischen habe ich aber schon wieder acht Kilometer hinter mir.

Auf dem Weg nach Barum

Wieder begegne ich einem großen Schwarm Wildenten und Schwänen. Die Tierwelt in Deutschland ist nicht zu verachten.

Mir sind unterwegs verschiedene Tiere begegnet, man muss sich dessen nur bewusst sein und die Augen offenhalten. Jetzt ist es nicht mehr weit bis St. Dionys. Von dort sind es nur noch drei Kilometer bis Bardowick zur Bahn, die mich wieder nach Hause fährt.

Ich kann nicht mehr. Ich weiß gar nicht, wie die kleine Meerjungfrau das ausgehalten hat, aber sie hat es ja auch aus Liebe getan (wer weiß, ob ER es zu schätzen wusste!). Aber wofür tu ich mir das an???

Das Wetter verschlechtert sich. Richtet es sich nach meiner Stimmung? Das hatte doch schon einmal am ersten Tag, kurz vor Ratzeburg. Es sieht nach Regen aus. Inzwischen habe ich Schleswig - Holstein verlassen und bin schon in Niedersachsen.

Die St. Dionysiuskirche ist eine der größten Dorfkirchen in Niedersachsen und wurde nach dem Heiligen Dionysius, der als Bischof von Paris während einer Christenverfolgung enthauptet wurde, benannt. Der Ort trägt den Namen der Kirche.

Interessant, auch die Kirche in Gadebusch ist eine St. Dionysiuskirche. Darauf habe ich vor meiner Pilgerreise nie geachtet. Ich verweile einige Zeit und genieße die entspannte Stimmung. Auch meine Füße genießen die Pause.

Beim Verlassen entdecke ich eine Bushaltestelle. Es ist wie eine Eingebung: “Ich setze mich in den Bus, fahre nach Lüneburg und von dort aus mit der Bahn nach Hause zu meinen Eltern“. Mein Handy verrät mir, der modernen Technik sei Dank, die Abfahrtzeiten der Bahn in Lüneburg. Der Bus fährt in einer halben Stunde. Der einzige Bus am Tag. Was habe ich doch wieder für ein Glück.

Wäre ich später dran, hätte ich zu Fuß weiterlaufen müssen. Froh, dass ich es überstanden habe, geht es mir wieder gut. Innerlich amüsiere ich mich über die Gespräche der beiden etwa 14-jährigen Herren, die auch auf den Bus warten. Wie unbedarft die jungen Leute noch sind und was für belanglose Probleme sie doch haben. Sicher waren wir in unserer Jugend auch so, nur die Handyprobleme hatten wir glücklicherweise nicht. Damals war ich froh über ein kleines Kofferradio, das ich mir von meinen Geldgeschenken zur Jugendweihe erworben hatte. Wir sind dann, an den Wochenenden, bei schönem Wetter, das Radio in der Hand, mit laut aufgedrehter Musik in kleineren Rudeln durch die Gegend gelaufen. Unser Lieblingssender war Radio Luxemburg, den konnte man auch in der DDR auf der Mittelwelle empfangen. Ich weiß gar nicht, ob es diesen Sender noch gibt, aber ich habe sehr schöne Erinnerungen daran.

In Lüneburg habe ich längere Zeit Aufenthalt, aber das macht gar nichts. Ich beobachte die Leute, esse etwas und lerne auf dem Bahnsteig eine ältere Dame kennen. Wir sind ein seltsames Gespann und ich muss immer wieder darüber schmunzeln.

Sie ist beeindruckt von meiner Wanderung, hat ein Wochenendhaus hier in der Gegend und fährt jetzt wieder zurück in ihre Wohnung nach Hamburg.

Sie ist nicht mehr so gut zu Fuß. Der Fahrstuhl zum Bahnsteig ist ausgefallen und ich will ihren Koffer die Treppe hinauftragen. Allerdings lehnt sie aus Rücksicht auf mich ab. Ich müsse doch meine geplagten Füße schonen.

Ich finde es nicht so schlimm und möchte ihr beim Koffer tragen behilflich sein. Sie will sich aber nicht helfen lassen. So zerren wir beide an ihrem Koffer. Ich in der guten Absicht, ihr zu helfen und sie der Meinung, dass sie mir das nicht zumuten könne.

Ich stelle mir vor, wie es auf die anderen Fahrgäste wirken muss: Zwei Frauen unterschiedlichen Alters, die sich um einen Koffer streiten. Bei dem Gedanken, was für ein Bild wir für Außenstehende abgeben, muss ich mich zusammenreißen um nicht laut los zu lachen. Also gebe ich nach und sie schleppt ihren Koffer allein die Treppe hinauf.

Da habe ich es mit meinem Rucksack einfacher, der schlummert, wie gewohnt, fast unbemerkt auf meinem Rücken.

Die Reise führt uns gemeinsam bis Büchen, dann muss sie umsteigen. Sie bittet mich um meine Telefonnummer, weil ich doch so eine interessante Frau sei. Ich weiß, dass das nur eine von vielen flüchtigen Bekanntschaften auf dem Weg ist, tausche aber trotzdem mit ihr die Nummer aus. Wie mein Sohn mir später erzählen wird, hat sie dann noch am selben Tag bei mir zu Hause angerufen, obwohl ich ihr doch erzählt hatte, dass ich noch einige erholsame Tage bei meinen Eltern verbringen werde.