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Die deutsche Bildungspolitik glänzt durch Kurzatmigkeit und Reformeifer. Kaum ein Jahr vergeht, ohne dass die Kultusministerien umfangreiche Richtlinien und Erlässe verabschieden und deren prompte Umsetzung einklagen. Gleichbehandlung ist das Zauberwort, die Folgen ihrer Verwirklichung bleiben unreflektiert. Mittlerweile wird das Abitur als Instrument der sozialen Chancenverteilung betrachtet. Damit gerät die Schule unter enormen Erwartungsdruck. Geistlose Interpretationen von Statistiken und internationalen Vergleichen sind ein Indiz für die Orientierungslosigkeit hiesiger Bildungspolitik. An den Hochschulen schreitet die Bürokratisierung im Zuge des Bologna-Prozesses voran, hat sich die spezialisierte Forschung von der Lehre weitgehend abgekoppelt. Kommissionen werden berufen, die evaluieren und akkreditieren, und die Höhe der eingeworbenen Drittmittel entscheidet über akademische »Exzellenz«. Allmählich beginnt man, die Erhebungen der Pisa-Studie und die Folgen des Bologna-Prozesses zu hinterfragen. Jürgen Kaube beobachtet und kommentiert seit nunmehr 15 Jahren die Entwicklungen der deutschen Bildungspolitik. In einer Situation, in der die Ideale nicht mehr zu den Gegebenheiten passen, unternimmt er es, eine Antwort auf die Frage zu finden: Welche Bildung wollen wir?
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Seitenzahl: 145
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Reihe zu Klampen Essay
Herausgegeben von
Anne Hamilton
Jürgen Kaube, Jahrgang 1962, studierte zunächst Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte, im Anschluß daran Wirtschaftswissenschaften. 1999 trat er in die Redaktion der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« ein, wo er unter anderem als Ressortleiter für die »Geisteswissenschaften« und für »Neue Sachbücher« zuständig war. Seit 1. Januar 2015 ist er Mitherausgeber der FAZ. Zuletzt sind von ihm erschienen: »Otto Normalabweicher. Der Aufstieg der Minderheiten« (2007) sowie »Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen« (2014). Jürgen Kaube ist Träger des Ludwig-Börne-Preises 2015
JÜRGEN KAUBE
Im Reformhaus
Zur Krise des Bildungssystems
Cover
Zum Autor
Titel
Einleitung
Bildungsziele und Bildungsreden
Was Schule leisten soll und kann
Erziehung oder Sozialisation?
Pygmalion, der Habitus und die Soziologie der Karriere
Bologna und die Folgen
Universität, Prestige, Organisation
Die wollen doch nur spielen: Vom Rückzug des Streits aus den Wissenschaften
Hochschule als Unternehmen
Zur Lage der Geisteswissenschaften
Wachstum als gemischtes Vergnügen
Was die Mode streng geteilt
Diskursive Klingeltöne
Der Essay als Freizeitform von Wissenschaft
Nachweise
Impressum
Fußnoten
WER von einer Krise des Bildungssystems spricht, muß diese Diagnose mit der Tatsache abgleichen, daß immer mehr erzogen, immer mehr geschult und nachgeschult, immer mehr bildungspolitisch angeschoben wird. Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts expandiert das Bildungssystem in historisch singulärer Weise. Gab es im Jahr 1900 weltweit etwa eine halbe Million Studenten, was einem Prozent der Altersgruppe entsprach, so sind es derzeit etwa zwanzig Prozent eines Weltjahrganges. Das gilt über alle nationalen Entwicklungsstadien hinweg. Algerien beispielsweise hat heute doppelt so viele Studenten wie Deutschland um 1900, Deutschland hat heute siebzig Mal so viele wie damals, im Jahr 1900 wiederum gab es in Algerien gar keine Universität.
»Krise« kann auch nicht heißen, daß zuwenige Maßnahmen erfolgen. Kein Monat vergeht, ohne daß gute Reden gehalten, Investitionen getätigt und neue Gesetze verabschiedet werden, um durch Bildung zu sichern, was gesellschaftspolitisch erwünscht ist: Wohlstand, Aufstieg, Gerechtigkeit. Und »Krise« heißt auch nicht, daß Deutschland in den internationalen Vergleichstabellen auf unbefriedigenden Plätzen steht. Vielmehr gehören die Vergleichstabellen selbst zur Krise, weil man schlichtweg diejenigen ungebildet, oder trockener formuliert: uninformiert nennen muß, die viel auf sie geben, ohne ihre statistischen Anhänge zu lesen, denen man die Durchschnittsgröße einer finnischen Schule, die größte Einwanderergruppe in Finnland oder die finnische Jugendarbeitslosigkeit entnehmen kann. Das nämlich erst würde einen realistischen Blick auf die Vorbildlichkeit der Tabellenführer ermöglichen. Weder das bloße Geldausgeben noch die Reformdynamik oder das Auf und Ab in den Rangtabellen sagen irgend etwas über den Zustand des Bildungssystems, außer: daß es zu seinem Zustand gehört, wenn nichtssagende Kenngrößen ernst genommen werden.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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