Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Beim Beerensuchen im Wald fällt der junge Heiler Jannis dem Wolfswandler Talin vor die Füße. Jannis ist zunächst verärgert, dann empört über die herablassende Art des Valaners. Trotzdem lädt er Talin zu sich ein. Und später in der Nacht gewährt er sogar dem Wolf einen Unterschlupf, obwohl er sich zunächst nicht sicher ist, tatsächlich den Valaner vor sich zu haben. Bald erfährt Jannis auch von Talins Geheimnis - der junge Valaner ist in Lebensgefahr, denn auf ihm lastet ein tödlicher Fluch. Nur mit Hilfe mächtiger Magie kann der Bann gebrochen werden. Doch ist Jannis bereit, Talin auf seinem schwierigen Weg zu begleiten? Und was sind das nur für seltsame Gefühle, die der Valaner in ihm auslöst?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 303
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Alice Camden
© dead soft verlag, Mettingen 2015
http://www.deadsoft.de
© the author
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.com/
Bildrechte:
© Melkor 3D – shutterstock.com
© Michal Ninger – shutterstock.com
© theartofphoto – fotolia.com
1. Auflage
ISBN 978-3-945934-51-7
ISBN 978-3-945934-52-4 (epub)
Beim Beerensuchen im Wald fällt der junge Heiler Jannis dem Wolfswandler Talin vor die Füße. Jannis ist zunächst verärgert, dann empört über die herablassende Art des Valaners. Trotzdem lädt er Talin zu sich ein. Und später in der Nacht gewährt er sogar dem Wolf einen Unterschlupf, obwohl er sich zunächst nicht sicher ist, tatsächlich den Valaner vor sich zu haben.
Bald erfährt Jannis auch von Talins Geheimnis – der junge Valaner ist in Lebensgefahr, denn auf ihm lastet ein tödlicher Fluch. Nur mit Hilfe mächtiger Magie kann der Bann gebrochen werden. Doch ist Jannis bereit, Talin auf seinem schwierigen Weg zu begleiten? Und was sind das nur für seltsame Gefühle, die der Valaner in ihm auslöst?
„Lauf nicht in den Wald bei Nacht, weich nicht ab vom Wege ...“ Laut sang Jannis in die Stille des Waldes und freute sich über die reiche Ernte beim Beerensammeln. Singend ging er von einem Strauch zum anderen, sah für einen Augenblick nach oben zu den Vögeln und lächelte über ihr Gezwitscher, das sein Lied zu begleiten schien. Einen kurzen Moment nur war er unachtsam, da trat er in eine Vertiefung im Waldboden und schlug der Länge nach hin.
„Au! Bei den verfluchten Dämonen! Aauaaa!“, rief er und wollte sich aufrichten, als ihn zwei Hände an der Schulter packten und mit Leichtigkeit nach oben zogen. Erschrocken blickte er in ein dunkles Augenpaar, das ihn belustigt ansah. Das Augenpaar gehörte zu einem jungen Mann, den er noch nie gesehen hatte.
„Ah, ein singendes Eichhörnchen. Pass nur auf, der Wald ist voller Fallen und böser Geister“, lachte der Fremde. Seine Stimme war so dunkel wie seine Augen und ließ Jannis einen Schauer über den Rücken laufen.
Ängstlich trat er einen Schritt zurück und legte eine zitternde Hand um das Jagdmesser, das er am Gürtel trug.
„Ich … ich war nur einen Augenblick unaufmerksam. Danke für Eure Hilfe. Aber aufstehen kann ich schon selbst“, bemerkte Jannis ungehalten und ärgerte sich im gleichen Moment über seine zitternde Stimme. Er überlegte noch, wie er möglichst schnell und geschickt an diesem Kerl vorbeikommen könnte, um zu fliehen, da verzog der Fremde den Mund zu einem überheblichen Grinsen.
„Das ist gut, dann muss ich dich nicht gleich wieder vom Boden pflücken wie ein Blümchen ohne Verstand. Das Messer kannst du getrost stecken lassen. Mir ist heute nicht nach einem gebratenen Eichhörnchen.“
Jannis zog die Augenbrauen zusammen und betrachtete den jungen Mann skeptisch. Er sah nicht aus wie ein Grünthaler. Schlank, sehnig und hoch aufragend wie ein Baum, so stand er da. Einige Strähnen des nach hinten gestrichenen schwarzen Haares fielen ihm ins Gesicht. An manchen Stellen sahen die Spitzen aus wie kleine Stacheln, die in die Luft ragten. Bis über den Nacken reichte das dunkel glänzende Haar. Das Gesicht hatte schöne, ebenmäßige Züge, seine Kleidung war aufwändig verarbeitet und wirkte sehr fremdartig auf Jannis. Sie sah aus wie eine Uniform und er überlegte, wo er sie schon einmal gesehen hatte. Ein breiter Ledergürtel saß auf der schmalen Hüfte und zwei weitere, dünnere Gürtel kreuzten sich darunter. Zwei Beutel hingen auf je einer Seite an den Gürteln. Jedes Teil, der aufwändig verarbeiteten Kleidung war schwarz und mit silbernen Knöpfen verziert.
Da erinnerte er sich, wo er diese Aufmachung schon einmal gesehen hatte. In einem Buch über Grünthals Nachbarland, Valan, hatte er diese Kleidung bewundert. Er trat noch einen Schritt zurück, um einen besseren Blick auf den jungen Mann zu erhalten. Da neigte der Fremde den Kopf zur Seite und sah ihm tief in die Augen: „Was denn, Eichhörnchen? Hast du Angst vor mir? Ich sagte doch schon, ich will dir nichts tun“, bemerkte er und hatte schon wieder diesen herablassenden Ton in der Stimme. „Wieso sollte ich Angst haben?“, log Jannis. „Selbst ein Blinder kann sehen, dass ich arm bin. Wenn du meine Beeren willst, teile ich gerne. Der Wald ist voll davon.“ Wer ihn so überheblich ansprach, hatte auch keine höfliche Anrede verdient.
Für einen winzigen Augenblick wirkte der junge Mann merkwürdig erschöpft, im nächsten Moment grinste er schon wieder: „Behalte nur deine Beeren, Eichhörnchen, die will ich nicht“, sagte er und sah dabei auf Jannis herab.
„Wenn ich dich ansehe, Fremder, gibt es nichts, was du von mir wollen könntest.“ Die Angst vor diesem Kerl kroch immer noch durch seine Glieder, aber er wagte es nicht, einfach zu gehen. Der junge Mann war groß und stark und er würde ihm mit Leichtigkeit folgen können.
Zu seinem Erstaunen schluckte der Fremde und sah zu Boden, bevor er antwortete: „Ich will in diesem Leben gar nichts mehr. Ich wollte nur das Eichhörnchen, das so schön gesungen hat, vom Boden aufheben. Geh, pflücke Beeren und sing noch ein bisschen.“
Jannis atmete tief ein und aus, bevor er trotzig erwiderte: „Mein Name ist nicht Eichhörnchen. Ich bin Jannis, der Sohn der Heilerin vom Finsterwald.“ Sicher war es keine gute Idee, diesem Fremden seinen Namen zu verraten, überlegte er. Am Ende waren seine Mutter und er so arm, dass es keine Bedeutung hatte. Wer auch immer ihnen etwas stehlen wollte, würde eher etwas da lassen, so wenig besaßen sie. Ohne das herablassende Grinsen im Gesicht sah der Mann ihn jetzt nachdenklich an.
Ein schmales Lächeln umspielte seinen Mund.
„Sei gegrüßt, Jannis, Sohn der Heilerin vom Finsterwald. Mein Name ist Talin und ich komme aus Valan, dem Land hinter den Todessteinen.“ Er deutete eine leichte Verbeugung an, bevor er weitersprach. „Ich sah dich beim Beerensammeln. Für einige dieser Beeren bist du flink wie ein Eichhörnchen auf die Bäume geklettert. Hier in Grünthal haben diese Tiere ein rotes Fell, aber bei uns in Valan hat ihr Pelz die gleiche helle Farbe wie dein Haar. Du hast mich an eines erinnert.“
Seine Kletterkünste hatten nichts mit einem niedlichen, kleinen Tier zu tun, dachte er und wollte protestieren, da sprach der Fremde schon weiter. „Weißt du, die Eichhörnchen in meiner Heimat sind so flink und wendig, dass es schwer ist, eines mit dem Bogen abzuschießen. Wenn wir Valaner doch einmal eines von ihnen erwischen, freuen wir uns, weil sie köstlich schmecken.“
Nein, Jannis wusste das nicht und es schauderte ihn bei dem Gedanken an ein köstliches Eichhörnchen, das aussah wie er und mit dem Bogen abgeschossen wurde. „Ich habe schon viel über dein Land gelesen, aber noch nie etwas von Eichhörnchen mit hellem Fell“, erklärte er. „Aber deine Kleidung, die habe ich schon in Büchern gesehen. Das ist eine Uniform der schwarzen Garde, nicht wahr? Sie bewachen das Land und die Burg. Deine Kleidung sieht genauso aus, wie die auf den Zeichnungen.“ Er war stolz auf sein Wissen, immerhin verbrachte er jeden Winter mit der Nase in den Büchern, die ihm seine Mutter mitbrachte.
„Du kannst lesen, hm?“, fragte Talin überrascht, ohne die Frage zu beantworten.
„Natürlich kann ich lesen! Alle Heiler in Grünthal können lesen“, erklärte Jannis entrüstet.
Talin nickte. „Ich erinnere mich. Ihr Heiler folgt dem Weg der alten Geister, genau wie wir Valaner. Ihr könnt die alten Schriften lesen, während eure Burg den Rest des Landes im Namen des neuen Glaubens dumm und ungebildet hält. Aber ihr seid wegen eures Glaubens und der Magie, die ihr wirken könnt, Verfolgte im eigenen Land, nicht wahr?“
Hektisch sah Jannis sich um, denn Gefahr konnte an jeder Ecke lauern. „Psssssscht“, machte er und legte den Finger an die Lippen.
Er trat einen Schritt auf den fremden Mann zu und sprach: „Seit die neue Religion in Grünthal herrscht, redet man nicht mehr über solche Dinge. Die Falken der Gerechtigkeit ...“ Er verstummte und sah skeptisch zu dem fremden Mann. Wie kam er eigentlich darauf, diesem eigenartigen Fremden zu trauen?
„Du erkennst meine Uniform und denkst dennoch, ich könnte ein Spion eurer Burg sein? Nun, du irrst dich“, antwortete der Mann, der sich Talin nannte und Jannis wollte etwas erwidern, aber der Valaner war schon wieder schneller: „Die Falken der Gerechtigkeit? Das sind die Menschenjäger eurer Burg, so ist es doch? Sie jagen die Heiler und deren Familien, wenn sie sich nicht aufs Heilen beschränken oder Magie wirken? Sie schicken die Falken nach euch, wenn ihr Rituale abhaltet, ja?“
Mit weit aufgerissen Augen starrte Jannis den Fremden an. Diese Wahrheiten sprach niemand in seiner Heimat laut und schon gar nicht so gelassen aus, die Falken konnten überall sein. Er traute sich, noch einen Schritt näher an den merkwürdigen Mann heranzutreten, so nah, dass sich ihre Fußspitzen berührten. Er musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihm ins Ohr zu flüstern. „Weißt du nicht, dass du hier ebenfalls nicht sicher bist? Die Falken verfolgen und töten alle valanischen Wolfswandler, die sie auf Grünthaler Gebiet aufspüren.“
„Danke, Junge“, sagte der Fremde und lachte, „es ist lieb von dir, mich zu warnen, aber ich bin über die Lage in deinem Land im Bilde.“ Jetzt lachte der freche Valaner doch tatsächlich über ihn, und dabei wollte er nur freundlich sein und ihn warnen. Jannis presste die Lippen aufeinander und spürte, wie sich Wut in seinem Bauch zusammenbraute.
„Schau“, sprach Talin weiter, „ich bin ein Schwarzgardist der Burg Valans. Du bist nur ein kleines, hellhaariges Eichhörnchen, welches keine Magie wirken kann, weil es sonst um sein Leben fürchten muss. Sieh du nur selbst zu, dass dich diese Mördertruppe von Falken nicht fängt, nur weil du beim Fluchen die Dämonen der Höllen anrufst.“
Jannis schnaufte verächtlich. Was für ein überheblicher Kerl war der junge Mann vor ihm nur. Er war kein kleines Eichhörnchen! Er war vielleicht nicht so groß wie dieser Kerl, aber für einen Grünthaler im neunzehnten Jahr, war er groß genug. Dieser Fremde war nicht anders als die Jungen aus dem Dorf, die ihm nachliefen, um ihn zu verprügeln, weil er der Bastardsohn der Heilerin war. Kein Grund auch nur ein weiteres Wort an ihn zu verschwenden.
Als könnte er seine Gedanken lesen, sagte Talin: „Schau zur Sonne. Ich unterhalte mich gerne mit dir, Junge. Doch bald wird die Dämmerung anbrechen und dann sollte kein Mensch, der bei klarem Verstand ist, in diesem Wald sein. Es war mir eine Freude, deine Bekanntschaft zu machen. Leb wohl, Jannis, Sohn der Heilerin vom Finsterwald.“ Er deutete erneut eine Verbeugung an, und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, zu gehen. Verwirrt verbeugte Jannis sich ebenfalls und machte sich kopfschüttelnd auf den Weg.
„Jannis, ... sing jetzt lieber nicht mehr“, rief der Fremde ihm hinterher.
Ohne sich nach dem merkwürdigen Fremden umzudrehen, schüttelte Jannis den Kopf, noch mehr in Unglauben. Was trieb dieser Mann eigentlich so tief im Finsterwald und wo war sein Gepäck? Warum war ein Schwarzgardist der Burg Valans alleine unterwegs? Vielleicht hatte er sich mit weiteren Gardisten getroffen und sie heckten einen Plan aus, wie sie die Burg Grünthals überfallen könnten. Na, das sollte ihm gerade recht sein, von dort kam ohnehin nichts Gutes. Tausendundein Gedanke wanderte durch seinen Kopf, während er seinen Weg nach Hause fortsetzte. Dieses Mal blieb sein Blick auf den Boden gerichtet. Ob er lesen könne, hatte ihn dieser Kerl gefragt. Was für eine freche Frage. Bücher waren seine besten Freunde und er verschlang jedes Buch und alle Schriftrollen, die seine Mutter ihm brachte. Bücher über Pflanzen- und Heilkunde, Reiseberichte, Märchen und Sagen, die von bösen Hexen und guten Zauberern, von Nixen und Drachen handelten. Als Kind war er auf die höchsten Bäume geklettert und hatte sich vorgestellt, wie es wäre, auf einem Drachen über die Todessteine bis nach Valan zu fliegen. Dorthin, wo Magie ein Teil des täglichen Lebens war, und wo niemand dafür gefoltert und getötet wurde, dem Weg der alten Geister zu folgen.
In Gedanken versunken, zuckte er plötzlich zusammen. Da war ein Geräusch, ein Schnaufen oder ein Röcheln? Was war das? Ohne seinen Gang zu verlangsamen, drehte er ängstlich den Kopf zur Seite. Im fahlen Licht der tief stehenden Sonne warfen die Bäume hinter ihm lange Schatten. Der Wind hatte aufgefrischt und ließ die Kronen und Blätter bedrohlich schwanken. In diesem gespenstigen Spiel des Abendlichts sahen die dunkeln Schatten der Bäume für Jannis aus, als wären sie dünne Arme, die nach ihm greifen wollten. Mehr als diese Sinnestäuschung war nicht zu sehen. Er schüttelte den Kopf über sich selbst und lief schnell weiter.
Er strich sich das halblange Haar aus dem Gesicht, ein Sturz für heute reichte. Jetzt war es nicht mehr weit. Um diese Ecke, an jenem Strauch vorbei, bald würde er den Fluss sehen, dann die Lichtung mit der kleinen Hütte, die er mit seiner Mutter bewohnte. Heute Abend würde sich seine Mutter nicht mit ihm über die Beerenernte freuen können. Sie war vor einigen Tagen auf die Burg gerufen worden, weil eines der Kinder eines hohen Herrn erkrankt war. Er erwartete sie für viele Tage nicht zurück.
Da! Das Geräusch hinter ihm war erneut zu hören. Eine Art Knurren hatte sich unter das Röcheln gemischt. Dieses Mal war es nah an seinem Ohr. Alle Haare auf seinen Armen und Beinen stellten sich auf, und er wollte sich am liebsten im nächsten Erdloch verstecken. Plötzlich streifte etwas sein Bein.
„Ahhhh“, stöhnte er und begann immer schneller zu laufen. In diesem Augenblick war er froh, so schmal und wendig zu sein. Kaum einer der Jungen aus dem Dorf hatte ihn je einholen können, um ihn zu verprügeln. Nur nicht fallen, jetzt nicht fallen, dachte er panisch und rannte so schnell ihn seine Beinen trugen. Er wagte es nicht mehr, sich umzudrehen. Wenn nichts zu sehen war, war er nichts weiter als ein schlimmer Angsthase, und wenn doch etwas zu sehen war, wollte er nicht wissen, was es war. Er wollte den verdammten Finsterwald so schnell wie möglich hinter sich lassen. Er rannte und rannte. Sträucher zerkratzten seine Beine, Zweige schnitten sich tief in seine Arme. Er fühlte keinen Schmerz mehr, er wollte nur noch nach Hause.
Endlich erreichte er den schmalen Flusslauf, der die Lichtung in zwei Hälften teilte. Er sprang mit drei großen Sätzen über die hölzerne Brücke und lief weiter bis zum niedrigen Tor im Zaun, der den kleinen Garten seiner Mutter einfasste. Der Zaun war nur dort, um Rebhühner fernzuhalten, und ging ihm bis knapp zum Knie. Zu hoch übersprang er ihn, strauchelte beinahe und rannte weiter bis zur Tür der Hütte. Die alte Holztür schon halb geöffnet, drehte er sich noch einmal um. Das Licht hatte sich verändert. Nicht die untergehende Sonne erhellte den Waldrand, jetzt war es der volle Mond, der die Lichtung beschien.
Jannis verengte die Augen. Saß dort ein großer Hund am Rand des Finsterwaldes? Der Kopf war etwas zu spitz für einen Hund, der Körper zu mager. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die unscharfen Bilder der Nacht, dann sah er ihn ganz deutlich. Sah den großen, schwarzen Wolf, der dort am Waldrand saß und zu ihm blickte. Langsam wandte Jannis den Blick ab, betrat die Hütte, und prüfte ängstlich mehrmals, ob die Tür auch wirklich verriegelt war. Er zwang sich, am großen Holztisch eine Handvoll Beeren zu essen, und schlich dann müde in sein Bett. Er war so still und vorsichtig, als wäre er nicht alleine in der engen Hütte. Still genug, um keine Geister zu wecken, hoffte er. Still genug, um keine schlafenden Wölfe des Waldes zu wecken. Er zog die Decke bis über den Kopf und hoffte, in seiner warmen Deckenhöhle nicht mehr an die letzten Ereignisse dieses Tages denken zu müssen. Da drängte sich ausgerechnet das Lied in seinen Kopf, das er am Nachmittag im Wald gesungen hatte:
„Geh nicht in den Wald bei Nacht, weich nicht ab vom Wege ...“
Wölfe haben scharfe Zähne
Bannen mit den Augen
Lauf nicht in den Wald bei Nacht
Keinem kannst du trauen.
Müde blinzelte Jannis am Morgen aus dem Fenster. Das Gefühl von einem großen, schwarzen Wolf, der seine Zähne in ihn schlagen wollte, verfolgt zu werden, hatte ihn mehrmals in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Vorsichtig lugte er aus der Tür in Richtung Wald. Ein Reh mit seinem Kitz graste am Waldrand und ein paar Rebhühner pickten Grassamen an einer anderen Stelle. Nichts Ungewöhnliches war zu entdecken. Erleichtert atmete er aus und schloss die Tür. Nach dem Frühstück kramte er in einer der großen Truhen im hinteren Teil der Hütte und beförderte unter gehörigem Kraftaufwand ein großes, schweres Buch heraus. Der hellbraune Ledereinband war über und über mit fremden Schriftzeichen verziert. Es war das Buch über Valan und seine Einwohner. Lange war es her, seit er es zuletzt gelesen hatte, und so begann er, die Seiten neugierig zu studieren. Auch wenn er es nicht gerne zugab, der fremde Kerl im Wald hatte ihn doch neugierig gemacht.
Neben Texten befanden sich viele Zeichnungen auf den abgegriffenen Seiten. Gespannt las er das Kapitel über Valans Hauptstadt Montsilvan, die hoch über dem Wald auf einem Berg thronte und über die Burg Valans las er, die, wie das gesamte Land, von der schwarzen Garde bewacht wurde. Er stellte sich vor, wie die Gardisten in ihren schwarzen Uniformen stolz durch die Burg schritten. Im großen Tempel von Montsilvan waren die magiebegabten Priester zu Hause, die Bewahrer des Weges der alten Geister.
Und dann gab es die Wölfe, die eigentlich Männer waren, oder waren die Männer Wölfe? Aufgeregt las er weiter. Freie Wölfe nannten sich die valanischen Männer. Ein Schauer lief über seinen Rücken bei der Vorstellung, selbst einmal die Verwandlung eines Mannes in einen Wolf zu sehen. Sicher war es aufregend, in dieser Gestalt durch den Wald zu laufen, und schneller reisen konnte man ebenfalls. Die Wolfsgestalt war allen männlichen Valanern ebenso angeboren, wie ihre menschliche Gestalt. Aber die Verwandlung kostete sie viel Lebenskraft und war schmerzhaft, so stand es in dem Buch. Nur sehr junge Valaner, die Jungwölfe, verwandelten sich oft und trieben Unsinn in den Wäldern. Je älter sie wurden, desto seltener zogen sie in der Wolfsgestalt umher.
Seufzend lehnte er sich an die morsche Stuhllehne. Das alles klang so viel aufregender als sein eigenes Leben. Freie Wölfe, magiebegabte Priester, mutige Gardisten, das alleine klang schon nach einer der Sagen, die er so gerne las. Aufmerksam betrachtete er die Zeichnungen. Der fremde junge Mann war also tatsächlich ein Kettenwerfer der schwarzen Garde von Valan und die Beutel beinhalteten seine Waffen. Tödliche Wurfsterne mit messerscharfen Spitzen, die an langen Ketten befestigt waren. Ob Talin zur Unterstützung einer Kampftruppe nach Grünthal gekommen war? Was wollten Schwarzgardisten nur in seiner Heimat, überlegte Jannis. Es gab doch keinerlei diplomatische Beziehungen mehr zwischen den Ländern Valan und Grünthal.
Während er erneut über dem Erscheinen des merkwürdigen Kerls brütete, hörte er ein Klopfen an der Tür. Besorgt sah er auf den großen Stapel Bücher, die alle neben der Truhe lagen. Wieder klopfte jemand an, dieses Mal heftiger. Schnell warf er ein Stück Stoff über das Buch und ein weiteres Stück über den Stapel. Mit einem freundlichen Lächeln öffnete er die Tür.
„Ich war angekündigt“, brummte ein Mann, etwa im Alter seiner Mutter. Er trug eine lange, braune Robe und offene Sandalen. Dass die Farbe seines Haares einst hell gewesen war, war nur noch zu erahnen. Grau und strähnig hing es ihm jetzt ins Gesicht. Er war von dicklicher Gestalt und sein Gesicht wirkte aufgedunsen. Die wässrigen, blauen Augen sahen ihn müde an.
„Ah, der Herr Pfarrer“, sagte Jannis so freundlich wie möglich. „Ich kann euch heute leider nicht hineinbitten, guter Herr. Meine Mutter ist abwesend. Es ist ... nun, es ist nicht ordentlich bei uns. Ihr könnt auf der Holzbank vor der Hütte kurz Platz nehmen.“
Der Pfarrer der neuen Religion zuckte mit der Schulter und brummte etwas Unverständliches. Schnell ging Jannis zu einem der Regale, auf dem seine Mutter ihre Arzneien lagerte. Er griff nach einer kleinen Glasflasche, in der sich ein grünlicher Trunk befand, und eilte zurück vor die Tür. Der Pfarrer, so erzählte man sich, war einst ein guter Jäger. Auf der Jagd hatte er sich am Bein verletzt und es sei nur der großen Gnade der Burg zu verdanken, dass er die kleine Pfarrei am Finsterwald betreuen konnte. Er war ein stiller Mann, aber freundlich genug. Viele im Dorf jagten Jannis fort, wenn er nur einen Fuß auf die Hauptstraße setzte. Kinder warfen Steine nach ihm und riefen ihm Schimpfworte hinterher. Erwachsene spuckten aus, wenn sie ihn sahen, nur weil er für sie ein Bastard war und zu einer Heilerfamilie gehörte. Für die übrigen Bürger von Grünthal waren die Heiler und ihr alter Glaube Abschaum, den man auch als solchen behandeln durfte. Doch der Pfarrer verhielt sich anders. Meist ignorierte er Jannis nur, aber er hatte schon beobachtet, wie der grauhaarige Mann Kinder davon abhielt, Steine nach ihm zu werfen. Einmal im Monat kam er bei ihrer Hütte vorbei, um sich den Trunk abzuholen, der seine alte Jagdverletzung mildern sollte.
„Hast du keine Angst, so nahm am Finsterwald, Junge?“, fragte er. Seine trüben Augen blickten ausdruckslos zum Waldrand.
Jannis reichte ihm das Fläschchen. „Nur wenn ich ein Geräusch höre, das ich nicht kenne.“
Mit schmerzverzerrtem Gesicht stand der Pfarrer auf, strich seine Robe glatt und sagte: „Nun, dann halte die Augen offen. Mir kam zu Ohren, es wäre ein Wolf gesichtet worden. Von Angriffen habe ich ebenfalls gehört.“
„Von Angriffen?“, fragte Jannis entsetzt. In all den Jahren hatte er noch nie von Wolfsangriffen in diesem Teil des Finsterwaldes gehört.
Langsam drehte der grauhaarige Mann den Kopf zu ihm. Sein Atem roch nach Schnaps. „Was weiß ich schon, Junge. Ich bin nur der Pfarrer einer winzigen Kirche am Rande des Finsterwaldes. Ich höre dies und das. Ich weiß nicht, ob es wahr ist oder nicht. Besser man bleibt wachsam, als man endet als Wolfsmahl, nicht wahr?“, sprach er und ging, ohne sich zu verabschieden.
Schnell kehrte Jannis zurück in die Hütte und verstaute alle Bücher sorgfältig in der Truhe. Missmutig blickte er auf den Sack mit Haferflocken. Hafergrütze, zum Frühstück, zu Mittag und zum Abendessen war keine gute Aussicht und so beschloss er, auf die Jagd zu gehen. Im Schuppen hinter der Hütte waren Bogen und Pfeile verstaut. Er nahm beides, hängte sich eine Ledertasche um und lief los.
Die Sonne war gnädig an diesem Frühsommertag und tauchte den Finsterwald in warmes, weiches Licht. Durch die hohen Baumkronen blinzelte sie und spiegelte sich in den Blättern. Jannis freute sich über das Spiel des Lichts, genoss das Gefühl des weichen Waldbodens unter seinen Füßen und prüfte, ob es in der Nähe noch Wild zu sehen gab. Aber es war schon zu spät am Morgen, alle Tiere hatten sich in den Wald zurückgezogen. Doch er wusste, wo er sie finden konnte. Tief im Wald gab es eine weitere Lichtung, in deren Mitte sich eine Quelle befand, die in einen kleinen See mündete. Diese Lichtung war bei allen Tieren beliebt, denn sie lag abseits der Siedlungen und es gab dort genug Gras und Wasser. Andere Jäger suchten sie kaum auf, weil angeblich eine böse Nixe in der Quelle wohnte und der Ort als verflucht galt. Was für Ammenmärchen, dachte er lachend.
Immer tiefer lief er in den Finsterwald und erreichte endlich die kleine Lichtung. Wie eine Zeichnung aus seinen Büchern sah sie heute aus. Das milde Licht des späten Sommermorgens hatte sie in etwas Wunderbares verwandelt. Die kleinen, gelben Blumen auf der Wiese glitzerten in der in der Sonne und das Gras wirkte statt und grün. Hellen Strahlen tanzten über den kleinen See. Ohne auf die Rebhühner zu achten, die am Rande der Lichtung pickten, ging er zum Wasser, sank in die Hocke und bewunderte das Spiel des Lichts auf den sanften Wellen. Selbstvergessen hielt er eine Hand ins Wasser und begann kleine Kreise mit seinen Fingern zu zeichnen. Die fremde Hand, die er plötzlich auf seiner Schulter fühlte, ließ ihn zusammenzucken.
„Ich glaube, es ist noch etwas zu kalt zum Baden“, sagte eine dunkle Stimme hinter ihm. Erschrocken drehte er sich um. Vor ihm stand der valanische Mann, der sich Talin nannte, und zeigte schon wieder sein überhebliches Grinsen. Verärgert sah er auf die nackten Füße des jungen Mannes. Daher hatte er ihn nicht gehört, als er sich anschlich. Kopfschüttelnd stand er auf.
„Was schleichst du dich so an, Fremder? Das Herz hätte mir vor Schreck stehen bleiben können!“
„Oh verzeiht“, lachte Talin. „Euer Anblick hätte mir verraten müssen, dass Ihr ein gar zartes Fräulein seid. Es war nicht mein Ansinnen, Euch so zu erschrecken.“
Jannis blies scharf Luft durch die Lippen. Dieser Fremde machte ihn so wütend, dass er seine Angst vergaß. „Ich schicke dir eine Taube mit einer Nachricht, wenn deine Ansprache lustig geworden ist. Meine Mutter hat mir einiges von euch Valanern erzählt. Ihr macht euch gerne über uns Grünthaler lustig, weil wir kleiner und schmaler sind als ihr. Im Gegensatz dazu seid ihr Valaner ja ach so große, mächtige Wölfe. Nun, wenn du mit deinem Spott am Ende bist, kannst du gehen. Ich war zuerst hier.“
Der große Kerl legte eine Hand in den Nacken und wirkte plötzlich merkwürdig verlegen. „Deine Mutter ist eine weise Frau. Es war nur ein kleiner Scherz. Ich bin erfreut dich zu sehen.“
Nun war es Jannis, der lachen musste. „Warum sollte jemand wie du erfreut sein, jemanden wie mich zu sehen? Ich frage dich erneut, Fremder, hast du nun genug gespottet? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Mein Heimweg war gestern alles andere als angenehm. Heute möchte ich vor der Dämmerung zu Hause sein.“
Den Blick zum Himmel gewandt, antwortete Talin: „Es ist nicht einmal Mittag. Du hast genug Zeit. Und es war wirklich nicht meine Absicht, dich wütend zu machen. Gar nichts mehr ist meine Absicht.“
Jannis sah ihn skeptisch an.
„Was ist?“, fragte Talin, immer noch verlegen. „Ach stimmt, du glaubst mir ja nicht. Nun, das kann ich nicht ändern. Dann verlasse ich jetzt diesen Ort und wünsche dir eine gute Jagd.“
Er drehte sich um und Jannis hörte sich sagen: „Warte ... warte noch.“ Warum redet er überhaupt noch mit diesem Kerl, fragte er sich, aber die Worte kamen schon aus seinem Mund: „Du hast zwei tödliche Wurfsterne als Waffen dabei, nicht wahr? Du hättest mich schon lange töten können, wenn du gewollt hättest, schätze ich. Aber du bist trotzdem beängstigend, in deiner schwarzen Uniform … und so groß, wie du bist.“ Er sah ihm in die dunklen Augen, die wie schwarze Edelsteine funkelten. „Du bist ein freier Wolf aus Valan, ein Kettenwerfer noch dazu. Und ich treffe dich schon zum zweiten Mal alleine auf Grünthaler Gebiet an. Was willst du eigentlich hier, Fremder?“
Talin legte den Kopf schief: „Wenn ich mich recht erinnere, habe ich dir meinen Namen verraten, Grünthaler? Nun, ich kann dir leider nicht verraten, warum ich hier bin, aber ob du es glaubst oder nicht, ich will niemandem schaden. Es … es ist eine private Angelegenheit.“
Jannis schnaubte verächtlich. Eine private Angelegenheit? Für wie dumm hielt ihn dieser Mann eigentlich? Er sah ihn doch ständig in seiner Gardistenuniform, wie konnte es da eine private Angelegenheit sein?
„Es war ja nur eine Frage und jemand wie du schuldet mir keine Antwort, das verstehe ich gut“, sagte er und machte eine abwehrende Handbewegung.
„Jemand wie ich?“, fragte Talin und klang irritiert. „Schon zum zweiten Mal sagst du das. Ich bin in deinem Heimatland ein Fremder und als valanischer Wolfswandler bin ich in ebenso großer Lebensgefahr wie du als Heiler. Du hast es mir gestern doch selbst gesagt.“
„Ich bin noch kein richtiger Heiler, höchstens Jungheiler“, gab Jannis kleinlaut zu. „Meine Mutter bildet mich aus und es wird noch Jahre dauern, bis ich Aufträge alleine ausführen kann.“
„Du kommst aus einer Heilerfamilie und du kannst Magie wirken, so ist es doch?“, fragte Talin.
Jannis nickte, so war es wohl, auch wenn er nicht sehr geübt darin war, Magie zu wirken. Es war viel zu gefährlich, die Sprüche außerhalb des Hauses zu üben.
„Dann ist dein Leben in Grünthal so viel wert wie meines. Nämlich gar nichts!“, bemerkte Talin mit Nachdruck.
Jannis betrachtete ihn argwöhnisch. Er selbst trug eine enge Lederhose, die seine Mutter geschneidert hatte und darüber ein Hemd mit langen Ärmeln, einem tieferen Ausschnitt für den Sommer und einer Kapuze zum Schutz vor Regen. Im Gegensatz dazu trug Talin den Gegenwert von mehreren Jahren Heilereinkünften an seinem Körper. Zumindest der Wert ihrer Kleidung unterschied sich deutlich. So hochnäsig, wie der Valaner auftreten konnte, musste er einfach ein Edelmann sein. Nein, sie hatten wirklich nichts gemeinsam und Talin hatte sicher noch nie erfahren, wie es war, arm und ausgestoßen zu sein. Wie konnte er nur meinen, ihr Leben hätte den gleichen Wert?
„Hast du keine Angst hier?“, riss Talin ihn aus seinen Gedanken und zum ersten Mal fiel ihm ein leichter Akzent auf. Vielleicht weil er zum ersten Mal ohne Angst zuhörte.
„Angst wovor?“, fragte er verwundert.
„Ich habe gehört, in der Quelle wohnt eine böse Hexe, welche die Lichtung verflucht hat. Bist du begabt genug, den Bann zu brechen?“, antwortete Talin.
„Ach Valaner, da musst du beim nächsten Mal den Alten beim Märchenerzählen besser zuhören. Keine böse Hexe soll in der Quelle wohnen, sondern eine böse Nixe. Ein Wassergeist. Und nein, ich bin nicht begabt genug, um den Fluch eines bösen Geistes brechen zu können. Was für ein Glück, dass es nur Unfug ist, den sich die Menschen hier erzählen.“
Talin lachte und Jannis fand, es klang immer noch überheblich.
„Hexe, Nixe, es klingt so gleich in eurer Sprache. Und wie bedauerlich. Ich dachte, du könntest mich vor bösen Kreaturen beschützen. Nun, dann muss ich eben weiter auf mich selbst aufpassen.“ Er lächelte und klang freundlicher, als er fragte: „Du bist zum Jagen gekommen? Ich kann dir helfen, wenn du willst. Um ehrlich zu sein, bin ich hungrig und hätte selbst nichts gegen ein Stück Fleisch einzuwenden.“
„Du willst mit mir jagen, Valaner? Aber musst ... musst du nicht zu den anderen?“
„Welche anderen? Was meinst du nur, Junge?“
„Bist du denn ganz alleine hier?“ Jannis zog seine Augenbrauen skeptisch zusammen.
„Ja, natürlich bin ich alleine. Hätte ich sonst um deinen Schutz vor bösen Geistern gebeten, wenn ich die ganze Schwarze Garde im Gefolge hätte?“
Ungläubig schüttelte Jannis den Kopf. Was für ein merkwürdiger Fremder, sicher war ihm nicht zu trauen. Warum redete er überhaupt noch mit ihm? Eine leichte Brise wehte über die Lichtung und der Wind spielte mit Talins Haar. Der Anblick erinnerte Jannis an etwas, aber es wollte ihm nicht gleich einfallen, woran. Die äußeren Enden der schwarzen Haarpracht sahen aus wie wilde Stacheln und rahmten ein hübsches, fast noch jungenhaftes Gesicht ein. Es sah aus ... wie das Fell eines Wolfes im Herbstwind, dachte er erschrocken.
„Du warst das gestern am Waldrand? Du warst der schwarze Wolf?“, brach es aus ihm heraus und im gleichen Augenblick bereute er die Frage auch schon wieder. Vielleicht würde er ungehalten reagieren, wenn man ihn auf seine Wolfsgestalt ansprach. Jedenfalls stand nichts davon in den Büchern, wie Fremde mit den freien Wölfen umgehen mussten.
Unter einem langsamen Augenaufschlag sah ihn der Valaner an. Er wirkte bedrohlich und machte keine Anstalten zu antworten. Stattdessen beugte er sich zu Jannis, und weiche Lippen streiften plötzlich seinen Hals, bis sie sein Ohr fanden. Leise brummte Talin: „Lass nicht zu, dass er dich schnappt, Wölfe haben scharfe Zähne.“
Jannis zuckte zusammen und trat erschrocken einen Schritt zur Seite. Talin biss sich auf die Lippen und sah aus, als würde ein Grinsen unterdrücken. Dann lachte er laut los und bog sich so sehr vor Lachen, dass er in die Hocke gehen musste.
„Junge, sind alle Grünthaler so leicht zu erschrecken? Dabei habe ich mir nur diese eine Zeile des Liedes gemerkt. Oh nein, das Gesicht, das du gemacht hast, bei allen Geistern, das war viel zu einfach“, prustete er.
Jannis fühlte, wie die Wut in seine Hände schoss. Plötzlich packte er Talin am Kragen und stieß ihn, ohne zu überlegen, nach hinten.
Er fiel ins Gras und lachte dort weiter. „Bei den Dämonen aller achtzehn Höllen, du hättest eben wirklich dein Gesicht sehen sollen. Als ob ich dir gleich in den Hals beißen würde.“
Jannis sah ihn strafend an und fragte: „Hast du heute Morgen vielleicht von den Pilzen mit dem grünen Hut gegessen? Die können erwachsene Menschen nämlich in alberne Kinder verwandeln.“
Jetzt musste Talin noch mehr lachen.
„Nein, nein“, antwortete er. „Ich hatte ein bisschen zu viel Grünthaler Jungheiler, die können die gleiche Wirkung haben.“ Grinsend kam er auf seine Füße und nach ein paar tiefen Atemzügen beruhigte er sich: „Warum zuckst du so schnell vor Angst, wenn ich dir näherkomme, Junge?“, fragte Talin und klang ernst.
Jannis rollte mit den Augen. „Was für eine dumme Frage. Du bist größer und stärker als ich und du bist bewaffnet. Außerdem tauchst du immer plötzlich aus dem Nichts auf und gibst nichts über dich preis. Was ist denn an meiner Angst nicht zu verstehen?“
Talins Gesichtsausdruck wurde noch ernster und er nickte zustimmend. „Doch, ich verstehe schon, aber du irrst dich.“ Unvermittelt strich er Jannis mit den Fingern durchs Haar. „Du bist ein schlauer Junge, wenn du dich fürchtest. Manchmal fürchte ich mich selbst vor mir und dem, was in mir ist. Aber ich will dir wirklich nicht schaden.“
Erschrocken trat Jannis einen Schritt zurück. Er taumelte und hätte Talin ihn nicht schnell an den Schultern festgehalten, er wäre in den Quellsee gefallen.
Er sah zu Boden und flüsterte: „Wie soll ich dir das glauben können. Nur weil du es sagst, wird doch noch keine Wahrheit daraus.“
Talin ließ seine Hände über Jannis’ Oberarme zurück zu seinem eigenen Körper gleiten.
„Ich kann dich wohl nicht mehr vom Gegenteil überzeugen. Dann ist es besser, wenn ich dafür sorge, dass du dich nicht mehr fürchten musst. Leb wohl“, sagte er, drehte sich langsam um und ging mit hängendem Kopf in Richtung Wald.
„Hey, warte noch.“ Jannis wusste nicht, warum er ihm nachrief, es war einfach aus ihm herausgebrochen. „Gibt es etwas, was du heute noch erledigen musst?“
Talin drehte sich mit einem dünnen Lächeln auf den Lippen um.
„Nein“, antwortete er und sein schönes Gesicht sah merkwürdig betrübt aus. „Ich habe heute nichts mehr zu erledigen. Ich warte nur.“
„Worauf wartest du denn?“, fragte Jannis und ging nicht davon aus, eine Antwort zu erhalten. Talin schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern.
„Ich warte darauf, dass es endlich vorbei ist.“
Er sollte den merkwürdigen Valaner ziehen lassen, dachte Jannis und fragte sich, warum er ihm überhaupt nachgerufen hatte. Sicher wäre er schon längst im Wald verschwunden und Jannis hätte in Ruhe jagen können. Nun stand der große Mann vor ihm und blickte ihm mit einem flehenden Blick tief in die Augen. Für einen Moment hatte er das Gefühl, aus Talins dunklen Augen würde eine eigenartige Traurigkeit zu ihm strömen und ihn in einen dunklen Fluss reißen. Etwas war da, ein alter Schmerz, der direkt aus Talins Seele zu kommen schien und an Jannis’ Magiebegabung kratzte. Für diesen Moment wurde aus Talin, dem überheblichen Schwarzgardisten, nur ein tieftrauriger junger Mann, in dem ein böser, alter Schmerz wütete. So viel Leid ging von dem Valaner aus und strömte durch Jannis, dass er das dringende Bedürfnis hatte, es zu mildern. Ob es seine Ehre als Heiler war, die es ihm nicht erlaubte, einen Menschen leiden zu lassen, oder etwas anderes, er konnte es nicht benennen. Aber etwas in ihm brachte ihn dazu, Mitgefühl mit dem Fremden zu haben.
„Ehe du das Wild im Wald aufschreckst, bleib noch. Komm, ich zeige dir etwas“, sagte er und zeigt auf den See, der ruhig in der Mittagsonne lag.
Er ging über die Wiese mit den gelben Blumen, blieb vor dem Seeufer stehen und sah über seine Schulter. Verwundert folgte ihm der Valaner. Auf dem kleinen Quellsee gab es grüne, breitblättrige Pflanzen, wie kleine, grüne Tassen sahen sie aus, die frei umherschwammen. Aber Jannis wusste, sie waren über dünne Wurzeln mit dem Grund des Sees verbunden. Er kniete sich dicht ans Ufer, dort wo es tief ins Wasser ging, und Talin kniete sich neben ihn.
„Ich kann wirklich keine mächtige Magie wirken. Wenn also aus der Quelle gleich eine böse Nixe steigt und uns verflucht, sind wir verloren. Es sei denn, Nixen fürchten sich vor valanischen Wölfen“, sagte er grinsend.