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Dieses Buch beschreibt die Kindheit in einem evangelischen Pfarrhaus, Kindheit auf dem Lande, Kindheit in den 50er und 60er Jahren. Das evangelische Pfarrhaus ist eine kulturtragende und soziale Institution sagt die Forschung. Ist es aber eine große Chance oder eine schwere Hypothek, in einem solchen Haus aufgewachsen zu sein?, fragt sich einer, der in ihm seine Kindheit und Jugend verbracht hat und durch das Leben in einem westfälischen Dorfpfarrhaus sozialisiert wurde. "Was prägte mich?", fragt der Autor. "Meine Eltern, die sich fest in ihrem Glauben verwurzelt fühlten? Das Pfarrhaus, das den Rahmen setzte? Das westfälische Dorf, in dem ich aufwuchs? Die Zeit der fünfziger und sechziger Jahre mit ihren Übergängen von der Nachkriegszeit zum Wirtschaftswunder und dann zum Auflehnen gegen Enge und Restauration? Wie entscheidend waren diese Wurzeln? Waren es Wurzeln, die Sicherheit, Kraft und Mut gaben, sich von dem Nährboden, der mich aufwachsen ließ, zu lösen und eigene Werten zu suchen und zu finden? Waren es Fesseln, die abhängig, vielleicht sogar unfrei machten?" Der Autor begibt sich auf Spurensuche in eine Kindheit im Schatten des Kirchturms. Sie ist informativ, facettenreich, humorvoll, vor allem aber unterhaltsam und immer wieder mit einem zwinkernden Auge.
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Seitenzahl: 237
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Leben im Schatten des Kirchturms
Pfarrerssöhne
Vom Beginn eines Lebens
Wenn man Martin genannt wird
Erinnerungen der Sinne – Erste Jahre im Sauerland
Aufwachsen auf heiliger Erde - Kindheit am Hellweg
Haus mit vierzehn Zimmern
Die Kirche als zweites Zuhause
Frühe Saat und schlechtes Gewissen
Das Rad als seelsorgerisches Equipment
Was Familie und Pfarrhaus zusammen hielt
Geschwister und Kirschenschlachten
Vom Beginn des Ernst des Lebens
Das Dorf und seine Menschen
Konfessionelles Einkaufen
Kampf der Konfessionen
Schützenfest-Ökumene
Gänseköppen
Unterirdische Indianerabenteuer
Karbid und Wühlmäuse
Von Schornsteinfegern, Müllern, Königen, Kaisern und Pastoren
Vom Überfluss der Zeit und ihrer Endlichkeit
Geharkte Langeweile, wilde Hundejagden und Schokolade vorm magischen Auge
Kalte Schnauze und das Älterwerden
Wo es selbstverständlich ist, Heinrich zu heißen
Nachtwanderung
Faszination Geheimgang
Märchenhaftes hinter der Sandsteinmauer
Mein modischer Werdegang
Glockenschlag
Weltpolitik beim Abendbrot
Frühe Bücher, frühe Filme
Vom Hemmerder Rhythmus
Winterfreuden
Alle Jahre wieder - weihnachtliche Rituale
Ein Weihnachtsgeschenk voller dramatischer Erinnerungen
Mein Mond
Angst und die Kultur des Schweigens
Sehnsucht nach überall
Trampend der Sehnsucht folgen
Sich aus dem Schatten herauswagen
Kultur des Suchens und Ausprobierens
Veränderungen
Neues Äußeres, neue Ideen
Das Geheimnis des Baumstumpfes
Sterne der Kindheit
48er Jahrgänge
Auf Spurensuche
Moleküle einer Pfarrhaussozialisation
Was hat mich so werden lassen, wie ich bin? Das Elternhaus? Das soziale Umfeld? Die Zeit, in der ich aufgewachsen bin? Oder was sonst noch alles? Was prägte mich? Meine Eltern, die sich fest in ihrem Glauben verwurzelt fühlten? Das Pfarrhaus, das den Rahmen setzte? Das westfälische Dorf, in dem ich aufwuchs? Die Zeit der fünfziger und sechziger Jahre mit ihren Übergängen von der Nachkriegszeit zum Wirtschaftswunder und dann zum Auflehnen gegen Enge und Restauration?
Wie entscheidend waren diese Wurzeln? Waren es Wurzeln, die Sicherheit, Kraft und Mut gaben, sich von dem Nährboden, der mich aufwachsen ließ, zu lösen und eigene Werten zu suchen und zu finden? Waren es Fesseln, die abhängig, vielleicht sogar unfrei machten?
Fragen genug, um dem nachzuspüren, was meine Kindheit ausmachte, was sie bestimmte. Fragen genug, um zu versuchen, mich zu erinnern. Um dem nachzuspüren, was mein späteres Denken, Fühlen und Handeln prägte.
Es gilt, mich auf Spurensuche zu begeben. Den Anfang aufzuspüren. Das Fundament auszuloten. Erinnerungen freizulegen. Verblassten Bildern wieder Farbe zu geben. Eine Kindheit im Schatten des Kirchturms wieder lebendig werden zu lassen.
Schatten ist dort, wo kein Licht hinkommt, wo Blumen, wo Leben sich nicht richtig entfalten können. Schatten ist dort, wo es einem fröstelt. Schatten ist dort, wo man sich nach Sonne sehnt. Aber Schatten ist auch jener Ort, der Schutz vor ihrer Hitze bietet. Bei sengender Glut kann man im Schatten durchatmen. Hier kommt das Leben zurück. Und wie ist das nun, wenn man seine Kindheit im Schatten eines Kirchturms verbringt? Wenn man in einem Pfarrhaus aufwächst? Wenn man in einem Dorf groß wird?
Szenen einer Kindheit, vielleicht unbedeutend, vielleicht exemplarisch; auf jeden Fall im Schatten des Kirchturms: Das Gebet mit der Mutter beim Verlassen des Hauses an der schweren Eichenflügeltür, über der ein Gott mit uns prangte. Frohes Singen an der Kaffeetafel bei jedem festlichen Anlass, bei jedem Geburtstag, bei jedem Familientreffen: Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren. Erst dann gab es Pflaumenkuchen mit Schlagsahne.
Beim Abendbrot waren wir selten allein im Familienkreis. Der Küster kam zur Besprechung und setze sich dazu. Oder die Leiterin des Kirchenchores. Oft auch ein Presbyter, der Leiter der Jugendgruppe, der Leiter des Posaunenchores. Oder Tippelbrüder von der Landstraße, wie die wohnungslos Umherziehenden damals liebevoll im Dorf genannt wurden. Das Haus im Schatten des Kirchturms war immer ein offenes Haus.
Und am Samstagnachmittag durfte man keine Türen schlagen, nicht laut durchs Haus rennen. Rufen war streng verboten. Samstagnachmittags war unumstößlich Stille angesagt. Mein Vater bereitete sich auf die Predigt vor. Und wenn ich vorsichtig über den Flur schlich, drangen eindringliche Worte aus seinem Arbeitszimmer. Die Generalprobe der Predigt war nur durch die verschlossene Tür zu hören.
Vater und Sohn nach dem Gottesdienst – der eine mit Bibel, Gesangbuch und Agenda, der andere mit dem Inhalt des Klingelbeutels
Am Sonntag, nach den Gottesdiensten, saß ich dann am großen, eichenen Schreibtisch meines Vaters und stapelte die Pfennige, Groschen und Markstücke der Kollekte zu Säulen auf, damit sie gezählt und in Papier eingerollt werden konnten. Der erste Gang meines Vaters am Montag führte zur Bank. „Pfarrer werde ich nie“, zitierte man mich später. „Von dem, was im Klingelbeutel ist, kann man doch nicht leben.“
Am selben Schreibtisch, an dem ich sonntags die Münzen der Kollekte zählte, paukte ich während der Woche Latein. Von einem Vater, der Latein, Griechisch, Hebräisch, Englisch und Französisch beherrschte, konnte man Hilfe bekommen, aber auch Druck. Man konnte klein werden bei einem solchen Vater, wenn einem Caesar oder Ovid nur Angst machten, weil sie die Angewohnheit hatten, zu Klassenarbeiten zu mutieren.
Der Welt des Schuldrucks zu entfliehen, dazu war der endlos erscheinende Pfarrgarten ideal. Buden bauen. Mit Pfeil und Bogen sich wie Winnetou fühlen. Schätze in verrosteten Keksdosen vergraben. Das waren die kleinen Fluchten, zumindest bis zum Läuten der Abendglocke, die den Rhythmus des Tages für das ganze Dorf akustisch erfahrbar machte und zum Abendbrot rief. Kindheit im Schatten des Kirchturms.
Ist es eine schwere Hypothek oder eine große Chance, wenn man als Pfarrerssohn geboren wird? Gerne würde ich all jene befragen, die diese Hypothek oder Chance mit mir geteilt haben. Ich wundere mich, wie viele Biographien bekannter Namen in einem Pfarrhaus beginnen. Pfarrerssöhne, wohin ich blicke! Viele von ihnen haben das Kulturleben in Deutschland entscheidend mitgeprägt. Gotthold Ephraim Lessing zum Beispiel versuchte sich von überkommenen Traditionen zu befreien und wurde vielleicht so zum geistigen Vorbild späterer Generationen freigeistiger Pfarrerssöhne wie Christoph Martin Wieland oder Friedrich Nietsche. Viele Pfarrerssöhne griffen zur Feder. Eduard Mörike zählte zu ihnen, Herrmann Hesse oder Friedrich Dürrenmatt. Seine dörfliche Pfarrhaussozialisation beschrieb er später so: „Ich wuchs in einer gewissen sozialen Isolierung auf, weil ein Pfarrerssohn in einem Dorfe etwas ganz Bestimmtes darstellt.“ Aber auch Paul Gerhard, Gottfried August Bürger und Johann Gottfried Herder stammten aus Pfarrhäusern. Der Pfarrerssohn Georg Weerth war für Friedrich Engels der erste Dichter der Arbeiterklasse. Nietzsche meinte, dass man Acht darauf geben solle, ob das, was die Deutschen Literatur nennen, nicht zum besten Teil auf Pfarrerssöhne zurückgeht. Und Albrecht Schöne (geb.1925), selbst Pfarrerssohn, ist durch seine Forschungen zu den Dichtungen deutscher Pfarrerssöhne und seiner Publikation Säkularisation als sprachbildende Kraft bekannt geworden. Aus anderen Gebieten der Kunst und aus neuerer Zeit sind ebenso Pfarrerssöhne bekannt wie zum Beispiel der schwedische Regisseur Ingmar Bergman.
Aber auch Wissenschaftler sind in Pfarrhäusern aufgewachsen. Friedrich von Schulte behauptet sogar, dass etwa die Hälfte aller bedeutenden wissenschaftlich und kulturell arbeitender Männer aus dem Pfarrhaus stammen und dort ihre wissenschaftliche Neugierde eingepflanzt bekamen. Von den 1631 Männern, die in der Allgemeinen deutschen Biographie behandelt werden, stammen allein 861, das ist über die Hälfte, aus evangelischen Pfarrhäusern.
Der Mathematiker, Physiker und Astronom Leonhard Euler zählt zu ihnen. Oder der Erfinder Philipp Matthäus Hahn, ebenso wie der Mediziner und Chemiker Friedrich Ferdinand Runge und der Astronom Georg Samuel Dörffel. Musiker waren auch unter den Pfarrerssöhnen. Zum Beispiel Georg Friedrich Händel, Georg Philipp Telemann, Michael Praetorius und Gottfried Wilhelm Fink. Andere wurden Baumeister wie Karl Friedrich Schinkel.
Allerdings steigen Pfarrerskinder selbst nicht so häufig auf die Kanzel. Das zeigt eine Studie aus den Niederlanden. Sie werden eher Lehrer, Arzt, Krankenpfleger oder werden im sozialen Bereich aktiv. Das war früher nicht anders. Viele engagierten sich auf dem sozialen und pädagogischen Feld, wie der Volkserzieher Amos Comenius, der Begründer der Kindergärten Friedrich Fröbel, wie Turnvater Friedrich Ludwig Jahn oder Friedrich Bodelschwingh, der Begründer der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel.
In den kapitalistischen Sektor zieht es dagegen wenige. Selten werden sie Manager. Und dann ist da noch das Kapitel jener Pfarrerskinder in der jüngsten deutschen Geschichte, die sich als Opfer des kapitalistischen Systems sahen und denen in ihrer Auflehnung gegen dieses System Recht und Menschlichkeit unwichtig wurden und die schließlich im Untergrund oder bei der RAF landeten.
Ein ganz auffallend häufiger Typus von Pfarrerssöhnen habe ich bisher allerdings noch gar nicht erwähnt: den des Abenteurers, der neugierig auf die weite Welt ist. Viele zog es in die Ferne wie den Archäologen Heinrich Schliemann, der Troja suchte und fand. Der Friedensnobelpreisträger Albert Schweizer erbaute in Lambarene in Gabun ein Urwaldkrankenhaus. Alfred Wegener erforschte Grönland. Und den Zoologen und Forschungsreisenden Alfred Brehm lockte die weltweite Fauna. Viele zog es vom Pfarrhaus in die weite Welt. Sie verfassten richtungsweisende Beschreibungen von bis dahin wenig erforschten Regionen, beschäftigten sich mit fremden Völkern und unternahmen gewagte Expeditionen. Viele Forscher und Entdecker, die seit dem17.Jahrhundert zu anderen Kontinenten drängten, stammten aus Pfarrhäusern. Das machte eine Sonderausstellung des Deutschen Pfarrhausarchivs, die vor Jahren im Lutherhaus in Eisenach zu sehen war, deutlich. Von spannenden Biographien konnte man da erfahren.
Im 18. Jahrhundert begleitete der ostpreußische Pfarrer Johann Reinhard Forster mit seinem Sohn Georg den britischen Weltumsegler James Cook auf seiner zweiten Reise. Der Pfarrerssohn machte sich dabei als Zeichner nützlich und gab später das zweibändige Werk Reise um die Welt heraus. Die Lebensgeschichte des Hildesheimer Pfarrerssohn Friedrich Hornemann, der am Ende des 18.Jahrhunderts lebte, hört sich wie ein Abenteuerroman an. Im Auftrag einer britischen Gesellschaft war er in Afrika unterwegs und durchquerte als erster Europäer die Sahara und den Sudan. Dabei tarnte er sich als muslimischer Händler, um von Karawanen mitgenommen zu werden. Allerdings zog er einmal Verdacht auf sich, weil er ein für die Mitreisenden unverständlich starkes Interesse für alte Steine zeigte. Aber durch seine außerordentlich guten Korankenntnisse konnte er sich retten. Im Alter von 28 Jahren kam er von einer Reise ins Innere Afrikas nicht wieder zurück. Abenteuerlust, forschende Neugierde, und das Verlangen, über den eigenen Tellerrand zu blicken, waren Eigenschaften, die sich in Pfarrhäusern besonders gut entwickeln zu können scheinen.
Cisca Dresselhuys, die niederländische Chefredakteurin der feministischen Zeitschrift Opzij fand heraus, dass in Pfarrhäusern viel gelacht und gelästert wird, mit Vorliebe über den Kirchenvorstand oder über Kollegen des Vaters. So war sie der Meinung, dass viele Pfarrerskinder einen besonderen Sinn für Ironie und fürs Kabarett hätten und sie zitierte: „Wir durchschauen Heuchler sofort“.
Wie gebrochen und widersprüchlich eine solche Pfarrhaussozialisation allerdings auch sein kann, machte DIE Zeit 2022 in einem Beitrag zum 200. Geburtstag von Heinrich Schliemann deutlich. Unter der Überschrift „Ein deutscher Held und Räuber“ beschrieb er, wie der junge Schliemann unter seinem trinkenden, grollenden und schlagenden Vater litt, früh seinem bedrückendem Elternhaus entfloh, zu Geld und Reichtum kam und schließlich zum Hobby-Archäologen wurde, der „log, betrog und trickste“ und dem es schließlich gelang, das antike Troja zu entdecken, auszugraben und seiner Schätze zu berauben.
Natürlich gab und gibt es auch Pfarrerstöchter, deren Namen bekannt wurden. In früheren Zeiten aber war das wie bei Frauen ganz allgemein selten. Eine von ihnen ist das vielbesungene Ännchen von Tharau. Auch Henriette Tiburtius, die erste deutsche Zahnärztin, stammte aus einem Pfarrhaus, ebenso die Schriftstellerin Christine Brückner, die Schauspielerin Elke Sommer, die Soul-Sängerin Aretha Franklin und die Theologin und Ratsvorsitzende der EKD Annette Kurschus. Die wohl in Deutschland bekanntesten Pfarrerstöchter können wohl kaum unterschiedlicher sein, Bundeskanzlerin die eine und Terroristin die andere: Angela Merkel und Gudrun Enslin. Bei Angela Merkel meinte man im elterlichen Pfarrhaus den Ursprung für ihr politisches und gesellschaftliches Engagement zu erkennen. Bei Gudrun Enslin, der Tochter eines Pfarrers der Bekennenden Kirche, schwadronierte die Boulevardpresse einst vom Pfarrhaus als Schmiede für linksradikales Gedankengut.
Brehm, Fröbel, Hesse, Hölderlin, Jahn, Lessing, Nietzsche, Schliemann, Telemann, Wegener, Wieland, allesamt Pfarrerssöhne. Was für Namen! Muss das nicht einschüchtern? Kann das nicht mutlos machen, wenn man nicht einmal die Logarithmen und die Gallischen Kriege versteht? Muss einem bei dem Gedanken an die Erwartungen, die an einen Pfarrerssohn gestellt werden, nicht angst und bange werden? Waren jene, deren Namen die lange Galerie der Pfarrerssöhne zieren, dankbar für die Chance, in dieses besondere Umfeld hinein geboren zu sein? Oder haben sie darunter gelitten? Haben sie es verflucht? Haben sie sich aus diesem Sozialisationsumfeld herausgeträumt? Haben sie sich danach gesehnt, den Zwängen des Lebens in einem Pfarrhaus zu entfliehen?
Die Vorstellung, dass es neben dieser Liste berühmter Namen eine viel längere gibt, mit Namen, die niemand kennt und deren Herkunft niemand aufgeschrieben hat, wirkt beruhigend. Und noch mehr beruhigen kann die Erkenntnis, dass der Volksmund es ohnehin anders sieht: „Pastors Kinder, Lehrers Vieh, gedeihen selten oder nie.“ Und irgendwo dazwischen, irgendwo zwischen genial und missraten wird die alltägliche Wirklichkeit der Pfarrerssöhne liegen. Und ich denke, meine eigene auch.
Was sind das für Häuser, in denen Pfarrerssöhne sozialisiert werden? Das evangelische Pfarrhaus war schon immer ein Haus nicht nur für die eigene Familie; es war ein Haus für die ganze Gemeinde. Ein offenes Haus. Auch das, in dem ich aufwuchs. Die Menschen des Dorfes kamen mit ihren Sorgen und Freuden nicht nur ins Arbeitszimmer meines Vaters. Sie saßen in der Küche bei meiner Mutter und schütteten ihr Herz aus, während sie Dickebohnen döppte oder Kartoffeln schälte. Sie standen auf dem Gartenweg, zwischen Schwertlilien und Kartoffel, während mein Vater sich auf den Spatenstiel stützte und eine Pause einlegt. Sie setzten sich zu uns an den Tisch und meine Mutter hatte es im Griff, immer ein zusätzliches Gedeck herbeizuholen oder den Eintopf etwas zu verlängern.
Wenn am Heilig Abend kurz vor der Bescherung ein Bruder von der Landstraße vor der Haustür stand, dann konnte man den nicht draußen vor der Tür stehen lassen und drinnen unter dem Weihnachtsbaum vor der Krippe die Geschichte von der Herbergssuche von Josef und Maria vorlesen. Meine Mutter schöpfte dann in aller Eile die vollgefüllten bunten Teller etwas ab, packte die so gewonnen Süßigkeiten auf einen zusätzlichen Teller, fand irgendwo auch noch ein Paar neue Wollsocken oder einen Schal und zauberte in aller Eile einen weiteren Gabentisch herbei.
Das Pfarrhaus war vor allem auch ein offenes Haus für Kinder. Kinder aus dem Dorf machten an unserem Küchentisch ihre Schularbeiten und meine Mutter gab die alten Eselsbrücken und Merksätze weiter und erklärte ernst: „Wer nämlich mit h schreibt ist dämlich.“ So etwas kann man sich merken - bis ins Zeitalter der automatischen Rechtschreibkorrektur des PC-Programms hinein.
Die Familie des Pfarrers war fest in das Pfarrhausgefüge eingebunden. Meine Mutter hatte stets ein offenes, gastfreies Haus zu organisieren, den Telefondienst zu versehen und ein offenes Ohr für alle Menschen des Dorfes und für alle Sorgen zu haben. Sie pflegte die Blumen im Garten und schnitt sie am Samstagabend für den Altarschmuck. Sie leitete die Frauenhilfe, gab Schlüssel aus und versorgte all jene, die mit hungrigem Magen anschellten. Und bei uns Kindern war das nicht anders: Schlüsselausgabe, Besucher vertrösten, Butterbrote für die Brüder von der Landstraße schmieren, Telefonate entgegennehmen, Nachrichten notieren. Noch heute habe ich den Satz im Kopf, den ich beim Abheben des schwarzen Telefonhörers zu sagen hatte: „Hier Evangelisches Pfarramt Hemmerde. Zwo, sieben, zwo.“
Privates und Berufliches lassen sich in Pfarrhäusern nicht säuberlich trennen. Die Familie war Teil der Gemeinde und oft nahm diese unsere Familie fast wie selbstverständlich in Anspruch. Eine wirkliche Privatsphäre gab es selten. Es war ein Haus mit ständig offenen Türen. Es war ein gläsernes Haus. Jeder in der Familie wusste, dass alles jederzeit sichtbar war. Jeder im Dorf konnte sehen, wie sich die Kinder des Pfarrers verhielten, was sie durften und was nicht. Ein schwieriges Haus und zugleich ein schönes Haus, weil das Leben jeden Tag voll hineinschwappte.
Vorbild für ein solches offenes Haus hatte bei allen evangelischen Pfarrhäusern natürlich stets Luthers Hausstand gebildet, mit seiner Weltoffenheit, Gastfreundschaft, humanistischen Bildung, gepflegten Unterhaltung, frohem Singen, musikalischer Erziehung und religiösen Übung im täglichen Leben. Seitdem war das evangelische Pfarrhaus eine kulturtragende Institution, ein Ort des kulturellen Gedächtnisses, eine soziale Institution. So jedenfalls beschreiben es die einschlägigen Forschungsarbeiten. Lange Zeit war das Pfarrhaus auf den Dörfern eine Einrichtung, die so wichtig war wie die Dorfkneipe, der Laden oder die Poststelle. Es war eine soziale Institution, die über Generationen als prägende Kraft die gesellschaftliche und geistige Mitte des ländlichen Lebens mitbestimmte. Die Fülle der Literatur zu diesem Thema ist erstaunlich. Die kulturelle Bedeutung des Pfarrhauses wurde erst im 19.Jahrhundert reflektiert, als sie längst begonnen hatte, keine Selbstverständlichkeit mehr zu sein. Jetzt wurde das Pfarrhaus zur Inkarnation bürgerlich-protestantischer Lebensform und Geistigkeit stilisiert. Die Pfarrersfamilie galt als mustergültige Existenz der bürgerlichen Familie schlechthin. Sie avancierte zur Projektionsfläche kaum einlösbarer Ansprüche. Sie sollte Vorbild für die ganze Gemeinde sein. „Der Rückgang an Autorität, Muße, Übersichtlichkeit der Aufgaben, die für den Pfarrberuf in heutiger Zeit wohl kaum in Abrede gestellt werden können, macht das (trügerische!) Bild einer Idylle von Beruf und Haus des Pfarrers endgültig unglaubwürdig und als Modell unbrauchbar.“ So schrieb 1992 der Kirchenhistoriker Kantzenbach. Aber wenn etwas zurückgeht, dann muss es zuvor vorhanden gewesen sein. Und in jenem dörflichen Pfarrhaus, das mein Zuhause gewesen war, war die Autorität des Pfarrers und die Übersichtlichkeit seiner Aufgaben noch erkennbar und spürbar. Mit Idylle hatte das allerdings wenig zu tun.
Es war einer jener kalten Winter, von denen meine Eltern noch nach Jahrzehnten berichteten. Der Schnee hatte sich dermaßen dick über die Berge rechts und links des Volmetals gelegt, dass die höher gelegenen Höfe von den Straßen abgeschnitten waren. Und auch in den Tälern des Sauerlandes kamen die Menschen mit ihren Schiebern nicht mehr gegen die Schneemassen an. Deren Höhe nahm von Jahr zu Jahr zu, je öfter meine Eltern von diesem Winter erzählten und je weiter er zurücklag. Warum sie so häufig - vorzugsweise bei sonntäglichen Kaffeetafeln - von ihm berichteten, hatte aber eigentlich gar nichts mit den Schneeverwehungen und der klirrenden Kälte zu tun, die an Februartagen im Sauerland nichts übermäßig Außergewöhnliches darstellten. Grund war vielmehr ein Ereignis, dass sich in diesen Tagen zutrug und das für meine Eltern von großer Wichtigkeit war. Noch bedeutsamer war dieser Tag allerdings für mich, denn es war jener, an dem ich das Licht dieser Welt erblickte.
Mutter und Tochter mit dem Familienzuwachs
Viel interessanter fand ich in späteren Jahren allerdings jenen Teil des ständig wiederholten und von Jahr zu Jahr mit immer mehr Details ausgeschmückten Berichtes, der von meinen ersten akustischen Eindrücken erzählte. Unter dem Fenster des Zimmers, in dem ich meinen ersten Schrei tat, stand ein Leierkastenmann, drehte unbeirrt die Kurbel seiner Orgel und spielte das zu jener Zeit noch als Evergreen geltende Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei. Ob er dabei an die Kälte und seine steif gefrorenen Finger dachte oder an das, was mich auf dieser Welt erwartete, darüber habe ich mir erst viel später Gedanken gemacht.
Der Morgen dieses denkwürdigen Tages hatte sich vermutlich so gestaltet, wie zu jener Zeit bei zahlreichen Familien in ähnlicher Situation. Die Wehen begannen und meine Eltern begaben sich ins Entbindungsheim der örtlichen Hebamme Frau Berker. Die schickte meinen Vater mit den für jene Zeit üblichen Worten „Das ist nichts für Männer“ wieder nach Hause. Dabei hatte sich meine Mutter heimlich so sehr gewünscht, dass ihr bei dieser Geburt ihr Mann die Hand halten würde. Bei der Geburt meiner Schwester hatte sie darunter gelitten, mutterselenallein zu sein, während mein Vater in Russland auf der Krim in einem Kessel eingeschlossen war und von diesem Ereignis erst lange Zeit später erfuhr. Jetzt ergab sich meine Mutter ohne großen Widerspruch, wie es ihre Art war, in ihr Schicksal und akzeptierte geduldig die Anordnungen der Hebamme, ebenso wie mein Vater. Der ging wieder zurück ins Pfarrhaus. Denn dort hatten sich bereits zahlreiche Ostvertrieben versammelt, die Hilfe und Beratung suchten. „Da gab es Klagen“, so hielt mein Vater später in seinen Erinnerungen fest, „wenn Einheimische zusammenrücken mussten und dann aus lauter Verärgerung die Glühbirnen für das elektrische Licht entfernten oder gar die Heizkörper abmontierten. Auf der anderen Seite hagelte es Einsprüche von Einheimischen gegen übertriebe Forderungen und Ansprüche der Vertriebenen. Es gab Probleme über Probleme. Jeder wollte sein Recht, wie er es verstand.“ Mein Vater versuchte in dieser Situation, Lösungswege im Gespräch zu finden. Und mitten in ein solches Gespräch klingelte das Telefon. Er hob den Hörer ab und meldete sich. Am anderen Ende der Leitung hörte er die Stimme der Hebamme: „Herr Pastor, ihr kleiner Sohn möchte sie begrüßen.“
Ich gab, so wurde mir später berichtet, schreiend mein Bestes. Wenige Augenblicke zuvor hatte die Hebamme meine Mutter nach ihrer Telefonnummer gefragt. Die war erschrocken. War etwas nicht in Ordnung? Gab es Komplikationen wie bei ihrer ersten Geburt? Doch nachdem ich meinem Vater meine Ankunft höchstpersönlich mitgeteilt hatte, waren alle Bedenken verfolgen. Jetzt hatten sie nach einer Tochter noch einen Sohn. Und der musste einen Namen bekommen.
Im Namen eines Kindes bringen Eltern oft ihre Sehnsüchte und Träume, Hoffnungen und Wünsche, ihre Lebenserfahrungen zum Ausdruck. Und bei meinen war das nicht anders. Sie nannten mich Hans-Martin. Erst viel später, bei meinem Abitur, erfuhr ich, dass die korrekte Schreibweise eigentlich Hans=Martin hätte sein müssen. Mir wurde von der Schulbürokratie vorgehalten, dass ich meinen Namen so schreiben müsse, wie er in meiner Geburtsurkunde stehe. Und da stand er nun mal mit einem doppelten Bindestrich. Das hatte seinen Grund, wie ich beim Nachfragen von meinem Vater erfuhr. Er war gewohnt, Sütterlin zu schreiben. Aber beim Melden seines Sohnes bemühte er sich Lateinisch zu schreiben. Nur beim Bindestrich vertat er sich. Da flutsche ihm in der Aufregung ein Sütterlin-Bindestrich durch, der nun mal wie ein Gleichheitszeichen aussieht.
Dieses Zeichen verbindet zwei Vornamen. Der erste leitet sich vom Evangelisten Johannes ab. Das gefiel meinen Eltern. Außerdem hieß ein Onkel meines Vaters Hans. Es bürgerte sich ein, dass ich später nur Hans gerufen wurde. Wenn ich allerdings ein Hans-Martin hörte und dabei das „r“ besonders gerollt wurde, wusste ich, dass es jetzt ernst wurde. Die Wahl für den zweiten Namen liegt auf der Hand: Martin Luther als Reformator, als Begründer des Protestantismus, als Begründer des evangelischen Pfarrhauses. Dabei spielte Luthers Gedanke „von der Freiheit eines Christenmenschen“ und der mit der Freiheit verbundenen Unabhängigkeit, Angstfreiheit, dem Neuaufbruch und der Verantwortung, die diese Freiheit mit sich bringt, eine besondere Rolle.
Aber gerade damit wird erklärbar, dass die Wahl des Namens noch einen viel persönlicheren, einen viel emotionaleren Grund hatte, einen, der an das eigene Selbstverständnis und an die eigene Existenz meiner Eltern ging. Und der hatte mit dem Namen Martin Niemöller zu tun. Wie wichtig dieser Mensch, Pfarrerkollege oder Bruder, wie sie sich nannten, für meinen Vater war, wird in seinen Erinnerungen deutlich, die er an vielen Abenden, im Laufe mehrerer Jahre zu Papier gebracht hat. Dass er zum Füllfederhalter griff, hatte wiederum etwas mit mir zu tun.
Ich hatte einen Roman über jenes westfälische Dorf geschrieben, in dem ich groß geworden war: Hemmerde. Überlebt lautete sein Titel. In diesem Dorfroman hatte ich die Geschichte und die Geschichten, die man sich dort erzählte, verarbeitet, ebenso meine eigenen Erfahrungen mit diesem Dorf: Historie auf der Mikro-Ebene, nicht die Weltgeschichte, sondern die im Kleinen, jene, die oft vergessen wird.
Mein Vater auf dem Weg zum Gottesdienst
Am Anfang stand das Recherchieren, das Aufzeichnen von Interviews und Gesprächen. Mein Vater ist selbst fünfundzwanzig Jahre lang Pfarrer in Hemmerde gewesen. So standen mir sämtliche Kirchenakten zur Verfügung. Sorgfältig hat er in all den Jahren jene Artikel aus dem Hellweger Anzeiger herausgeschnitten, die unser Dorf betrafen. Nach seiner Pensionierung hat er die Kirchengeschichte seiner evangelischen Gemeinde seit dem Zweiten Weltkrieg auf sechshundert Seiten festgehalten.
Als das Manuskript meines Romans fertig war, gab ich es meinem Vater zu lesen. Dem gefiel es, aber vieles sah aus seiner Perspektive ganz anders aus. Manches hätte er anders weitergegeben. Und er beschloss, es auch zu tun. Er setzte sich hin und schrieb seine Erinnerungen aus diesen 25 Jahren in Hemmerde auf. Zu Weihnachten lag sowohl bei meiner Schwester Anne-Christel als auch bei mir ein prall gefüllter Aktenordner mit über 200 handgeschriebenen Seiten auf dem Gabentisch. Und was sollte er an den Abenden nach diesem Weihnachtsfest machen? Er begann erneut zu schreiben, nahm sich einen weiteren Abschnitt seines Lebens vor, der ein Jahr später wieder als dicker Ordner auf dem Gabentisch lag. So ging das Jahr um Jahr, bis schließlich elf Ordner in meinen Regalen standen. In einem dieser Ordner beschreibt er seine Studienjahre, die Zeit des Nationalsozialismus und den Krieg bis hin zu den Jahren in russischer Kriegsgefangenschaft. Im Abschnitt über die dreißiger Jahre taucht ein Name immer wieder auf, der Martin Niemöllers. Für meinen Vater waren dieser Name und diese Zeit mit existenziellen Lebenserfahrungen verbunden, so dass er ihn mir später mit auf meinen Lebensweg gab.
„Ich war Student in Greifswald, Königsberg, Tübingen und Münster gewesen“, schreibt mein Vater in seinen Erinnerungen.“ Zum Schluss war ich in die Schwierigkeiten geraten, die mit der sogenannten Machtergreifung durch die Nationalsozialisten und mit der Erstarkung der Deutschen Christen verbunden waren. Ich hatte mich für Bibel und Bekenntnis entschieden und gehörte der Bekennenden Kirche an. Damit hatte ich mich auf ein großes Wagnis eingelassen. Das wusste ich gut. Aber es gab für mich keinen anderen Weg. Präses D. Koch hatte auf der Westfälischen Provinzialsynode am 16.März 1934 gesagt: Jetzt ist die Zeit des Bekenntnisses gekommen. ... Auf diesem Hintergrund hatte ich meine beiden Examina illegal gemacht.“ Am 10.Mai wurde mein Vater von D. Otto Dibelius und Martin Niemöller in der Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem ordiniert. Dass der Name Martin Niemöllers auch danach für meinen Vater von großer Bedeutung war, kann man in seinen Aufzeichnungen nachlesen.
„In Buchow-Karpzow bekamen wir im Gottesdienst im Verlauf der nächsten Monate eine gewisse Verstärkung. Das musste ein Mann von der Polizei sein, der sich unter die dunkle Orgelempore zurückzog, um die Predigt auf staatsgefährdende Äußerungen abzuhören. Ich habe nie mit ihm sprechen können, weil er jedes Mal unmittelbar nach der Predigt die Kirche verließ. Inzwischen war Pfarrer Martin Niemöller aus Dahlem in Untersuchungshaft genommen worden. Davon muss ich später noch berichten. An dieser Stelle will ich nur soviel andeuten, dass - wie für alle verhafteten Pfarrer - auch für den Dahlemer Pfarrer und Vorkämpfer der Bekennenden Kirche namentlich gebetet wurde. Bei den Gedenken an Martin Niemöller hatte sich der brandenburgische Bruderrat aber noch etwas Besonderes ausgedacht: Ich trat zu Anfang des Gottesdienstes an den Altar, wandte mich der Gemeinde zu - soweit sie überhaupt vorhanden war - und sagte etwa Folgendes: Zum Zeichen der Trauer über die Verhaftung unseres Bruders Martin Niemöller löschen wir die Altarkerzen. Ich wandte mich zum Altar und blies die Lichter aus. Das war für den Mann der Polizei natürlich jedes Mal ein Anlass, sich besonders heftig Notizen in seinem Buch zu machen. … Die Verfolgung der Bekennenden Kirche ging weiter. Am 30.September 1937 verbot Reichsführer der SS Himmler die von der Bekennenden Kirche begründeten und unterhaltenen Ersatzhochschulen und Prüfungsämter. Das Predigerseminar in Bielefeld-Siecker, auf dem ich noch zwei Jahre zuvor für ein halbes Jahr gewesen war, wurde am 9.November 1937 geschlossen. Im Frühjahr 1938 erfolgte die Verurteilung Niemöllers. Auch hier hatten sich preußische Richter geweigert, die Justiz zum Instrument der Politik machen zu lassen. Sie hatten ihn zwar verurteilt, aber nur zu der längst ungebräuchlichen gewordenen Ehrenstrafe der Festungshaft. Und auch diese sollte durch die lange Untersuchungshaft abgegolten sein. Hier aber griff nun Adolf Hitler persönlich ein. Niemöller wurde am 2.März 1938 ins Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht. Er galt fortan als persönlicher Gefangener Adolf Hitlers.“
Eines Sonntags hatte mein Vater trotz des Aufpassers in der letzten Kirchenbankreihe die Kollekte der Bekennenden Kirche und nicht die der Deutschen Christen abgekündigt. Das hatte Konsequenzen, die er nach seiner Verlobung zu spüren bekam. Am Tag nach der Verlobung, die in Hagen begangen wurde, kam eine Reihe von Grüßen an. Als mein Vater einen Brief von seiner Gemeinde in Brandenburg öffnete, vermutete er einen Glückwunsch. Aber dann las er, dass die Geheime Staatspolizei sich nach ihm erkundigt habe, dass man ihr gesagt habe, er sei mit unbekanntem Ziel verreist, und dass man ihm jetzt rate, in den nächsten zwei Wochen nicht zurückzukommen. Kurz darauf kam wieder ein Telegramm der Superintendentur, dass er sofort kommen solle, die Gestapo habe angedroht, ihn steckbrieflich suchen zu lassen. Er fuhr nach Elstal zurück. Kaum angekommen, stand auch schon der Dorfpolizist vor der Haustür, der Vater eines seiner Konfirmanden. Er war verlegen und sagte kurz: Herr Pastor, ich muss Sie holen. Während mein Vater seine Sachen zusammensuchte und die Zimmervermieterin den Polizisten in ein Gespräch verwickelte, konnte er noch einmal hastig die Verhaltenstipps überfliegen, die er vom Bruderrat für eine solche Situation erhalten hatte.