Im Visier - Anja Gust - E-Book

Im Visier E-Book

Anja Gust

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Beschreibung

Kaczmarek ist zurück! Nichts ist, wie es scheint. Ein mysteriöses Verbrechen erschüttert Norderstedt und bringt menschliche Tragik und Unrecht ans Licht. Kriminalhauptkommissar Björn Kaczmarek und seine neue Assistentin stehen vor der Herausforderung, einen Mord aufzuklären, dessen Motive tief in die Vergangenheit der Stadt zurückreichen. Das ungleiche Team muss sich zusammenraufen und die Hintergründe dieser Tat aufdecken. Was Recht ist, muss Recht bleiben, und Gerechtigkeit ist mehr als nur ein Wort. Der kauzige Ermittler mit Herz ermittelt wieder.

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Kaczmarek ermittelt

 

 

 

 

 

 

Im Visier

 

 

 

 

 

 

telegonos-publishing

 

Über dieses Buch:

Nichts ist, wie es scheint. Ein mysteriöses Verbrechen erschüttert Norderstedt und bringt menschliche Tragik und Unrecht ans Licht. Kriminalhauptkommissar Björn Kaczmarek und seine neue Assistentin stehen vor der Herausforderung, einen Mord aufzuklären, dessen Motive tief in die Vergangenheit der Stadt zurückreichen. Das ungleiche Team muss sich zusammenraufen und die Hintergründe dieser Tat aufdecken. Was Recht ist, muss Recht bleiben, und Gerechtigkeit ist mehr als nur ein Wort.

 

«Im Visier» aus der Reihe: Kaczmarek ermittelt

Copyright © 2024 Anja Gust

publiziert von telegonos-publishing

Str. des Frieden 14/17194 Vollrathsruhe

Covergestaltung: Kutscherdesign

www.telegonos.de

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Der Roman spielt in allseits bekannten Stätten, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„All den Opfern von Gewaltverbrechen. Möge die Erde ihnen leicht sein.“

Inhalt

 

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

 

Kapitel 1

 

Freitagabend, 22 Uhr

 

Die feucht-warme Luft im ›Lollipop‹, die angesagteste Adresse im ganzen Kreis, ist von süßlichem Alkoholdunst und allerlei Lichtspielen geschwängert. An den Tischen weilen ausnahmslos Herren, die mit funkelnden Blicken und skeptisch geschürzten Lippen das Terrain sondieren.

Monique sitzt an der Bar und raucht elegant eine Zigarette mit Spitze. Gerade einmal Mitte zwanzig, ist sie mit ihrer figurbetonten Kleidung und ihrem schmachtenden Blick zweifellos ein Hingucker und kann sich ihre Passivität leisten. Auch wenn das ihrem ‘Manager‘ Lothar Büchel, kurz Lotte genannt, missfällt, wird er sich kaum mit ihr überwerfen, denn sie ist sein Zugpferd und versteht es, trotz oder gerade wegen ihrer Feinfühligkeit den Umsatz anzukurbeln.

Heute aber wirkt sie sonderbar entrückt und scheint nicht recht bei der Sache, obwohl sie wiederholt von dem kleinen, dicken Kahlkopf von schräg gegenüber angefunkelt wird. Doch der kommt keinesfalls infrage.

Ganz im Gegensatz zu dem fragwürdigen Typen am Tisch links daneben. Den hat sie hier noch nie gesehen. Er wirkt eine Spur verpeilt, was ihn interessant erscheinen lässt. Vor allem aber – und das ist das Sonderbare – scheint er nicht recht zu wissen, was er hier soll. Wiederholt hat sie Blickkontakt gesucht, doch er weicht ihr immer wieder aus. Das verwundert und ärgert sie gleichermaßen.

„Wer ist der Typ da drüben?“, fragt sie ihre zu ihrer Linken sitzenden Freundin Yvette.

„Wen meinst du?“, entgegnet diese und fährt sich mit der Hand über einen ihrer großflächig tätowierten Arme. „Doch nicht etwa den abgebrochenen Zausel, der die ganze Zeit rüber glotzt?“

„Nein, der am Tisch links daneben mit dem kurzen Haar und der Unschuldsmiene.“

„Komischer Vogel. Wer trägt denn heutzutage noch einen Seidenanzug? Der ist garantiert nur geborgt“, spöttelt Yvette und angelt mit einem Cocktailstäbchen eine Erdbeere aus ihrem Fruchtcocktail, welchen sie mal wieder anschreiben lässt, denn im Gegensatz zu Monique läuft ihr Umsatz im Moment recht mau.

„Möglich. Dennoch guckt er nicht mal herüber, sondern starrt lieber die ganze Zeit vor sich hin, als wüsste er nichts mit sich anzufangen.“

„Na und? Es gibt genug schräge Vögel, die nur zum Gaffen hier sind.“ Prüfend greift Yvette in ihre toupierte Löwenmähne. „Und wenn er einen auf Trottel macht, will er nur interessant wirken. Das nennt man heutzutage ‘woke‘. Lass also lieber die Finger davon.“

„Ich sage dir, der hat garantiert eine Wette verloren und weiß jetzt nicht, wie er aus der Nummer rauskommen soll, ohne sich lächerlich zu machen.“

„Du spinnst doch.“ Yvette lacht kurz auf. Dann pustet sie sich eine widerspenstige lila Strähne aus der Stirn und meint: „Wie wäre es mit dem Typen mit der Boxernase, links daneben? Ein Toastbrot hat garantiert einen höheren IQ.“

„Nee, lass mal. Da wirkt der andere schon interessanter.“

„Nun glotz nicht dauernd hin! Am Ende bildet er sich noch was ein.“

„Na und? Vielleicht muntert es ihn auf? So was schafft die Basis für einen ordentlichen Preis.“ Und tatsächlich scheint er für einen Moment Moniques Blick zu erwidern, weicht aber gleich wieder aus. „Hör mal, Yvette. Ich glaube, du schuldest mir noch was.“

„Ich schulde dir gar nichts!“, stellt diese naserümpfend fest. „Spätestens seit ich dir diesen widerlichen Hannes Harmsen vom Hals gehalten habe, sind wir quitt. Schon vergessen?“

„Ach komm. Das hätte ich auch ohne dich geschafft … Also, wie wäre es mit der Ladylike-Nummer? Hat doch letztens ganz wunderbar gekappt.“

„Aber nur, weil du’s bist.“

Kurz darauf schlängelt Yvette sich an den benachbarten Tischen entlang, wechselt zur anderen Seite und tänzelt mit einem Lächeln, das irgendwie an Zucker mit Essig erinnert, zu ihrer Zielperson. Mit einem Wort, alles läuft nach Plan.

Monique kann noch sehen, wie sich die Freundin mit einer großartigen Gebärde vor diesem Typen aufbaut, dann aber plötzlich empört die Fäuste in die Seiten stemmt. Dabei zieht sie die Schultern eigentümlich hoch und tritt auf den Mann zu. Dann nimmt sie die vor ihm auf dem Tisch stehende Weinflasche und schickt sich an, sie über seinem Kopf zu entleeren.

Doch bevor es dazu kommt, ist Monique schon zur Stelle und entwindet ihr die Flasche. Dann weist sie die Freundin mit ein paar hastigen, spitzen Bemerkungen zurecht, welche den Eindruck eines echten Streites vermitteln.

Natürlich reagiert Yvette mit der entsprechenden Pose, gefolgt von einem Finger. Doch damit ist die Sache schon beendet.

„Die Ärmste steht im Moment etwas neben sich“, entschuldigt sich Monique bedauernd. „Aber sie meint es nicht so, denn im Grunde ist sie ein anständiger Mensch.“

„Wirklich?“ Seine Stimme klingt brüchig. „Dabei fürchtete ich schon, sie könnte mir die Flasche über den Kopf schlagen.“

„Das ist nur eine Folge ihrer überreizten Nerven. So etwas kommt vor, wenn man ein Ziel verfehlt.“

„Ziel?“ Fragend sieht er sie an.

„Was denn sonst? So läuft das hier nun mal.“

„Aber Sie kennt mich doch gar nicht?“

„Eben darum. Meine Freundin wollte Sie kennenlernen, fühlte sich aber aus irgendeinem Grunde mit einem Mal verprellt. Das passiert hier leider relativ schnell, weil die Arbeit über die Zeit hinweg einen sehr dünnhäutig werden lässt.“

„So habe ich das noch gar nicht gesehen.“

„Sehen Sie.“ Monique fährt sich mit fünf Fingern durchs Haar. „Und genau deshalb sage ich es Ihnen.“

„Das ist sehr nett, wirklich … Dankeschön, dass Sie es mir gesagt haben.“

Erst jetzt betrachtet sie ihn etwas näher. Er mag Anfang dreißig sein, keinesfalls älter, ist von magerer Gestalt und hat leicht gewelltes, dunkelblondes Haar, sowie ein kleines, sorgsam geschnittenes Oberlippenbärtchen. Das gibt ihm etwas Stutzerhaftes, obgleich sein Gesicht durchaus harmlos, ja beinahe schüchtern wirkt. Seine Augen sind klar und sein Blick eine Mischung aus Neugier und Scheu, keinesfalls grob. Dafür wirkt er viel zu bieder, ja beinahe schüchtern und verfügt offenbar über gewisse Umgangsformen.

Seine erlesene Kleidung – bronzefarbener Seidenanzug, helles Hemd mit pink-weiß schraffierter Krawatte nebst Silbernadel – ist ungewöhnlich. Zudem versetzt sie der kleine Sticker in seinem linken Ohr in Verwunderung, denn er will einfach nicht zu ihm passen.

„Sie sind sehr sympathisch“, beginnt er ihr mit einem Mal zu schmeicheln.

„Ach wirklich?“

„Warum sagen Sie das so enttäuscht?“

„Weil ich es nicht mehr hören kann.“

Daraufhin kommt der Mann ins Stutzen und weiß offenbar nicht, wie er reagieren soll. Er merkt, dass er etwas falsch gemacht hat, kann es sich aber nicht erklären. Monique weiß, dass er ihr aus der Hand frisst, weiß aber noch nicht, ob sie es überhaupt will.

„Hör zu, Jungchen. Du weißt, wo du hier bist und wie die Regeln hier sind? Und jetzt schau mich nicht so an, als wäre ich ein Kätzchen, das man von einem hohen Baum retten muss. Sag mir lieber, welche Erwartungen du hast.“

Überrascht guckt er sie an. „Erwartungen?“

„Weshalb bist du denn sonst hier?“

„Sie werden es nicht glauben, a-aber ich habe mich offenbar in der Hausnummer geirrt.“

„Das ist doch ein Witz, oder?“

„Durchaus nicht. Ich s-suchte die Hausnummer 15, bin aber in der 115 gelandet.“

Monique unterdrückt ein Lachen. Aber so etwas ist ihr noch nie untergekommen und sie weiß nicht recht, was sie davon halten soll. Entweder hatte Yvette recht und er ist nicht ganz klar im Kopf oder er ist verdammt ausgebufft. „Na sag mal. So was habe ich ja noch nie gehört. Ein Grund mehr, mich auf einen Drink einzuladen“, kehrt sie das Ganze, einem inneren Impuls folgend, ins Witzige.

„Ach ja, n-natürlich. Und was möchten Sie gerne trinken?“

„Gerne eine Prärieauster.“ Monique legt ihm eine Hand auf den Arm. „Aber ohne Zucker. Dafür mit Karamell und Schokostreusel. Die kostet schlappe 17,50 Euro, mit Schlagsahne 20 Euro. Natürlich nur, wenn es nicht zu teuer ist.“

„O nein, k-keineswegs.“ Eilig winkt der Mann die Kellnerin herbei, wobei sein Gesicht unverhofft einen kindlichen Ausdruck annimmt, welcher ihm, wie sie findet, erstaunlich gut steht. Nachdem er die Bestellung übermittelt hat und diese kurz darauf eintrifft, wünscht er ihr unbeholfen ‚wohlbekomms‘.

Das klingt so drollig, dass Monique sich fast verschluckt. „Du machst das nicht oft, nicht wahr?“

„Eigentlich nie.“

„Und warum heute?“

„V-vielleicht, weil heute offenbar mein Glückstag ist.“

„Oh. So was hört man gern. Ich bin übrigens Monique.“ Sie zwinkert ihm zu. „Nur für den Fall, dass es dich interessiert.“

„Tut-tut mir leid. A-aber ich bin noch immer ein wenig durcheinander … I-ich meine, wann kommt man schon mal in …“ Verlegen reibt er sich die Schläfe. „Ich bin Florian. Du kannst auch gerne Flo sagen … Ich weiß, das ist ein dummer Name, aber …“

„Wie kommst du darauf?“

„Weil ich mich anders genannt hätte.“

„Und wie, wenn man fragen darf?“

„Johann.“

„Johann?“ Moniques Gesicht ist eine einzige Frage. „Du willst mich doch nicht veralbern, oder?“

„Keineswegs, mein Urgroßvater und Großvater väterlicherseits hießen so. Das ist bei uns fast schon Tradition.“

„Du bist ja so witzig …“ Monique schüttet sich vor Lachen. „Sag mal, Flo, wie gefällt es dir eigentlich hier? Ich meine, würdest du wiederkommen?“

„Warum nicht?“

„Soll ich dir mal was verraten?“ Sie beugt sich ein Stück vor und flüstert: „Die meisten wollen nicht wiederkommen.“

„Ach wirklich?“

„Willst du nicht wissen, warum?“

„Willst du es mir nicht lieber erzählen?“

„Eigentlich solltest du die Fragen stellen. Das wäre schon mal ein guter Anfang.“

„Ja, äh … Natürlich. Äh … Was willst du hören?“

„Ich will gar nichts hören. Ich dachte, du entwickelst eine verrückte Geschichte, um mich zum Lachen zu bringen. So macht man das jedenfalls hier. Dadurch macht man sich interessant. Und je interessanter ein Mann ist, umso begehrenswerter wird er.“

„Ich fürchte, das kann ich nicht“, seufzt Florian.

„Dann wärst du der Erste. Wie wäre es mit deinen letzten Zahnschmerzen?“

„Das ist doch … nicht dein Ernst, oder?“

„Natürlich nicht.“ Von einer Sekunde auf die andere platzt ihr der Kragen. „Ich glaube, mit dir kann man wirklich nur Erbsen zählen. Weißt du was? Offenbar habe ich mich geirrt! Du bist nichts weiter als ein armer Irrer, der dringend einer Therapie bedarf. Such dir eine andere oder mach ’ne Fliege. Typen wie du verpesten hier nur die Stimmung.“ Hastig trinkt sie aus, nimmt ihr Täschchen und macht Anstalten, aufzustehen.

„Halt warte!“ Hastig fasst er nach ihrer Hand. „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber ich f-finde das alles hier sehr interessant, weiß nur nicht, wie ich darauf reagieren soll. Es ist die Ungezwungenheit der Leute, ihre Ausgelassenheit und gegenseitige Toleranz. So etwas bin ich nicht gewohnt.“

„Was bist du denn gewohnt?“ Theatralisch sinkt Monique auf ihren Platz zurück.

„Das kann ich gar nicht sagen. Es ist mehr eine Art Etikettierung in Verbindung mit bestimmten Prinzipien. Damit kann man sich empfehlen, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen.“

„Etikettierung? Prinzipien? Ich verstehe nur Bahnhof.“

„Es geht um eine stets korrekte Pflichterfüllung ohne jede Beanstandung, weißt du? Allein daran wird man bemessen. Ich bin Geschäftsmann und oft auf Reisen. Vor allem aber repräsentiere ich.“ Sein Ton wird jetzt weicher und ruhiger. Mit einem Mal wirkt er gar nicht mehr so schrullig.

„Und was repräsentierst du?“

„Alles, was Neugier und Wissensdurst löscht, vielleicht auch, was man sein möchte und doch nicht sein kann.“

„Klingt wirr, aber irgendwie auch interessant.“

„Ach, im Grunde ist es immer wieder das Gleiche“, winkt er ab. „Immer dieselben Gesichter, die gleichen Aufgaben, Ratschläge und Empfehlungen.“

„Muss ja ein verdammt wichtiger Posten sein.“

„Wie man es nimmt.“

„Was soll das heißen?“

„Ist schwer zu erklären“, weicht er aus und beginnt ihre Halskette näher zu betrachten, die sie vor längerer Zeit von einem Kunden geschenkt bekam. „Ist die von Bulgari?“

„Nicht doch“, sagt sie gönnerhaft. „Ist nur ’ne Imitation.“

„Steht dir gut. Sie unterstreicht die Harmonie deines Gesichtes und gibt dir etwas Aristokratisches.“

„Danke schön.“ Kurz senkt Monique den Blick. „Ich wurde noch nie so charmant gelobt.“

„Du hast erhabene Züge und erinnerst an das griechische Schönheitsideal“, verblüfft er sie erneut. „Deine Stirn ist klar, die Brauen geschwungen. Hinzu kommt dein romantisch verklärter Blick, welcher wunderbar mit den vollen herzförmig gezeichneten Lippen harmoniert, fast wie auf den Gemälden alter Meister. Kennst du Raffael oder Tizian? Ich bewundere die italienischen Meister. Sie haben etwas Besonderes, nur ihnen Typisches für die Zeit der Hochrenaissance.“

‚Spinner‘ denkt sie, mimt aber weiterhin Interesse. Da fällt ihr Blick auf seine Uhr. Ein Schweizer Edelchronograf von einem hohen vier-, wenn nicht gar fünfstelligen Wert. Sie verfügt über diesbezügliche Kenntnisse aus ihrer Zeit als Begleithostess. Und noch etwas ist verwirrend. Er bleibt sehr höflich und gleitet nicht in vulgäre Plattitüden ab, wie es spätestens ab jetzt zu erwarten wäre. Vor allem aber wagt er immer noch nicht, ihr gerade in die Augen zu sehen. Das ist ebenso putzig wie verstörend.

„Sag mal, mein Süßer. Was erwartest du eigentlich von einer Frau mit griechischem Schönheitsideal und einem Touch italienischer Hochrenaissance hier in diesem Schuppen?“ Sie macht eine ausladende Handbewegung.

„Nichts. Ich habe davon keine Vorstellung.“

„Ich nehme an, du weißt, dass ich hier Geld verdienen muss.“

„Ja, das ist anzunehmen.“

„Und wie denkst du darüber?“

„Na, wie schon. Es ist eine Arbeit, wie jede andere.“

„Ist es eben nicht. Deshalb frage ich ja.“

„Was willst du denn jetzt hören?“

„Ich will gar nichts hören. Ich will, dass du mir ein Angebot machst“, fährt sie ihn unerwartet deutlich an, denn irgendwie fühlt sie sich nicht wirklich ernst genommen. Hinzu kommt sein stoischer Gleichmut samt dem unschuldigen Blick, der ihn irgendwie herabklassifiziert. „Nun gut, wenn du weiterhin Wert auf meine Gesellschaft legst, muss ich dich darauf hinweisen, dass ich einen übertariflichen Stundensatz habe: Hundertfünfzig Euro pro Stunde plus Taxe und Spesen.“

„Äh, ja, natürlich. Ich gebe dir das Doppelte, weil du mich so nett angesprochen hast.“ Noch bevor sie sich's versieht, blättert er acht orangefarbene Scheine auf den Tisch.

„Hey! Das ist doch nicht dein Ernst?“

„Warum nicht?“

„Mit solch einer Aktion verdirbst du die Preise. Wenn sich das herumspricht …“

„Es muss ja niemand wissen“, erwidert er derart harmlos, dass sie unverhofft lachen muss.

Mit einer fließenden Handbewegung steckt sie die Scheine ein und reicht ihm den Arm. „Komm, ich zeig dir was!“, fordert sie ihn auf und führt ihn zum im hinteren Bereich befindlichen Separee, die sogenannte ‚Anwärmmeile‘. Das sind durch mit rotem Samt überzogene Sichtblenden abgeteilte Bereiche, bestehend aus einem Tisch, einer Couch und einem Sessel. Dort finden sich die Damen mit ihren Kunden vor dem Vollzug des eigentlichen Geschäfts auf eine Flasche Wein oder einen Shake ein, um in dem von Tischleuchten auf ewig getauchten Halbdunkel so etwas wie eine gesellige Vertrautheit zu mimen. Das gehört dazu. Immerhin legt man in diesem Haus Wert auf Stil. Ergo sind die Weichen gestellt. Die Kür kann beginnen.

Kapitel 2

 

Kaum haben sie auf der Couch Platz genommen, kuschelt sich Monique ungeniert an ihn. Als sie lasziv ihr linkes Bein über sein Knie legt, zieht er sich den Hemdkragen auf wie nach einer Hitzewelle und schiebt sie leicht von sich.

Verwundert sieht sie ihn an. „Gefalle ich dir nicht?“

„Doch, s-sehr sogar. Ich bin so etwas nur nicht gewohnt. Du bist eine schöne Frau, hast ein gepflegtes Äußeres, g-gute Umgangsformen und besitzt einen gewissen Stil“, beginnt er sich zu winden, wobei sein Unbehagen deutlich wird. „Vor allem aber verstehst d-du es, zu unterhalten, bringst mich sogar zum Lachen. Das ist außergewöhnlich und spricht für dich.“

Irritiert nimmt sie ihr Bein wieder herunter. „Inwiefern?“

„Weil das nicht jeder kann.“

„So, so. Du magst es also mit Humor.“

„Kann nicht schaden“, erwidert er zu ihrer Verwunderung. „Befördert die Offenheit.“

„Das klingt berechnend.“

„Man sagt nicht umsonst, ein offenes Gespräch verhindert schlechte Gedanken.“

„Sagt man das?“, fragt Monique, darüber zweifelnd, ob das jetzt ein Kompliment oder eine Provokation ist. Bekanntlich sind die naivsten Typen mitunter am gefährlichsten. Ihr Tonfall reflektiert nicht immer ihre Gedanken. Sie hat diesbezüglich Erfahrung und weiß, wie schnell selbst die harmloseste Floskel eine andere Färbung annehmen kann, sobald man falsch reagiert. Deshalb führt sie auch ständig Reizgas bei sich, das sie in Kombination mit ein paar geübten Handgriffen gezielt einzusetzen weiß. Außerdem trägt sie eine sorgsam geschliffene Nagelfeile im Saum ihres rechten Strumpfbandes. Sie ist sehr scharf und kann gefährliche Verletzungen verursachen.

Aber noch ist alles entspannt und er wirkt ruhig und gefasst. Dennoch bleibt sie wachsam, was wiederum jede Ungezwungenheit verhindert. Zurück bleibt ein fades Gefühl gepaart mit Vorsicht, aber auch Neugier.

Also entschließt sie sich zu einer anderen Gangart. Entgegen ihrer Art beginnt sie, von sich zu erzählen, zunächst Belangloses, ohne jede Emotion. Als sie aber merkt, dass er wirklich zuhört und nicht nur so tut, ergreift sie bald eine sonderbare Euphorie, wobei ihr immer mehr einfällt, darunter Dinge, worüber sie schon lange nicht mehr geredet hat.

Ob es nun an seiner Aufmerksamkeit oder der inzwischen fast geleerten Weinflasche liegt, ist schwer zu sagen; in jedem Fall plappert sie munter weiter, worauf er bald mit dieser oder jener Bemerkung reagiert, Vergleiche anstellt, sogar über eigene Erfahrungen spricht und damit ihre Ausführungen erstaunlich ergänzt.

So entspinnt sich bald ein zwangloser Dialog, welcher mit der Zeit recht erfrischend, beinahe interessant wird. Mit einem Mal brechen alle Dämme und sie lachen immer öfter zu allerlei witzigen Bemerkungen, als hätten sie das schon immer getan. Florians anfängliche Unsicherheit verfliegt, ebenso wie seine stockende Aussprache. Fast will es scheinen, als würden sie sich schon seit Jahren kennen.

Zu guter Letzt thematisieren sie sogar Dinge, die schon lange in ihnen schwelen, bisher nur noch nicht den geeigneten Adressaten gefunden haben, um angemessen reflektiert zu werden. So kommt es schließlich zu einer ungewohnten Vertrautheit mit einer Spannbreite von lustigsten Begebenheiten mit hintersinnigen Pointen, bis hin zu krassen Peinlichkeiten ungehobelter Typen. Kein Gedanke mehr an billige Abzocke, an griffbereites Reizgas oder gar an eine Nagelfeile.

Stattdessen regt sich zunehmend gegenseitige Neugier. Ständig entstehen neue Überlegungen und Themen, gefolgt von Erkenntnissen und Schlussfolgerungen, wie sie nur aus einer Art Seelenkongruenz resultieren können.

So will der Redefluss auch nicht abreißen, denn kaum ist ein Gedanke geboren, folgt die nächste Ergänzung und leitet wiederum ein weiteres Thema ein. Die Wirkung ist eine Art innere Befreiung von vielen verschwiegenen Dingen, die bisher noch nie das nötige Gehör gefunden haben.

Am erstaunlichsten aber bleibt, dass für einen Moment sogar der eigentliche Grund ihres Hierseins und die damit verbundenen Pflichten in den Hintergrund treten. Gerade dadurch empfindet Monique plötzlich eine natürliche Unbefangenheit, wie schon lange nicht mehr. Sogar Momente ihrer Kindheit tauchen plötzlich vor ihr auf, sodass sie beinahe übermütig wird und an Stellen lacht, wo es gar nicht passt. Aber dieses Seelenlabsal ist für sie so erquickend, dass sie sich selbst nicht mehr versteht und sich bei Dingen ertappt, die eigentlich gar nicht zu ihr passen. So verspürt sie nicht wenig Lust, ihn gegen die Brust zu buffen oder seinen Kopf zu wuscheln, wie sie es früher immer mit ihrem kleinen Bruder getan hat, wenn er einen Bock geschossen hatte.

Nachdem aber bereits die zweite Flasche geleert ist, setzt plötzlich eine gewisse Ernüchterung ein. Ihr Pflichtbewusstsein erwacht und sie fragt ihn, wie es nun weitergehen soll. Immerhin habe er nicht nur fürs Reden bezahlt – und Zeit ist bekanntlich Geld.

Zu ihrer Überraschung zeigt er sich jedoch nicht sonderlich interessiert, ohne das näher auszuführen. Das will Monique nicht in den Kopf und sie sucht den Fehler bei sich, zumal sie in dieser Frage noch nie aktiv werden musste. Auf ihre diesbezügliche Bemerkung erklärt er zu ihrer Verwunderung nur lapidar, so etwas auf Bestellung nicht zu können und auch nicht zu wollen. Immerhin sei dazu ein tieferes Gefühl vonnöten und dieses müsste erst wachsen. Alles andere sei blinder Automatismus und nicht das Ziel seines heutigen Besuches.

Erschrocken weicht sie vor ihm zurück. „Du nimmst mich jetzt doch nicht auf den Arm, oder?“

„Durchaus nicht.“

„Tut mir leid, aber irgendwie werde ich aus dir nicht schlau. Ich dachte immer, der Kick gehört dazu. Je stärker, umso größer die Lust. Liebe ist das freilich nicht, soll es ja auch nicht. Das wäre auch schlimm. Und wer will schon leiden, wenn er dafür bezahlt. Komische Logik, ich weiß. Aber so läuft das hier. Und jetzt sag‘ bloß, du hast was anderes erwartet?“

„Ich habe gar nichts erwartet. Wie kommst du darauf?“

„Weil die Regeln hier so sind.“

„Was kümmern mich die Regeln, wenn man auch ohne sie vergnügt sein kann.“

Plötzlich beugt sich Florian ein Stückchen vor und zupft einen imaginären Fussel von ihrem Schal. „Sag mal, warst du schon mal verliebt? Ich meine so richtig mit allem Drum und Dran?“

„Was ist denn das für eine Frage?“

„Eine ganz natürliche, wie ich finde.“

„Ich glaube nicht, dass dich das etwas angeht“, blockt Monique ihn schnöde ab, als hätte er damit an eine alte Wunde gerührt.

„Wusstest du, dass Mascha Kaléko die Briefe an ihren Mann immer mit L.d.m.e. beendet hat?“, fügt er noch hinzu.

„Wer ist das?“

„Eine österreichische Poetin, die durch einen zärtlich melancholischen Ton in ihren Werken bestach.“

„Aha.“ Ihr Gesicht ist jetzt eine einzige Frage. „Und was heißt das?“

„Nichts anderes als die Anfangsbuchstaben von ‘Liebst du mich eigentlich?‘. Keine Grüße und keine Küsse am Schluss des Briefes, sondern nur diese Frage. Ich rätselte immer, ob das eine Suche nach Bestätigung oder nur ein Zweifel war?“

„Ich denke, so etwas fragt man nur, wenn man die Antwort bereits kennt“, erwidert Monique sichtlich unterkühlt. „Aber was soll das jetzt? Warum zerstörst du unsere Romantik mit solch komischen Sprüchen?“

„Entschuldigung. Es war nicht meine Absicht. Ich wollte dich nicht verletzen“, reagiert er erschrocken.

„Keine Bange. Das kannst du gar nicht. Ich ärgere mich mehr über mich selbst.“

„Warum das denn?“

„Weil ich mich manchmal nicht unter Kontrolle habe.“

„Aber das geht doch jedem so.“

„Unter normalen Umständen ja. Hier ist das aber anders. Man muss Falschheit von Dummheit unterscheiden können. Mein Chef ist zum Beispiel falsch. Deshalb sollte man auch stets das Gegenteil seiner Aussagen glauben – dann liegt man richtig. Meine Freundin hingegen ist dumm, doch damit nicht genug. Sie ist sogar noch gutmütig. So was wird natürlich ausgenutzt, unter anderem auch durch mich.“

„Du bist erstaunlich offen.“

„Ich sage dir nur, wie die Zustände hier sind.“

„Sag mal, wie lange machst du das eigentlich schon?“, will er mit einmal wissen.

„Was soll das jetzt werden?“, reagiert Monique unverhofft schnippisch. „Große Fragestunde und moralische Appelle?“

„Unsinn. Ich wollte lediglich –“

„Und ob du das wolltest“, unterbricht sie ihn. „Aber keine Angst, ich habe schon begriffen. Erst einlullen, dann ausholen und dabei den verständigen Samariter mimen.“

Fassungslos starrt Florian sie an. Auf einmal ist ihm, als wäre er an einem sonnigen Tag ins Wasser gesprungen und an einem Eisblock zerschellt. „Was ist mit dir? Habe ich etwas falsch gemacht?“

„Blöde Frage. Bisher hast du noch gar nichts richtig gemacht.“ Verschnupft klemmt Monique ihr Täschchen unter den Arm. „Such dir ’ne andere, der du die Welt erklären kannst. Schönen Abend noch!“

Ohne sich noch einmal umzusehen, geht sie wieder an den Tresen zurück und lässt sich auf einem der Barhocker nieder.

„Nanu? War wohl nichts?“, wundert sich Yvette, welche die ganze Zeit lustlos an ihrem Shake nuckelnd die Kundschaft beobachtet hat.

„Nur heiße Luft.“ Forsch pustet Monique sich eine Strähne von der Stirn. „Und? Wie sieht es bei dir aus? Keine Beute in Sicht? Guck nur der kleine Dicke da drüben. Der passt doch in dein Schema.“

„Lenke nicht ab. Sag mir lieber, warum es mit dem nicht geklappt hat.“

„Na, was wohl. Der Typ ist ein Lackaffe Marke Moralapostel. Das Übliche halt.“

„Ach komm“, lässt Yvette nicht locker. „Irgendetwas ist doch. Man sieht es dir an der Nasenspitze an.“

„Blödsinn. Er hat versucht, mit mir zu spielen, und ich wäre fast drauf hereingefallen. Aber dann habe ich ihm gesagt, was ich davon halte, und das war’s.“

„Wirklich?“

Monique nimmt eine Fluppe aus ihrem Etui und zuckt nichtssagend mit den Schultern.

„Das ist ja wunderbar. Auf so etwas bin ich spezialisiert“, frohlockt die Freundin und gibt ihr Feuer. „Also werde ich mir diesen Burschen noch mal vorknöpfen. Ich war nämlich noch nicht fertig und werde ihm ein wenig den Kopf waschen. Vielleicht steht er darauf?“

„Das wirst du schön bleiben lassen“, fährt Monique sie überraschend an. „Der ist es doch gar nicht wert.“ Sie macht eine kleine Pause. „Außerdem würde es auffallen und uns beide unmöglich machen.“

„Seit wann kümmert dich denn das?“

„Seit jetzt.“

„Fang mir bloß nicht zu schwächeln an. Du weißt, das können wir uns nicht leisten.“

„Ach, leck mich …“

Dieser Abend ist endlos. Am liebsten würde Monique sich jetzt zu Hause in ihre kleine Wohnung verkriechen, darf sie aber nicht, denn ihr Vertrag mit Lotte verbietet das. Demnach ist sie verpflichtet, in der Kernzeit von zweiundzwanzig Uhr bis vier Uhr morgens präsent zu sein, unabhängig von der Besucherzahl. In dieser Frage lässt er nicht mit sich reden.

Ihr Stundenlohn beläuft sich auf maximal zehn Euro. Das ist nicht mal so viel wie ’ne Reinigungskraft verdient, geschweige denn Mindestlohn. Was die Sache fett macht, sind die Spesen, deren Höhe sich aber wiederum nach ihrem Umsatz bemisst. Dieser beläuft sich pro Freier im Schnitt auf zweihundert Euro. Das mit drei auf die Nacht multipliziert macht sechshundert. Diese Summe nunmehr auf zwanzig Nächte im Monat hochgerechnet, ergibt am Ende stattliche zwölftausend, wovon Lotte, der Betreiber des ›Lollipops‹, allerdings die Hälfte ‚abführen‘ muss. An wen, verrät er nicht. Er nennt das Betriebsgeheimnis und zwinkert nur schelmisch, sobald man danach fragt.

Dennoch beklagt er immer wieder den mageren Umsatz und mahnt mehr Effizienz in der Zeitausbeute an. Damit meint er, ihre Dienste durch einige Tricks anzureichern, sodass eine möglichst schnelle Abfertigung erfolgen kann, freilich ohne Zeitdruck zu erzeugen.

Gerade in letzter Zeit managt er seinen ›Lollipop‹ recht ordentlich und versteht, sich mit der Konkurrenz zu arrangieren. Sogar zur Polizei hat er einen guten Draht – darauf ist er besonders stolz. Mit Manne Feistel, dem zuständigen Kontaktbereichsbeamten, ein feister Kerl, der die Mädels immer schamlos anglotzt, duzt er sich schon seit geraumer Zeit. Summa summarum, Lotte hält seinen Stall sauber, sodass es, von gelegentlich kleineren Querelen abgesehen, kaum nennenswerte Probleme gibt.

Monique hat an diesem Abend kein Glück. Das liegt aber weniger an der Kundschaft als an ihrer miesen Stimmung. Das ist zwar selten, kommt aber schon mal vor. Dann mag sie keinen dieser Böcke sehen, hält sich an einem Drink fest und ist in Gedanken ganz woanders.

Dabei ist es im Moment besonders schlimm, denn es ist nicht einfach, die Laune und Allüren dieser Typen zu ertragen. Aber noch nie wurde sie abgewiesen. Dabei war es weniger die Abweisung selbst als vielmehr das Gefühl der Minderwertigkeit.

Als sich ihre beste Freundin Cheryl im letzten Winter mit einer Überdosis Crack das Leben nahm, hatte sie ähnlich empfunden. Niemals würde sie das matte Lächeln auf ihren bleichen Lippen vergessen, als sie ihren sterbenden Körper auf dem Boden in ihrem Zimmer liegen sah. Auch wenn inzwischen vieles passiert ist, was ein solches Bild normalerweise abschwächen sollte, hat sie es immer wieder vor Augen.

Inzwischen weiß sie längst, dass sie irgendwann ebenso enden wird, denn ab einem bestimmten Zeitpunkt gibt es kein Zurück mehr. Aber noch mag sie nicht daran denken. Das kommt ohnehin früh genug. Bis dahin will sie noch so viele ihrer Peiniger wie möglich schröpfen.

Yvette hingegen sieht das pragmatischer. Sie meint immer, jeder bekommt, was er verdient und selbst in jeder Demütigung läge letztlich ein Triumph. Ihrer Meinung nach erhöhen sich viele dieser Kerle nur deshalb künstlich, um damit die eigene Erbärmlichkeit zu überdecken.

Damit hat sie wohl auch recht, denn das Verrückte an der käuflichen Liebe ist, man bewegt sich ständig in einer Grauzone und kann somit gar nicht anders, als niederträchtig zu denken. Damit wird die Gosse aber zur Normalität und jeder Gedanke an moralische Wertungen absurd. Selbst wenn das ganze Geschäft am Ende nur auf einer Illusion beruht, ist das auf Dauer kein Trost. In einem solchen Klima kann man unmöglich bestehen, ohne Schaden an der Seele zu nehmen. Monique weiß das und verdrängt es, fürchtet aber, es irgendwann nicht mehr zu können.

 

Kapitel 3

 

Man kann über Lotte sagen, was man will. Er ist launisch, schräg, witzig und verschlagen, kurzum, ein durchtriebenes Schlitzohr, das hin und wieder über die Stränge schlägt, nur eines ist er nicht – blöd.

So fackelt er nicht lange, sobald es um seinen Vorteil geht und schert sich einen Dreck um die Folgen. Dennoch beweist er zuweilen auch einen erstaunlichen Instinkt. So hat er vor drei Jahren die heruntergekommene ›Nordische Elfe‹ für ’n Appel und ’n Ei aus der Konkursmasse seines insolventen Schwagers Norbert Dethleffson erstanden.

Dieser war seinerzeit wegen eines Verstoßes gegen das Abfallverbringungsgesetz in die Schlagzeilen geraten. Das eingeleitete Ermittlungsverfahren um drei Containerfrachter war für die Beteiligten teuer geworden. Allein durch das Abwracken am Gadani Beach in Pakistan hatten die Beschuldigten rund zehn Millionen Euro unterschlagen – Geld, das im Rahmen der Vermögensabschöpfung eingezogen werden sollte. Letzten Erkenntnissen nach soll sich dahinter ein Win-Win-Modell verborgen haben, bei dem die Schiffseigner die hohen Abwrackkosten nach europäischen Standards eingespart und gleichzeitig für das eigentlich schon aufgegebene Schiff von pakistanischen Schrotthändlern noch den Zeitwert kassiert haben. Ein Umstand, der nie vollständig geklärt werden konnte, zumal sein Schwager später gegenüber den Ermittlungsbehörden jede Schuld bestritt. Im Gegenteil, er begrüßte noch vollmundig die Bekämpfung von Umweltdelikten, sei sich aber selbst keines Vorstoßes bewusst. Die Durchsuchungen an einigen der besten Adressen in Hamburg, darunter das Alsterufer, die Palmaille oder die Großen Bleichen, welche als Beteiligungsgesellschaften oder Verwaltungsgesellschaften fungierten, verliefen auch noch erfolglos, sodass das Geld bis heute verschwunden bleibt.

Ein Schelm, wer Arges dabei denkt, dass Lotte es kurz danach schaffte, die ›Nordische Elfe‹, welche zu dieser Zeit am Boden lag und Haussubstanz sowie Inventar keinen Pfifferling mehr wert waren, unter dem Namen ›Lottis Pop‹ – später ›Lollipop‹ – wieder so weit aufzupeppen, dass er nunmehr sogar ernsthaft mit anderen Häusern der Szene konkurrieren kann. Seither hat er jedenfalls einen Namen. Und um ihn zu behalten, muss er sich ständig neu behaupten, selbst um den Preis größerer Risiken.

Natürlich gehört auch ein ordentliches Frauenteam dazu, welches er inzwischen aus einer bunten Mischung rekrutiert hat. Aber mal Hand aufs Herz – wen interessieren schon Herkunft und Bildung, wenn allein Optik und Engagement den Erfolg bestimmen. Man(n) will schließlich Spaß und keine sozialpädagogischen Vorträge.

Dass er es dabei mit dem Schutz von Minderjährigen oder den engmaschigen Einwanderungsbestimmungen nicht so genau nimmt, bleibt zweitrangig. Für einen Newcomer wie ihn zählt nur der Erfolg und der hat nun mal seinen Preis.

Aalglatt nennt man das oder conditio sine qua non. Aber was kümmert es ihn, solange der Umsatz läuft? Sicher mochten seine guten Beziehungen zur hiesigen Stadtverwaltung dabei förderlich gewesen sein, deren Beamten und Angestellten er mit Spaß und Charme gelegentlich einen vergnüglichen Abend versüßt – natürlich gratis und inkognito. ‚Es bleibt ja in der Familie‘, pflegt er dann augenzwinkernd zu scherzen, was Amtsrat Herbert Stresow allerdings nicht gern hört. Für ihn bleibt Lotte eine Unperson, die er natürlich offiziell nicht kennt. Dennoch muss er ihn dulden, da über seine Person wichtige Informationsstränge laufen. Nebenbei reflektieren sie natürlich auch die Stimmung seiner Belegschaft – ein wichtiges Führungskriterium eines jeden guten Leiters.

Gerade in jüngster Vergangenheit hat Lotte es als Kiezgröße so weit gebracht, dass selbst gewisse Persönlichkeiten der Hamburger Upperclass sein Etablissement als wichtigen Wirtschaftsfaktor akzeptieren. Selbstredend, dass Lotte seinem Status auch äußerlich entsprechen muss.

So trägt er ausnahmslos Hemden von Prada sowie Uhren von Gucci. Zudem ist eine goldene Halskette mit Sternchen sein Markenzeichen, welche durch sein stets um zwei Knöpfe geweitetes Hemd deutlich zur Geltung kommt.

Er selbst verfügt, trotz seiner Mitte fünfzig, über den Habitus und Gang eines Showmasters: erhaben, bodenständig und stets lächelnd. Obwohl ihm seine eng stehenden Augen und die vorspringende Nase etwas Vogelartiges verleihen, hält er sich, wenn schon nicht für attraktiv, so doch wenigstens für interessant. Zumindest verrät das sein oftmals spöttisches Lächeln, das niemals recht zu deuten ist. Das lässt ihn ebenso abenteuerlich wie undurchsichtig erscheinen. Und wenn er dann in kollegialer Runde noch ein paar derbe Sprüche klopft, ist man ganz gespannt, was er sonst noch zu bieten hat.

Heute ist ihm aber nicht danach. Den Grund dafür bietet Leo Pelzig, als Betreiber der ›Preißelbiene‹ sein schärfster Konkurrent. Neuerdings kratzt er an seiner Reviergrenze und provoziert durch illegale, großplakative Werbesprüche an Hausfassaden sowie Bushaltestellen. Dabei bezeichnet er das ›Lollipop‹ als billige Absteige pervertierter Pistengänger.

Lotte ist gerade dabei, diesen Schund von einem Stromverteilerkasten zu fetzen, als ihn – wie aus dem Nichts – zwei Typen fragen, ob er Lothar Büchel sei. Auf seine Rückfrage, wer das wissen will, bekommt er prompt eine Kopfnuss. Schon will er mit einem Deftigen: ‚Ey, habt ihr sie noch alle?‘ lospoltern, verkneift es sich aber aufgrund seiner offenkundigen Chancenlosigkeit.

Ohne weitere Erklärung wird er nun zu einem um die Ecke parkenden Bentley geleitet. Dort öffnet sich die linke Hintertür und Lotte wird ungefragt hineingeschoben. Notgedrungen lässt er sich auf der hinteren Sitzbank nieder.

Obgleich ihn dort umgehend ein Mann mittleren Alters äußerst zuvorkommend begrüßt, als wären sie beste Freunde, ist ihm dieser Typ völlig unbekannt und zudem noch unsympathisch.

„Ich habe die Ehre mit Herrn Büchel?“

„Hä?“ Lottes Gesicht ist eine einzige Frage. „Kennen wir uns?“

„O Entschuldigung. Ich hab mich ja noch gar nicht vorgestellt.“ Der Mann deutet eine leichte Verbeugung an. „Stelzfuß. Dr. Stelzfuß. Autorisierter Leiter von XIQ-Security, Spezialgebiet bevorrechtigte Personen, falls Ihnen das was sagen sollte.“

„Nö. Und ehrlich gesagt, interessiert es mich auch nicht.“ Entschlossen greift Lotte zum Türgriff.

„Aber, aber. Warum denn gleich so bissig? Ich habe doch nur höflich gefragt.“

„Hören Sie. Ich weiß ja nicht, was das werden soll. Aber im Moment habe ich wenig Zeit für solche Späße. Richten Sie also Pelzig aus, ich nehme seine Frechheiten nicht länger hin und erwäge rechtliche Schritte. Gleich morgen werde ich –“

„Wer ist Pelzig?“

„Wieso?“ Lotte zeigt sich verwundert. „Hat er Sie etwa nicht geschickt?“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Weil Ihre beiden Helfer mich am Entfernen seines Plakates gehindert haben.“

„Ach wirklich? Das war nur Zufall. Ich suche lediglich den Betreiber des ›Lollipops‹. Und das sind Sie doch, oder?“

„Allerdings.“ Stolz drückt Lotte seine Brust durch. „Und das mit Leib und Seele.“

„Sehen Sie, das freut mich sehr. Wie ich höre, läuft Ihr Geschäft recht gut.“

„Man hält sich über Wasser“, brabbelt Lotte, worauf Stelzfuß zweideutig lächelt, mit einer eleganten Handbewegung die Klappe der Mittelarmlehne öffnet, zwei Gläser entnimmt, diese mit einem aromatisch duftenden Getränk füllt und eines davon Lotte reicht. Dankend lehnt dieser mit dem Bemerken ab, während der Arbeit nichts zu trinken. Das wäre für ihn eine Frage des Prinzips.

„Ach, kommen Sie. Der eigentliche Job beginnt doch erst zu späterer Stunde, wurde mir berichtet. Dann setzen Sie Ihre Damen auf besonders lukrative Gäste an und achten penibel darauf, dass die gebuchten Zeiten auch nicht überzogen werden.“

„Wer erzählt so ’n Stuss!“, fährt Lotte auf. „Meine Bediensteten unterliegen weder einem Zwang noch einem Zeitlimit. Ganz im Gegenteil. Sie handeln völlig autark. Geld ist dabei sekundär. In erster Linie geht es um die Zufriedenheit der Kundschaft. Erst bei gegenseitigem Interesse kommt es zu einer Einigung mit entsprechendem preislichem Angebot. Gerade beim Einhalten unserer Geschäftsbedingungen bin ich äußerst penibel –“

„Auch mit Leuten wie diesem hier?

---ENDE DER LESEPROBE---