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Das falsche Spiel beginnt! Eine Woche lang wird Annie mit Kronprinz Karim in Zaafir residieren und seine Verlobte spielen, um seiner zukünftigen Regentschaft Stabilität zu verleihen. Er hält sie für ein Escort-Girl, das er fürstlich entlohnt. Dabei ist sie eine Sensationsreporterin, die einen entlarvenden Artikel über Karim schreiben muss! Doch unerwartet verliebt Annie sich in den Wüstenprinzen und er sich in sie. Zwischen ihnen wächst die Leidenschaft – und in Annies Herzen die Angst. Wie wird Karim reagieren, wenn er die Wahrheit über sie erfährt?
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Seitenzahl: 199
IMPRESSUM
JULIA erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© 2022 by Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Anne Taylor: „Im Wüstenpalast der verbotenen Träume“
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA, Band 162023 08/2023
Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 08/2023 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751518727
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Bring mir eine gute Story! Oder du bist raus!
Die Worte des Chefredakteurs Derek Collins klangen ihr noch immer in den Ohren, als Annie zitternd die Tür der Toilettenkabine hinter sich schloss und tief durchatmete. So weit durfte es einfach nicht kommen. Sie brauchte diesen Job unbedingt! Sie brauchte das Geld, um das teure Leben in London von sich und Heather bezahlen zu können! Ihre Schwester vertraute doch auf sie. Sie durfte sie nicht im Stich lassen!
Als freie Journalistin war sie allerdings darauf angewiesen, dass irgendeine Zeitung die Artikel, die sie geschrieben hatte, kaufen würde. In ihrem Fall war das in erster Linie der Newsflash, das billige Klatschblatt, dem sie die begehrte Einladung heute Abend zu verdanken hatte. Und es klang ja auch wirklich verlockend.
Schließlich war die Eröffnung des Karim’s das gesellschaftliche Ereignis des Jahres! Londons neuestes und größtes Luxushotel hatte zu seiner Eröffnung alles geladen, was in der Stadt Rang und Namen hatte. Errichtet worden war der Prunkbau mit seiner beeindruckenden Glasfassade, die sich quer über die Themse zu neigen schien, von seinem Namensgeber, dem zaafirischen Kronprinzen Karim al Selim Aga Bey.
Zaafir war ein kleines Königreich im Norden der Sahara, irgendwo zwischen Marokko und Algerien, soweit Annie wusste. Der Prinz, der sich als internationaler Investor betätigte, war sagenhaft reich und ließ offenbar keine Gelegenheit aus, sein Geld für sein Vergnügen und schöne Frauen zu verschwenden. Er war ein berüchtigter Playboy und Partylöwe.
Eigentlich nicht ihr Typ, auch wenn Annie zugeben musste, dass er beeindruckend gut aussah, mit seinem ebenmäßigen Gesicht und den unergründlichen, rabenschwarzen Augen. Aber natürlich entsprachen Fotos im Internet nur selten der Wirklichkeit. Und bei der Rede, die er kurz auf einem Podest am anderen Ende des Ballsaals gehalten hatte, war sie zu weit entfernt gewesen, um Realität und geschönte Hochglanzwelt vergleichen zu können.
Mit dem Karim’s hatte der Prinz sich wohl sein eigenes Denkmal erschaffen. Schon jetzt war der futuristische Bau eines der meistfotografierten Motive der Stadt, gleich nach dem Buckingham Palace, der Tower Bridge und Big Ben. Es hieß, dass eine Nacht in einer der luxuriösen Suiten, die von orientalischer Kultur inspiriert waren, an die achttausend Pfund kostete. Für schmalere Geldbörsen waren auch schon Zimmer für gut ein Viertel zu haben, aber es waren immer noch stolze Preise, sodass die Reichen und Schönen weitgehend unter sich bleiben konnten.
Zumindest ein Problem, mit dem Annie sich nicht herumzuschlagen hatte, auch wenn das ein schwacher Trost war. Was sie brauchte, war eine Story, wie ihr Chef es ihr eingebläut hatte. Irgendeinen saftigen Skandal oder zumindest eine Neuigkeit, die eine Schlagzeile hergeben würde. Aber obwohl der Ballsaal proppenvoll war mit jeder Menge Politikern, Promis und Möchtegern-Sternchen, war niemand dabei, der irgendeine sensationelle Enthüllung versprach. Und selbst wenn – die Konkurrenz war genauso begierig darauf wie sie! Es musste ein echter Knaller sein, etwas, womit kein anderer Journalist aufwarten konnte, sonst wäre Derek nicht interessiert. Nur, was sollte das bloß sein?
Um Mitternacht war noch eine Showeinlage mit einem Überraschungsgast geplant. Gemunkelt wurde, dass es sich dabei um Adele oder Ed Sheeran handelte. Sollte sie so lange warten? Aber es würde ihr wohl kaum gelingen, ein Interview mit Ed Sheeran zu ergattern – geschweige denn, ihm irgendein pikantes Geheimnis zu entlocken. Tränen der Frustration und der Verzweiflung traten Annie in die Augen. Was sollte sie nur tun? Keine Story – kein Geld! Und ohne Geld würde sie bald auf der Straße landen.
Sie hoffte, dass es ihr mit einem guten Artikel gelingen würde, eine Festanstellung beim Newsflash angeboten zu bekommen, und nicht mehr nur von sporadischen Aufträgen abhängig zu sein. Auch wenn diese Art der Berichterstattung nicht unbedingt das war, wovon sie in der Schule geträumt hatte. Damals hatte sie sich als ernsthafte Journalistin gesehen, die für die Times oder eine andere renommierte Zeitung schrieb. Aber wie so viele andere Träume ihrer Kindheit war auch dieser unerfüllt geblieben.
Trotzdem würde sie nicht so rasch aufgeben, schon um Heathers willen nicht. Mit letzter Kraft versuchte Annie, ihren Kampfgeist zu wecken, auch wenn sie sich müde und ausgelaugt fühlte. Irgendetwas musste sich einfach auftun!
Seufzend strich sie das Abendkleid glatt, das sie extra für diesen Abend in einem Second Hand-Laden erstanden hatte – es war aus schwerem rotem Satin mit einem tiefen Ausschnitt und so eng geschnitten, dass sie kaum atmen konnte. Aber eine andere Größe war nicht verfügbar gewesen. Ihr Haar, das kinnlang und in einem geraden Bob geschnitten war, hatte sie mit viel Gel nach hinten gekämmt, während Rouge und Smokey Eyes den Kristen-Stewart-Look komplett machten.
Eigentlich war sie ganz zufrieden mit ihrem Aussehen gewesen, als sie sich auf den Weg zum Karim’s gemacht hatte. Sie wusste, dass sie keine klassische Schönheit war, aber sie hatte die Erfahrung gemacht, dass die Männer ihr trotzdem gerne hinterhersahen. Dennoch war das Kleid eine Fehlinvestition gewesen, wenn es heute keine Story gab. Sie sah sich schon am Montag damit zurück in den Laden gehen, um es weiterzuverkaufen – natürlich mit Verlust.
Was für eine Pleite! Annie spürte eine lähmende Angst in sich aufsteigen, die ihr beinahe die Kehle zuschnürte, aber sie kämpfte verzweifelt dagegen an. Nur nicht weinen! Sie würde schon irgendetwas finden, worüber sie schreiben konnte und das Derek, ihr Boss, drucken würde. Wenn nicht …
Die Tür zum Waschraum flog auf, und lautes Kichern war zu hören. Annie verdrehte die Augen. Hatte man nicht einmal mehr auf der Toilette seine Ruhe?
„Ich bin ja so aufgeregt! Ich bin ja so aufgeregt! Ich bin ja so aufgeregt!“, wiederholte eine hohe, quietschende Stimme immer wieder. „Ich konnte es einfach nicht glauben, als mich Madame Lin angerufen hat. Der Prinz!“
„O Mann, ich beneide dich so sehr!“, rief eine zweite weibliche Stimme. „Der Prinz!“
Annie hielt die Luft an.
„Und Madame Lin hat gesagt, ich soll mir die ganze Woche freinehmen. Wir fliegen irgendwo hin. O Gott, ich hoffe, es ist St. Barth! Ich war noch nie auf St. Barth!“
„Du bist so ein Glückspilz“, erklärte die zweite Frau schwärmerisch. „Ein echter Prinz. O Mann, ich würde sonst was geben, um an deiner Stelle zu sein. Ich erwische immer nur Politiker, die alle schon jenseits der fünfzig sind. Das ist sooooo alt!“
„Und ich bekomme eine komplette neue Garderobe!“, quietschte die erste junge Frau weiter. „Ich hoffe nur, er will nichts Unanständiges von mir. So was mache ich nämlich nicht. Das habe ich auch Madame Lin gesagt. Aber sie meinte, es wäre rein geschäftlich. Vielleicht bekomme ich ja ein Diamantarmband! O Gott, ich hoffe, ich bekomme ein Diamantarmband!“
Beide kreischten vor Begeisterung um die Wette. Annie runzelte die Stirn. War der Prinz, von dem sie redeten, etwa …?
„Aber ich darf eigentlich niemandem erzählen, dass ich mit Karim Bey unterwegs bin“, fügte die Auserwählte hinzu. „Es ist ein großes Geheimnis. Ich hoffe wirklich, dass ich ein Diamantarmband bekomme!“
Annie versuchte fieberhaft, die Bruchteile an Informationen zu kombinieren: Prinz Karim Bey, der Besitzer dieses Hotels, hatte das Mädchen vor ihrer Kabinentür zu sich geordert, vermittelt von einer gewissen Madame Lin. Das Ganze roch nach einem Callgirl-Ring oder Escort-Service. Annie hätte nicht gedacht, dass ein Playboy wie Karim Bey so etwas nötig hatte. Aber was wusste sie schon. Und vielleicht ergab sich ja dadurch eine Möglichkeit …
„Ich soll mit der Einladung, die Madame Lin mir gegeben hat, in seine Penthouse-Suite kommen“, berichtete das Mädchen inzwischen weiter. „Ich wünschte wirklich, du könntest mitkommen. Das wäre sooooo cool. Aber es geht leider nicht. Der Prinz will nur mich sehen.“
„Bist du dem Prinzen denn schon mal begegnet?“, fragte ihre Freundin ehrfürchtig.
„Noch nie. Ich hoffe, er sieht in Wirklichkeit so gut aus wie auf den Fotos. O Gott, ich bin ja so aufgeregt! Ich glaube, ich falle gleich um!“
Annie stand auf. Diese Begegnung auf der Toilette war ihre Chance, Prinz Karim Bey zu treffen und eine Story über ihn zu schreiben, egal was. Es war die einzige Chance, die sie im Moment sah, und sie würde sie nutzen. Es blieb ihr gar nichts anderes übrig. Entschlossen schob sie den goldglänzenden Riegel, der die Kabinentür geschlossen hielt, zurück und trat in den Waschraum. Mit einer raschen Bewegung hob sie ihren Presseausweis hoch und ließ ihn ebenso blitzschnell wieder sinken.
„Metropolitan Police“, stellte sie sich den zwei Mädchen, die vor ihr standen, barsch vor. Beide waren etwa zwanzig Jahre alt, beide trugen fast identische silberschimmernde Pailletten-Minikleider und schwindelerregende High Heels. Und beide hatten lange blonde Haare, die hübsche, aber nichtssagende, perfekt geschminkte Gesichter umrahmten. Die Mädchen schrien auf, entweder, weil Annies plötzliches Auftauchen sie erschreckt hatte, oder weil sie tatsächlich Angst vor der Polizei hatten, wie Annie hoffte.
„Wir veranstalten hier im Karim’s eine Razzia“, fuhr Annie ungerührt fort. „Ich habe eure Unterhaltung mit angehört und muss euch mit aufs Revier nehmen. Wenn mich nicht alles täuscht, liegt hier ein Vergehen nach Paragraf 764 der Strafgesetzordnung vor. Das kann euch ins Gefängnis bringen, meine Süßen! Sittenwidriges Verhalten ist ein schweres Vergehen.“
Der Paragraf war natürlich frei erfunden, aber die Mädchen schienen davon zum Glück keine Ahnung zu haben. Sie kreischten verzweifelt und schüttelten die Köpfe. „Nein, bitte … wir können Ihnen alles erklären … o bitte, bitte, verhaften Sie uns nicht!“
Annie behielt eine undurchdringliche Miene. Das lief ja besser als erwartet! „Es tut mir wirklich leid für euch beide, weil ich das Gefühl habe, dass ihr ganz unschuldig in diese Sache hineingerutscht seid …“
„O ja, das sind wir! Das sind wir!“, schrien die zwei im Chor. Und eine von ihnen ergänzte: „O Gott, wenn meine Eltern das erfahren, bringen sie mich um!“
Annie tat so, als müsste sie überlegen. „Also schön, hört zu! Ich will noch mal ein Auge zudrücken, aber das darf niemand erfahren, unter gar keinen Umständen, habt ihr mich verstanden? Sonst bin ich meinen Job los!“
Wem sagte sie das!
Die Mädchen nickten so heftig, dass sie auf ihren High Heels beinahe das Gleichgewicht verloren. „O ja, o ja, o ja! Wir erzählen es keiner Menschenseele, versprochen. Aber bitte, bitte, lassen Sie uns laufen!“
„Ich sage euch, was wir machen. Ihr überlasst mir diesen Wisch, den Madame Lin euch gegeben hat und verschwindet aus dem Hotel, so schnell ihr könnt. Dann taucht ihr für mindestens eine Woche unter. Ihr verlasst das Haus nicht und nehmt mit niemandem Kontakt auf. Wenn mir zu Ohren kommt, dass ihr euch nicht an meine Anweisungen gehalten habt, dann werde ich euch finden. Ich habe meine Wege, glaubt mir. Und dann lasse ich euch in das finsterste Loch sperren, das London zu bieten hat. Klar?“
Wieder nickten die Mädchen mit angstgeweiteten Augen. Diejenige, die zuvor ihre Eltern erwähnt hatte, atmete so heftig, dass Annie Angst bekam, sie würde gleich umkippen. Sie streckte eine Hand aus und entriss ihr die Einladung. „Dann verschwindet jetzt! Und zwar pronto! Wenn ich in fünf Minuten in die Lobby komme und ihr seid noch da, war es das …“
„Nein, nein, wir verschwinden!“, riefen die beiden mit sich überschlagenden Stimmen. „Wir sind schon weg. Danke! Oh, danke!“
Sie stolperten auf ihren High Heels aus dem Waschraum und zwängten sich zusammen durch die Türe nach draußen. Grinsend betrachtete Annie das Schreiben auf schwerem weißem Büttenpapier, das sie in der Hand hielt. Ihre Rettung! Jetzt ging es endlich bergauf mit ihr!
Mit einem Glas Single Malt Whiskey in der Hand stand Karim auf der Dachterrasse seiner Penthouse-Suite und blickte hinunter auf die Stadt, die er heute Abend im Sturm erobert hatte und die ihm jetzt im wahrsten Sinne des Wortes zu Füßen lag. Zu seiner Linken konnte er das hellerleuchtete Rund des London Eye ausmachen, rechts erhob sich die Tower Bridge in der Dunkelheit, angestrahlt von unzähligen Lichtern, die der Brücke den Anschein gaben, als würde sie über der Themse schweben. Der Lärm der Stadt drang nur gedämpft und wie aus weiter Ferne zu ihm.
Obwohl heute der bisher erfolgreichste Tag seines Lebens war, fühlte Karim sich erschöpft und ruhelos. Er sollte diese Eröffnungsfeier genießen, in der Begeisterung der Massen baden und sich von den Anwesenden beglückwünschen lassen. Das Karim’s war sein Baby, sein großes Projekt, das er konzipiert und in allen Details geplant hatte. Er hatte die besten Handwerker und Firmen engagiert, um seine Vorstellungen umzusetzen. Alles war genau so gelaufen, wie er es sich ausgemalt hatte.
Wieso fühlte er sich dann nicht glücklich? Oder zumindest zufrieden? Er war der König von London!
Dabei wollte er kein König sein, weder im übertragenen noch im realen Sinn. Er liebte sein Leben hier in London – die ferne Heimat kannte er doch kaum. Trotzdem lag dort angeblich seine „Bestimmung“, wie seine Eltern nicht müde wurden, ihn zu erinnern. Vom Tag seiner Geburt an war er darauf vorbereitet worden, irgendwann die Herrschaft über Zaafir zu übernehmen, die Verantwortung für die Menschen seines Landes zu tragen und sein Leben in ihren Dienst zu stellen.
Es wurde von ihm erwartet, dass er seine Pflicht erfüllte, so wie seine Eltern es vor ihm getan hatten. Und all die anderen Könige seines Landes. Dabei wollte er einfach nur er selbst sein – Karim Bey, 34 Jahre alt, Oxford-Absolvent, Geschäftsmann. Er wollte seine Träume verwirklichen, etwas erreichen, seinen eigenen Weg gehen. Und nicht einem vorbestimmten Schicksal folgen …
Karim warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war schon nach Mitternacht. Das Mädchen von der Agentur verspätete sich. Ein Anflug von Ärger stieg in ihm auf. Er hasste Unpünktlichkeit.
Und er hasste es zu warten.
Zur Untätigkeit verurteilt zu sein.
Mehr als alles andere wollte er sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. So wie er das Karim’s selbst entworfen und exakt nach seinen Vorstellungen hatte bauen lassen. Doch genau das war es, was ihm in Zaafir verwehrt sein würde. Ungefragt tauchte wieder die Erinnerung an jenen Tag vor mehr als 25 Jahren in seinem Kopf auf. Er war damals sieben oder acht Jahre alt gewesen, ein neugieriger, abenteuerlustiger Junge, der alles tat, um seinen Eltern das Leben schwer zu machen.
Er hatte einen Durchgang in der Mauer, die den Königspalast umgab, entdeckt und war einfach ausgebüxt. Was für ein herrliches Gefühl es gewesen war, allein und ohne ständige Begleiter durch die Straßen von Amar, der Hauptstadt von Zaafir, zu streifen! Tief hatte er alles, was er sah, in sich aufgenommen. Die bunten Marktstände, an denen exotische Gewürze, Obst und duftendes Brot angeboten wurden. Den Müll und Unrat, der sich in den Hinterhöfen stapelte. Das Lachen der Menschen, die an ihm vorbeigingen, ohne ihn zu beachten.
Das war Freiheit, war ihm bewusst geworden. Hier kannte ihn niemand, hier behandelte ihn niemand, als wäre er etwas Besonderes. Er konnte tun und lassen, was er wollte.
Auf einer Wiese entdeckte er ein paar Kinder, die Fußball spielten. Als sie ihn einluden, mitzumachen, vergaß er alles um sich herum. Er lebte nur in diesem Augenblick, schrie und kreischte mit den anderen um die Wette, balgte sich um den Ball und jubelte, wenn er ein Tor schoss. Er fühlte sich so glücklich wie noch nie zuvor in seinem Leben!
Doch plötzlich veränderte sich die Stimmung. Als er sah, wie die Kinder erstarrten und ihn aus großen Augen anstarrten, wusste er, was geschehen war. Hinter ihm stand eine Abordnung bis an die Zähne bewaffneter Bahiri, die mit ihren Gewehren auf die Kinder zielten. Im Nu waren die Kinder auseinandergestoben, ohne sich noch einmal nach ihm umzusehen.
Doch den Ausdruck in ihren Augen hatte er nie vergessen. Es war derselbe Blick gewesen, mit dem er in Zaafir auf Schritt und Tritt stets bedacht wurde – eine Mischung aus Furcht, Ehrerbietung und Bewunderung. Aber niemals wieder hatte er jene uneingeschränkte Unbeschwertheit erlebt wie mit den Kindern während ihres fröhlichen Fußballspiels.
Seit diesem Tag wusste er, dass er in einem goldenen Käfig lebte – und dass er niemals wirklich entkommen konnte!
Zielstrebig durchquerte Annie die Lobby. Sie suchte nach einem Aufzug, der sie zum Penthouse des Prinzen bringen würde. Für einen Moment richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf einen riesigen Bildschirm, auf dem die Feier im Ballsaal übertragen wurde. Die Lichter in dem riesigen Raum waren gelöscht worden und von irgendwoher erklangen die ersten Takte von Rolling in the deep, gefolgt von begeisterten Rufen und Applaus. Also doch Adele … Doch das interessierte sie nicht mehr. Sie hatte jetzt ein neues Ziel vor Augen.
Nachdem sie vergeblich die verschiedenen Lifte, die von der Eingangshalle in die oberen Stockwerke führten, gecheckt hatte, entdeckte sie in der hintersten Ecke einen weiteren Aufzug, vor dem ein Sicherheitsbeamter im dunklen Anzug und mit einem verräterischen Knopf im Ohr in lässiger Pose Wache hielt. Trotzdem konnte Annie sehen, dass er seine Umgebung sehr genau im Auge behielt. Das musste es sein!
Der Security-Mitarbeiter hob abwehrend eine Hand, als sie sich ihm näherte. „Nur für private Zwecke, Madam. Bitte nehmen Sie einen der anderen Aufzüge!“
Annie streckte ihm das Schreiben, das sie dem Mädchen abgeknöpft hatte, entgegen. „Prinz Karim erwartet mich. Das wissen Sie sicherlich.“ Ihr wurde klar, dass sie etwas zu forsch auftrat, deshalb fügte sie leicht kichernd hinzu: „Ich bin ja so aufgeregt!“
Der Sicherheitsbeamte warf einen kurzen Blick auf das Schreiben, dann musterte er sie prüfend von oben bis unten. Das rote Kleid erwies sich doch noch als Glücksgriff. Mit dem tiefen Ausschnitt und so eng, wie es saß, ging sie ohne Weiteres als Callgirl durch. Annie bemühte sich, lasziv und gleichzeitig naiv zu blicken. Das Herz schlug ihr allerdings bis zum Hals. Was, wenn der Typ ein Foto von der Frau, die erwartet wurde, hatte?
Aber zu ihrer Erleichterung nickte er nur und öffnete für sie die Lifttüren. Er drückte den einzigen Knopf, den es gab. „Der Boss ist schon oben“, knurrte er. „Sie sind spät dran!“
„Sorry, ich war …“, lispelte Annie betont niedergeschlagen, aber in diesem Augenblick schoben sich die Lifttüren zu und ersparten es ihr, eine Ausrede zu erfinden. Die Wände der Liftkabine waren mit kobaltblauem Samt gepolstert, ein dicker Teppich, der jedes Geräusch schluckte, bedeckte den Boden. Aus versteckten Lautsprechern ertönte dezente Aufzugmusik. Während der Lift lautlos nach oben glitt, spürte Annie plötzlich, wie ihr die Hände feucht wurden.
War das Ganze wirklich eine so gute Idee? Sich einfach einem wildfremden Mann auszuliefern, über den sie nicht das Geringste wusste, abgesehen davon, was man in den Klatschblättern und auf Social Media lesen konnte? Was, wenn der Prinz da oben in seinem Penthouse über sie herfiel? Wenn er sie in seine Heimat verschleppte, um sie seinem Harem einzuverleiben – falls er einen Harem besaß? Hatte die Blondine nicht gesagt, er wolle mit ihr verreisen?
Annies Herzschlag beschleunigte sich. Wenn sie in ihrem Eifer – und ihrer Verzweiflung – da mal nicht einen kapitalen Fehler gemacht hatte! Aber sie brauchte eine Story, egal, was es auch sein mochte. Oder sie und Heather konnten sich einen Schlafplatz unter der nächsten Brücke suchen. Ihre Zukunft hing von dieser Nacht ab.
Und jetzt, stellte Annie nüchtern fest, als der Lift anhielt und die Türen sich lautlos öffneten, war es ohnehin zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen!
„Sir, die Dame von der Agentur ist hier!“
Karim drehte sich um, als sein Butler zur Seite trat und den Blick freigab auf die Person, die hinter ihm auf die Terrasse getreten war. Das war nicht, was er erwartet hatte …
Die junge Frau, die ihn mit unverhohlener Neugierde betrachtete, war wunderschön, auf eine eigenwillige und sehr spezielle Weise. Sie war nicht die glattgebügelte Model-Schönheit, wie er sie schon bei verschiedenen Gelegenheiten kennengelernt hatte. Diese Frau strahlte Persönlichkeit und Charisma aus. Ihr Look war sinnlich-elegant, ihre Züge waren weich und feminin, auch wenn ihr Kinn in diesem Augenblick kämpferisch gereckt war und sie die Hände zu Fäusten geballt hatte, wie er bemerkte. Sie wirkte unsicher, aber dennoch entschlossen. Eine sehr verführerische Mischung, wie er fand.
Sie war auch deutlich älter als die Girlies, die üblicherweise von Madame Lin vermittelt wurden. Er schätzte sie auf Ende zwanzig. Das rote Kleid, das sich eng an ihren Körper schmiegte, brachte ihre weiblichen Rundungen perfekt zur Geltung. Zu seiner eigenen Überraschung verspürte Karim bei ihrem Anblick heftiges Begehren in sich aufsteigen. Ein Begehren, das er schon seit langer Zeit nicht mehr empfunden hatte.
In den letzten Monaten war all seine Energie auf die Errichtung des Hotels konzentriert gewesen. An Frauen hatte er kaum einen Gedanken verschwendet. Erst wollte er dieses Projekt verwirklichen und der Welt beweisen, dass mehr in ihm steckte als der sorglose Playboy-Prinz, den alle in ihm zu sehen schienen. Doch jetzt regte sich in ihm ein Verlangen, das er in dieser Intensität nicht kannte.
Vor ihm stand unbestreitbar eine schöne Frau, aber er war es gewohnt, sich in der Gesellschaft verführerischer Schönheiten zu befinden. Sie erregten ihn, natürlich, aber nur in einem rein körperlichen Sinn. Das Gefühl, das ihn jetzt erfasst hatte, ging tiefer. Viel tiefer, als er es jemals für möglich gehalten hätte. Diese Frau schien ein Geheimnis zu verbergen, und er wollte es ergründen, mit jeder Faser seines Körpers …
Als ihm bewusst wurde, dass er sie schon seit einer ganzen Weile anstarrte, räusperte er sich. „Ich bin Karim Bey, der Besitzer dieses Hotels. Und dein Name ist …?“
Sie zögerte kurz. „Anne.“ Ihre Stimme hatte einen leicht rauchigen Unterton. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und schien eine Hand nach ihm ausstrecken zu wollen, überlegte es sich aber dann anders. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, als sie ihm ein strahlendes Lächeln schenkte, das allerdings nicht ganz echt wirkte. „Ich freue mich wirklich, hier zu sein. Das ist – ein ganz besonderer Auftrag, wirklich. Ich bin schrecklich aufgeregt!“
Ihre Stimme, die eben noch dieses wohlige Kribbeln in ihm ausgelöst hatte, wurde eine Oktave höher, klang plötzlich wie die eines kleinen Kindes. Karim empfand einen Hauch von Enttäuschung. Das, was sie da sagte, klang so – albern und belanglos. Das Bild, das ihr Anblick in ihm heraufbeschworen hatte und das ihm so nahe gegangen war, zerfiel mit einem Schlag in tausend Scherben. Sie war ja doch nur ein gewöhnliches Escort-Girl, das sich für Geld jedem Mann an den Hals warf, der ihre Dienste einforderte. Umso besser, dachte er, ohne zu wissen, warum eigentlich. Er hatte ihr einen geschäftlichen Vorschlag zu unterbreiten, mehr nicht.
„Das freut mich. Was hat Madame Lin dir über diese Angelegenheit erzählt?“ Mit einem Nicken bedeutete er seinem Butler, sich zurückzuziehen.
Sie zuckte mit den Schultern. „Nicht sehr viel. Nur, dass ich hierherkommen soll. Und dass wir verreisen werden. Sie sagte aber, dass ich kein Gepäck benötige.“ Sie warf ihm einen koketten Blick zu, als würde es ihr nichts ausmachen, gegebenenfalls auch nackt mit ihm in ein Flugzeug zu steigen.