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AUF DER LIEBESINSEL DES STOLZEN GRIECHEN von ANNE TAYLOR Der smarte Investor Nick Stephens hat alles, was man sich wünschen kann: Macht, Geld und Anerkennung. Nur eine Familie wollte er nie. Aber für einen Besuch bei seinen Eltern in Griechenland braucht er Frau und Kind. Kann seine tüchtige Assistentin Annabelle ihm helfen? FLAMENCO UND HEISSE LEIDENSCHAFT von FIONA MCARTHUR Wie er Flamenco tanzt, überwältigt sie. Mit dem spanischen Arzt Felipe erlebt die junge Hebamme Cleo eine leidenschaftliche Nacht, in dem Glauben, ihn nie wiederzusehen. Doch am nächsten Tag bittet Felipe sie, ihn nach Barcelona zu begleiten – allerdings rein beruflich… TRAUE NIEMALS EINEM MILLIARDÄR von CAROL MARINELLI Lydia ist verzweifelt. Um ihre Familie vor dem Ruin zu retten, soll sie einen Wildfremden heiraten! In Rom trifft sie Milliardär Raul Di Savo – den Erzfeind ihres zukünftigen Mannes. Mit ihm verbringt sie unvergesslich sinnliche Stunden. Und die bleiben nicht ohne Folgen … PRICKELNDES SPIEL MIT DEM RIVALEN von JOSS WOOD Winzer Muzi will seinen Erfolg mit einer seltenen Rebsorte sichern. Die befindet sich jedoch auf dem Weingut der süßen Ro. Kann Muzi sie zum Verkauf bewegen? Dass seine Rivalin heiße Gefühle in ihm weckt, ist nicht hilfreich. Muzi braucht einen klaren Kopf – oder alles ist vorbei!
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Seitenzahl: 703
Anne Taylor, Fiona McArthur, Carol Marinelli, Joss Wood
ROMANA EXTRA BAND 121
IMPRESSUM
REIHE erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe REIHE, Band 1234 MONAT/2022
© 2022 by Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg für Anne Taylor: „Auf der Liebesinsel des stolzen Griechen“
© 2020 by Fiona McArthur Originaltitel: „Second Chance in Barcelona“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Susann Rauhaus
© 2021 by Joss Wood Originaltitel: „How to Tempt the Off-Limits Billionaire“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Bettina Ain
Erste Neuauflage in der Reihe REIHE, Band 1234 MONAT/2022
© 2017 by Carol Marinelli Originaltitel: „The Innocent’s Secret Baby“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Valeska Schorling Deutsche Erstausgabe 2017 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA EXTRA, Band 442
Abbildungen: Name
Veröffentlicht im ePub Format in MONAT/2022 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751508179
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY
Eine Reise auf eine griechische Trauminsel – zusammen mit ihrem sexy Boss Nick Stephens! Annabelle kann ihr Glück kaum fassen. Allerdings darf Nick auf keinen Fall ihr Geheimnis erfahren …
Felipe Gonzales hält nichts von Romantik. Als Arzt hat er genug mit den Problemen seiner Patienten zu tun. Bis die junge Cleo sinnliche Gefühle in ihm entfacht. Aber eine Beziehung? Niemals!
Sie ist blond, schön, atemberaubend – und die zukünftige Frau seines Erzfeindes. Wenn Milliardär Raul Di Savo die umwerfende Lydia verführt, könnte er seinen Gegenspieler empfindlich treffen …
Die junge Ro hat ein Vermögen geerbt, trotzdem ist sie nicht glücklich. Erst der attraktive Winzer Muzi lässt sie wieder an die Liebe glauben. Doch sie spürt: Er verbirgt etwas vor ihr!
„Ich verstehe dich, Elena. Und ich werde mein Möglichstes tun …“
„Das reicht nicht! Du musst kommen, Nikos! Die Feier ist schon nächste Woche.“ Die Stimme seiner Schwester klang drängend, fast flehentlich. „Du weißt, wie viel es ihnen bedeuten würde, endlich deine Frau und dein Kind kennenzulernen. Vor allem, seit Carla zurück nach Athen gegangen ist. Unsere Eltern haben doch nur noch uns beide. Und deine Familie!“
Nick stand vom Schreibtisch auf und wandte sich zum Fenster um. Von seinem Büro aus konnte er das Londoner Regierungsviertel mit den Houses of Parliament und dem berühmten Big Ben überblicken. Auf der anderen Seite der Themse ragte ein Rohbau auf, umgeben von Gerüststangen und eingehüllt in grüne Netze: der Stephens-Tower. Sein Turm. Sein Vermächtnis an diese Stadt.
Hier war er Nick Stephens, der prominente Investor, der jedes seiner Projekte zum Erfolg führte, und nicht mehr Nikos Stepanides, der Bauernsohn von einer winzigen Insel in der griechischen Ägäis.
Vor fünfzehn Jahren war er vollkommen mittellos nach England gereist. Heute zählte er zu den bekanntesten und wohlhabendsten Bürgern der Stadt. Mit dem Stephens-Tower würde er ihr nun sogar ein neues Wahrzeichen verschaffen. Die gebogene Glasfassade verlieh dem Turm den Anschein, als wäre er ein Segel, das sich im Wind blähte. Nick zweifelte nicht daran, dass der Stephens-Tower zu den beliebtesten Fotomotiven der Stadt zählen würde, sobald die Bauarbeiten abgeschlossen waren.
Er konnte wirklich stolz auf sich sein. Darauf, was er in diesen fünfzehn Jahren erreicht hatte. Die Redewendung vom Tellerwäscher zum Millionär hatte er buchstäblich erfüllt. Tatsächlich war sein erster Job in der Kantine jener Firma gewesen, die er vor fünf Jahren übernommen hatte. Mit Fleiß, Mut und Durchhaltevermögen hatte er sich das Wissen angeeignet, das er brauchte, um sich die Karriereleiter ganz nach oben zu arbeiten. Seine Investmentfirma operierte weltweit und hatte zahlreiche internationale Niederlassungen. Und als CEO der Stephens Corporation war er gefürchtet, geachtet und respektiert.
„Nikos!“, durchbrach Elenas Stimme seine Überlegungen. „Bitte, denk darüber nach. Wir können es alle kaum erwarten, dich wiederzusehen! Wie lange ist das schon her?“
„Zwei Jahre“, antwortete er mechanisch. Seit …
„Natürlich, seit Alexandros’ Begräbnis“, sprach sie seinen Gedanken laut aus. „Sie haben es immer noch nicht verwunden, dass ihr ältester Sohn tot ist. Wie auch. Keiner von uns kann es glauben. Sie brauchen dich! Du bist jetzt ihr einziger Sohn. Ihre ganze Stütze. Es hat sie tief getroffen, als du damals weggegangen bist und Illios den Rücken gekehrt hast. Lass sie nicht noch einmal im Stich …“
„Ich verstehe dich ja“, wiederholte er, ohne wirklich auf ihre Worte einzugehen. „Aber wie ich schon sagte, ich weiß nicht, ob ich es so kurzfristig einrichten kann. Ich habe im Moment mit dem Bau des Stephens-Tower alle Hände voll zu tun. Aber ich werde sehen, was ich tun kann.“
„Ja, natürlich. Danke.“
Er merkte, dass er Elena verletzt hatte. Alles ruhte in diesen Tagen auf ihren Schultern. Seit Alexandros’ Unfall war sie die Einzige, die sich um ihre Eltern kümmern konnte. Nur ihr Mann Christianos unterstützte sie dabei. Doch er arbeitete als Lehrer an der Inselschule und hatte kaum Zeit für den Hof. Soweit Nick informiert war, hatte Elena inzwischen die Leitung des Betriebs übernommen. Ihre Eltern betrieben auf Illios eine Olivenplantage, so wie schon ihre Eltern und deren Eltern vor ihnen. Die Stepanides waren Oliven-Bauern, und diese Tradition musste aufrechterhalten werden, wenn es nach seinem Vater ging.
Dass Nick mit dieser Tradition gebrochen hatte, dass er Illios verlassen und sein Glück in England gesucht hatte, war immer noch ein wunder Punkt zwischen seinem Vater und ihm. Trotz allem, was er erreicht und sich aufgebaut hatte, hofften seine Eltern immer noch, dass er nach Illios zurückkehren und in den Familienbetrieb einsteigen würde. Umso mehr, seit sein älterer Bruder Alexandros bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Offenbar hatte dessen Witwe Carla nun auch ihre Koffer gepackt und war mit den beiden Kindern zu ihrer Familie nach Athen zurückgekehrt. Ein weiterer schmerzhafter Abschied für seine Eltern …
Nick seufzte. Wie sollte er ihnen nur verständlich machen, dass er niemals zurückkehren würde? Dass er nicht vorhatte, sein luxuriöses Leben in London gegen die harte Arbeit auf dem Hof zu tauschen? All sein Geld und seine Erfolge zählten nichts im Vergleich zur Familientradition.
Bei Alexandros’ Beerdigung hatte es deshalb einen Streit gegeben – der zu jener Behauptung geführt hatte, die ihm jetzt zum Verhängnis zu werden drohte …
Ein Klopfen an der Bürotür ließ ihn herumfahren. Gary Carlisle, der Architekt des Stephens-Tower und sein bester Freund, steckte den Kopf durch den Spalt.
„Störe ich dich gerade, Nick?“
„Nein, natürlich nicht. Komm rein.“
Rasch trat er vom Fenster zurück. Die Arbeit rief, und er war froh, seine Gedanken auf etwas anderes als seine vertrackte Situation konzentrieren zu können.
„Ich brauche dein Okay für eine kleine Änderung“, erklärte Gary und breitete einen Plan des Towers auf dem Besprechungstisch aus.
Nicks Büro erstreckte sich über die halbe Etage des Gebäudes. Gary merkte nur allzu oft an, dass man in dem Raum wunderbar Fußball spielen könnte. Kein Wunder, schließlich war er Fan des FC Chelsea und ließ kein Spiel seiner Mannschaft aus. Nick musste zugeben, dass sein Freund nicht ganz unrecht hatte. Er wusste die Großzügigkeit seiner Räumlichkeiten sehr zu schätzen. Die Außenwand des Büros war von der Decke bis zum Boden verglast und erweckte den Eindruck, als würde man über der Stadt schweben.
„Ich möchte in der obersten Etage des Stephens-Tower eine Verbindungstür einbauen“, fuhr Gary fort. „Es wäre keine große Sache. Siehst du, hier!“ Er deutete mit dem Finger auf die Stelle im Plan, die er meinte.
Nick beugte sich über die Zeichnung. Es faszinierte ihn noch immer, wie die zahllosen Striche und Linien auf dem Papier sich in das imposante Gebäude auf der anderen Seite des Flusses verwandelt hatten. Fast wie von Zauberhand.
Wenn sich nur alles im Leben so wundersam lösen ließe! Seufzend fuhr er mit der Hand durch sein dichtes dunkles Haar, so wie er es immer tat, wenn ihn ein Problem umtrieb. Auch Gary fiel die Geste auf.
„Gibt es Schwierigkeiten? Du wirkst etwas bedrückt.“
„Nein, nein. Es ist nur …“ Nick überlegte. Gary war sein bester Freund. Genau genommen war er der einzige Freund, den er in dieser Stadt hatte. Sie hatten sich kennengelernt, kurz nachdem Nick nach London gekommen war. Damals hatte er seine Abende regelmäßig in der öffentlichen Bibliothek verbracht, um Wirtschaftsratgeber zu wälzen, während Gary sich auf die letzten Prüfungen seines Architekturstudiums vorbereitet hatte. Wenn er Gary nicht vertrauen konnte, wem dann? „Um ehrlich zu sein – ich brauche eine Frau!“
Gary starrte ihn perplex an. „Ich hätte nicht gedacht, dass das für dich ein Problem wäre. Ich meine – deine Kontaktliste muss doch überquellen vor interessierten Frauen. Hattest du nicht erst vor zwei Tagen ein Date mit diesem Model – wie war noch mal ihr Name? Ich habe die Fotos in der Zeitung gesehen …“
„Ich meine nicht so eine Frau“, unterbrach Nick ihn ungeduldig. „Ich meine – eine Frau und ein Kind.“
Garys Blick wurde immer ungläubiger. „Ein Kind? Wieso das denn? Was willst du mit einem Kind? Brauchst du es für eine Werbekampagne? Ich bin sicher, es gibt da Agenturen …“
„Nein, nein, es ist …“ Genervt fuhr Nick sich durchs Haar. Nun, da er es aussprach, merkte er selbst, wie verrückt das Ganze klang. Wie hatte er nur auf so eine Idee kommen können? „Ich nehme an, ich sollte am Anfang beginnen. Du weißt ja, dass ich vor zwei Jahren zu Hause auf Illios war, richtig?“
„Zum Begräbnis deines Bruders“, ergänzte Gary. „Ja, ich erinnere mich. Das muss schlimm gewesen sein für deine Familie. Es gibt nichts Schrecklicheres für Eltern, als ein Kind zu verlieren.“ Er klang betroffen. Vermutlich dachte er an seine Frau, die gerade mit ihrem ersten Kind schwanger war.
„Meine Eltern waren völlig am Boden zerstört“, bestätigte Nick. „Sie hatten ihre ganzen Hoffnungen auf Alexandros gesetzt. Du musst wissen, dass mein Vater ein Patriarch der alten Schule ist. Tradition ist für ihn das Wichtigste. Und die Stepanides sind und waren immer Olivenbauern, schon seit vielen Generationen. Dass irgendwann kein Stepanides mehr auf Illios lebt und Oliven anbaut, ist für meinen Vater einfach unvorstellbar.“
„Und jetzt bist du der letzte männliche Nachfolger“, meinte Gary.
„Allerdings“, bestätigte er grimmig. „Als ich zum Begräbnis auftauchte, dachten sie, ich würde jetzt für immer bleiben und das Familiengeschäft übernehmen.“
„Was ist mit deiner Schwester? Elena? Soviel ich weiß, arbeitet sie doch auch auf der Plantage.“
„Sie arbeitet dort“, betonte Nick. „Aber mein Vater würde den Betrieb nie an sie weitergeben.“
„Warum? Weil sie eine Frau ist?“, fragte Gary empört. „Das ist doch mittelalterlich!“
Nick hob die Schultern. „Auf Illios ticken die Uhren anders. Oder vielmehr könnte man sagen, dort ist die Zeit stehengeblieben. Alles wird so gemacht, wie es schon immer gelaufen ist. Es gibt keine Veränderung, geschweige denn Fortschritt!“
Ihm war bewusst, dass seine Stimme bitter klang. Wie oft hatte er als junger Mann versucht, gegen diese starren Regeln anzurennen? Und wie oft hatte er sich den Kopf angeschlagen an dieser Mauer aus Tradition und Sturheit, die sein Leben auf Illios umgab.
„Deshalb hast du damals Griechenland verlassen“, stellte Gary fest.
„Ich musste. Sonst wäre es mir wie meinen Eltern ergangen. Sie haben der Familie stets alles untergeordnet. Und was haben sie davon? Ihr ganzes Leben lang haben sie Opfer gebracht. Ihre eigenen Wünsche oder Träume zählten nie.“ Er schüttelte den Kopf. „Das war nichts für mich. Ich wollte etwas aus meinem Leben machen. Frei sein von Verpflichtungen und Verantwortung für andere.“
„Und nun bist du ein unverbesserlicher Junggeselle, ich weiß“, bestätigte Gary. „Obwohl ich dir die Ehe wirklich ans Herz lege. Ich kann mir mittlerweile nicht mehr vorstellen, was ich ohne Marcia machen würde. Aber gerade deshalb verstehe ich nicht, weshalb du jetzt plötzlich eine Frau willst. Und ein Kind!“
Nick starrte auf den Plan, der auf dem Tisch lag. Der Tower stand für seinen Traum! Das Leben hier, das nicht das Geringste mit Griechenland und Illios zu tun hatte. Aber seine Eltern wollten ihn nicht verstehen. Wenn die Familie rief, hatte man ihr zu folgen.
„Ich … ich wollte damals beim Begräbnis meinen Vater nicht verletzen“, gestand er zögernd. „Nicht in diesem Augenblick, in seiner Trauer um Alexandros. Aber ich konnte ihm auch keine Hoffnungen machen, oder ich hätte keine ruhige Minute mehr gehabt. Also habe ich …“
Gary beugte sich neugierig vor. „Also hast du was?“
„Behauptet, ich hätte eine Frau und ein Kind in London“, erklärte er knapp.
„Oh!“ Gary musterte ihn nachdenklich. „Im Grunde keine schlechte Idee. Es bedeutet, dass du den beiden gegenüber eine Verpflichtung hast, der du dich nicht entziehen kannst. Eine Verpflichtung, die schwerer wiegt als die Wünsche deiner Eltern.“
„Genau“, pflichtete er seinem Freund bei. „Allerdings …“
„Allerdings pflegen solche Lügen über kurz oder lang aufzufliegen“, kommentierte Gary leicht sarkastisch.
Nick grinste ihn verlegen an. „Ich habe gerade mit Elena telefoniert. Sie hat mich angefleht, zum siebzigsten Geburtstag meines Vaters nächste Woche nach Illios zu kommen. Mit meiner Frau und meiner Tochter. Meine Eltern wollen sie unbedingt kennenlernen.“
Gary stieß einen Pfiff aus. „Oh Mann, du steckst in Schwierigkeiten. In richtig fetten Schwierigkeiten.“
„Danke für deine Anteilnahme“, erwiderte Nick sarkastisch. „Von einem Freund hätte ich mir ein bisschen mehr Mitgefühl erwartet. Und vor allem Hilfe.“
„Hilfe?“ Gary breitete die Arme aus. „Was soll ich denn tun? Eine Frau herbeizaubern? Wenn ich das könnte, wäre ich längst Millionär. Und bevor du fragst: Marcia steht nicht zur Verfügung, das kannst du dir gleich aus dem Kopf schlagen!“
Wenn es um seine Ehefrau ging, legte Gary einen sehr altmodischen Beschützerinstinkt an den Tag. Nick schüttelte den Kopf. „Daran würde ich nie im Leben denken, das weißt du. Aber was soll ich denn jetzt machen?“
„Ihnen die Wahrheit sagen“, schlug Gary pragmatisch vor.
„Das kann ich nicht. Zumindest wäre das der allerletzte Ausweg für mich. Kannst du dir vorstellen, wie verletzt sie wären, wenn ich ihnen erzähle, dass ich sie angelogen habe? Angelogen, um meine Ruhe vor ihnen zu haben?“
„Nein, das kannst du nicht tun“, gab Gary zu.
„Ich würde sie vor den Kopf stoßen und endgültig mit ihnen brechen. Das haben sie nicht verdient, egal, wie uneinsichtig und stur sie sind. Sie haben mich großgezogen und mir alles mitgegeben, was ich brauchte, um meinen eigenen Weg zu gehen. Ich schulde ihnen zumindest Respekt“, erklärte Nick.
„Indem du sie belügst? Ganz kann ich deiner Logik nicht folgen.“
Er seufzte. „Ich weiß. Ich kann es ja nicht einmal selbst. Ich bin sämtliche Frauen durchgegangen, die ich kenne oder mal gekannt habe – keine von ihnen würde in den Augen meiner Eltern als Mutter meiner Kinder infrage kommen. Aber ich brauche eine Frau, oder ich verliere das letzte bisschen Kontakt, das ich zu meiner Familie habe!“
Verzweifelt raufte Nick sich die Haare. In dem Moment klopfte es wieder an der Bürotür.
„Oh, ich fürchte, das ist leider zu viel für mich. Das kann ich mir unmöglich leisten. Aber haben Sie vielen Dank für Ihre Bemühungen.“
Annabelle sprach mit gedämpfter Stimme in ihr Handy, auch wenn sie ganz allein in dem großen Vorzimmer saß. Ihr Schreibtisch mit Computer, Monitor und Telefonanlage nahm die eine Hälfte des Raumes ein, während ihr gegenüber eine gemütliche Sitzgarnitur aus hellem Leder stand, auf der üblicherweise die Besucher warteten, die einen Termin mit Nick Stephens hatten.
Sie wusste, dass sie sich glücklich schätzen konnte, diesen Job bei der Stephens Corporation ergattert zu haben. Als Assistentin des Chefs wurde sie gut bezahlt. Allerdings reichte ihr Gehalt nicht, um die Londoner Wohnungspreise zu decken, wie sie soeben wieder hatte feststellen müssen.
Das kleine Apartment in der Nähe des Marble Arch, das sie vor ein paar Tagen besichtigt hatte, wäre ideal für Mia und sie gewesen. Mias Kindergarten hätte direkt auf ihrem Arbeitsweg gelegen. Aber der Mietpreis war exorbitant. Ihnen wäre kaum noch etwas zum Leben übrig geblieben. Also hatte sie schweren Herzens abgesagt.
Sie musste weitersuchen, auch wenn die Zeit allmählich knapp wurde. In zwei Monaten würde sie ihr derzeitiges Apartment räumen müssen. Darüber hatte ihr Vermieter sie vor vier Wochen informiert. Seither sah sie sich verzweifelt nach einer neuen Unterkunft um.
Ihren Schwestern Sam und Carolyn hatte sie ihr Wohnungsproblem bisher verschwiegen. Die beiden hatten genügend eigene Sorgen. Und wenn sie gewusst hätten, in welchen Schwierigkeiten Annabelle steckte, hätten sie sich vermutlich geweigert, London zu verlassen, um ihre Karrieren zu verfolgen: Carolyn in Italien, wohin ihr Arbeitgeber sie vor drei Tagen geschickt hatte, und Sam bei ihrer Tante in Frankreich.
Sam und Carolyn hatten schon genug für sie getan. Sie hatten Mia zum Kindergarten gebracht, wann immer es sich einrichten ließ, und hatten den Babysitter gespielt, wenn Annabelle wieder einmal länger im Büro bleiben musste. Ohne die beiden hätte sie es in den letzten Jahren nicht geschafft, Mia großzuziehen und gleichzeitig einem Job nachzugehen, der so fordernd war wie dieser.
Nick Stephens verlangte von seinen Mitarbeitern hundertprozentigen Einsatz. Überstunden oder ungeplante Eilaufträge waren an der Tagesordnung. Deshalb hatte sie bei ihrer Bewerbung auch wohlweislich verschwiegen, dass sie ein Kind hatte. Zu groß war ihre Angst gewesen, den Job dann vielleicht nicht zu bekommen.
Aber was sollte sie tun, wenn sie jetzt ihr Apartment verlor? Ihren Schwestern gegenüber hatte sie vorgegeben, es wäre kein Problem, Ersatz zu finden. Die beiden sollten sich unbelastet ihren Aufgaben widmen. Sam hatte alle Hände voll zu tun, ihre Tante Edith in der kleinen Pension zu unterstützen, die diese auf einer Insel an der Côte d’Azur betrieb. Und Carolyn hatte einen wichtigen Auftrag von dem Auktionshaus erhalten, für das sie arbeitete. Sie sollte im Schloss eines italienischen Grafen an der Amalfi-Küste dessen Antiquitäten bewerten und für eine Versteigerung vorbereiten. Das könnte einen wichtigen Karrieresprung für sie bedeuten.
Nein, Annabelle musste mit ihren Problemen allein fertigwerden, so viel stand fest. Seufzend packte sie ihre Handtasche zusammen. Sie musste Mia bei der Tagesmutter abholen und dann mit ihr für das Abendessen einkaufen. Und sich anschließend wieder auf die Wohnungsanzeigen im Internet stürzen. Nachdem sie den Computer ausgeschaltet und den Schreibtisch aufgeräumt hatte, klopfte sie an Nick Stephens’ Bürotür.
„Brauchen Sie mich heute Abend noch, Mr. Stephens?“
Sie spürte, wie ihr heiße Röte in die Wangen schoss, als sie bemerkte, dass ihr Chef sie anstarrte, als würde er einen Geist sehen. Der intensive Blick seiner dunklen Augen ließ ihre Knie weich werden. Verlegen wollte Annabelle sich zurückziehen, da sie ihn offensichtlich gestört hatte, doch Nick rief sie zurück: „Einen Moment noch, Ms. Whitmore!“
„Ja bitte?“
Annabelle fühlte sich unbehaglich. Er starrte sie immer noch eindringlich an.
„Sagen Sie, haben Sie in den nächsten Tagen schon etwas vor?“
„Ich? Nein, ich … natürlich nicht“, stotterte sie unsicher. Und betete insgeheim: Keine Überstunden am Abend! Wo sollte sie dann Mia unterbringen?
Stattdessen fragte Nick Stephens: „Könnten Sie sich vorstellen, meine Frau zu werden, Ms. Whitmore?“
In dem Augenblick, als seine Sekretärin den Kopf zur Tür hereingesteckt hatte, war Nick klargeworden, dass Annabelle Whitmore die Idealbesetzung für die Rolle seiner Ehefrau war. Zumindest, wenn es darum ging, seine Eltern zu überzeugen. Sie war der Inbegriff der tüchtigen Mitarbeiterin: stets freundlich, ruhig und kompetent. In den zwei Jahren, die sie nun schon für ihn arbeitete, hatte er noch nie Grund zur Klage gehabt. Ganz im Gegenteil: Ohne seine einfühlsame Assistentin konnte er sich sein Arbeitsleben kaum noch vorstellen. Und er war sicher, dass Annabelle ihn auch in dieser schwierigen Situation nicht im Stich lassen würde.
An ihrem ungläubigen, erschrockenen Blick erkannte er allerdings, dass er seine Frage etwas unglücklich formuliert hatte. Auch Gary starrte ihn überrascht an. Nick räusperte sich. „Was ich sagen will, Ms. Whitmore … würden Sie sich kurz setzen?“
Sie sah ihn mit einer Mischung aus Sorge und Zuneigung an, die sein Herz erwärmte. Ihre Augen waren nicht braun, wie er bisher immer angenommen hatte, sondern strahlten ihm im Abendlicht, das durch die Bürofenster hereinfiel, in einem satten Grün entgegen. Die Farbe bildete einen aparten Kontrast zu ihrem rotbraunen Haar. Wie üblich trug sie es zu einem akkuraten Pferdeschwanz zusammengefasst, doch er konnte sich vorstellen, wie es üppig über ihre Schultern fiel und ihr herzförmiges Gesicht einrahmte.
Er blinzelte irritiert. Warum fielen ihm all diese Dinge plötzlich auf? Dafür hatte er sich noch nie zuvor interessiert. Alles, was er über seine Mitarbeiter wissen musste, war, ob sie ihre Arbeit zu seiner Zufriedenheit erledigten. Für persönliche Gefühle oder gar Sentimentalität war nie Platz gewesen. Dabei löste Annabelles Anblick alles andere als Sentimentalität in ihm aus. Sie hing gebannt an seinen Lippen, ihre eigenen waren rot und voll und leicht geöffnet wie in Erwartung eines Kusses …
Entschlossen schob Nick den Gedanken zur Seite und erzählte seiner Sekretärin dieselbe Geschichte wie kurz zuvor Gary. Er berichtete von seiner patriarchalischen Familie, seinem Entschluss, Griechenland den Rücken zu kehren, und vom Tod seines Bruders, der nicht nur ein schlimmer Verlust war, sondern darüber hinaus auch seine Situation dramatisch verändert hatte.
Annabelle hörte aufmerksam und mit angespannter Miene zu. Als er Alexandros erwähnte, glaubte er, Tränen in ihren Augen zu erkennen. Gleichzeitig spürte er einen Stich in seinem Herzen. Offensichtlich war Ms. Whitmore mit dem Gefühl von Verlust ebenso vertraut wie er.
„Und deshalb“, schloss er seine Erläuterungen, „brauche ich für meine Reise nach Illios eine Frau und ein Kind … die meine Familie spielen. Um meine Eltern zu beruhigen und ihnen eine Enttäuschung zu ersparen. Was sagen Sie dazu, Annabelle?“
Sie blickte erschrocken auf, als er sie mit ihrem Vornamen ansprach, da sie bisher immer sehr förmlich miteinander umgegangen waren. Aber nach allem, was er ihr eben erzählt hatte, fand Nick diese Anrede nur selbstverständlich.
Annabelle stammelte: „Ich … ich verstehe das nicht ganz, Mr. Stephens. Was soll ich wozu sagen?“
„Dazu, mich nach Griechenland zu begleiten und sich als meine Frau auszugeben!“
„Ich?“ Sie sprang auf und griff nach ihrer Handtasche, so als müsste sie sich schützen.
Nick machte einen Schritt auf sie zu. Sie duftete ganz zart nach Veilchen und Vanille, eine sehr anregende Mischung. „Bitte, Annabelle, Sie dürfen mich jetzt nicht im Stich lassen.“
„Aber, ich …“ Ihr Blick wich seinem aus und irrte durch den Raum, als würde sie nach einem Fluchtweg suchen. „Ich kann nicht einfach …“
„Es wäre nur für eine Woche. Nach der Geburtstagsfeier meines Vaters reisen wir sofort wieder ab. Und ich würde natürlich dafür bezahlen. Zwanzigtausend Pfund – und sämtliche Auslagen, die Sie haben. Falls Sie sich für den Anlass etwas Neues zum Anziehen zulegen müssen oder …“
„Aber das …“, sie ließ sich zurück in den Sessel sinken und wirkte nun nachdenklich, das kann doch niemals funktionieren. „Niemand würde glauben, dass wir beide – Sie und ich …“
„Warum nicht? Wer sollte daran zweifeln, wenn wir behaupten, dass es so ist? Abgesehen davon sind Sie eine sehr attraktive Frau … ich meine, jeder Mann könnte sich glücklich schätzen …“
Er geriet ins Stottern. Zugegeben, er hatte unterschätzt, wie schwer es sein würde, eine wildfremde Frau davon zu überzeugen, sich als seine Partnerin auszugeben. Auch wenn Annabelle natürlich keine Wildfremde war. Schließlich arbeiteten sie schon seit zwei Jahren Tag für Tag zusammen. Trotzdem musste er sich eingestehen, dass er kaum etwas über sie wusste. Vielleicht war sie ja in einer Beziehung? Diese Möglichkeit hatte er gar nicht bedacht. Er war einfach davon ausgegangen, dass es niemanden in ihrem Leben gab, weil – warum eigentlich? Weil sie immer da war, still und kompetent, ohne jemals etwas Persönliches preiszugeben. Aber dafür hatte es auch nie eine Gelegenheit gegeben. Die Vorstellung, sie könnte vergeben sein, irritierte ihn, und nicht nur, weil das seinem Plan in die Quere kommen würde.
„Aber Ihre Eltern werden sicher Fragen stellen. Über uns!“
„Ich sehe da kein Problem. Meine Eltern sprechen nur ein paar Brocken Englisch. Und wir werden nicht sehr viel Zeit mit meiner Familie verbringen. Ich werde Zimmer in einem Hotel auf Kreta buchen. Auf Illios werden wir nur für die Feier sein. Ansonsten können Sie ein paar schöne Urlaubstage auf Kreta verbringen.“
„Und das – das Kind?“
Es schien sie Überwindung zu kosten, das Wort auszusprechen. Nick runzelte die Stirn. „Darüber habe ich schon nachgedacht. Wenn wir dafür keine Lösung haben, erzählen wir einfach, es wäre krank geworden und wir hätten es in der Obhut der Nanny in London gelassen.“
Annabelle sah ihn mit geröteten Wangen an. Sie wirkte regelrecht verlegen. „Ich – ich hätte vielleicht ein Kind.“ Sie schluckte. „Meine Schwester musste beruflich verreisen, nach Italien. Ich habe versprochen, in der Zwischenzeit auf ihre kleine Tochter aufzupassen.“
„Das wäre großartig!“, rief Nick. „Sie sind meine Rettung, Annabelle! Ich weiß nicht, was ich ohne Sie anfangen sollte.“
Annabelle lächelte. Der rosige Schimmer, der ihre Wangen glühen ließ, stand ihr ausgezeichnet. „Aber ich – ich bin nicht sicher, ob das wirklich funktionieren kann. Warum haben Sie Ihren Eltern nur eine solche Lüge aufgetischt?“
Ihre Stimme klang vorwurfsvoll. Das missfiel ihm. Er ließ sich nicht vereinnahmen. Von niemandem. Niemals. „Meine Eltern können nicht verstehen, dass ich mein eigenes Leben lebe. Meinen eigenen Weg gehe. Für sie zählt nur die Familie. Sie erwarten von mir, dass ich ihre Traditionen fortführe. Aber ich bin kein Familienmensch. Ich brauche meine Freiheit. Ich lasse mich nicht einschränken!“
„Hätten Sie ihnen das nicht erklären können?“
Er schüttelte den Kopf. „Sie hätten es nicht verstanden. Es wäre unweigerlich dazu gekommen, dass ich mich vollends von ihnen abgewandt hätte. Und das wollte ich Ihnen nicht antun. Nicht, nachdem sie bereits einen Sohn verloren haben.“
„Ja, das kann ich verstehen“, gab Annabelle zu. Ihre Stimme hatte den warmen, mitfühlenden Klang zurückgewonnen. „Aber ich – muss darüber nachdenken. Und mit meiner Schwester und Mia sprechen. Das ist meine … Nichte.“
„Natürlich.“
„Ich gebe Ihnen spätestens morgen Bescheid“, versprach sie und stand auf.
Etwas in ihrer Stimme vermochte Nick nicht einzuordnen. Zweifel, Erleichterung, Unsicherheit – es schien eine Mischung aus all diesen Dingen zu sein.
Als sie das Büro verlassen hatte, wandte er sich an Gary. „Ich hoffe, sie sagt zu. Annabelle wäre perfekt für die Rolle. Und wenn sie auch noch ein Kind an der Hand hat …“
„Ja, wirklich eigenartig“, gab Gary zu.
„Wie meinst du das? Eigenartig?“
„Es passt ein bisschen zu gut, findest du nicht? Warum sollte sie das tun? Engagierte Sekretärin hin oder her!“
„Ich weiß nicht, was du meinst“, erwiderte Nick eine Spur gereizt. „Ich nehme an, es ist das Geld, das sie interessiert. Ist das nicht für die meisten Menschen ein starkes Motiv?“
„Du glaubst, sie tut es nur wegen des Geldes?“
„Natürlich. Warum sonst?“ Warum sonst sollte sich eine Frau, die er kaum kannte, bereit erklären, sich als seine Partnerin auszugeben? Auch wenn er sonderbarerweise eine Spur von Enttäuschung bei diesem Gedanken verspürte – Geld regierte schließlich die Welt.
„Da wäre ich mir nicht so sicher“, gab Gary zur Antwort.
Annabelle hatte weiche Knie, als sie das Bürogebäude verließ. Sie fühlte sich wie in einem Traum und erwartete jeden Moment, daraus aufzuwachen. Hatte Nick Stephens ihr wirklich angeboten, sie mit nach Griechenland zu nehmen, wo sie vor seinen Eltern seine Frau spielen sollte? Konnte so eine verrückte Idee überhaupt wahr sein?
Als sie an der Haltestelle auf den nächsten Bus wartete, kniff sie sich fest in den Arm. Nein, sie träumte nicht! Sie stand tatsächlich im Berufsverkehr an der Straße, während ein leichter Nieselregen einsetzte und die Scheinwerfer der Autos, die an ihr vorbeifuhren, in verschwommene Lichtscheiben verwandelte.
Zwanzigtausend Pfund!
Sie schüttelte den Kopf. So viel Geld, nur damit sie ihren Chef zu einer Familienfeier begleitete. Es klang einfach zu fantastisch.
Dieses Geld würde die Lösung all ihrer Probleme bedeuten. Sie könnte ohne Weiteres eine anständige Wohnung für ihre Tochter und sich finden. Und darüber hinaus Zeit mit Mia verbringen, auf einer griechischen Insel! Erst einmal waren sie zusammen in den Urlaub gefahren. Im Vorjahr hatten sie ein paar Tage in Brighton an der englischen Südküste verbracht. Es war eine wundervolle Zeit gewesen, unbeschwert und frei von den alltäglichen Sorgen.
Wie sehr sehnte sie sich nach etwas Entspannung und Erholung! Nur für kurze Zeit loszulassen, nicht ständig die Verantwortung zu spüren, die sie für Mia hatte. Und ihre Schwestern. Einmal mehr wurde ihr bewusst, wie sehr ihr Leben sich seit jenem Sonntag vor fünf Jahren verändert hatte, als sie die schreckliche Nachricht erhielten. Der Busfahrer, mit dem ihre Eltern zu einem gemütlichen Ausflug nach Wales unterwegs gewesen waren, hatte die Kontrolle verloren, und der Bus war in eine Schlucht gestürzt. Sieben Insassen waren damals ums Leben gekommen. Sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter befanden sich unter den Opfern.
Immer noch spürte Annabelle Tränen in den Augen brennen, wenn sie daran dachte. Damals hatte sich ihre heile Welt von Grund auf verändert. Nichts war mehr so gewesen wie zuvor. Sie hatte ihr Studium abgebrochen und einen Job angenommen, um Carolyn die Ausbildung zur Kunstrestauratorin zu ermöglichen. Gemeinsam hatten sie ihre kleine Schwester Sam großgezogen, die kurz nach dem Unfall siebzehn geworden war. Was für eine trostlose Geburtstagsfeier das gewesen war … Die erste ohne ihre geliebten Eltern. Wenn Annabelle heute daran zurückdachte, schmerzte es sie sehr, dass sie auch nie ihr Enkelkind kennengelernt hatten.
Ihre Eltern hatten einen kleinen Pub in Hackney betrieben, das Three Crowns. Annabelle und ihre Schwestern hatten den größten Teil ihrer Teenagerjahre hinter dem Tresen verbracht. Sie erinnerte sich an rauchgeschwängerte Luft, den Geruch von Bier und Fritten, an Wärme, Lärm und Lachen. Wie sehr sie das alles vermisste! Die warmen Augen ihres Vaters, wenn er sie ansah, die liebevollen Umarmungen ihrer Mutter …
Sie hatten nie viel Geld gehabt, das Lokal war nur gepachtet, und das wenige, das ihre Eltern ihnen hinterlassen hatten, reichte gerade aus, um die Begräbniskosten zu bezahlen. Aber die Liebe und Zuneigung, die sie ihren Kindern geschenkt hatten, würde Annabelle ihr Leben lang im Herzen tragen. Dieses Gefühl von Familie war der Grundstein für den Zusammenhalt der drei Schwestern. Sie waren immer und überall füreinander da.
Annabelle blinzelte die Tränen fort. Sie wünschte, Sam und Carolyn wären jetzt hier, damit sie mit ihnen sprechen und sich beraten könnte. Aber die beiden durften nichts von alledem erfahren. Sie würden sich nur unnötig Sorgen machen. Das wollte sie auf keinen Fall.
Sie musste allein zu einem Entschluss kommen. Aber gab es überhaupt etwas zu überlegen für sie? Sie brauchte das Geld, das Nick Stephens ihr anbot. Dringender als irgendetwas sonst. Alles andere war im Moment unwichtig.
Wie in Trance stieg sie in den Bus und suchte sich einen Platz. Das Gesicht ihres Chefs tauchte vor ihr auf, seine dunklen Augen und das schwarze lockige Haar, das er immer mit derselben Geste zurückstrich, wenn er angestrengt nachdachte. Seine scharf geschnittenen Züge und der sonnengebräunte Teint, die seine griechischen Wurzeln nicht verleugnen konnten. Der Gedanke, eine ganze Woche mit ihm in Griechenland zu verbringen, löste ein unkontrolliertes Kribbeln in ihrem Bauch aus. Sie und Nick Stephens!
Auch wenn ihr klar war, dass die Vorstellung absurd war. Er ging mit den schönsten Frauen der Stadt aus. Er hatte einen Ruf als Playboy und hielt nichts von dauerhaften Bindungen. Hatte er ihr das nicht eben deutlich erläutert? Er hätte ihr niemals auch nur einen zweiten Blick geschenkt, wenn diese verrückte Geschichte nicht wäre. Für ihn war sie nichts weiter als seine brave, kompetente Sekretärin, auf deren Hilfe er sich stets verlassen konnte.
Annabelle seufzte. Wenn er wüsste … Seit zwei Jahren träumte sie jede Nacht von ihm. Bekam feuchte Hände, wenn er sie in sein Büro rief. Schon sein Anblick ließ ihre Knie weich werden. Und die Aussicht, seine Frau zu spielen, fühlte sich an, als würden ihre Träume wahr …
Was für kindische Schwärmereien, rügte sie sich. Dafür war jetzt kein Platz. Das Ganze war eine rein geschäftliche Angelegenheit. So sah ihr Chef es, und genauso sollte auch sie es sehen. Sie tat das für Mia. Nur ihr hatte Annabelles Sorge zu gelten. Mia war das Wichtigste in ihrem Leben. Ihr gesamter Alltag drehte sich nur um sie.
Das fing morgens an, wenn sie aufstanden und sie ihre Kleine für den Kindergarten fertig machte. Entweder lieferte sie Mia auf dem Weg zur Arbeit selbst dort ab oder eine ihrer Schwestern kam vorbei, um das zu erledigen. Dann blieb Annabelle noch Zeit für eine zweite Tasse Kaffee, bevor sie ins Büro musste. Nachmittags wurde Mia von einer Tagesmutter betreut, die sie auch aus dem Kindergarten abholte und ihr Essen machte. Und abends waren wieder Carolyn oder Sam zur Stelle, wenn Annabelle aufgehalten wurde. Zu dritt hatten sie es immer geschafft, Mia nie allein zu lassen.
Wie sie das alles bewältigen sollte, nachdem Sam vor ein paar Wochen an die Côte d’Azur aufgebrochen war und nun auch Carolyn nicht mehr zur Verfügung stand, wusste Annabelle nicht. Aber sie konnte ihren Schwestern auf keinen Fall im Weg stehen, also hatte sie vorgegeben, alles wäre in Ordnung.
Sie holte tief Luft. Tatsächlich war Nick Stephens’ verrückter Plan ihre Rettung. Sie konnte gar nicht ablehnen, wenn ihr die Zukunft ihrer Tochter am Herzen lag.
An der nächsten Haltestelle stieg sie aus und eilte zum Haus der Tagesmutter. Sally begrüßte sie bereits ungeduldig, und Mia kam ihr mit ausgestreckten Armen entgegengelaufen. „Mummy! Mummy!“
„Schätzchen!“ Überglücklich schloss sie ihre Tochter in die Arme. Was für ein wundervolles Gefühl, sie an sich zu drücken, ihr kleines Gesicht an ihrer Wange zu spüren! Nichts auf der Welt ließ sich damit vergleichen.
Mit Mias Vater hatte Annabelle nur eine kurze Beziehung geführt. Sie hatte ihn nach dem Tod ihrer Eltern kennengelernt. Damals hatte sie verzweifelt Halt und Liebe gesucht, aber noch vor Mias Geburt hatten Martin und sie sich wieder getrennt. Seither hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Aber die gemeinsame Zeit hatte sie nie bereut, denn er hatte ihr diesen Schatz geschenkt, für den sie unendlich dankbar war.
Nachdem sie sich von Sally verabschiedet hatten, gingen sie zu Fuß das letzte Stück zu ihrer Wohnung. Aufgeregt erzählte Mia ihr, was sie am Tag alles erlebt hatte. Annabelle wurde warm ums Herz, als sie dabei Mias Gesicht betrachtete, das vor Eifer und Aufregung glänzte. Ihre kastanienbraunen Locken waren wie immer wild und ungebändigt, ihre Augen funkelten. Die tiefblauen Augen hatte Mia von ihrem Großvater geerbt, so wie auch Carolyn und Sam. Annabelle kam mehr nach ihrer Mutter, die eine waschechte Irin aus dem Herzen von Dublin gewesen war.
Sie seufzte tief. Wenn sie doch nur die Zeit zurückdrehen könnte. Wenn sie auf dem Weg in das Three Crowns wären, um dort eine saftige Portion Fish and Chips zu genießen. Ihr Vater würde hinter dem Tresen Gläser polieren, und ihre Mutter würde ein altes irisches Volkslied vor sich hin summen und sich mit Mia im Rhythmus der Melodie wiegen.
„Woran denkst du, Mummy?“, wollte Mia neugierig wissen.
„Ach, gar nichts“, gab Annabelle hastig zurück. „Sag mal, wie würde es dir gefallen, nach Griechenland zu fahren?“
„Nach Griechenland?“ Mia runzelte die Stirn. „Was ist das?“
Annabelle lachte. „Das ist ein wunderschönes Land, das am Mittelmeer liegt. Ich habe dir doch schon vom Mittelmeer erzählt. Dort ist auch Tante Sam.“
„In Griechenland?“
„Nein, Sam ist in Südfrankreich. Das ist ein anderes Land. Aber in Griechenland ist es genauso schön wie bei Tante Sam. Du erinnerst dich doch an die Bilder, die sie geschickt hat? Das blaue Meer und den Strand?“
Mias Augen glänzten. „Oh ja, das wäre toll!“
„Mein Chef, Mr. Stephens, hat mich gebeten, ihn nach Griechenland zu begleiten. Er will dort seine Familie besuchen. Und ich soll dich auch mitnehmen. Allerdings …“
Mia neigte den Kopf zur Seite und blickte fragend zu ihr auf.
Annabelle kniete sich neben ihr nieder. „Es ist so … Mr. Stephens würde gerne ein Spiel spielen.“
„Ein Spiel?“ Mia schaute irritiert. Dass Erwachsene offenbar auch Spiele spielten, so wie Kinder, wollte ihr wohl nicht ganz einleuchten.
„Weißt du, die Eltern von Mr. Stephens sind schon sehr alt. Sie wünschen sich nichts sehnlicher, als ein Enkelkind zu haben. Deshalb will Mr. Stephens ihnen eine Freude machen. Wir sollen so tun, als wäre er dein Daddy und seine Eltern deine Großeltern. Was hältst du davon?“
„Aber hat Mr. Stephens denn kein eigenes Kind?“, wollte Mia pragmatisch wissen.
„Leider nicht. Er sieht seine Eltern nicht sehr oft, und deshalb hat er sich überlegt …“
„Ach so“, meinte Mia ernsthaft. „Er denkt, dass sie bald sterben werden, und dann können sie ihr richtiges Enkelkind nicht mehr sehen. So wie Grandpa George und Grandma Helen.“
Annabelle schluckte. Wie selbstverständlich ihre Tochter vom Tod der Großeltern redete. Aber Kinder hatten wohl ein anderes Verständnis vom Tod als Erwachsene. Sie nickte. „Ja, genau. Das ist der Grund für dieses Spiel. Würdest du das machen? Würdest du Daddy zu Mr. Stephens sagen und seine Eltern Oma und Opa nennen? Nur während wir in Griechenland sind!“
„Ja, sicher“, erklärte Mia leichthin. „Das ist nicht schwer! Aber du wirst auch dabei sein?“
„Natürlich. Ich bin immer bei dir“, versprach sie. „Wir werden eine tolle Zeit dort haben und jeden Tag zum Strand gehen, das verspreche ich.“
Mia klatschte begeistert in die Hände. „Dann will ich ganz viele Wochen da sein!“
Annabelle schmunzelte. „Ich denke, eine Woche wird genügen. Wenn wir zu Hause sind, rufe ich gleich Mr. Stephens an und sage ihm, dass wir einverstanden sind.“
Vergnügt hüpfte Mia vor ihr her bis zu ihrem Wohnhaus. Annabelle folgte ihr nachdenklich. Für Mia war das Ganze offensichtlich ein aufregendes Spiel. Und für Nick Stephens war es ein Geschäft, mit dem er seine Interessen wahren wollte. Er bezahlte sie, damit sie ihn vor seinen Eltern gut dastehen ließ. Und sie? Was war diese Geschichte für sie?
Es ist eine Investition in die Zukunft meiner Tochter, sagte Annabelle sich nüchtern. Und es ist eine Möglichkeit, Nick Stephens nahe zu sein, flüsterte eine sehnsüchtige Stimme tief in ihrem Inneren. Auch wenn es verrückt und völlig unmöglich war.
Abgesehen davon war die Sache ein Schwindel. Sie hintergingen seine Eltern, und der Gedanke daran plagte ihr Gewissen.
„Aber ja, Carolyn, es geht uns gut. Sehr gut sogar! Ich habe ein paar Tage frei bekommen, und Mia und ich haben uns spontan entschieden, nach Griechenland zu fliegen. Es war ein Last-Minute-Angebot … Wenn wir uns wiedersehen, erzähle ich dir mehr darüber. Hab einen schönen Aufenthalt in Italien. Und alles Gute für deine Arbeit!“
Rasch beendete Annabelle das Gespräch, bevor ihre Schwester weitere Fragen stellen konnte. Es verursachte ihr Unbehagen, Carolyn anzulügen. Obwohl es nicht wirklich eine Lüge war. Schließlich flog sie tatsächlich mit Mia für ein paar Urlaubstage nach Griechenland. Nur war es eben nicht die ganze Wahrheit. Aber die konnte sie Carolyn unmöglich erzählen. Schon gar nicht am Handy. Dafür brauchte es eine ruhige Stunde und vielleicht ein Glas Rotwein zur moralischen Stärkung. Aber diese Möglichkeit gab es im Augenblick nicht, also war es besser, ihre Schwester nicht zu beunruhigen.
Außerdem wartete Nick Stephens schon auf sie. Er stand neben Mia an einem Privatgate des Flughafens. Hinter den automatisch aufgleitenden Glastüren war ein schlanker Jet zu sehen, Nicks Privatjet, der sie nach Kreta bringen sollte. Von dort war es nur ein Katzensprung nach Illios, Nicks Heimatinsel.
Annabelle spürte ein flaues Gefühl im Magen. Sollte sie sich tatsächlich auf dieses verrückte Abenteuer einlassen?
Aber jetzt war es zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen. Alles war bereit zum Abflug.
Neben Nick und Mia türmte sich ihr Gepäck. Nick hatte darauf bestanden, dass Annabelle sich in einer exklusiven Boutique in der Oxford Street neu einkleiden ließ. Auch Mia hatte neue Sachen bekommen, über die sie sich riesig freute. Den rosafarbenen Rucksack mit dem Einhorn-Emblem, den die Kleine sich ausgesucht hatte, trug sie heute stolz umher.
Das alles hätte Annabelle ihrer Tochter nie aus eigenem Antrieb bieten können. Sie sollte glücklich sein über diese Chance. Trotzdem fühlte sie sich wie Cinderella, kurz bevor die Turmuhr zwölf schlug. Irgendwann würde dieser Traum wieder vorbei sein. Sie konnte nur hoffen, dass es kein böses Erwachen für sie geben würde.
„Entschuldigt“, rief sie atemlos zu Nick und Mia hinüber. „Ich musste noch rasch etwas erledigen!“
Es wärmte ihr Herz, die beiden zusammen zu sehen. Mia stand völlig unbefangen und vertrauensvoll neben Nick Stephens und blickte neugierig zu ihm auf. Sie schien spontan Zutrauen zu ihm gefasst zu haben. Nick bemühte sich, zu lächeln, doch Annabelle konnte sehen, dass er angespannt war. Offenbar bereitete ihm diese Reise mehr Unbehagen, als er zugeben wollte. Außerdem schien er nicht viel Erfahrung im Umgang mit Kindern zu haben und nicht recht zu wissen, was er mit Mia anfangen sollte.
„Gut“, meinte er erleichtert. „Dann sollten wir jetzt starten.“
Er wandte sich zur Tür, während ein Flughafen-Angestellter herbeieilte, um ihr Gepäck an Bord zu bringen. In diesem Moment trat Mia auf Nick zu und griff nach seiner Hand. Überrascht blickte er zu ihr hinunter.
„Mummy sagt, ich soll immer ihre Hand halten, wenn wir außerhalb des Hauses sind“, erklärte Mia. „Und du bist doch jetzt mein Dad, oder?“
„Ja, natürlich, das bin ich“, gab Nick mit einem Anflug von Überraschung in der Stimme zu. „Und deine Mum hat völlig recht. Es ist sicherer, an der Hand eines Erwachsenen zu gehen.“
„Aber ich darf nicht mit Fremden gehen“, fuhr Mia nachdenklich fort. „Aber du bist ja kein Fremder, oder?“
Nick lächelte. „Nein, das bin ich nicht. Du, Annabelle und ich, wir sind jetzt eine Familie. Bist du damit einverstanden?“
„Natürlich“, erwiderte Mia. „Das hat mir Mummy alles erklärt!“
„Dann gehen wir.“ Nick trat durch die Glastür und führte Mia, immer noch an seiner Hand, die Gangway hinauf.
Annabelle folgte ihnen. Es war, als würde sie Schritt für Schritt in eine neue Welt eintauchen. Der Privatjet war luxuriös ausgestattet, mit gemütlichen hellen Ledersitzen. Hinter der Sitzgruppe befand sich ein Schreibtisch, an dem Nick offensichtlich während seiner Geschäftsreisen zu arbeiten pflegte. Eine Flugbegleiterin erwartete sie und half Mia und Annabelle, ihr Handgepäck zu verstauen und sich anzuschnallen.
Nick verschwand im Cockpit. Er wollte einen Teil der Strecke selbst fliegen, da er einen Pilotenschein besaß, wie Annabelle wusste.
Neben ihr schaute Mia mit glänzenden Augen um sich. Sie war noch nie in ihrem Leben geflogen. Diese Reise musste ihr wie ein großes Abenteuer vorkommen.
Und selbst Annabelle verspürte eine Mischung aus Neugier und Anspannung. Es war eine Reise ins Ungewisse, die sie da antrat, und das war etwas völlig Neues für sie. Normalerweise verließ sie sich lieber auf das Bekannte und Vertraute in ihrem Leben. Aber manchmal, wurde ihr klar, musste man ins kalte Wasser springen. Trotzdem fragte sie sich beklommen, was am Ende dieses Fluges wohl auf sie warten mochte. War sie zu naiv und vertrauensselig gewesen, einfach so in diesen Deal einzuwilligen? Immerhin wusste sie kaum etwas über Nick Stephens persönlich, geschweige denn über seine Familie.
Instinktiv griff sie nach Mias Hand und hielt sie fest, während der Jet auf die Startbahn rollte. Immer stärker beschleunigte er, bis sie spüren konnte, wie er abhob. Mia neben ihr schnappte überrascht und erfreut nach Luft.
„Wir fliegen, Mummy“, flüsterte ihre Tochter ihr zu. „Ist das nicht toll?“
„Ja, das ist es“, gab Annabelle zurück. Mias Begeisterung steckte auch sie an. Die Kontrolllampe für das Anlegen der Sicherheitsgurte erlosch, und die Flugbegleiterin erschien an ihrer Seite.
„Darf ich Ihnen den Lunch servieren?“, fragte sie, und Mia nickte eifrig.
Nachdem sie köstlichen gebratenen Lachs auf Curryreis verzehrt hatten, widmete Mia sich der Aussicht. Sie hatten inzwischen den Ärmelkanal hinter sich gelassen und überquerten das europäische Festland. Unter ihnen erstreckte sich eine Schachbrettlandschaft aus Rechtecken in verschiedenen Grün- und Braunschattierungen.
„Sieh nur die Häuser, Mummy!“, rief Mia und deutete nach unten. „Das sieht aus wie mein Spielzeug-Bauernhof!“
Tatsächlich wirkten die Gebäude, die sie vom Flugzeug aus sehen konnten, wie Spielzeug, das auf einem bunten Teppich ausgebreitet war. Staunend presste Mia ihre Nase gegen das Fenster.
„Ich hoffe, Sie genießen den Flug“, ertönte plötzlich Nick Stephens’ Stimme neben Annabelle. Erschrocken fuhr sie zusammen. Beinahe hatte sie vergessen, weshalb sie hier war.
„Oh ja – es ist wunderbar. Mia ist noch nie in ihrem Leben geflogen“, stammelte sie hastig.
„Noch nie? Möchtest du gerne den Piloten im Cockpit besuchen, Mia?“, fragte Nick sofort.
Die nickte mit großen Augen. Sie sah Annabelle an. „Darf ich?“
„Natürlich.“ Sie half ihrer Tochter, den Sicherheitsgurt zu lösen.
„Ms. Mitchell wird dich begleiten“, erklärte Nick. Die Flugbegleiterin griff nach Mias Hand und verschwand mit ihr in Richtung Cockpit. Nick ließ sich auf den frei gewordenen Platz neben Annabelle sinken. „Was für ein zauberhaftes Kind. Wie alt ist sie?“
„Vier.“
„Und Ihre Schwester war einverstanden, dass sie uns begleitet?“
„Natürlich“, murmelte Annabelle und vermied es, ihn anzusehen. „Sie freut sich, dass Mia diese Möglichkeit bekommt. So einen Urlaub könnte sie sich niemals leisten.“
„Was macht Ihre Schwester beruflich?“
„Sie arbeitet für ein Auktionshaus in London. Die Arbeit ist sehr interessant, aber sie wird nicht allzu gut bezahlt.“
„Das kann ich mir vorstellen“, meinte er. „Haben Sie noch mehr Geschwister?“
„Noch eine Schwester“, erzählte sie. Allmählich gelang es ihr, sich etwas zu entspannen. Sie war erleichtert, dass Nick so gut mit Mia auskam. Und dass er keine weiteren Fragen über sie stellte. „Sam ist die jüngste von uns dreien. Sie arbeitet zurzeit in Südfrankreich im Hotel unserer Tante.“
„Und was machen Ihre Eltern?“
Annabelle schluckte. „Unsere Eltern leben nicht mehr. Sie sind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.“
„Das tut mir sehr leid!“ Er klang betroffen. „Das wusste ich nicht. Es muss schwer für Sie drei sein, allein zurechtzukommen.“
Annabelle nickte und spürte dabei den unangenehmen Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hatte. „Wir unterstützen uns gegenseitig, so gut es geht. Das würden unsere Eltern sich so wünschen.“
„Ja, das würden sie vermutlich“, murmelte Nick nachdenklich. Er schien noch etwas sagen zu wollen, aber in diesem Moment kam Mia mit der Flugbegleiterin zurück.
„Mummy, ich durfte das Flugzeug steuern!“
„Was du nicht sagst!“ Annabelle schloss sie in die Arme. Geistesgegenwärtig fragte sie: „Weißt du denn auch noch, wie du Mr. Stephens nennen sollst?“
„Natürlich. Ich soll Daddy zu ihm sagen.“ Stolz schaute Mia ihn an. Er nickte zufrieden.
„Du bist ein sehr kluges Mädchen!“
„Ich weiß“, erklärte Mia und grinste. „Ms. Mitchell will mir noch ihre Küche zeigen. Und ich bekomme Orangensaft!“
Fröhlich hüpfte sie an Ms. Mitchells Hand davon.
„Sie kann das schon sehr gut“, stellte Nick anerkennend fest. „Da müssen wir beide wohl noch etwas üben.“
„Was üben?“, fragte Annabelle.
„Uns bei unserem Vornamen anzusprechen. Und einander zu duzen.“
„Oh ja, natürlich.“ Sie spürte, wie sie rot wurde. Nick Stephens duzen! Das erschien ihr sehr intim.
„Also?“ Er sah sie erwartungsvoll an.
Annabelle blinzelte verwirrt. „Ja?“
„Willst du mich nicht Nick nennen?“ Er sah sie mit seinen dunklen Augen eindringlich an. Täuschte sie sich, oder schwang bei der Frage ein Hauch von Zärtlichkeit in seiner Stimme mit?
Sie räusperte sich. „Natürlich, Nick …“
Er hielt ihren Blick immer noch fest. „Sehr gut, Annabelle“, meinte er mit rauer Stimme. „Das klingt wirklich sehr gut!“
Was ist nur mit mir los? fragte Nick sich irritiert. Es schien, als könnte er sich nicht von Annabelle Whitmores grünen Augen losreißen. Als würde er darin versinken. Und der Klang ihrer sanften Stimme, wenn sie seinen Vornamen aussprach, erzeugte ein Kribbeln in seinem Körper, das er sich nicht erklären konnte.
Er sollte sich lieber konzentrieren. Schließlich würden sie bald Griechenland erreichen. Dann war es nicht mehr lange bis zum Wiedersehen mit seinen Eltern.
Würden sie wirklich glauben, dass Annabelle und er ein Ehepaar waren? Das Ganze erschien ihm plötzlich zu fantastisch, um funktionieren zu können. Aber nun hatte er einmal diesen Weg eingeschlagen und konnte nicht mehr zurück. Er konnte nur beten, dass Annabelle und ihre Nichte seine Familie überzeugen würden.
Nachdem sie in Chania im Nordwesten von Kreta gelandet waren, fuhren sie als Erstes in das Hotel, in dem Nick eine Suite für sie gebucht hatte. Es war ein elegantes dreistöckiges Gebäude in der Altstadt von Chania, mit dem Flair eines venezianischen Palazzos. Rasch machten sie sich frisch, dann ging es weiter zum Hafen. Eine Fähre, die in regelmäßigen Abständen fuhr, brachte sie auf seine Heimatinsel Illios.
Es war ein prachtvoller Frühsommertag. Die Sonne brannte noch nicht zu heiß, sodass sie die Fahrt mit der Fähre an Deck genießen konnten. Mia stand an der Reling und starrte fasziniert auf das schäumende Wasser, das der Rumpf des Schiffes aufwühlte. Möwen kreisten am Himmel und erfüllten die Luft mit ihren schrillen Schreien. Der Wind trug den Geruch nach Fisch und Salzwasser mit sich.
Auch Annabelle beugte sich über die Reling und drehte ihr Gesicht in den Wind, der mit ihrem rotbraunen Haar spielte. Sie hatte es zwar mit einer Spange festgesteckt, doch einige Strähnen lösten sich und umschmeichelten ihre Wangen, die von der frischen Seeluft gerötet waren.
Nick hatte während der Überfahrt Zeit, seine Sekretärin eingehender zu betrachten. Sie trug ein weißes Seidentop, das sanft ihre Rundungen umschmeichelte. Dazu eine lässig geschnittene blaue Hose und eine leichte helle Jacke, die sie sich um die Schultern gelegt hatte. Außerdem flache Ballerinas. Sie war praktisch und trotzdem ungemein schick gekleidet. Noch nie zuvor war ihm aufgefallen, was für eine wunderschöne Frau sie war.
Nicht ganz sein Typ, musste er sich eingestehen. Sie war bestimmt nicht an einem flüchtigen Abenteuer interessiert. Wenn Annabelle Whitmore jemals ihr Herz verschenken würde, dann vermutlich für immer.
Er blinzelte irritiert. Wie kam er auf so einen Gedanken? Er hatte nicht die Absicht, irgendetwas mit Annabelle anzufangen. Es war schließlich eine rein geschäftliche Übereinkunft, die sie getroffen hatten.
Langsam schlenderte er zu ihr und lehnte sich neben ihr an die Reling. Annabelles grüne Augen strahlten. „Was für ein wundervoller Tag!“, rief sie begeistert. „Und das Meer! Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es wirklich so blau ist!“
„Du bist noch nie zuvor am Meer gewesen?“, fragte Nick überrascht.
„Nur in England. Im Sommer sind unsere Eltern ein paarmal mit meinen Schwestern und mir nach Brighton oder Bournemouth gefahren. Aber am Mittelmeer war ich noch nie!“
Nick lächelte. Ihre Begeisterung war ansteckend. „Ich habe es auch immer geliebt. Als Kind war ich den ganzen Tag über am Wasser zu finden, bin getaucht und geschwommen.“
„Das muss herrlich gewesen sein.“
„Ja, das war es“, stellte er nachdenklich fest. Tatsächlich hatte er eine unbeschwerte Kindheit auf Illios verlebt. Von den Sorgen und Kämpfen seiner Eltern hatte er nicht viel mitbekommen. Als Junge war für ihn jeder Tag ein großes Abenteuer gewesen. Er spürte einen Anflug von Melancholie, wenn er daran zurückdachte. Auch wenn er sein Bestes tat, jede Verantwortung und Verpflichtung von sich fernzuhalten, war sein Leben bei Weitem nicht mehr so frei und unbekümmert wie damals.
Mia stieß einen Schrei aus. „Da! Ein Delfin!“
Wirklich, einer der eleganten Meeressäuger hob seine graue Rückenflosse für einen Augenblick aus den Wellen und tauchte wieder unter. Mehrere Minuten lang schwamm er neben der Fähre her, während sich die Passagiere an Deck drängten, um ihn zu filmen und zu fotografieren. Auch Annabelle hielt den besonderen Anblick mit ihrem Handy fest.
„Das muss ich meinen Schwestern schicken!“, rief sie aufgeregt. „Sie werden mir nie glauben!“
Nick streckte den Arm aus. „Da vorne ist schon Illios!“
Am Horizont tauchte ein brauner Streifen aus dem Meer auf und wurde rasch größer. Neugierig spähten Mia und Annabelle in die Ferne. Nick spürte, wie die Anspannung in ihm wuchs. Was würde ihn zu Hause erwarten? Warum konnte er nie hierher zurückkehren, ohne ein Gefühl der Beklommenheit zu verspüren?
Der Hafen von Illios kam in Sicht. Daran grenzte eine kleine Ortschaft, die Illios-Stadt genannt wurde, mit ein paar Geschäften, Lokalen und einem Postamt. Den Mittelpunkt bildete die Kirche, neben der die Insel-Schule untergebracht war. Als die Fähre anlegte, sah er seine Schwester Elena an der Absperrung warten. Aufgeregt winkte sie ihm zu. Sobald sie die wackelige Gangway überquert hatten, stürzte Elena auf sie zu.
„Nikos, wie schön dich wiederzusehen! Ich freue mich so.“ Impulsiv fiel sie ihm um den Hals. Er bemühte sich, ihre herzliche Umarmung zu erwidern, aber er konnte nicht verhindern, dass er das Gesicht verzog. Nikos! Seine Familie konnte – oder wollte – sich einfach nicht an seinen selbst gewählten englischen Namen gewöhnen. Für sie würde er wohl immer der griechische Junge Nikos bleiben.
Elena drehte sich zu Mia und Annabelle um, die hinter ihm standen. Sofort wechselte sie zu perfektem Englisch. „Und das ist deine Frau! Und dein Kind!“ Mit ausgebreiteten Armen ging sie auf die beiden zu. „Willkommen auf Illios. Ich bin Elena, Nikos’ Schwester.“
„Ich bin Annabelle. Und das ist meine – unsere Tochter Mia. Wir freuen uns sehr, hier zu sein.“
„Ich habe einen Delfin gesehen“, verkündete Mia mit großen Augen.
„Tatsächlich? Es gibt einige Delfine in der Ägäis, aber leider sind sie schon sehr selten geworden. Du hattest Glück, einen zu entdecken. Das musst du mir unbedingt genauer erzählen.“
Die beiden gingen voraus zu Elenas Wagen, einem altersschwachen grauen Kombi, der von einer dicken Staubschicht bedeckt war. Aufgeregt schilderte Mia ihre Begegnung mit dem Delfin. Nick und Annabelle folgten ihnen mit einigen Schritten Abstand. „Meine Schwester habt ihr offensichtlich überzeugt“, raunte er. „Dann kann eigentlich nichts mehr schiefgehen.“
Annabelle stieß einen tiefen Seufzer aus. „Eigentlich …“, wiederholte sie mit zweifelnder Stimme.
Nick ertappte sich dabei, dass er gerne nach ihrer Hand greifen wollte, um sie aufzumuntern, aber er wusste nicht, wie sie darauf reagieren würde. Sie hatten nicht abgesprochen, wie weit sie seiner Familie gegenüber Nähe oder Zuneigung demonstrieren sollten. Langsam dämmerte ihm, wie viel er bei diesem Plan nicht bedacht hatte.
Die Fahrt in Elenas Wagen führte durch eine karge, steinige Landschaft, die nur gelegentlich von schmalen Streifen Vegetation unterbrochen wurde. „Die meisten Leute hier bauen Oliven an“, erklärte Elena. „Es ist das Einzige, was auf diesem trockenen Boden wächst.“
Nach etwa fünfzehn Minuten erreichten sie ein weitläufiges Anwesen. Das Haupthaus und die Nebengebäude waren aus dem grauen Stein gemauert, der überall auf der Insel zu finden war. Dahinter erstreckte sich eine Olivenplantage mit Hunderten grau-silbernen Bäumen. Vor dem Wohnhaus stand eine ältere Frau, die aufgeregt ihre Finger knetete. Ihr schwarzes Haar glänzte in der Sonne und war erst von wenigen weißen Haaren durchzogen.
„Nikos! Nikos!“ Mit raschen Schritten eilte sie herbei, als sie ausstiegen. Sie schloss Nick in die Arme und überschüttete ihn mit einem Schwall griechischer Worte. Mit Mühe löste er sich aus ihrer Umklammerung.
„Mama, das ist Annabelle, meine Frau“, verkündete er, so feierlich er konnte. „Und das ist Mia.“
Nicks Mutter ergriff ehrfürchtig Annabelles Hand und hielt sie lange in der ihren. Tränen schimmerten in ihren dunklen Augen. „Willkommen, ich bin Maria“, murmelte sie in gebrochenem Englisch. „Ich freue mich. Ich freue mich!“ Sie beugte sich zu Mia und strich ihr über die kastanienbraunen Locken. „Mia“, wiederholte sie. „So schön, dich zu sehen.“ Dann schaute sie sich um. „Wo Koffer?“, fragte sie irritiert.
„Ich habe ein Zimmer auf Kreta gebucht“, erklärte Nick. „Wir wollen euch keine Umstände machen.“
„Umstände?“ Seine Mutter schüttelte entschlossen den Kopf. „Keine Umstände. Familie gehört zusammen. Ihr wohnt hier!“
Sie machte deutlich, dass sie keinen Widerspruch duldete. Erschrocken warf Annabelle Nick einen raschen Blick zu. Er nickte kaum merklich und beugte sich zu ihr. „Mach dir keine Sorgen“, flüsterte er. „Ich kriege das schon hin!“
Mit seinen Eltern unter einem Dach zu wohnen, gehörte definitiv nicht zu seinem Plan. Sollten sie tatsächlich gezwungen sein, über längere Zeit auf engstem Raum zusammenzuleben, drohte diese Urlaubsreise schwieriger zu werden als gedacht.
Mit einem Seufzen sah Annabelle sich in dem Schlafzimmer mit dem riesigen Doppelbett um, das für sie und Nick vorgesehen war. Eine Verbindungstür führte in einen zweiten, kleineren Raum, der liebevoll als Kinderzimmer eingerichtet worden war. Vermutlich war es Elenas altes Zimmer. Mia hatte sofort ihren Rucksack auf das Bett geworfen und es sich auf der Tagesdecke bequem gemacht.
Natürlich hatte sich Nicks Mutter nicht umstimmen lassen. Alles war extra für sie vorbereitet worden: Die Vorhänge waren gewaschen, die Betten frisch bezogen, und in jedem Zimmer stand ein selbst gepflückter Blumenstrauß. Ein Junge, der auf der Plantage aushalf, war zum Hafen geschickt worden, um mit der nächsten Fähre nach Kreta zu fahren und das Gepäck zu holen.
Sosehr die Fürsorge und der Eifer von Nicks Mutter Annabelle rührten, so unwohl fühlte sie sich bei dem Gedanken, mehrere Tage hier zu verbringen, so nahe bei Nick. Außerdem würden sie seine Eltern auf Dauer doch nie täuschen können …
„Ich werde in Elenas Zimmer übernachten“, raunte er ihr zu. „Mia und du könnt im Doppelbett schlafen. Es ist nur für eine oder zwei Nächte. Bis die Geburtstagsfeier vorbei ist. Das verspreche ich.“
„Wusstest du davon?“ Sie konnte den leisen Vorwurf in ihrer Stimme nicht verbergen.
„Natürlich nicht. Ich habe nur nicht mit der Hartnäckigkeit meiner Mutter gerechnet!“
„Das sehe ich“, erwiderte Annabelle mit einem Lächeln. Ihre Mutter hätte genauso gehandelt. Es wäre undenkbar für sie gewesen, dass ihre Kinder bei einem Besuch nicht in ihrem Haus übernachteten.
Tatsächlich erinnerte sie vieles hier an ihre eigene Familie. Und ihr wurde schmerzlich bewusst, wie sehr sie das alles vermisste. Umsorgt und verwöhnt zu werden. Zu wissen, dass es da jemanden gab, auf den sie sich immer verlassen konnte. Das herzliche Willkommen, das Nicks Familie ihnen entgegenbrachte, tat ihr unglaublich gut.
„Kommt ihr?“, rief Mia, nachdem sie die Zimmer erkundet hatte. „Tante Elena hat gesagt, sie zeigt mir die Tiere auf dem Hof!“
Mit der Selbstverständlichkeit eines Kindes hatte die Kleine ihre neue „Familie“ akzeptiert. Annabelle wünschte, sie könnte das auch. Sie wollte diesen Aufenthalt einfach nur genießen, ohne sich ständig Sorgen darüber machen zu müssen, dass sie ertappt wurde.
Während sie nach unten gingen, schaute Annabelle sich weiter aufmerksam um. Die Treppe führte in einen weitläufigen Wohnraum, dessen Fenster den Blick nach allen Seiten freigaben. Ein offener Durchgang führte in die Küche, wo sie Maria geschäftig hantieren hörte. Offensichtlich war sie mit Eifer dabei, das Abendessen vorzubereiten. Das Haus war einfach, aber gemütlich eingerichtet, mit bunten Teppichen und Vorhängen und einem Sammelsurium an Möbelstücken, die nicht zusammenzugehören schienen, aber trotzdem ein harmonisches Ganzes ergaben.
Elena zog sie ins Wohnzimmer, wo ein weißhaariger alter Mann in einem Lehnstuhl am Fenster saß. Obwohl er gebrechlich wirkte, sprachen aus seiner Haltung und seiner Miene Stolz und Unbeugsamkeit. Die Ähnlichkeit zwischen Nick und ihm war verblüffend.
„Papa, sieh nur, Nikos ist nach Hause gekommen!“, rief Elena und umarmte den alten Mann. „Mit seiner Frau Annabelle und ihrer Tochter Mia!“
„Nikos?“ Verwirrt blickte der Mann von einem zum anderen. „Nikos sollte doch bei der Arbeit sein! Die Olivenbäume müssen beschnitten werden!“
„Natürlich, Papa“, erwiderte Elena geduldig. „Das werden wir so schnell wie möglich erledigen. Ruh dich jetzt aus. Du bist sicher müde.“
Verlegen führte Elena sie wieder hinaus. „Der Arzt sagt, er leidet an beginnender Demenz“, flüsterte sie ihnen zu. „An manchen Tagen ist er ganz normal, und an anderen scheint er sich an kaum etwas zu erinnern. Dann lebt er ganz in der Vergangenheit. Seit Alexandros’ Tod ist es deutlich schlimmer geworden.“
„Das tut mir sehr leid“, erwiderte Annabelle. „Es muss schwer für Maria und dich sein, dabei zuzusehen.“
„Das ist es“, gab Elena zu. „Aber umso mehr freue ich mich, dass ihr nun hier seid. Schließlich sind wir eine Familie!“
Annabelles Herz machte einen Sprung. Wieder Teil einer Familie zu sein, bedeutete ihr sehr viel. Auch wenn es nur eine Familie auf Zeit war. Und sie fühlte wirklich mit Elena mit. Sich vorzustellen, ihr Vater hätte sich nicht mehr an sie erinnern können, war schmerzhaft. Sie konnte nur ahnen, wie es Elena und ihrer Mutter dabei erging.
„Kann man nichts dagegen tun?“, fragte Nick. Auch er wirkte betroffen. Offensichtlich hatte er nichts von der Erkrankung seines Vaters gewusst.