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Andreas Dörr

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Beschreibung

Aus der Kurzgeschichte "Invasion": Dort lag der Strick, mit dem sich seine Frau das Leben genommen hatte. Er betrachtete ihn eingehend. Dann nahm er ihn in die Hände und schloss den Schrank. Er blies die Kerze aus und ging leichten Schrittes nach oben in eines der Kinderzimmer. Es war nur schade, dass niemand da war, der ihn nachher von dem Seil befreite und begrub. Aber damit konnte er umgehen.

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Seitenzahl: 185

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Zu den Inhalten

Seelenlauf

Kapitel 1: Tabea

Der Tag, an dem die Träume blieben

Die Nacht, in der ich Kurt Cobain erschoss

Wunschvorstellung

Alles im Wunderland

Seelenlauf

Kapitel 2: Abschied

Herr Robinsons Initiative für die Literatur

Ein schöner Frühlingstag

Das Wesen im Wald

G.P.A.S

Fröhliches neues Jahr

Seelenlauf

Kapitel 3: Sandras Traum

Wingerath

Invasion

Ein würdevoller Abschied

Forest

Die Einladung

Die Nachbarin

Am siebten Tage ruhte er

Feuerzeit

Seelenlauf

Kapitel 4: Phasenmensch

Für Johanna

Seelenlauf

Erstes Kapitel

Tabea

Jonathan Berger stieg aus seinem Wagen aus und betrachtete den Parkplatz seiner alten Schule, den er jetzt schon seit 15 Jahren nicht mehr gesehen hatte.

"Hat sich kaum was verändert", murmelte er fast nicht hörbar.

Langsam schlug er die Tür seines Autos zu und ging zügigen Schrittes Richtung Schulhof. Der Wind spielte mit den braunen Blättern auf dem Boden und er zog den Reißverschluss seiner Jacke nach oben und steckte seine Hände in die Jackentaschen. Heute war ein kalter Tag. Und der Wind wurde in den letzten Stunden immer heftiger. Was typisch für diese Jahreszeit war. Die Sonne stand schon sehr tief am ansonsten wolkenlosen, blauen Himmel und Jonathan blieb kurz auf dem Schulhof stehen und sah sich um. Bilder jagten an seinem inneren Auge vorbei. Bilder von früher. Als er hier noch jeden Morgen seines Lebens verbrachte. Hier war er glücklich. Hier war er traurig, hier war er auch manchmal wütend. Und hier traf er Tabea Rosengard auch jeden Tag. Damals in der fünften Klasse. Sie hatte dieses geblümte Kleid an, das ihm damals schon so gut gefiel. Tabea war auch der Grund, warum er auch heute wieder auf diesem Schulhof stand. Jonathan hatte vor drei Wochen eine Einladung bekommen zum Klassentreffen seiner Abschlussklasse. Der erste Gedanke, der ihm damals, als er den Brief in der Hand hielt, durch den Kopf ging, drehte sich um sie "Tabea". Langsamen Schrittes ging er Richtung Eingangstür seiner Schule. Er öffnete die Tür und ging hinein. Es roch immer noch so wie früher. Eine Mischung aus modrigen alten Möbeln und „Teenager- Geist.“ Er schmunzelte kurz als ihm die Wörter "Teenager-Geist" durch den Kopf rauschten. Ein paar Takte aus "Smells like teen spirit" schossen ihm durch den Kopf. Leise hörte er Musik. Sie schien aus der Aula zu kommen. Er beschloss der Musik nachzugehen und hoffte auf ein paar vertraute Gesichter. Jonathan öffnete die Glastür, ging die paar Stufen hinunter, bog nach rechts ab und schon wurde die Musik lauter. Er war auf dem richtigen Weg. Nur noch die paar Stufen nach unten und er stand vor der großen Holztür der Aula seiner Schule. Er legte die Hand auf die Klinke und atmete tief durch. Vielleicht ist Tabea ja schon da. Wie sollte er sich verhalten? Hatte er sich darüber schon Gedanken gemacht? Würde er sie anlächeln und auf sie zugehen oder zunächst so tun als würde er sie nicht sehen? Den Coolen spielen! Jonathan entschloss sich, die Tür langsam zu öffnen. Er schaute kurz durch den dadurch entstandenen Spalt, sah das bereits einige Leute da waren und ging mutigen Schrittes durch die Tür. Einige sahen zu ihm rüber, lächelten ihn an und einige erkannten ihn sogar direkt. "Jonathan! Altes Haus", hörte er eine dunkle Männerstimme aus einer Traube von Personen, die am Büfett standen. Der Mann kam auf ihn zu. Jonathan erkannte ihn. Es war Martin. Martin Hessler. Nicht gerade ein Jugendfreund, der mit einer guten Erinnerung verbunden werden kann, aber zumindest ein vertrautes Gesicht. Es hätte schlimmer kommen können, dachte Jonathan. Kaum hatte er diesen Gedanken vollendet, spürte er auch schon die dicke Umarmung von Martin. Er erwiderte sie. Nicht gerne aber er tat es. "Mensch, schön dich endlich mal wieder zu sehen, Jonathan! Komm mit rüber! Sandra, Thomas, Benjamin, Claudia und Joshua sind auch schon da.“ Jonathan hoffte den Namen "Tabea" zu hören. Leider vergeblich. Er traute auch nicht zu fragen, sondern ging wortlos mit. Bei seinen alten Schulfreunden angekommen, drückte man ihm zuerst ein Glas Bier in die Hand, welches er dankbar annahm. „Erst mal locker werden!" dachte er. Es begann der zu erwartende Small Talk. Was hat man gemacht? Wo war man gelandet? War man verheiratet? Hatte man Kinder? Jonathan hörte einfach nur zu und hoffte den Namen zu hören, weswegen er hier war. Aber keiner erwähnte ihn. Langsam kamen immer mehr seiner alten Schulfreunde zum Treffen. Bei einigen freute er sich, sie wieder zu sehen, anderen versuchte er aus dem Weg zu gehen. Es wurde immer später und später, aber Tabea war nirgends zu sehen. Das deprimierte ihn langsam. Er musste plötzlich an sein altes Klassenzimmer denken und er fragte sich, ob er einfach unbemerkt dorthin gehen sollte! Sich einfach mal auf seinen alten Platz setzen und die Gedanken schweifen lassen. Es würde ja auch nur ein paar Minuten dauern. Spätestens in einer halben Stunde, würde er wieder zurück sein und vielleicht würde er nach seiner Rückkehr auf Tabea treffen! Er stellte unbemerkt sein Glas zur Seite und schlenderte langsam Richtung Tür...und verschwand. Jedenfalls glaubte er das. Der Flur war dunkel und er musste aufpassen, dass er die Treppen nicht verfehlte. Der modrige Geruch empfing ihn wieder und er ging schnellen Schrittes die 22 Stufen bis in den zweiten Stock und dann den langen Flur in Richtung seines alten Klassenzimmers, das sich auf der linken Seite des Flurs befand. Es war sehr still. Er bewegte die Klinke der Tür nach unten und siehe da! Die Tür ging auf. Er war froh, denn wenn sie abgeschlossen gewesen wäre, wäre er sehr enttäuscht gewesen. Jonathan ging hinein und erschrak für einen Moment. Er war nicht allein! Eine Gestalt saß im dunklen Zimmer und schaute ihn an. „Jetzt oder nie, Johnny B.!" sagte eine Frauenstimme zu ihm. Und er erwiderte: „Hallo, meine Rose!" So begrüßten sie sich früher jeden Tag, wenn sie sich in der Schule trafen. Tabea und er. Keine Ahnung mehr wieso. Es klang kindisch. Aber das waren sie damals. Kinder! Sein Herz klopfte schneller, als er Tabea vor sich sitzen sah. Er freute sich, sie wiederzusehen und Tabea stand auf, kam auf ihn zu und gab ihm die schönste und wärmste Umarmung seines Lebens. Sie standen beide für eine gefühlte Ewigkeit einfach nur so da und sagten nichts. Umarmten sich nur.

„Ich hatte gehofft, dich hier zu sehen", unterbrach Jonathan die Stille. Tabea drückte ihn fester an sich und flüsterte „Ich auch" Sie entließ ihn aus ihrer Umarmung und beide sahen sich in die Augen und lächelten einander an. „Es ist lange her", sagte Tabea und setzte sich wieder auf ihren Platz. „Ja", sagte Jonathan. „15 Jahre". Jonathan hatte so viele Fragen an sie, aber er wusste nicht, wo er beginnen sollte. Er setzte sich zu ihr und betrachtete sie. Sie sah wunderschön aus. So wie immer. Es hatte den Anschein, als hätte sie sich in all den Jahren gar nicht verändert. Er spürte, dass sein Herz klopfte und dass er nervös war. Das passte ihm gar nicht. Er überlegte wie er es überspielen könnte, aber Tabea fiel es bereits auf. „Warum bist du denn so nervös, Jonathan?" fragte sie ihn mit dem bezauberndsten Lächeln, das er je gesehen hatte. Er merkte, dass er sich wieder aufs Neue in sie verliebte. Es gefiel ihm auf der einen Seite, aber er konnte sich auch zu gut an die Zeit erinnern, als sie ihm das Herz brach. „Ich weiß es nicht", erwiderte er. „Es ist einfach nur so, dass ich mich freue, dich nach all dieser Zeit wiederzusehen. Das ist alles." „Das ist schön, dass du dich freust. Jedoch hatte ich auch Angst, dass du mit mir nicht mehr reden willst, nachdem ich damals einfach so gegangen bin ohne mich zu verabschieden und ohne dir zu sagen, wo ich hinwill." sagte Tabea zu ihm. „Irgendwie spielt es keine Rolle mehr. Jetzt wo ich dich wiedersehe. Du hattest damals bestimmt deine Gründe dafür und nach all der Zeit dir nun böse zu sein, würde doch jetzt die Stimmung verderben." sagte Jonathan mit einem Lächeln auf den Lippen. „Das ist schön", sagte sie zu ihm. "Sicherlich war es damals für mich unverständlich, wieso du von jetzt auf gleich verschwunden bist. Ich meine, am Abend vor deinem Verschwinden haben wir noch über unsere Zukunft geredet und am anderen Tag warst du einfach weg. Keiner wusste, wo du hin bist. Deine Eltern meinten nur, du hättest deine Sachen gepackt, hättest gesagt, du musst hier weg, sie sollten sich keine Sorgen machen, du kämst schon zurecht und das war es. Kein Brief, kein Telefonanruf, keine E-Mail! Nichts!" Erst ein paar Monate später habe ich erfahren, dass du in der Nähe von Köln lebst und dass du dort studierst. Aber ich war damals zu böse und zu wütend als dass ich Kontakt zu dir hätte aufbauen wollen", sagte Jonathan zu ihr. „Das kann ich verstehen" meinte Tabea mit ruhiger Stimme. „Aber lass uns nicht von den schlimmen Dingen reden, sondern von den guten, Tabea! Lass uns daran erinnern, was früher zwischen uns war und was eventuell wieder sein könnte." Jonathan hasste sich für diese letzte Bemerkung. "...was eventuell wieder sein könnte!" wie klingt das denn! Aber Tabea schien die letzte Bemerkung überhört zu haben, denn Sie lächelte ihn nur an und meinte „Okay, dann fang ich mal an. Kannst du dich noch an dieses Lied erinnern, das wir damals so gerne gehört haben? Das von dieser englischen Band...wie war nochmal der Name?“ „The Cure", meinte Jonathan. Du meinst „Last Dance - Letzter Tanz". „Ja“, meinte Tabea. „Genau, Last Dance. Das haben wir beide doch so geliebt. So schön traurig und so romantisch doch irgendwie.“ Jonathan griff in seine Hosentasche und nahm sein Handy hervor. „Ich habe es rein zufällig dabei“, meinte er und wackelte mit seinem Handy. Tabea grinste über beide Ohren. "Mach es an!" sagte sie enthusiastisch und klatschte in die Hände. „Dann möchte ich auch mit dir tanzen", entgegnete er fordernd. „Sehr gerne", meinte Tabea stand auf und streckte ihm die Hände entgegen.

Die ersten Töne von "Last Dance" erklangen und Tabea schmiegte sich an Jonathans Körper. Er spürte ihre warme, weiche Figur und er fühlte sich zurückversetzt in die Zeit, als beide so unendlich ineinander verliebt waren, dass er sich ein Leben ohne sie überhaupt nicht mehr vorstellen konnte. Tabea legte ihren Kopf auf die Schulter von Jonathan und schloss die Augen. Er konnte ihr rotes Haar riechen und ihre Haut. Dieser Geruch hatte er so vermisst und er merkte jetzt erst, wie sehr Tabea ihm gefehlt hatte. Als das Lied sich dem Ende näherte, hob Tabea den Kopf. Ihre blauen Augen waren ein wenig wässrig und Jonathan wusch ihr eine Träne von der Wange. Er verspürte den Drang, sie zu küssen, aber er traute sich nicht. Stattdessen sagte er: „Wo wir gerade dabei sind unsere Vergangenheit wieder aufleben zu lassen, kannst du dich noch an das Gedicht erinnern, das du mir mal geschrieben hast?" Tabea lächelte leicht. "Liebeswehen" meinst du, Jonathan? „Ja, genau das“. „Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern.“ Jonathan griff erneut in seine Hosentasche und zog einen alten, leicht vergilbten, sehr vergriffenen Zettel hervor und entfaltete ihn. Er begann zu lesen:

Liebeswehen

Sie sind noch da - die Gefühle in mir.

Ich dachte sie wären verschwunden.

Sie drängten mich weiter zu Dir

und rissen auf - alte Wunden.

Ich lebte so lange mit Schmerz - ohne Liebe.

Das ich schon dachte, ich wäre verstorben.

Ich sehe nun klarer und weiter mit Dir.

Gefühle unverdorben.

Bist Du denn da und wartest auf mich und zeigst mir die Wege hieraus!

Oder gehst Du hinweg und lässt mich im Stich und lässt mich alleine zu haus ´?

Bitte gib mir Antwort, denn ich warte auf Dich und warte bis gar nichts mehr geht.

Bitte bleib bei mir - entferne Dich nicht, bleib bei mir bis die Liebe verweht.

Tabea blickte ihn an. Sie hatte traurige Augen. Sehr traurige Augen. „Ich wünschte, ich wäre damals nicht gegangen, Jonathan. Ich wünschte es so sehr. Es war der größte Fehler meines Lebens. Du wirst das nicht verstehen, aber es ist so. Ich kann diesen Fehler leider nicht mehr rückgängig machen. Ich kann vieles nicht mehr rückgängig machen. Es tut mir leid."

„Aber Tabea, wir können doch nochmal von vorne anfangen, jetzt wo wir uns wiedergefunden haben. Das könnten wir zumindest versuchen. Meinst du nicht auch? Hier hast du einen Stift, schreib mir deine Telefonnummer auf, deine E-Mail-Adresse egal was! Hauptsache wir bleiben in Kontakt. Tabea nahm zögernd den Stift und drehte das Blatt mit dem Gedicht herum und begann zu schreiben. „Jonathan, würdest du uns was zu trinken besorgen? Ich habe echt großen Durst. In der Zwischenzeit schreibe ich dir meine Daten auf und warte auf dich", sagte Tabea fast wie in Trance. „Gerne“, erwiderte Jonathan und machte sich auf den Weg zurück zur Aula. Er war so glücklich Tabea endlich wieder gefunden zu haben und seine Schritte wurden schneller, damit er umso zügiger wieder bei ihr wäre. In der Aula war mittlerweile sehr viel los und Jonathan hatte Mühe zur Bar zu gelangen. „Jonathan, wo warst du denn die ganze Zeit?" hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich. Es war Martin. „Hey, Martin, ja ich war gerade in unserem alten Klassenzimmer und rate mal, wen ich dort getroffen habe: Tabea. Tabea Rosengard. Kannst du dich noch an sie erinnern?“ Martin sah ihn verwundert an und sein Gesicht versteinerte sich. „Martin!" meinte Jonathan „Du musst dich doch noch an Sie erinnern können! Das Mädchen mit dem ich damals zusammen war. Jetzt schau nicht so blöd.“ Martin sah ihn immer noch fassungslos an und nickte langsam mit dem Kopf. „Natürlich kann ich mich an sie erinnern, Jonathan, aber es ist unmöglich, dass du dich mit ihr unterhalten hast oder was auch immer. Und wenn das ein Scherz ist, dann ist er nicht witzig!“ Jonathan blickte ihn verständnislos an. „Martin, was meinst du?" sagte er verwundert. Martin zog ihn am Ärmel und ging mit ihm ein paar Meter weiter weg um sich in Ruhe mit ihm zu unterhalten. „Jonathan, hör mal, ich weiß nicht, welche Drogen du nimmst oder was sonst nicht mit dir stimmt. Aber du kannst mit Tabea nicht gesprochen haben. Tabea starb vor fünf Jahren bei einem Unfall! Sie fuhr mit ihrem Wagen gegen einen Baum. Sie beging Selbstmord. Ich war damals sogar auf ihrer Beerdigung." Jonathan sah Martin lange an. „Du bist echt der dümmste Mensch, den ich kenne", sagte er zu ihm. „Wenn ich mich da in eure Unterhaltung einmischen darf" sagte plötzlich eine fremde Stimme, die Sandra Gesgen gehörte, einer Schulfreundin. „Jonathan. Martin hat recht. Ich war damals auch auf ihrer Beerdigung. Wir hatten dich versucht zu erreichen, aber keiner von uns wusste, wie wir dich kontaktieren sollten. Du warst irgendwie nicht auffindbar. Ich weiß nicht mit wem du geredet hast, aber Tabea kann es nicht gewesen sein.“ Jonathan sah beide böse an und rannte los. Er rannte aus der Aula, rannte die Treppen hoch und den Flur runter zu seinem Klassenzimmer. Er konnte nicht glauben, was er gehört hatte. Als er vor dem Klassenzimmer stand, zögerte er einzutreten. Tat es aber doch. Das Zimmer war leer. Nur ein Zettel lag auf einem der Tische. Er ging zum Tisch, nahm den Zettel in seine Hand und begann zu lesen:

Mein Jonathan,

„Leider wird es für uns keine Zukunft geben. Ich habe meine Zukunft vor fünf Jahren verspielt. Es tut mir leid, aber sei dir versichert:

Meine Liebe zu dir verweht nie!

Irgendwas bleibt! Auch wenn es nur unser letzter Tanz ist.

In Liebe, Tabea.

Der Tag, an dem die Träume blieben

Er starrte auf den weiten, blauen Himmel über ihm. Sein ganzer Körper war umströmt von warmen Wasser und er ließ sich mit dem Rücken nach unten im Meer treiben. Seine Ohren befanden sich unter der Oberfläche und das Rauschen, das er hörte, beruhigte sein ganzes Sein, seine Seele und seine physische Gestalt als er weiter nach oben in den herrlichen, sonnendurchfluteten Horizont blickte. Er breitete seine Arme aus und begann langsam mit ihnen zu rudern. Das Wasser war herrlich erfrischend und er genoss es dahinzutreiben und seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Seine Kinder und seine Frau spielten am Strand und er schaute ihnen aus der Ferne hin und wieder zu, während er teilweise schwamm oder wie jetzt, sich einfach von den Wellen treiben ließ. Ein paar Vögel flogen direkt über ihm in Richtung des Strandes und er blickte ihnen nach. Wie sehr wünschte er sich mit ihnen fliegen zu können. Auf Reisen zu gehen mit diesen wundervollen Geschöpfen des Himmels. Er brachte seinen Körper in die Senkrechte und eine kühle Strömung umspülte seine Beine. Er schloss für einen kurzen Moment seine Augen und spürte dabei, wie sich sein Körper langsam aber stetig und voller Stolz aus dem Wasser senkrecht nach oben bewegte. Obwohl ein Fremdkörper, empfing ihn die Luft in ihrem Element und hieß ihn mit einem leichten Windstoß willkommen. Leicht blinzelnd öffnete er seine Augen und befand sich nun bereits fünf oder sechs Meter über dem Spiegel des Meeres, von dem er noch vor ein paar Sekunden wohlig umarmt wurde, wie ein Säugling im Leib seiner Mutter. Er lachte laut und freute sich endlich mit den Vögeln reisen zu können und stürzte sich weiter lachend in die Wellen der Luft, die ihn immer mehr umspülten und ihn in immer höhere Sphären trugen. Das Meer und der Strand, an dem seine Familie stand und ihm in seinem Flug zuwinkte, wurden immer kleiner. Er war bald umgeben von Seemöwen, die ihn mitnehmen wollten in ihrem Flug und willkommen hießen als Freund und Begleiter in ihrer Mitte. Es war einfach nur herrlich den Wind zu spüren, dem Gesang seiner neuen Freunde zu lauschen und die endlose Freiheit zu spüren. Nachdem er mit ihnen eine Zeit lang geflogen war, bekam er Hunger und beschloss, zurück zum Strand zu fliegen. Er verabschiedete sich von seinen Mitreisenden und ließ seine Augen über die Weiten des Meeres schweifen auf der Suche nach dem Strand. Er musste inzwischen 100 Meter hoch oben in der Luft sein und der Ausblick war einfach unbeschreiblich. Er konnte Inseln in der Ferne ausmachen. Fischerboote, die ihre Angeln ausgeworfen hatten und auf reiche Beute hofften. Irgendwo weit unten erkannte er Delfine, die fröhlich aus dem Wasser sprangen und endlich sah er auch seine Familie, die immer noch freudestrahlend Ausschau nach ihm hielt. In einem wilden Sturzflug trat er den Heimflug an. Die Insel und der Strand wurden immer größer und er konnte das Lachen seiner Kinder hören, das wie Musik in seinen Ohren klang. Er spürte völlige und unnachgiebige Zufriedenheit in sich und ein paar Minuten später landete er sanft von Jubelschreien begleitet in den Armen seiner Frau und seinen Kindern. Der Duft von frisch gegrillten Fleisch und leckeren Salaten strömte in seine Nase und kurz darauf fand er sich an einem Tisch sitzend und laut lachend. Er sah seiner Familie zu, wie sie sich laut schmatzend über das Essen hermachten. Dann wurde es schwarz um ihn herum und er merkte, wie er unsanft und viel zu schnell, ja man kann auch sagen unnachgiebig, aus seinem Tagtraum gerissen wurde. Schwester Katharina kam ins Zimmer und öffnete die Vorhänge. Norman öffnete seine Augen und blinzelte kurz gegen das aufkommende Tageslicht in seinem Krankenzimmer. Er lag hier schon seit ein paar Tagen. Er konnte plötzlich seine Arme und seine Beine nicht mehr bewegen. Ist zusammengebrochen, Zuhause in seiner Küche, als er das Mittagessen vorbereitete. Seine Tochter Masha hatte ihn gefunden und sofort den Notarzt alarmiert. Norman war alt. 82 Jahre. Die Ärzte wissen nicht, was er hat. Können nur spekulieren. Er spürte aber, dass es jetzt zu Ende geht. Dass sein Leben sich dem Ende näherte. Dass er nun den Weg allen Lebens hier auf Erden ging. Es war in Ordnung. Er hatte gelebt, hatte eine Familie, einen Job und eine erfüllte Welt gehabt. Alles, was ihm jetzt noch blieb, waren seine Träume, in denen er alles tun und lassen konnte, was er will. Das machen, was nicht mehr ging. Deshalb war er auch etwas traurig, dass ihn Schwester Katharina so unsanft aus diesem wunderschönen Tagtraum riss. Sie brachte ihm sein Essen. Das er leider nicht mehr selber mit einer Gabel zum Mund führen konnte. Es musste ihm angereicht werden. Es war demütigend für ihn.