Imame in  Deutschland - Rauf Ceylan - E-Book

Imame in Deutschland E-Book

Rauf Ceylan

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Beschreibung

Verkappte Hassprediger oder fürsorgliche religiöse Leitfiguren? Imame sind wichtige Schlüsselpersonen in der muslimischen Community. Ihre politische und religiöse Orientierung, ihre Position in der Gemeinde werden die Eingliederung der Muslime in die deutsche Gesellschaft wesentlich mitbestimmen. Rauf Ceylan geht dem Alltagsleben der Imame auf den Grund. Das Thema Imame in Deutschland hat nach der neuen Islamkonferenz an Bedeutung gewonnen. Wie wird die Bundesregierung in Zukunft mit der Installierung von Imamen umgehen? Wie werden Fragen wie etwa die Finanzierung von Imamen geklärt? Das Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück und mit ihm Rauf Ceylan sind in diesem Prozess entscheidend involviert. Die überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe präsentiert neueste Fakten und aktuelle Forschungsergebnisse.

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Seitenzahl: 260

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Rauf Ceylan

Imame in Deutschland

Wer sie sind, was sie tun

und was sie wirklich wollen

Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe

Titel der Originalausgabe:

Die Prediger des Islam. Imame – Wer sie sind und was sie wirklich wollen

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010

ISBN 978-3-451-30277-0

Aktualisierte und überarbeitete Neuausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: FS-Stock/Adobe Stock

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN E-Book 978-3-451-81794-6

ISBN Print 978-3-451-38579-7

Inhalt

Tagesablauf eines Imams in Deutschland

Vorwort zur Neuausgabe

Einleitung: Imame sind Schlüsselpersonen

1. Was ist ein Imam?

Funktion

Aufgabenbereiche

Bildungs- und Ausbildungshintergrund

Aufenthalts- und Beschäftigungsverhältnis

2. Meine Methode: Nicht über die Imame, sondern mit ihnen reden

Türkisch-islamische Organisationen

Interviews und Typenbildung

3. Traditionell-konservative Imame: Die Preußen unter den Imamen

Der Imam als Gastarbeiter: Pionier-Imame organisieren Moschee-Gründungen

Weder Milch noch Honig im falschen Paradies

»Lost in Translation« oder: Sprachlos in Almanya

Im Zangengriff: Imame zwischen Dachverband, Vorstand und Gemeinde

»Deutschland ist doch schon wie ein islamischer Staat«

4. Traditionell-defensive Imame: Von Medizinmännern und Exorzisten

Die Türken: Das auserwählte Volk Gottes

Apocalypse now: Moralischer Verfall und Unglaube in Deutschland

»Almanlaşmak«: Die Türken dürfen sich nicht verdeutschen

Zahlenmystik, Okkultismus und Heiligenkult oder: Der Koran als Orakelbuch

Dschinne: Der Imam als Exorzist

5. Intellektuell-konservative Imame: Nicht die Asche der Tradition bewahren, sondern das Feuer weitergeben

»Das Fleisch gehört dir, die Knochen gehören mir«: Die strafende Hand Gottes?

The next generation: Die Berufung zur Rettung der Tradition

Imame im Dilemma: Das Letzte Testament im Spannungsverhältnis zur Moderne

Point of no return? Moscheen ohne Jugend

6. Intellektuell-offensive Imame: Cogito et credo, ergo sum

Geistige Emanzipation: Der Bruch mit der Tradition

Leopold Weiss alias Muhammad Asad: Ein moderner Visionär als geistiger Mentor

Zurück in die Vergangenheit oder: Braindrain aus den Gemeinden

Imame versus türkische Männer-Cafés: Armut, Glücksspiel und Prostitution

Imam-Hotline oder: Mit Koran und Grundgesetz gegen Extremismus

7. Neo-salafistische Imame: Von Revolutionären und Dschihadisten

Vom Saulus zum Paulus oder: Neo-Salafisten als Autodidakten

Kharidschiten: Geistige Vordenker der Extremisten oder Neo-Salafisten, die neuen Extremisten

»Bin Laden ist für mich ein gerechter Mann«: Der Imam als Revolutionsführer

Hidschra: Auswanderungsland Deutschland

8. Ausblick: Welche Imame wollen wir in Deutschland?

Imame sind zentrale Personen für den Integrationsprozess

Imam-Importe bringen Probleme mit sich

Neue Herausforderungen, neue Imam-Rolle

Extremismus und demokratiefeindliche Strömungen unterbinden

Moscheen und Imame im Kampf gegen Extremismus einbinden

Bisherige kurzfristige Lösung: Imame müssen fortgebildet werden

Ein historischer Schritt: Theologische Lehrstühle in Deutschland

Literatur

Über den Autor

Tagesablauf eines Imams in Deutschland

»Ich stehe morgens um fünf Uhr zum Frühgottesdienst auf. Um sechs Uhr beginnen wir mit dem Frühgebet. Danach halte ich eine Predigt bis etwa sieben Uhr. Danach frühstücke ich und bereite mich geistig auf den Unterricht mit den Kindern vor. Um neun Uhr schließe ich die Moschee auf, da kommen schon die ersten Schüler zum Kurs, obwohl dieser erst um zehn Uhr beginnt. Da die Eltern einkaufen fahren, muss ich noch eine Stunde das Kindermädchen spielen. Von zehn bis vierzehn Uhr unterrichte ich die Kinder, danach verrichten wir gemeinsam das Mittagsgebet. Nach dem Mittagessen gehe ich in die Teestube der Moschee, um mit den älteren Gemeindemitgliedern zu sprechen. Zwischen dem Nachmittagsgebet und dem Abendgebet höre ich mir die Anliegen und Sorgen der Gemeinde an. Nach dem Abendgebet mache ich Hausbesuche. Das mache ich einmal in der Woche, bis zum Nachtgebet. Danach sitze ich wieder in der Teestube der Moschee, um mit den Gemeindemitgliedern zu sprechen, die von der Mittagsschicht gekommen sind. Das ist wichtig, weil man sonst diese Mitglieder den ganzen Tag über nicht gesehen hat. So gegen Mitternacht gehe ich dann ins Bett, um wieder um fünf Uhr morgens zum Gottesdienst aufzustehen. Dass ich gegen null Uhr meinen Kopf auf das Kissen lege, bedeutet aber längst nicht, dass ich auch sofort einschlafen kann. Nein, denn erstens verarbeite ich den ganzen Tag noch mal, weil ich tagsüber keine Gelegenheit zur Reflexion habe. Zweitens plane ich schon für den nächsten Tag. Ich bin ja nicht wie ein Elektrogerät, das man per Knopfdruck ausschalten kann. Dann denke ich noch mindestens eine halbe Stunde über die anliegenden Aufgaben wie Beschneidungen, Totenfeiern, Predigten für den nächsten Tag nach. Die Arbeit eines Imams ist wirklich ein 24-Stunden-Job.«

Vorwort zur Neuausgabe

Die Veröffentlichung der ersten Auflage des vorliegenden Buchs und die positiven Reaktionen darauf haben vor Augen geführt, dass eine große Informationslücke über Imame besteht. Es gab großes Interesse seitens der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft. In der muslimischen Community hat das Buch zu unterschiedlichen Reaktionen geführt: Viele Verbandsfunktionäre haben eher kritisch bis ablehnend reagiert, und leider wurde das Buch nicht als ein kritisch-konstruktiver Beitrag rezipiert. Dagegen habe ich vonseiten der jungen Muslime viel Zuspruch erhalten, da sie ihre Erfahrungen mit den Imamen im Buch bestätigt fühlten.

Tatsächlich war es die erste Publikation zu dieser Gruppe, obwohl diese religiösen Autoritäten seit den 1970er Jahren in Deutschland predigen. In über 2000 Moscheegemeinden bieten sie tagtäglich religiöse Dienstleistungen an und üben einen großen Einfluss auf die deutsch-muslimische Gemeinschaft aus.

Nun ist seit der Erstveröffentlichung eine Dekade vergangen, und es hat sich viel getan in Deutschland. Zum einen stehen wir vor einer neuen politischen Herausforderung infolge der Entwicklungen in der Türkei oder in Ägypten, die sich in der deutsch-türkischen Community widerspiegeln. Zum anderen hat die Politik die Bedeutung einer islamischen Theologie an deutschen Universitäten erkannt, um u. a. den Einfluss aus dem Ausland einzudämmen. Infolgedessen sind an den Standorten Osnabrück, Münster, Frankfurt-Gießen, Tübingen, in Erlangen-Nürnberg, in Berlin sowie Paderborn Institute gegründet worden, um Religionslehrerinnen und Religionslehrer für den schulischen Religionsunterricht, religiöses Betreuungspersonal für die Moscheegemeinden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für die akademische Theologiekarriere sowie muslimische Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter auszubilden. All diese Entwicklungen haben eine Dynamik im islamisch-religiösen Feld ausgelöst, die in dieser zweiten Auflage untersucht werden soll. Wer die Imame ausbildet, hat letztendlich auch die Deutungshoheit über den Islam. Daher bleibt dieser Konkurrenzkampf sehr spannend. Insofern sollen in der vorliegenden Abhandlung nicht nur Aktualisierungen und Ergänzungen vorgenommen, sondern zugleich die Geschichte der Imame in Deutschland weitererzählt werden.

Düsseldorf, im Februar 2020

Rauf Ceylan

Einleitung: Imame sind Schlüsselpersonen

»Islam sells«, müsste es aufgrund der Informationsflut über den Islam in den letzten Jahren heißen. Nahezu uferlos erscheint die Literatur zum Thema Islam, allerdings existiert nach wie vor nur eine geringe Anzahl an Publikationen über Imame. Dabei sind sie mittlerweile zu einem hochgradig aktuellen Thema avanciert. Während sich die Muslime in Deutschland zunehmend integrieren, sogenannte »Hinterhof-Moscheen« sich auflösen und die Muslime durch repräsentative Bauten (mit Kuppel und Minarett) sich in die Mitte der Gesellschaft bewegen, ist über die Imame und ihre Arbeit in Deutschland noch sehr wenig bekannt.

Nach wie vor kommen Imame aus dem Ausland, um die deutsch-muslimische Community zu betreuen. Ein Großteil stammt aus nichteuropäischen, weniger säkularisierten Ländern. Ihre Sozialisation hat dort stattgefunden. Die meisten sprechen kaum Deutsch und kennen ihr neues Heimatland nicht. Sie kommen mit vollkommen anderen Erfahrungen und Vorstellungen nach Deutschland. Damit sind viele Konflikte vorprogrammiert. Nicht nur, dass die Imame ihre Brückenfunktion nicht in vollem Umfang wahrnehmen können – das ist die eine Sache. Die andere ist, dass sie diese Position ganz im Gegenteil geradezu kontraproduktiv nutzen können. Davon zeugen die neosalafistischen Hassprediger, die junge deutsche Muslime zu indoktrinieren versuchen. Mit dem Aufstieg des IS u. a. in Syrien und im Irak haben diese Prediger eine Hochkonjunktur erlebt und viele Biographien von jungen Menschen samt ihren Familien zerstört. Mittlerweile ist es etwas leiser geworden um diese Prediger, doch der Schein trügt. Noch immer sind sie aktiv, auch wenn sie gegenwärtig nicht auffallen wollen. Derzeit versucht der IS sich im Irak und Syrien zu reorganisieren. Zudem sind andere, weniger auffällige politisch-islamische Gruppen wie Hizb ut-Tahrir aktiv. Entwicklungen im Ausland spiegeln sich erfahrungsmäßig hierzulande wider. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis alte oder neue fundamentalistische Gruppen wieder an Aktualität gewinnen.

Leider werden die Rolle und die Funktion der Imame hierzulande weit unterschätzt. In einem alten türkischen Sprichwort heißt es: »Der halb ausgebildete Imam nimmt den Menschen den Glauben, wie der halb ausgebildete Arzt den Menschen die Gesundheit raubt.«

Erst nach fünfzig Jahren muslimischer Migrationsgeschichte begann die Politik in den 2000er Jahren zaghaft damit, sich dem drängenden Thema anzunähern. Vor allem nach dem 11. September 2001 wird die Schlüsselrolle der Imame in der muslimischen Community besser verstanden. In den letzten Jahren wurde daher die Bedeutung der Imame im integrationspolitischen Kontext zunehmend thematisiert. Denn der Islam in Deutschland ist ein Produkt der Arbeitsmigration. Daher werden Integrationsthemen und Islamthemen immer zusammen diskutiert, entsprechend auch die Bedeutung der Imame. Mit dem Beginn der Deutschen Islamkonferenz im Jahr 2006 ändert sich die Situation schlagartig. In zunehmendem Maße werden wichtige Themen wie Islamischer Religionsunterricht und Islamische Theologie in Deutschland öffentlich diskutiert. Das Jahr 2010 stellt einen historischen Wendepunkt dar: Der Wissenschaftsrat empfiehlt die Gründung der Institute für Islamische Theologie, um eben u. a. deutschsprachige Imame für den hiesigen Arbeitsmarkt auszubilden.

Seit Beginn der Einwanderung in den 1960er Jahren hat die Zahl der Muslime in Deutschland stetig zugenommen. Mittlerweile leben bis zu fünf Millionen Muslime hier. Vor allem durch den Zuzug von Geflüchteten im Jahr 2015 hat nicht allein deren Zahl zugenommen, sondern auch ihre Heterogenität.

Während Frankreich einen maghrebinisch und England einen asiatisch geprägten Islam kennen, ist der Islam in Deutschland – trotz der neuen Einwanderung durch arabischsprachige Muslime – eindeutig rot-weiß gefärbt: Mit nahezu drei Millionen stellen die Türkeistämmigen den größten Teil der Muslime dar. Darunter übrigens auch viele Kurden, die überwiegend aus der Türkei, dem Irak und aus Syrien stammen. Diese Gruppe wird in den Statistiken immer wieder völlig ausgeblendet. Kurdischstämmige Muslime besuchen entweder türkische oder arabische Moscheen oder gründen eigene Gemeinden.

Die türkischsprachigen Muslime dominieren das islamische Leben in Deutschland mit ihren zahlreichen religiösen Strukturen und Vereinen – und natürlich mit ihren Imamen. Religion wird in der türkisch-muslimischen Community großgeschrieben. Der Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung konnte in einer Studie belegen, dass sich gut 90 Prozent der Türken als religiös bezeichnen. Über 40 Prozent sogar als hoch religiös. Diese Zahlen sind nicht überraschend, weil der Islam in der Türkei niemals seine Bedeutung verloren hat. Und das, obwohl Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk (»Vater der Türken«) durch fundamentale Reformen – von oben nach unten – die türkische Gesellschaft zu säkularisieren versuchte. Mit der Gründung der türkischen Republik im Jahre 1923 sollte auch schrittweise mit der osmanisch-islamischen Vergangenheit gebrochen werden. Bis heute hat die Türkei ein ambivalentes Verhältnis zu ihrer Geschichte. Zu Recht spricht daher Inga Rogg von der »unfertigen Nation«, da Atatürks Staatsprojekt zugleich die Fundamente für die Konfliktlinien zwischen den unterschiedlichen Ethnien, Konfessionen und Milieus (Konservative, Liberale, Säkulare usw.) gelegt hat. Diese scheinen eine hohe Persistenz zu besitzen.

»Der Glaube kann Berge versetzen«, so heißt es in dem bekannten Sprichwort. Ganz in diesem Sinne hat Atatürk in den Jahren des Unabhängigkeitskriegs gegen die europäischen Alliierten (1919–1923) zur Mobilisierung des türkischen Volkes den nationalen Befreiungskampf noch religiös untermauert. Dabei erkannte er das Potenzial der religiösen Gelehrten und Imame zur Mobilisierung des Volkes und setzte sie effizient ein. In seinem Auftrag predigten die Imame von der farîza-i cihadiye (Pflicht zum Kampf), um das islamische Territorium von den europäischen Besatzungsmächten zu befreien. Diese Strategie ging auf. Wie Erich Fromm es formuliert, verkörpert der Märtyrer die größte spirituelle oder, anders ausgedrückt, menschliche Selbstbehauptung. Der Überlebenswunsch wird sekundär, weil das Ziel des Märtyrers wichtiger ist als sein individuelles Leben: »Er verfolgt sein Ziel, ohne sich vom Risiko des Todes, des Schmerzes oder der auch im Kriegsfall möglichen Folter abschrecken zu lassen. Sein Ziel ist ihm wichtiger als sein individuelles Leben, sodass er den normalen Überlebenswunsch durch den heroischen Akt transzendiert.« Siegt er, so kostet er die irdischen Früchte. Stirbt er, so tritt er ohne Umwege in das Paradies ein. Nahezu in allen Religionen wird dem Märtyrer daher die größte Bewunderung zuteil. Ebenso in säkularen, politischen Ideologien wie im Marxismus bzw. Sozialismus wird der Tod für die große Sache nahezu als quasi-religiöse Verpflichtung gepriesen wie im Zitat von Che Guevara deutlich wird: »Man trägt die Revolution nicht auf den Lippen, um von ihr zu reden, sondern im Herzen, um für sie zu sterben.«

Mit dieser spirituellen Waffe konnte Atatürk daher die Unabhängigkeit der Türkei forcieren. Der zielstrebige General nahm nach seiner Machtübernahme allerdings einen Kurswechsel vor: Er leitete mehrere radikale Reformen mit dem Ziel der Schaffung eines neuen Nationalbewusstseins und der De-Islamisierung der öffentlichen Sphäre ein. Anders als in Europa, wo seit der philosophischen Aufklärung eine Entwicklung von unten nach oben stattgefunden hat, sollte der türkische Weg die Gesellschaft von oben nach unten transformieren. Europa hatte seit der Aufklärung einen langen intellektuellen, kontroversen und blutigen Weg beschritten, um diesen Wandel zu realisieren. Die Türkei sollte in zwei Jahrzehnten staatlich umerzogen werden.

Doch die Realität hatte die junge Republik sehr schnell eingeholt. Die neue politische Elite im Land hatte die Rolle des Islam unterschätzt. Mustafa Kemal Atatürk und seine Gefolgschaft waren Militärs und keine Soziologen, unfähig, den religiösen Faktor zu begreifen. Allein mit rationalen und nationalen Ideen schafft man keine neue Identität. Schließlich wird eine neue Zivilisation nicht mit einigen Reformen von oben konstruiert. Vielmehr hätte die türkische Gesellschaft als Ganzes in diesen Prozess einbezogen werden und diesen Wandel tragen müssen.

Die Reformen wurden in der Türkei nur von einer kleinen gesellschaftlichen Elite gestützt. Die Peripherie, der große Teil der konservativen, frommen türkischen Bevölkerung in den ländlichen Gebieten, blieb von der Säkularisierung unbeeindruckt; die anatolisch-türkischen Bauern identifizierten sich noch immer über ihre Religion und nicht über ihre Nationalität.

Eindrucksvoll verdeutlicht Jens Peter Laut dieses religiöse Selbstverständnis der Anatolier anhand eines Dialoges zwischen einem kemalistischen Staatsmann und einem anatolischen Bauern in dem zeitgenössischen Roman Der Fremdling: »Ein unter diesen Bauern wirkender kemalistischer Agitator stößt bei ihnen auf wenig Gegenliebe. Auf seine irritierte Frage ›Wenn man Türke ist, wie sollte man da nicht an Kemal Paschas (Atatürk, R. C.) Seite stehen?‹ (Insan Türk olur da, nasıl Kemal Paşadan yana olmaz?) folgt der berühmte Dialog: ›Wir sind doch keine Türken, mein Herr!‹ (biz Türk degiliz ki, beyim) – ›Ja, was seid ihr denn?‹ (ya nesiniz?) – ›Wir sind Muslime, Gott sei Dank …‹ (biz Islâmız, elhamdülillâh).«

Aufgrund der tiefen Verwurzelung des Islam in der türkischen Gesellschaft wurde bereits 1924 das »Diyanet Işleri Baskanligi« (Präsidium für Religiöse Angelegenheiten, kurz: Diyanet) zur Kontrolle und Unterordnung der Religion gegründet. Ziel dieser neuen Institution war es vor allem, einen türkischen, staatskonformen und »gebändigten« Islam zu predigen. Als Instrumentarium dafür sollten wiederum die Imame dienen. Denn man war sich sicher, dass man einen Menschen aus einem anatolischen Dorf – und ein Großteil der türkischen Bevölkerung lebte in dörflichen Gegenden (es handelte sich zudem überwiegend um Analphabeten) – nicht über einen Wissenschaftler oder Lehrer erreichen und beeinflussen könne, sehr wohl jedoch über einen Imam. Der Imam spricht in der Sprache des Volkes – Glaube spricht zu Glaube –, im Vergleich zum Imam sind Politiker und Wissenschaftler sprachlos. Die tiefsten, existenziellen Bedürfnisse der Menschen werden angesprochen. Seither versucht der Staat, politische Ziele in einem religiösen Kleid an das Volk zu vermitteln. Der »Volksislam« der ländlichen Bevölkerung ist also trotz aller De-Islamisierungsmaßnahmen bis heute lebendig geblieben. Und die Kinder und Enkelkinder dieser Generation haben diesen »Volksislam« in den 1960er Jahren in die türkischen Großstädte und auch nach Deutschland mitgebracht.

Anders als im laizistischen Frankreich wird in der Türkei die Religion eben nicht vom Staat getrennt, sondern vom ihm zu kontrollieren versucht. Mit seinen über 100 000 Angestellten und Beamten zählt das Religionspräsidium heute zum größten Amt der Türkei. Die Imame – selbst in religiösen Familien aufgewachsen und geistig-weltanschaulich eigentlich dem Kemalismus fernstehend – hatten nun die Berufung, in allen Moscheen die Staatsideologie zu predigen. Seither haben sie dem Staat viele gute Dienste erwiesen. So berichtete beispielsweise die türkische Tageszeitung Hürriyet im Januar 2007, dass die Religionsbehörde Diyanet beschloss, 2500 Religionsbeauftragte in die Dörfer des Ostens und Südostens der Türkei zu entsenden. Diese sollten als vaaz ve irşat timleri (Teams für Rechtleitung und Predigten) den Einfluss der kurdisch-islamistischen Bewegung Hizbullah und der linksextremistischen kurdischen Terrororganisation PKK durch ihre Predigten drosseln. Zugleich sollte der dortigen Bevölkerung »Vaterlandsliebe, die Verteidigung des Heimatlandes, Brüderlichkeit, Einheit des Landes, Liebe und Frieden« durch die religiösen Predigten anempfohlen werden. Dass Regierung und die Religionsbehörde mit einer Sprache sprechen, zeigt auch das jüngste Beispiel infolge des außenpolitischen Konflikts mit den USA. US-Präsident Donald Trump hatte eine Reihe von Sanktionen gegen die Türkei verhängt, die den US-amerikanischen Pastor Andrew Brunson wegen Spionageverdachts und Unterstützung von Terrorgruppen zunächst in Untersuchungshaft nahm, dann unter Hausarrest stellte. Im Gegenzug hatte die türkische Regierung zum Boykott von Produkten »Made in USA« aufgerufen. Der Präsident der türkischen Religionsbehörde Diyanet, Prof. Dr. Ali Erbaş, hatte sich diesem Boykottaufruf von der AKP-Regierung angeschlossen. Die Diyanet, die seit ihrer Gründung eine staatskonforme Linie verfolgte, wurde von keiner Regierung so sehr instrumentalisiert wie unter der Recep Tayyip Erdogans. Seit der ununterbrochenen Regierung infolge der Parlamentswahlen in 2002 hat die AKP die Diyanet als politisches Instrumentarium ausgebeutet.

Die politische Instrumentalisierung der Religion kannte in der Türkei viele Wege. Um der Bevölkerung ausreichend Vaterlandsliebe einzuimpfen, scheute man in nationalistischen Kreisen nicht davor zurück, dem Propheten Muhammad fingierte Zitate in den Mund zu legen. Nach dem dritten Militärputsch am 12. September 1980 instrumentalisierte die Militärregierung die Religion, um marxistisch-leninistische Strömungen zu bekämpfen. Eine angebliche Aussage des Propheten Muhammad Vatan sevgisi Imandandir (Die Vaterlandsliebe zeugt von einem starken Glauben) wurde verbreitet, und dieser Satz schmückte in Form von Leuchtketten bei bestimmten Anlässen die Minarette der größten Moscheen der Türkei. Vor allem im Kontext des Kalten Krieges wurde der Islam sehr stark gegen die »gottlose« linke Bewegung im eigenen Land eingesetzt. Und noch heute ist in den Freitagspredigten die Formel zu hören: »O Gott, schütze die türkische Nation, unseren Staat und unsere Armee.«

Der Islam sollte in der Türkei also weder ganz zurückgedrängt werden, noch sollte er einen allzu großen gesellschaftlichen Einfluss auf Politik und Wirtschaft ausüben. Es sollte »genug da sein«, um als Mobilisierungspotenzial zu fungieren. Und der Staat profitierte und profitiert noch immer in vielerlei Hinsicht vom Islam und von der Frömmigkeit der türkischen Menschen.

Aufgrund der Monopolstellung des türkischen Staates durch die Vereinnahmung des Islam standen bis zur Machtübernahme durch die AKP alle anderen, nichtstaatlichen religiösen Bewegungen in der Türkei per se unter Generalverdacht. Vor allem die Homogenisierungspolitik in der Türkei bildete über Jahrzehnte den Nährboden für die politischen Konflikte des Landes. Denn: »Je weniger Gesellschaften Pluralität und Alternativen zulassen, je mehr sie eine einheitliche Wertorientierung, Lebensanschauung und politische Auffassung verbindlich machen, umso eher geraten Gruppen unter den Verdacht der Subversität.« (Martin Schwonke) Die AKP-Regierung drehte dagegen den Spieß um. Sie integrierte die islamischen Oppositionsgruppen – unter ihnen auch viele islamistische Gruppen – in das politische System. Entweder wurden Vertretern dieser Bewegungen Ämter und neue politische Rollen zugesprochen, oder der staatliche Druck auf diese Gruppen ließ ganz nach. Obwohl sich islamistische Gruppen seit den 1960er Jahren gegen das kemalistische System formiert hatten, haben sie ihr revolutionäres Ziel, einen islamkonformen Staat zu schaffen, anscheinend ad acta gelegt. Solange die AKP an den Machthebeln der Macht sitzt, scheint man ruhiggestellt zu sein.

Andererseits hat das Regime neue Feindbilder konstruiert, und es verfolgt Systemkritiker mit den gleichen Methoden, wie sie bislang schon in der türkischen Republik praktiziert worden sind, sie sperrt sie ein oder zwingt sie zum Exil. Insbesondere linke, kurdische und alevitische Gruppen leiden nach wie vor unter Repressalien. Doch auch islamische Denker, die Kritik an Präsident Erdogan ausüben, werden strafrechtlich verfolgt. Einen Höhepunkt stellt die Auseinandersetzung zwischen der Regierung und der Gülen-Bewegung dar, die 2016 in einem Putschversuch gipfelte. Nach dem gescheiterten Putsch und dem Ausruf des Ausnahmezustands begann wieder eine Verfolgungswelle, die bis ins Ausland reichte. Allein ein Verdacht und Denunziation reichten aus, um ins Visier der Behörden zu geraten. Da die Zielgruppe der Verfolgungspolitik sich aus regierungskritischen muslimischen Intellektuellen und Bewegungen, säkularen Journalisten, politischen Dissidenten und ehemaligen Militärangehörigen zusammensetzt, hat sich eine sehr bunte Gruppe von Exilanten in Deutschland etabliert. Insofern kann man von Kontinuität und Bruch in der staatlichen Politik sprechen.

Viele religiöse Bewegungen in der Türkei entstanden aufgrund dieser historischen Gegebenheiten im Untergrund. Von Beginn an waren sie Oppositionsbewegungen, und als solche mussten sie damit leben, dass der Staat sie als potenzielle Gefahr ansah. Angeführt wurden diese Bewegungen von Imamen wie Süleyman Hilmi Tunahan (1888–1959), Integrationsfigur des Verbands der Islamischen Kulturzentren – VIKZ, oder Said Nursi (1876–1960), Integrationsfigur der Jamaat-Nur.

Vor diesem Hintergrund kann man nachvollziehen, dass für viele islamische Organisationen die Arbeitsmigration in den 1960er Jahren nach Deutschland und in andere europäische Länder Freiräume bot. Denn aufgrund von Demokratiedefiziten in der Türkei war ein zivilgesellschaftliches Engagement nicht ohne Weiteres möglich. Neben dem staatlichen Islam wurden keine anderen Richtungen geduldet: Außerhalb des Staates kein Heil!

Verstärkt gründeten Organisationen wie die Süleymancis (VIKZ) in den 1970er Jahren Moscheevereine in Deutschland und stellten eigene Imame ein. Bezahlt wurden diese von den Gemeinden. Erst Anfang der 1980er Jahre begann der türkische Staat mit der Gründung der DITIB-Organisation – einem Ableger des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten der Türkei –, staatlich ausgebildete Imame einzustellen, deren Tätigkeit die türkischen Konsulate in Deutschland koordinieren. Und wieder sind es die Imame, die den wichtigsten Informations- und Kommunikationskanal zu den türkischen Gastarbeitern darstellen. Seither haben die türkisch-islamischen Organisationen über 1600 Moscheevereine gegründet – und damit einen Arbeitsmarkt für die Imame in Deutschland geschaffen.

Eine Berufsgruppe »Imam« existiert offiziell nicht und wird daher auch nicht registriert. Wir wissen aber, dass in der Bundesrepublik ca. 2300 islamische Einrichtungen bestehen. Von der Anzahl der Moscheevereine kann man auf die Zahl der Imame schließen. Und so können wir mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass etwa 2000 Imame in Deutschland tätig sind.

Ferner können wir annehmen, dass nahezu drei Viertel der Imame türkischstämmig sind. Ein Großteil der restlichen verteilt sich auf Ex-Jugoslawien und Nordafrika. Nur die wenigsten sind in Deutschland sozialisiert.

Imame üben einen großen Einfluss auf die muslimischen Gemeinden aus. Sie sind die theologische Instanz und stellen wichtige gesellschaftliche sowie politische Multiplikatoren dar. In vielen islamischen Gebieten dieser Erde genießen sie meist mehr Autorität und Vertrauen als staatliche Institutionen. Muslimische Kinder und Jugendliche erhalten zudem durch die Imame ihre religiöse Erziehung in Moscheegemeinden. Es ist der Imam, der Neugeborenen den Gebetsruf ins Ohr flüstert. Und es ist der Imam, der bei der Sterbebegleitung präsent ist und auf der Beerdigung das Totengebet spricht. Insofern beginnt für fromme Muslime das Leben mit dem Imam und hört ebenso mit ihm auf.

Imame prägen die Religiosität und die religiöse Orientierung dieser jungen Menschen, womit sie auch die Zukunft des Islam in Deutschland beeinflussen. Denn schließlich bestimmen sie mit, ob die jungen Muslime einen liberalen, konservativen oder extremistischen Islam vertreten werden. Darüber hinaus nehmen die Imame zahlreiche andere Aufgaben wahr, etwa die Rolle des Vorbeters, sie betreuen die Gemeinde seelsorgerisch, oder sie vermitteln in Ehe- und Scheidungskonflikten. Wie ich später noch zeigen werde, gibt es aber auch durchaus kuriose und skurrile Aufgaben, die ein Teil der Imame übernimmt.

Imame sind also wichtige Schlüsselpersonen in der muslimischen Community. Die Qualität ihrer (sprachlichen und theologischen) Ausbildung, ihre politische und religiöse Orientierung und ihre Einstellung zur deutschen Gesellschaft bzw. zum deutschen Staat werden in Zukunft darüber entscheiden, ob sich die Muslime erfolgreich in die hiesige Gesellschaft integrieren werden oder ob dieser Prozess zum Scheitern verurteilt ist. Trotz ihrer integrationspolitischen Bedeutsamkeit existieren nach wie vor geringe Informationen und kaum wissenschaftliche Forschungen über Imame in Deutschland. Zwar wird immer wieder in politischen, aber auch in wissenschaftlichen Debatten über den Einfluss der Imame auf die Kinder und Jugendlichen diskutiert – oder vielmehr spekuliert. Der Kenntnisstand über die Rolle und Orientierungen der Imame in den Moscheegemeinden ist hingegen dürftig. Dies macht es schwierig, ein realitätsnahes Bild von den Imamen zu zeichnen: Wir wissen nicht, wer sie sind, was sie denken und was sie hier predigen.

Der Begriff Imam ist inzwischen zu einer Pauschalbezeichnung geraten, wobei vergessen wird, dass sich – ähnlich wie bei Rabbinern und Priestern – dahinter sehr unterschiedliche religiöse Orientierungen und Einstellungen, unterschiedliche Menschen mit sehr unterschiedlichen Biografien verbergen. Diese möchte ich nun im vorliegenden Buch vorstellen. Das Herzstück der Arbeit bilden die Ergebnisse meiner jahrelangen Beobachtungen schwerpunktmäßig in den türkischen Gemeinden des Ruhrgebiets, insbesondere die Gespräche mit den türkischen Imamen. Den zahlreichen Originalzitaten aus den Gesprächen soll großzügig Platz eingeräumt werden. Denn sie gewähren einen originalen Einblick in die unbekannte Lebens- und Gedankenwelt der Prediger des Islam. Daher basiert das Buch in großem Maße auf meinen eigenen empirischen Erfahrungen.

Etliche der Wissenschaftler, die sich heute gerne mit dem Titel Islamexperte schmücken, sitzen an ihren Schreibtischen und verfügen meist nur über angelesenes Wissen. Wissen wird in der Buchwelt produziert und reproduziert. Diese Parallelwelt entwickelt eine Eigendynamik, und die akademische Welt entfremdet sich zunehmend von der empirischen Realität. Viele »Islamexperten« machen sich nicht die Mühe, das Feld, das sie erforschen, zu betreten und den direkten Kontakt zu ihrem Forschungsgegenstand zu suchen. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz ist mit seinen Graugänsen geschwommen, um das Sozialverhalten der Tiere zu untersuchen. Daran sollten sich viele dieser »Experten« ein Beispiel nehmen. Abgesehen davon existiert ohnehin kaum Literatur über Imame im deutschsprachigen Raum. Entsprechend ist kein umfangreiches Literaturverzeichnis zu Imamen angefügt. Zudem wurde darauf Wert gelegt, das Buch lesbar zu halten und nicht zu »verwissenschaftlichen«.

Die Idee, eine Studie über Imame zu verfassen, ist im Zuge meiner Doktorarbeit zum Thema Gettoisierung und Moscheen entstanden. In den vielen Interviews mit türkischen Muslimen bin ich damals zu der Überzeugung gekommen, dass die Rolle der Imame in der muslimischen Gemeinde in der öffentlichen Diskussion kaum zur Kenntnis genommen, ja unterschätzt wird. Auch bei der Literaturrecherche konnte ich im deutschsprachigen Raum kaum eine Forschungsarbeit zu Imamen finden. Zugleich konnte ich in meiner jahrelangen Tätigkeit als Dozent für die Konrad-Adenauer-Stiftung in der Imam-Fortbildung in der Türkei viele Impulse erhalten.

Dieses Informationsdefizit hat mich zum Verfassen des vorliegenden Buches motiviert. Zum einen sind es der eigene Forschungsdrang und die eigene Wissbegier, die ich befriedigen wollte. Zum anderen geht es mir vor allem darum, hierzulande eine Diskussion zu initiieren. Ich hoffe, dass dieses Werk dazu beiträgt.

1. Was ist ein Imam?

In den türkischen Moscheen in Deutschland ist es üblich, den Imam mit Hodscha – was so viel wie »religiöser Lehrer« bedeutet – anzureden. Mit diesem an sich religiösen Titel werden in der Türkei auch Lehrer oder Professoren bezeichnet. Wie Günter Seufert treffend beschreibt, ist in der türkischen Gesellschaft die Übernahme von Rang- und Statusbezeichnungen aus dem religiösen Leben auch ins öffentliche Leben sehr gebräuchlich: »Mit der Verwendung dieser Begriffe aus traditionellen sozialen Zusammenhängen wie der (…) religiösen Gemeinschaft werden auch die an sie gebundenen personalen Verhaltenserwartungen in die Sphäre des öffentlichen Lebens übertragen. Die genannten Anredeformen aus der (…) religiösen Sphäre, die öffentlichen Funktionsträgern zugedacht werden, sind mehr als Zufälligkeiten oder Ausdruck von Nostalgie: Sie transportieren konkrete Verhaltenszumutungen und Handlungsmechanismen.« Viele ursprünglich religiöse Titel finden nach Seufert also in zahlreichen Zusammenhängen eine Verwendung und spiegeln Beziehungsmuster aus traditionell-sozialen Einheiten wider. Der Begriff Hodscha wird oft synonym für Imam verwendet. Anders als Hodscha ist jedoch der Imam-Begriff eher der religiösen Sphäre vorbehalten. In diesem Buch wird die hierzulande weitaus bekanntere Bezeichnung Imam bevorzugt. Dieser taucht im Koran in zahlreichen Versen und in unterschiedlichen Zusammenhängen auf.

Funktion

Das arabische Wort Imam bezeichnet wörtlich übersetzt einen »führenden Mann« bzw. eine »Person, die vorne steht«. In den meisten Wörterbüchern wird er als Vorbeter bzw. Leiter des Gebets oder als Gebieter in religiösen Angelegenheiten beschrieben. Wie die folgenden beispielhaften Koranverse darlegen, findet sich der Terminus im heiligen Buch der Muslime in der Bedeutung Vorbild, Führungsfunktion bzw. geistige Leitung wieder:

»Und als Abraham von seinem Herrn durch Gebote, die er erfüllte, geprüft wurde, sprach Er: ›Siehe, Ich mache dich zu einem Imam für die Menschen.‹« (Koran: Sure 2, Vers 124)

»Eines Tages werden wir alle Menschen mit ihren Führern (Imamen) rufen.« (Sure 17,71)

»Und Wir machten sie zu Vorbildern (Imamen), die auf Unser Geheiß rechtleiteten, und wiesen sie an, Gutes zu tun, das Gebet zu verrichten und Almosen zu entrichten.« (Sure 21,73)

Die Rolle des Imams schließt sämtliche (geistige) Führungs- und Leitungsfunktionen im religiösen Bereich mit ein. Laut Koran handelt es sich beim Imam zudem um eine Funktion und kein Amt. Und dennoch trug in der islamischen Geschichte auch das Staatsoberhaupt des muslimischen Reiches den Imam-Titel (auch Kalif genannt). Neben politischen und militärischen Aufgaben hatte er dafür Sorge zu tragen, die religiösen Normen und Werte der Umma (muslimische Gemeinschaft) zu wahren. Davon hing auch sein eigenes Schicksal als politischer und religiöser Führer ab. Solange die öffentliche Ordnung und die Scharia (das islamische Recht) gewahrt wurden, sahen die Ulama (die islamischen Gelehrten) über den oft unislamischen, pompösen Lebensstil der Herrscher hinweg. Ganz anders dagegen hielten es die Kharidschiten, die erste radikal-islamische Strömung (entstanden im 7. Jahrhundert), der Prototyp des heutigen militanten IS sozusagen. Der religiöse und politische Führer musste zugleich gerecht sein und einen strikt islamischen Lebensstil führen, andernfalls sollte er – falls nötig auch mit Waffengewalt – abgesetzt werden. Die Führungsfrage ist eine entscheidende religiöse Frage für die radikalen Gruppen. (Die Kharidschiten werde ich später noch mal aufgreifen, wenn die extremistischen Imame vorgestellt werden.)

Über Jahrhunderte hinweg spielte das Amt des Imams bzw. des Kalifen eine zentrale Rolle im Islamischen Reich. Im Zuge des zunehmenden Verfalls der muslimischen Weltreiche, etwa des Osmanischen Reichs, reduzierte sich dessen Rolle jedoch mehr und mehr auf repräsentative Funktionen, bis das Kalifat im Rahmen der modernen Nationalstaatengründungen schließlich ganz aufgelöst wurde. An seine Stelle traten in den meisten islamisch geprägten Ländern Scheindemokratien, Militärregierungen und Monarchien. Man muss gestehen: Die Demokratie als Staatsform und soziale Idee wartet noch auf die Stimme der jeweiligen muslimischen Bevölkerung, um eingeführt zu werden. Derzeit wird dieser Ruf von den Herrschenden und den wirtschaftlichen bzw. militärischen Eliten unterdrückt. Allein die eigenen Interessen zu wahren ist alles, was für diese Eliten zählt. Daher hat diese herrschende Kaste relativ schnell den so hoffnungsvoll begonnenen »Arabischen Frühling« im Keim ersticken können.

Der Imam bzw. Kalif war es, der den Islam und die Einheit der Muslime in der islamischen Geschichte symbolisierte. Und erst der Todesstoß, der diesem symbolträchtigen Stand versetzt wurde, machte vielen Muslimen das Ende eines langen Kapitels in der islamischen Geschichte schmerzhaft bewusst. Somit kann es kaum verwundern, dass eines der Ziele panislamischer Bewegungen wie etwa der in Deutschland seit 2003 verbotenen Hizb ut-Tahrir-Organisation darin besteht, das Amt des Imams bzw. Kalifen als Symbol der Einheit der Muslime – durch den Sturz der Regierungen in den islamisch geprägten Ländern – wieder einzuführen. Die Wiederherstellung des Kalifats gilt als Allheilmittel für die gegenwärtige ökonomische, politische und kulturelle Misere in den islamisch geprägten Ländern. Wurde der Prophet Muhammad von seinen Gefährten noch ganz informell – wie jeder andere Sterbliche auch – mit seinem Namen gerufen, errichteten die Kalifen hingegen absolutistische Monarchien. Der Kalif schmückte sich mit dem Titel »Schatten Gottes«. War Muhammad noch stets darauf bedacht, sich mit seinen Gefährten demokratisch zu beraten, so regierten dagegen die späteren Kalifen mit eiserner Hand.

Für panislamische Bewegungen – die sich nach einer starken Führungspersönlichkeit sehnen – ist das Amt des autokratischen Kalifen die einzige Lösung, aus welchen Nöten auch immer. Wird der Kalif als oberster Imam wieder eingesetzt, so glaubt man, werden sich alle gegenwärtigen Probleme von ganz alleine lösen. Und auch in der Auseinandersetzung mit dem Westen gilt das Kalifat in den ideologischen Lehren etwa der Hizb ut-Tahrir als Schutzwall. Seine Einführung steht für die religiöse und politische Re-Organisation der Muslime. So appellierte die Organisation anlässlich des Streits um Muhammad-Karikaturen im Jahr 2005 in einer Erklärung auf ihrer Internetseite: