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An Weihnachten werden Wünsche wahr … Weihnachten ist die schönste Zeit des Jahres? Nicht für Maelyn Jones, denn sie ist mit ihrem Leben unzufrieden und hat gerade einen romantischen Fehler epischen Ausmaßes begangen: Sie hat den Falschen unterm Mistelzweig geküsst. Als sie dann auch noch erfährt, dass die geliebte Hütte in den verschneiten Bergen Utahs, in der sie seit jeher die Feiertage mit Familie und Freunden verbringt, verkauft werden soll, bittet sie das Universum verzweifelt um Hilfe – und ein turbulentes Fest voller Missgeschicke und Gefühlschaos beginnt. Wunderbar (be)sinnlicher Weihnachtsszauber von der SPIEGEL-Bestsellerautorin Christina Lauren (»The Unhoneymooners«) »Lustig und liebenswert, sexy und süß und einfach unwiderstehlich.« Emily Henry
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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Heidi Lichtblau
© Christina Hobbs und Lauren 2020
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»In a Holidaze«, Gallery Books, a Division of Simon & Schuster, Inc., New York 2020
© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2024
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Covergestaltung: FAVORITBUERO, München, nach einem Entwurf von Ella Laytham
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock und iStock
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Cover & Impressum
1. Kapitel
26. Dezember
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
Epilog
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Nennt mich eine Schlampe. Impulsiv. Oder verkatert.
Das hat bislang noch nie jemand getan, aber heute Morgen wäre es dringend nötig.
Der gestrige Abend war die reinste Katastrophe.
So leise wie möglich schlüpfe ich aus dem unteren Stockbett und schleiche über den eiskalten Fußboden zur Treppe. Mein Herz pocht so heftig, dass man es sicherlich zehn Meilen gegen den Wind hören kann. Auf keinen Fall will ich jetzt Theo wecken und ihm in die Augen schauen müssen, bevor mein Gehirn warmgelaufen ist und zusammenhängende Gedanken hervorbringt.
Die zweite Stufe von unten knarrt immer – wie in einem Spukhaus. Was daran liegt, dass sie fast drei Jahrzehnte lang das Opfer von uns Kindern war, als wir vom Untergeschoss zum Essen nach oben und zum Spielen und Schlafen nach unten gepoltert sind. Vorsichtig setze ich den Fuß auf die Stufe darüber und atme erleichtert auf, als ich geräuschlos aufkomme. So viel Glück hat nicht jeder. Theo zum Beispiel. Wegen dieser losen Stufe ist Theo in der Vergangenheit, wenn er sich zu spät – oder zu früh, je nachdem, wie man es sieht – hereingeschlichen hat, schon unzählige Male aufgeflogen.
Sobald ich in der Küche bin, kommt es mir hauptsächlich auf Geschwindigkeit an. Noch ist es dunkel, im Haus herrscht Stille, aber Onkel Ricky wird bald auf sein. Dieses Blockhaus ist voller Frühaufsteher, und das Zeitfenster, in dem ich mein Problem lösen kann, wird immer kleiner.
Ich haste die breite Treppe ins Obergeschoss hinauf, ohne den über dem Treppenabsatz angebrachten Mistelzweig zu beachten, umrunde das Geländer, schleiche leise den Flur entlang und öffne die Tür zur schmalen Dachbodenstiege. Wie ein Daumenkino laufen währenddessen Bilder vor meinem inneren Auge ab, peinliche Erinnerungen an den gestrigen Abend. Oben angekommen, schiebe ich Bennys Tür auf.
»Benny«, flüstere ich in die kühle Dunkelheit. »Benny, wach auf. Es ist ein Notfall!«
Auf der anderen Seite des Raumes ist ein heiseres Stöhnen zu hören.
»Ich mache jetzt das Licht an«, warne ich.
»Wehe!«
»Doch.« Ich greife nach dem Schalter und knipse das Licht an.
Während wir, die Nachkommenschaft, schon vor Langem in die Stockbetten im Untergeschoss verbannt worden sind, quartiert sich Benny jeden Dezember hier auf dem Dachboden ein. Mit den Dachschrägen und dem langen Buntglasfenster am anderen Ende, durch das das Sonnenlicht in leuchtenden blauen, roten, grünen und orangefarbenen Streifen an die Wände fällt, ist es das schönste Zimmer im Haus. Sein schmales Bett teilt sich den Platz mit einem Sammelsurium von Familienerbstücken, Kartons mit Dekorationen für diverse Feiertage und einem Kleiderschrank voller alter Winterkleidung von Grandma und Grandpa Hollis aus der Zeit, als ein Highschool-Rektor aus Salt Lake City noch in der Lage war, sich ein Blockhaus in Park City zu leisten. Da keine der anderen Familien Töchter hatten, habe ich als Kind hier oben ganz allein gespielt, mich verkleidet, manchmal auch mit Benny als Zuschauer.
Aber jetzt brauche ich keinen Zuschauer, sondern ein offenes Ohr und einen konkreten Rat, und zwar schnell, denn ich bin kurz davor, völlig auszuflippen.
»Benny. Wach auf!«
Er stützt sich auf einen Ellbogen und wischt sich mit der anderen Hand den Schlaf aus den Augen. »Wie spät ist es?«, erkundigt er sich mit heiserem australischem Akzent.
Ich werfe einen Blick auf das Handy in meiner klammen Hand. »Halb sechs.«
Er schielt mich ungläubig an. »Ist jemand gestorben?«
»Nein.«
»Wird jemand vermisst?«
»Nein.«
»Blutet jemand stark?«
»Mental schon, ja.« Ich wickle eine alte Häkeldecke um mich und lasse mich auf den Korbstuhl gegenüber dem Bett sinken. »Hilf mir!«
Mit seinen fünfundfünfzig Jahren hat Benny immer noch dasselbe fluffige, sandbraune Haar wie eh und je. Es reicht ihm bis knapp über das Kinn und sieht aus, als hätte man ihm so viele Jahre eine Dauerwelle verpasst, bis die Haare einfach entschieden haben, so zu bleiben. Ich habe ihn mir immer als Roadie einer alternden Rockband aus den Achtzigern vorgestellt oder als Abenteurer, der reiche Touristen durch den Busch in ihr Verderben führt. Die Realität – er arbeitet als Schlosser in Portland – ist nicht ganz so aufregend, aber das Klimpern seiner Türkisarmbänder und Perlenketten erlauben mir, mir etwas völlig anderes auszumalen. Im Augenblick ähnelt seine Frisur allerdings eher einem verfilzten Heiligenschein.
Mit jedem der zwölf anderen Leute in diesem Haus verbindet mich eine lange Geschichte. Aber mit Benny eine besondere. Er ist ein Studienfreund meiner Eltern – mit Ausnahme von Kyle, der in die Gruppe eingeheiratet hat, haben alle Erwachsenen in diesem Haus zusammen die University of Utah besucht –, allerdings war Benny schon immer mehr Freund als Elternfigur. Er stammt aus Melbourne, ist immer ausgeglichen und offen für alles, der ewige Junggeselle, der weise Ratgeber und die einzige Person in meinem Leben, auf die ich mich garantiert verlassen kann, wenn meine Gedanken außer Kontrolle geraten.
Als Kind habe ich mir meine Klatschgeschichten immer aufgehoben, bis ich ihn am Wochenende um den vierten Juli oder in den Weihnachtsferien wiedergesehen habe, um dann alles bei ihm abzuladen, sobald ich ihn für mich allein hatte.
Benny kann zuhören wie kein anderer und die einfachsten, unvoreingenommensten Ratschläge geben, ohne belehrend rüberzukommen.
Ich hoffe einfach, dass mich sein kühler Kopf jetzt retten kann.
»Okay.« Er räuspert sich, um seinen Hals freizukriegen, und streicht sich ein paar widerspenstige Haare aus dem Gesicht. »Dann schieß mal los.«
»Gut. Also.« Trotz meiner Panik und der tickenden Uhr beschließe ich, besser nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. »Ja, also … Theo, Miles, Andrew und ich haben gestern Abend im Keller Brettspiele gespielt.«
»Mm-hm«, brummt er. »Ein ganz normaler Abend also.«
»Cluedo, um genau zu sein.« Ich werfe mir die dunklen Haare über die Schulter.
»Okay.« Wie immer ist Benny ungemein geduldig.
»Miles ist dann auf dem Boden eingeschlafen.« Mein jüngerer Bruder ist siebzehn und wie die meisten Teenager imstande, selbst auf einem scharfkantigen Felsen zu schlafen. »Und Andrew hat sich ins Bootshaus verzogen.«
Benny gluckst, denn er findet es noch immer ungeheuer lustig, dass Andrew Hollis – Theos älterer Bruder – sich endlich gegen seinen Vater durchgesetzt und einen Ausweg aus der Stockbettsituation – die jedem Einzelnen von uns das Gefühl gibt, wieder ein kleines Kind zu sein – gefunden hat: Er ist für die Dauer der Weihnachtsferien einfach ins Bootshaus gezogen, ein kleines, altes zugiges Gebäude, keine zwanzig Meter vom Blockhaus entfernt. Der Witz ist, dass sich in der Nähe des Bootshauses weit und breit kein Gewässer befindet. Im Sommer wird es meist als eine Erweiterung des Gartens genutzt, ganz sicher aber nicht für Übernachtungsgäste.
Vor allem nicht in den Rocky Mountains.
Im Dezember.
Und so sehr ich es auch hasse, Andrew Hollis nicht mehr oben im Stockbett gegenüber zu sehen, wirklich übel nehmen kann ich es ihm nicht.
Niemand, der im Untergeschoss schläft, ist wirklich noch ein Kind. Es ist allgemein bekannt, dass Theo überall (ähem) schlafen kann, Miles, mein Bruder, Theo vergöttert und überall hingeht, wo Theo ist, und ich mich damit abfinde, weil meine Mutter mich mit bloßen Händen umbringen würde, wenn ich mich je über die großzügige Gastfreundschaft der Familie Hollis beklagen würde. Aber Andrew, der mit seinen fast dreißig Jahren offensichtlich die Nase voll davon hatte, es seinen Eltern recht zu machen, hat sich gleich am ersten Abend ein Feldbett und einen Schlafsack organisiert und sich davongemacht.
»Zu der Zeit hatten wir alle schon einiges intus«, erkläre ich und füge dann hinzu: »Na ja, Miles offensichtlich nicht, aber wir anderen schon.«
Bennys Brauen schnellen fragend in die Höhe.
»Zwei Gläser.« Ich verziehe das Gesicht. »Eierpunsch.«
Ob Benny wohl ahnt, worauf das Ganze hinausläuft? Ich vertrage bekanntlich nicht viel Alkohol, Theo andererseits ist regelrecht geil darauf. Fairerweise muss man allerdings sagen, dass Theo einfach notorisch geil ist.
»Theo und ich sind hochgegangen, um uns Wasser zu holen.« Ich fahre mir mit der Zunge über die Lippen, die plötzlich wie ausgetrocknet sind, und muss schlucken. »Ähm, und dann wir so, ›Lass uns betrunken einen Schneespaziergang machen!‹, doch stattdessen …« Ich halte den Atem an. »… haben wir im Hauswirtschaftsraum miteinander rumgemacht.«
Benny erstarrt und richtet seine unvermittelt hellwachen, nussbraunen Augen auf mich. »Du sprichst von Andrew, oder? Du und Andrew?«
Da haben wir’s. Mit dieser vorsichtigen Frage hat Benny den Nagel auf den Kopf getroffen. »Nein«, erwidere ich schließlich. »Nicht von Andrew. Von Theo.«
Habe ich’s nicht gesagt? Schlampe.
In nüchternem Zustand und im gnadenlosen Licht des Morgens erinnere ich mich nur noch verschwommen an das kurze, verzweifelte Gerangel vom Vorabend. Habe ich den ersten Schritt gemacht oder Theo? Ich weiß nur noch, wie überrascht ich war, weil es so plump war. Kein bisschen verführerisch. Unsere Zähne sind aneinandergestoßen, dazu ein paar fiebrige Seufzer und Küsse. Mit seiner Hand hat er nach meiner Brust gegrapscht, was aber mehr an eine ärztliche Untersuchung erinnerte, und nicht an eine leidenschaftliche Liebkosung. Also habe ich ihn weggestoßen, mich mit einer gestenreichen Entschuldigung unter seinen Armen weggeduckt und bin ins Untergeschoss hinuntergerannt.
Am liebsten würde ich mich mit Bennys Kissen ersticken. Das habe ich jetzt davon, dass ich mich zu Ricky Hollis’ hochprozentigem Eierpunsch habe hinreißen lassen!
»Moment mal.« Benny beugt sich vor, zieht einen auf dem Boden liegenden Rucksack zu sich her und holt eine lange, dünne One-Hitter-Pfeife heraus.
»Echt jetzt, Benedict? Es ist doch noch nicht mal hell!«
»Na, hör mal, Madamchen, du erzählst mir gerade, dass du gestern Abend mit Theo Hollis rumgemacht hast. Da lass ich mich von dir doch nicht zusammenscheißen, weil ich Weed rauche, bevor ich nicht den Rest gehört habe.«
Na schön! Seufzend schließe ich die Augen, lege den Kopf in den Nacken und schicke den stummen Wunsch ins Universum, den gestrigen Abend ungeschehen machen zu können. Als ich sie wieder aufschlage, befinde ich mich leider immer noch bei Benny auf dem Dachboden – der schon vor Sonnenaufgang Gras raucht –, und in meinem Magen macht sich eimerweise Reue breit.
Benny stößt eine Rauchwolke aus und steckt den One-Hitter in die Tasche zurück. »Okay«, sagt er und linst zu mir herüber, »du und Theo, also.«
Ich puste mir meinen Pony aus dem Gesicht. »Bitte sag das nicht so.«
Er hebt seine Augenbrauen und wirft mir einen Blick zu, der einem deutlichen Tja gleichkommt. »Du weißt schon, dass deine Mom und Lisa all diese Jahre darüber gewitzelt haben … oder?«
»Ja, weiß ich.«
»Ich meine, du willst es ja immer allen recht machen. Aber das geht dann doch zu weit.«
»Ich habe das doch nicht gemacht, um irgendjemanden glücklich zu machen!« Ich überlege kurz. »Glaube ich zumindest.«
Immer muss ich mir Scherze über die langjährige Hoffnung unserer Eltern anhören, dass aus Theo und mir eines Tages ein Paar wird und wir somit offiziell alle eine Familie werden. Und ich nehme an, theoretisch würde das auch Sinn ergeben. Wir sind im Abstand von genau zwei Wochen auf die Welt gekommen. Wurden am selben Tag getauft. Haben zusammen im unteren Stockbett geschlafen, bis Theo groß genug war, dass man nicht mehr Angst haben musste, dass er von oben herunterspringt. Als wir vier Jahre alt waren, hat er mir mit einer Küchenschere die Haare abgeschnitten. Und ich habe ihm das Gesicht mit Pflastern vollgeklebt, wann immer man uns beide allein gelassen hat. Bis unsere Eltern irgendwann daraus gelernt und die Pflaster vor mir versteckt haben. Damit wir vom Tisch aufstehen durften, habe ich seine grünen Bohnen gegessen und er meine gekochten Karotten.
Aber das ist alles Kinderkram, und wir sind keine Kinder mehr. Theo ist ein netter Kerl, ich liebe ihn, weil wir praktisch eine Familie sind und ich es irgendwie muss, aber wir haben uns derart verschieden entwickelt, dass es mir manchmal so vorkommt, als hätten die einzigen Dinge, die uns verbinden, schon vor über einem Jahrzehnt stattgefunden.
Viel wichtiger aber ist, dass ich noch nie auf Theo gestanden habe, was hauptsächlich daran liegt, dass ich insgeheim schon mein gefühltes Leben lang unsterblich in seinen älteren Bruder verliebt bin. Andrew ist einfühlsam, warmherzig, umwerfend und witzig. Er ist verspielt, kreativ und liebevoll und flirtet gerne. Außerdem ist er ausgesprochen prinzipientreu und zurückhaltend, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ihn nichts schneller von einer Frau abbringen würde als das Wissen, dass sie unter dem Einfluss von Eierpunsch mit seinem jüngeren Bruder, einem Herzensbrecher, herumgemacht hat.
Benny, der Einzige im Haus, der meine Gefühle für Andrew kennt, schaut mich erwartungsvoll an. »Na, und was ist passiert?«
»Wir waren beschwipst. Und sind im Hauswirtschaftsraum gelandet, wir drei: ich, Theo und seine Zunge.« Ich stecke mir die Daumenkuppe in den Mund und beiße nervös darauf herum. »Spuck’s aus, Benny, was denkst du?«
»Ich überlege gerade, wie das passieren konnte – das sieht dir überhaupt nicht ähnlich, Kleines.«
Mein Wunsch, mich zu verteidigen, wird fast augenblicklich von Selbsthass abgelöst. Benny ist mein ganz persönlicher Jiminy Cricket, und er hat recht, das sieht mir nicht ähnlich.
»Vielleicht war es ja ein unbewusster Impuls: Ich muss über diese dumme Schwärmerei für Andrew hinwegkommen.«
»Bist du dir da sicher?«, fragt Benny leise.
Nope.
»Ja?«
Ich bin sechsundzwanzig. Andrew ist neunundzwanzig. Selbst ich muss zugeben, dass, wenn jemals etwas zwischen uns hätte laufen sollen, der Zug inzwischen abgefahren sein müsste.
Benny scheint meine Gedanken zu lesen. »Und da hast du dir gedacht, warum nicht Theo?«
»Ich habe es nicht direkt darauf angelegt, okay? Ganz ehrlich, es fällt einem jetzt nicht unbedingt schwer, ihn anzugucken.«
»Aber fühlst du dich zu ihm hingezogen?« Benny kratzt sich am stoppeligen Kinn. »Das scheint mir eine wichtige Frage zu sein.«
»So scheint es doch vielen Frauen zu gehen, oder?«
Er lacht. »Danach habe ich nicht gefragt.«
»Ich schätze, gestern Abend war ich es, richtig?«
»Und?« Er verzieht das Gesicht, als sei er sich nicht sicher, ob er es wissen möchte.
»Und … was?« Ich rümpfe die Nase.
»Dein Gesichtsausdruck sagt mir, dass es schrecklich war.«
Ich atme tief aus. »Allerdings.« Ich halte inne. »Er hat mein Gesicht abgeleckt. Also, mein ganzes Gesicht.« Benny zuckt zusammen, und ich zeige mit dem Finger auf ihn. »Du bist zur Verschwiegenheit verpflichtet!«
Er hebt abwehrend die Hand. »Wem soll ich es denn erzählen? Seinen Eltern? Deinen?«
»Habe ich alles kaputt gemacht?«
Benny lächelt amüsiert. »Ihr seid nicht die Ersten in der Menschheitsgeschichte, die betrunken miteinander rumknutschen. Aber vielleicht war das ja ein kleiner Fingerzeig. Das Universum rät dir, dir Andrew auf die ein oder andere Weise aus dem Kopf zu schlagen.«
Ich muss lachen, denn das halte ich wirklich für unmöglich. Wie soll man sich einen Mann aus dem Kopf schlagen, der so herzensgut und großartig ist? Es ist ja nicht so, dass ich in den letzten dreizehn Jahren nicht versucht hätte, über Andrew hinwegzukommen.
»Irgendeine Idee, wie?«
»Ich weiß nicht, Kleines.«
»Soll ich so tun, als wäre nichts passiert? Mit Theo darüber sprechen?«
»Auf keinen Fall solltest du es einfach verdrängen«, meint Benny lediglich.
So sehr ich mir auch gewünscht hatte, von ihm die Erlaubnis zu bekommen, den Kopf in den Sand zu stecken, weiß ich, dass er recht hat. Das größte Laster der Familie Jones besteht darin, Konfrontationen aus dem Weg zu gehen. Vermutlich könnten meine Eltern an einer Hand abzählen, wie viele Male sie ihre Gefühle füreinander auf reife Weise diskutiert haben – wozu ihr Scheidungsanwalt wahrscheinlich geraten hätte.
»Geh und weck ihn auf, bevor hier alle auf den Beinen sind. Mach reinen Tisch.« Er sieht aus dem Fenster zum Himmel, der scheinbar nur widerwillig hell werden möchte, dann wieder zu mir. Mir muss die Panik ins Gesicht geschrieben stehen, denn er legt beruhigend seine Hand auf meine. »Ich weiß, dass du es von Natur aus liebst, unsere Probleme auszubügeln, und dafür Konfrontationen aus dem Weg gehst, aber heute ist unser letzter Tag hier. Willst du etwa abreisen, wenn das noch zwischen euch steht? Überleg doch mal, wie die Situation dann nächstes Weihnachten aussehen würde.«
»Weißt du, du bist der emotional intuitivste Schlosser auf diesem Planeten.«
Er lacht. »Du lenkst ab.«
Ich nicke, stecke die Hände zwischen die Knie und starre auf den abgenutzten Holzboden. »Eine Frage noch.«
»Mhm?« Sein Tonfall verrät mir, dass er genau weiß, was als Nächstes kommt.
»Erzähle ich es Andrew?«
Er antwortet mit einer Gegenfrage. »Warum sollte Andrew davon erfahren?«
Ich sehe zu ihm auf und entdecke das Mitgefühl in seiner Miene.
Shit.
Er hat recht.
Andrew muss es nicht wissen, weil es ihm sowieso egal wäre.
Als ich aus Bennys Zimmer schleiche, bete ich, dass alle noch schlafen, und im Großen und Ganzen ist es im Haus auch noch ruhig und still. Mein Plan ist, Theo aufzuwecken, bevor die anderen wach werden, ihn zu bitten, mit mir in die Küche zu kommen, und zu reden. Obwohl … besser nicht in der Küche, die ist definitiv zu nahe am Hauswirtschaftsraum! Und dann alles anzusprechen und sicherzustellen, dass es für uns beide ein Ausrutscher war, nichts, weshalb man sich plötzlich merkwürdig verhalten müsste.
Es war einfach nur eine Eierpunschknutscherei! Davon braucht definitiv niemand etwas zu erfahren.
Verhalte ich mich zu paranoid wegen eines schlabbrigen Kusses und eines Busengrapschers? Blöde Frage. Aber Theo gehört praktisch zur Familie, und solche Dinge können schnell mal unschön werden. Und ich habe absolut keine Lust darauf, diese gemütliche Wir-sind-alle-eine-Familie-Dynamik praktisch aus dem Nichts explodieren zu lassen.
Wenn alles wie sonst laufen würde, würde ich heute Morgen wohl bei einem Solitärspiel in der Küche sitzen und heimlich schummeln, während Ricky, Andrews und Theos Dad, Plätzchen mampft, zombiehaft seinen Kaffee schlürft und allmählich zum Leben erwacht.
»Maelyn Jones, du und ich, wir zwei sind aus demselben Holz geschnitzt«, würde er schließlich sagen, sobald er die ersten Worte rausbringen kann. »Beide wachen wir mit der Sonne auf.«
Doch an diesem speziellen Morgen ist Ricky noch nicht wach. An seiner Stelle sitzt dort Theo, über eine riesige Schüssel Lucky Charms gebeugt.
Es ist immer noch verwirrend, ihn mit kurzen Haaren zu sehen. Solange ich denken kann, hatte Theo dunkles, welliges Surfer-Haar, das er manchmal zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden hat. Doch jetzt ist es weg, er hat es sich nur wenige Tage vor unserer Ankunft im Blockhaus abschneiden lassen.
Nun stehe ich in der Tür, eingerahmt von Lametta-Girlanden und künstlichen Stechpalmen, die die Zwillinge gestern früh aufgehängt haben, und starre auf Theos kurz geschorenen Kopf. Ich kann mir nicht helfen, er sieht aus wie ein Fremder.
Ich weiß, er weiß, dass ich hier bin, doch er würdigt mich keines Blickes. Stattdessen heuchelt er eine tiefe Faszination für die Ernährungsinformationen auf der Müslischachtel vor ihm. Milch tropft ihm vom Kinn, und er wischt sie sich mit dem Handrücken weg.
Augenblicklich scheinen sich meine Eingeweide zu verknoten. »Hey«, sage ich und falte ein herumliegendes Geschirrtuch zusammen.
»Hey«, antwortet er, ohne mich anzusehen.
»Gut geschlafen?«
»Klar.«
Ich verschränke die Arme vor der Brust und erinnere mich dann, dass ich im Pyjama dastehe, ohne BH. Der Linoleumboden unter meinen bloßen Füßen ist eiskalt. »Du bist früh auf.«
Er hebt eine seiner muskulösen Schultern und senkt sie wieder. »Yeah.«
Schlagartig geht mir auf, was los ist. Ich habe es gerade nicht mit dem Lebenslanger-Freund-Theo zu tun. Das hier ist der Nächster-Morgen-Theo. Der Theo, den die meisten Frauen zu sehen bekommen. Mein Fehler war, davon auszugehen, dass ich nicht zu den meisten Frauen gehöre.
Ich bewege mich zur Kaffeemaschine, lege einen Filter ein, befülle ihn mit Kaffeepulver, und schalte die Maschine an. Köstlicher Kaffeeduft steigt mir in die Nase und lenkt mich einen Atemzug lang von meiner Angst ab.
Ich werfe einen Blick auf den leeren Adventskalender auf der Theke – leer nicht etwa deshalb, weil gestern Weihnachten war, sondern weil Andrew Schokolade liebt und den Kalender schon vor fünf Tagen leer gefuttert hat. Seine und Theos Mom, Lisa, hat am ersten Urlaubstag Brownies gebacken, die viel zu hart ausgefallen sind und daher kaum mehr angerührt wurden, nachdem sich Dad daran ein Stück Zahn abgebrochen hat.
Ich kenne jede Schüssel in der Küche, jeden Topflappen, jedes Geschirrhandtuch, jedes Platzdeckchen. An diesem Haus liegt mir noch mehr als an meinem Elternhaus, und ich möchte nicht, dass durch eine dumme eierpunschgeschwängerte Entscheidung ein dunkler Schatten darauf fällt.
Ich hole tief Luft und denke daran, warum wir hierherkommen: um Quality Time mit unserer Wahlfamilie zu verbringen. Um unser Zusammensein zu feiern. Manchmal treiben wir uns alle in den Wahnsinn, aber ich liebe diesen Ort. Und freue mich schon das ganze Jahr darauf.
Theo lässt seinen Löffel auf den Tisch fallen und holt mich mit dem Geklapper zurück in diesen spannungsgeladenen Raum. Er schüttelt die Müslischachtel über seine Schüssel und füllt sie neu auf.
Ich mache einen zweiten Anlauf. »Hungrig?«
»Ja«, brummt er.
Vielleicht kann man zu seinen Gunsten ja sagen, dass ihm das Ganze peinlich ist? Also mir definitiv! Vielleicht sollte ich mich entschuldigen, mich vergewissern, dass wir beide da einer Meinung sind. »Hör mal, Theo. Wegen gestern Abend …«
Er lacht auf. »Gestern Abend war nichts, Mae. Mir hätte klar sein sollen, dass du deswegen gleich ein Riesentamtam machst.«
Ich zwinkere. Ein Riesentamtam?
Kurz spiele ich mit dem Gedanken, ihm den nächstbesten Gegenstand an den Kopf zu schleudern. »Was zur Hölle soll das …«, beginne ich, doch der Klang von Schritten lässt mich innehalten und rettet Theo vor einem Hirnschaden durch eine Attacke mit einem gusseisernen Untersetzer.
Ricky kommt herein und gibt mit rauer Stimme ein »Morgen« von sich.
Er schnappt sich eine Tasse, hält sie mir erwartungsvoll entgegen, und ich nehme die Kaffeekanne und schenke ihm ein. Dann schlurfen wir zum Tisch: unser vertrautes kleines Ritual. Doch Ricky zögert nun, unsicher, wo er Platz nehmen soll, nachdem Theo unerwartet auf seinem Stuhl sitzt, und er zieht einen anderen heraus, lässt sich mit einem erleichterten Ächzen darauf nieder und inhaliert genüsslich den Kaffeeduft.
Ich warte darauf, dass Ricky es sagt. Die Worte ausspricht: Maelyn Jones, du und ich, wir zwei sind aus demselben Holz geschnitzt.
Aber sie kommen nicht.
Theo hat in der für gewöhnlich warmen Atmosphäre eine Kältezone der Stille geschaffen, und in mir macht sich leise Panik breit. Ricky ist der König der Tradition, und ich bin eindeutig die Anwärterin auf seinen Thron. Das hier ist der einzige Ort auf der Welt, wo ich das, was ich tue, oder wer ich bin, nie infrage gestellt habe, aber gestern Abend haben Theo und ich uns nicht an das Drehbuch gehalten, und nun ist alles eigenartig.
Ich funkle ihn über den Tisch hinweg an, doch er sieht nicht auf, sondern schaufelt weiter die Lucky Charms in sich rein.
So ein Blödmann.
Unvermittelt bin ich stinksauer. Wieso kann er nicht zumindest die Eier haben, mich heute Morgen anzuschauen? Ein paar betrunkene Küsse sollten für Theo Hollis kein Thema sein, ein Kratzer, der sich locker wegpolieren lässt. Stattdessen kommt es mir vor, als würde er absichtlich noch einen draufsetzen wollen.
Ricky wendet sich langsam um und sieht mich an, wobei seine fragende Miene es schafft, in mein vor Wut eingeschränktes Sichtfeld vorzudringen.
Vielleicht hat Theo recht. Vielleicht mache ich aus einer Mücke einen Elefanten.
Mühsam blinzle ich, drücke mich vom Tisch weg und stehe auf. »Ich glaube, ich nehme meinen Kaffee mit nach draußen und genieße den letzten Morgen hier an der frischen Luft.«
Bitte schön. Wenn Theo auch nur ein bisschen Verstand im Kopf hat – worüber sich aktuell streiten lässt –, wird er den Wink mit dem Zaunpfahl verstehen und mir hinausfolgen, um zu reden.
Aber sobald ich – eingemummelt in einen Daunenmantel, dicke Socken, Stiefel und eine Decke – auf der Verandaschaukel sitze, wird mir von innen heraus kalt. Ich möchte das Fundament dieses besonderen Ortes nicht ins Wanken bringen, weswegen ich mich durch Theos Flirtereien auch nie in Versuchung habe führen lassen oder vor irgendjemandem außer Benny zugegeben habe, dass ich für Andrew Gefühle hege. Die tiefgehende Freundschaft unserer Eltern ist viel älter als irgendeines ihrer Kids.
Auf dem College waren Lisa und Mom Zimmergenossinnen. Dad, Aaron, Ricky und Benny haben alle zusammen in einer heruntergekommenen Bude im viktorianischen Stil abseits des Campus gewohnt. Sie haben ihr den unfassbar kreativen Namen Internationales Haus des Bieres gegeben, und nach den Fotos zu urteilen, die sie uns gezeigt haben, sah ihre Bude wie etwas aus, das es nur im Film Ich glaub’, mich tritt ein Pferd gibt. Nach dem Studium ist Aaron nach Manhattan gezogen, wo er Kyle Liang kennengelernt hat. Die beiden haben schließlich Zwillinge adoptiert. Ricky und Lisa sind in Utah geblieben, Benny ist an der Westküste umhergezogen, bevor er sich in Portland niedergelassen hat. Meine Eltern haben in Kalifornien Wurzeln geschlagen, wo ich geboren wurde und wo schließlich auch Miles – das Überraschungsbaby – neun Jahre später auf die Welt gekommen ist. Vor drei Jahren haben sie sich scheiden lassen, und Mom hat wieder geheiratet und ist ziemlich glücklich. Dad … nicht so sehr.
Aaron hat oft versichert, seine Freunde hätten ihm nach dem tödlichen Autounfall seiner Mom und seines Bruders, als er im Junior-Year war, das Leben gerettet, als sie sich danach um ihn gekümmert und zusammen mit ihm die Weihnachtsfeiertage verbracht haben. Trotz aller Höhen und Tiefen des Lebens haben sie diese Tradition beibehalten: Seitdem lassen wir uns an jedem zwanzigsten Dezember auf Rickys genauestens ausgetüfteltes Weihnachtsprogramm ein. Mein ganzes Leben lang haben wir noch kein einziges Jahr ausgelassen, selbst in dem Jahr nicht, als sich meine Eltern haben scheiden lassen. Jenes Jahr war alles andere als angenehm – angespannt ist eine Untertreibung –, aber irgendwie hat es trotzdem geholfen, Zeit mit unserer Wahlfamilie zu verbringen, um die Umbrüche in unserer echten abzumildern.
Diese Ferien sind auf meinem Kalender-Countdown seit jeher rot umkringelt. Das Blockhaus ist nicht nur deshalb meine Oase, weil Andrew Hollis mit von der Partie ist, sondern auch, weil es das perfekte Winterquartier ist, mit der perfekten Menge an Schnee, den perfekten Leuten und dem perfekten Maß an Komfort. Das perfekte Weihnachten, und ich möchte nichts daran ändern.
Habe ich also gerade alles kaputt gemacht?
Ich beuge mich vor und schlinge die Arme um meine Knie.
Ich bin so was von am Arsch!
»Ach was!«
Ich zucke zusammen, und als ich aufsehe, entdecke ich Andrew im hellen Morgenlicht, der mit einer dampfenden Kaffeetasse in der Hand grinsend vor mir steht. Als ich in sein Gesicht hochblicke – verschmitzte grüne Augen, ein leichter Bartschatten und Kissenfalten auf der linken Wange –, reagiert mein Körper erwartungsgemäß: Mein Herz macht einen Riesensatz von einer Klippe, und eine angenehme Wärme breitet sich in meinem Bauch aus. Andrew ist sowohl genau derjenige, den ich gerade sehen will, als auch der Letzte, der wissen soll, was mich bedrückt.
Ich versuche mich daran zu erinnern, wie meine Haare aussehen, und ziehe mir die Decke bis zum Kinn hoch. Hätte ich mir doch bloß die Zeit genommen, einen BH anzuziehen! »Habe ich mit mir selbst gesprochen?«
»Allerdings.« Er lächelt, und, hey, bei dem Lächeln müsste eigentlich sofort die Sonne hinter den Wolken hervorbrechen. Seine Grübchen sind so tief, dass ich all meine Hoffnungen und Träume darin verlieren könnte. Und ich könnte schwören, dass seine Zähne funkeln. Und dann – wie auf Kommando – fällt ihm auch noch eine perfekte braune Locke in die Stirn.
Das soll wohl ein Scherz sein, oder?!
Und … o mein Gott, ich habe mit seinem Bruder herumgemacht! Schuld überkommt mich, und Reue stößt mir sauer auf.
»Habe ich zufällig Pläne enthüllt, die Regierung zu stürzen und Beyoncé an ihrem rechtmäßigen Platz als unsere furchtlose Anführerin einzusetzen?«, lenke ich ab.
»Falls ja, habe ich es nicht mitgekriegt.« Andrew sieht mich belustigt an. »Ich habe dich gerade sagen hören, dass du so was von am Arsch bist.«
Da ist etwas in seinem Gesichtsausdruck, irgendein neckisches Funkeln, das ich nicht ganz deuten kann. Schlagartig bekomme ich es mit der Angst zu tun.
Ich deute auf sein Gesicht. »Was ist da passiert?«
»Oh, nichts.« Er setzt sich neben mich, legt mir den Arm um die Schultern und drückt mir einen Kuss aufs Haar.
Der Kuss ist Ablenkung genug, dass sich meine Angst legt, und ich muss mich bremsen, Andrew nicht festzuhalten, als er wieder ein Stück zurückweicht. Könnte ich je in den Genuss einer langen, festen Andrew-Hollis-Umarmung kommen, wäre das, wie wenn man an einem glühend heißen Tag kurz vor dem Verdursten ist und ein großes Glas Wasser vorgesetzt bekommt. Ich weiß, ich habe ihn nicht verdient – er ist zu gut für diese Welt –, aber das hat mich noch nie davon abgehalten, mich trotzdem nach ihm zu sehnen.
Mich überkommt ein Hauch von Unbehagen, als er lachend meinen Namen in mein Haar murmelt.
»Du bist heute Morgen ziemlich gut gelaunt«, sage ich.
»Im Gegensatz zu dir.« Er beugt sich vor und mustert mich. Der Kopfhörer um seinen Hals fällt ein Stück nach vorne, und ich merke, dass er sich nicht die Mühe gemacht hat, die Musik abzustellen. She Sells Sanctuary von The Cult tönt blechern aus den Hörmuscheln. »Was ist los, Maisie?«
Das ist ein kleines Spielchen von uns: Wir verwandeln uns in die älteren Personen Mandrew und Maisie. Wir sprechen dabei mit zittriger und hoher Stimme – um uns etwas anzuvertrauen, uns zu necken oder einfach aus Spaß –, aber ich bin viel zu sehr durch den Wind, um mich jetzt darauf einzulassen.
»Nichts.« Ich zucke die Achseln. »Hab nicht gut geschlafen.« Die Lüge fühlt sich absolut falsch an.
»Harte Nacht?«
»Ähm …« Meine Organe zersetzen sich wie auf Kommando. »Könnte man sagen.«
»Du und mein Bruder also, hm?«
Alles in meinem Kopf verwandelt sich zu Asche und wird auf den Schnee hinausgeblasen. »O mein Gott!«
Andrew lacht. »Ihr zwei Kids! Schleicht heimlich rum!«
»Andrew … da ist nichts … ich …«
»Nein, nein. Schon okay. Ich meine, das überrascht niemanden, richtig?« Er sieht mich forschend an. »Hey, entspann dich, ihr seid beide erwachsen.«
Stöhnend vergrabe ich mein Gesicht in den Armen. Er kapiert es nicht, und schlimmer – es ist ihm total egal.
»Sorry, mir war nicht klar, dass du so ausflippen würdest. Hab mir nur einen Spaß mit dir erlaubt. Ich meine, um ehrlich zu sein, dachte ich mir immer, es sei nur eine Frage der Zeit sei, bevor du und Theo …«
»Andrew, nein!« Ich sehe mich verzweifelt um. Jetzt überraschend einen Notausstieg zu entdecken, das wäre meine Rettung. Stattdessen fällt mir etwas silbern Schimmerndes ins Auge – es ist der Ärmel von Andrews furchtbarem Weihnachtspulli, der über den Rand der Mülltonne hängt. Miso, der Corgi der Hollis’, hatte ihn am Weihnachtsabend in die Pfoten bekommen, und Lisa muss entschieden haben, dass er nicht mehr zu retten ist. Und gerade jetzt, in diesem Moment, hätte ich nichts dagegen, mich zu ihm in die Mülltonne zu gesellen. »So ist das zwischen uns nicht.«
»Hey. Alles gut, Maisie.« Ich merke, dass ihn das Maß meiner Panik überrascht, und er legt eine Hand beruhigend auf meinen Arm, da er die falschen Schlüsse zieht. »Ich verrate es niemandem.«
Beschämung und Schuldgefühle überkommen mich. »Ich … ich fasse es nicht, dass er es dir erzählt hat.«
»Hat er gar nicht«, sagt Andrew. »Ich bin gestern Abend ins Haus zurückgegangen, weil ich mein Handy auf dem Küchentisch liegen lassen habe, und da habe ich euch beide gesehen.«
Andrew hat uns gesehen?
Bitte, lasst mich sterben!
»Na komm, mach nicht so viel Wind wegen ein paar Küssen. Denk dran, du sprichst gerade mit dem Typen, dessen Mom im Haus täglich die Mistelzweige umhängt. Hier hat sich doch die halbe Gruppe schon mal irgendwann geküsst.« Er gibt mir einen Stups, und wenn möglich, schäme ich mich gerade noch mehr. »Dad hat mich hergeschickt, um dich zum Frühstück zu holen.« Er versetzt mir kumpelhaft einen Knuff. »Ich wollte dir nur Dampf machen.«
Mit einem Augenzwinkern dreht sich Andrew um und verschwindet im Haus.
Und ich bleibe zurück und versuche, mich zu sammeln.
***
Im Haus dudelt noch immer Weihnachtsmusik. Das Wohnzimmer beherbergt nun weihnachtliche Überbleibsel: leere Schachteln, mit Geschenkpapier vollgestopfte Müllbeutel und Behälter voll aufgerollter Geschenkbänder für die Wiederverwendung im nächsten Jahr. Neben der Tür stehen Koffer aufgereiht. Während ich auf der Veranda ausgeflippt bin, hat sich die Küche gefüllt, und offenbar habe ich gerade den großen Spaß verpasst, wie Dad und Aaron auf dem Treppenabsatz zusammen unter Lisas wanderndem Mistelzweig erwischt worden sind.
Das Frühstück ist schon in vollem Gange: Mom hat aus Eiern, Kartoffeln und dem letzten Schinkenrest einen Auflauf gezaubert. Lisa hat ein bisschen dänisches sigtebrød aus der Speisekammer geholt, und Miles häuft Pancakes und Bacon auf diverse Teller. Wir sind ein träger Haufen, schließlich haben wir in den letzten beiden Tagen Kalorien für einen ganzen Monat zu uns genommen. Andererseits weiß ich, dass wir auch deshalb so missmutig herumschlurfen, weil es unser letzter gemeinsamer Morgen ist. Ich bin ziemlich sicher nicht die einzige Person in diesem Raum, der es vor der Rückkehr in ein geregeltes Arbeitsleben graut.
In ein paar Stunden werden Mom, Dad, Miles und ich unseren Mietwagen beladen und zum Flughafen fahren. Wir werden zusammen zurück nach Oakland fliegen und uns bei der Ankunft dort trennen. Moms neuer Mann, Victor, wird von seinem alljährlichen Trip mit seinen beiden erwachsenen Töchtern wieder zurück sein und Mom mit Blumen und Küssen begrüßen. Dad wird sich allein in seine Eigentumswohnung in der Nähe der Uniklinik von San Francisco aufmachen, woraufhin wir ihn wochenlang nicht mehr zu Gesicht bekommen werden.
Und am Montag werde ich dann zu einem Job zurückkehren, den zu kündigen ich nicht den Mumm habe. Zu dem Leben zurückkehren, das ich zwar genießen möchte, es aber nicht tue. Genau in dem Moment erinnert mich mein Handy mit einem hellen Klingelton daran, dass ich meinem Boss morgen früh eine Gewinn-und-Verlust-Tabelle mailen muss, und meine Laune rauscht in den Keller. Seit unserer Ankunft habe ich meinen Laptop nicht einmal aufgeklappt.
Alle finden wir uns am Tisch ein und setzen uns auf unsere Plätze um die dampfenden Essensteller.
Eigentlich sind Handys während der Mahlzeiten tabu, doch mit seinen riesigen Rehaugen kommt Miles immer wieder ungestraft davon, und mit Theo, der gerade in sein Smartphone vertieft ist und bei Instagram ein Foto nach dem anderen von Models, Muscle-Cars und Golden Retrievern likt, will sich keiner auf eine Diskussion einlassen.
Noch immer sieht er mich nicht an. Spricht kein einziges Wort mit mir. Wenn es nach ihm ginge, könnte ich genauso gut nicht anwesend sein.
Ich spüre, dass Benny mich auf seine so sanfte, einfühlsame Art beobachtet, und ich erwidere kurz seinen Blick. Ich hoffe, er liest die Botschaft darin: ANDREWHATGESEHEN, WIEICHMITTHEORUMGEMACHTHABE, UNDICHWÜRDEMICHNUNSEHRGERNEINLUFTAUFLÖSEN.
Kyle gießt sich summend Kaffee ein. Irgendwo muss ein verkaterter Jesus für seine Sünden büßen, denn Kyle sieht selbst nach der ausschweifenden Cocktailparty gestern Abend noch immer so aus, als könnte er auf eine Broadwaybühne gleiten und in die nächste Woche tanzen.
Dagegen hat sein Mann Aaron keinen einzigen Tropfen getrunken und sieht trotzdem mitgenommen aus – er macht gerade eine kleine Midlife-Crisis durch. Anscheinend hat sie begonnen, als einer ihrer Freunde bemerkt hat, dass Aarons Haar zwar größtenteils grau ist, er aber für jemanden in seinem Alter gut aussieht. Kyle schwört, das sei in allerbester Absicht geschehen, aber Aaron ist das egal. Sein Haar ist jetzt derart schwarz gefärbt, dass man meinen könnte, es befände sich ein Loch in dem jeweiligen Raum, in dem er sich gerade aufhält. Er hat den Großteil dieses Trips damit verbracht, wie ein Verrückter Sport zu treiben und böse in den Spiegel zu gucken. Aaron leidet nicht etwa an einem Kater; er kann seine Tasse schlicht deshalb kaum an den Mund führen, weil er gestern zu viele Push-ups gemacht hat.
Nun wendet sich Kyle um und lässt den Blick durchs Zimmer schweifen. »Was sind das eigentlich für seltsame Vibes hier?«, fragt er und setzt sich auf seinen üblichen Platz.
»Tja, ich habe da so eine Idee.« Andrew sieht mit einem breiten Grinsen zu seinem Bruder, und ich verschlucke mich fast an meinem Kaffee, während Andrew von Benny einen Klaps auf die Ohren kassiert.
Schließlich wirft mir Theo einen Blick zu und sieht dann schuldbewusst wieder weg.
Ganz richtig, Blödmann, mich gibt’s auch noch!
Ricky räuspert sich und ergreift dann Lisas Hand.
O mein Gott! Wissen sie es auch?
Wenn Lisa es meinen Eltern erzählt, wird meine Mom ihren Enkelkindern schon Namen geben, bevor wir die Einfahrt verlassen haben.
»Vielleicht liegt es an uns«, sagt Ricky bedächtig. »Lisa und ich haben Neuigkeiten.«
Es ist das leichte, nervöse Beben in seiner Stimme, das meinen beschleunigten Puls einfängt und ihn hämmernd in eine andere Richtung schickt. Ist Lisas Melanom zurückgekehrt?
Unvermittelt fühlt sich die Knutscherei im Hauswirtschaftsraum total belanglos an.
Ricky nimmt die Servierplatte mit Bacon und lässt sie am Tisch herumgehen. Lisa macht dasselbe mit dem Auflauf. Doch keiner nimmt sich etwas. Stattdessen geben wir alles geistesabwesend weiter, nicht bereit zu essen, bevor wir nicht wissen, wie groß die Verheerung ist, mit der wir es zu tun haben.
»Das Geschäft läuft gut«, beruhigt uns Ricky und sieht jedem von uns ins Gesicht. »Und niemand ist krank. Keine Bange, so was in der Art ist es nicht.«
Wir atmen alle kollektiv aus, aber dann sehe ich, wie Dad seine Hand instinktiv auf Moms legt, und da weiß ich Bescheid. Es gibt nur eine Sache, die uns genauso wichtig ist wie die Gesundheit der anderen.
»Aber versteht ihr, dieses Blockhaus ist alt«, fährt Ricky fort. »Es ist alt, und es scheint jeden Monat etwas Neues anzufallen.«
In meiner Brust bildet sich ein heißes Knäuel.
»Wir wollten euch wissen lassen, dass wir wirklich hoffen, dass wir die Weihnachtsfeiertage weiter gemeinsam verbringen können, so wie wir das schon die letzten dreißig Jahre getan haben.« Er nimmt die volle Baconplatte entgegen und stellt sie – unberührt – ab.
Alle schweigen wir, selbst Aarons und Kyles fünfjährige Zwillinge – Kennedy mit an die Brust gezogenen Beinen, an deren einem schorfigen Knie noch immer tapfer ein schmutziges Glücksbärchi-Pflaster hängt, und Zachary, der den Arm seiner Schwester umklammert. Und wir fürchten uns alle vor dem, was gleich kommen wird.
»Aber wir müssen uns da etwas Neues einfallen lassen. Denn Lisa und ich haben beschlossen, das Blockhaus zu verkaufen.«
Einsatzzeichen für die deprimierendste Musik überhaupt.
Tatsächlich würde ich das der morbiden Stille im Mietwagen vorziehen, während Mom, Dad, Miles und ich den leicht verschneiten Zufahrtsweg aus Kies zur Hauptstraße entlangfahren. Mom weint leise auf dem Beifahrersitz. Dad spielt am Steuer nervös mit den Händen herum, als wüsste er nicht, wohin damit. Ich glaube, er möchte Mom trösten, dabei sieht er selbst so aus, als könnte er Trost gebrauchen.
Wenn es mir schon so vorkommt, als würde mir das Blockhaus alles bedeuten, ist das nichts im Vergleich zu den Erinnerungen, die sie damit verbinden. Sie sind frisch verheiratet hierhergekommen, haben mich und Miles schon als Babys hergebracht.
»Mom.« Ich beuge mich vor und lege ihr eine Hand auf die Schulter. »Das wird schon. Wir sehen uns alle ja trotzdem noch nächstes Jahr.«
Ihre leisen Schluchzer gehen in ein Wehklagen über, und Dad umklammert grimmig das Steuer. Sie haben sich nach fast einem Vierteljahrhundert scheiden lassen, und das Blockhaus ist der einzige Ort, an dem sie sich noch gut vertragen. Eigentlich ist es sogar der einzige Ort, an dem sie sich je gut vertragen haben. Lisa ist Moms engste Freundin; Ricky, Aaron und Benny wiederum sind Dads engste Freunde außerhalb des Krankenhauses. Dad war bereit, auf das Haus zu verzichten, auf das Sorgerecht für Miles und auf einen ziemlich großen Batzen seines monatlichen Einkommens, jedoch auf keinen Fall auf Weihnachten im Blockhaus. Mom hat sich allerdings ebenfalls behauptet. Victors Töchter waren begeistert, weiterhin Zeit mit ihrem Dad verbringen zu können, und wir haben es irgendwie geschafft, einen zerbrechlichen Frieden zu bewahren. Wird das so bleiben, wenn wir uns einen neuen Ort suchen müssen, ohne irgendwelche glücklichen Erinnerungen oder nostalgische Fixpunkte?
Ich werfe einen Blick zu meinem Bruder und frage mich, wie es sein muss, so glücklich und selbstvergessen durchs Leben zu gehen. Er hat seine Kopfhörer auf und nickt leicht mit dem Kopf zu einer Musik, die ganz offensichtlich munter und optimistisch ist.
»Ich wollte vor Lisa nicht zusammenbrechen«, hickst Mom und kramt in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. »Sie war am Boden zerstört, hast du das nicht gemerkt, Dan?«
»Ich … na ja, schon«, weicht er aus, »aber vermutlich war sie auch erleichtert, diese harte Entscheidung getroffen zu haben.«
»Nein, nein. Das ist schrecklich.« Mom schnäuzt sich. »Oh, die Arme!«
Ich lange hinüber und schnipse Miles am Ohr.
Er zuckt von mir weg. »What the fuck?«