9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Zahlen lügen nicht, aber Liebe ist unberechenbar Die begnadete Datenanalystin Jess Davis glaubt an Zahlen und Statistiken. Den Glauben an die große Liebe hat sie längst verloren. Doch dann wird sie von ihrer besten Freundin dazu überredet, eine neue Dating-Agentur auszuprobieren, die wie für Jess gemacht scheint. GeneticAlly behauptet, mit Hilfe eines DNA-Tests für jeden den perfekten Partner zu finden – den Seelenverwandten. Jess steht den Versprechungen von GeneticAlly zunächst skeptisch gegenüber, doch dann siegt die Neugier. Als ihr Test aber eine unglaubliche 98%-ige Übereinstimmung mit einem der Gründer von GeneticAlly ausspuckt, erklärt Jess das Experiment für gescheitert. Denn sie kennt Dr. River Peña, und er ist mit 100%-iger Sicherheit nicht ihr Seelenverwandter! Oder etwa doch?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:
Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:
www.everlove-verlag.de
Wenn dir dieser Roman gefallen hat, schreib uns unter Nennung des Titels »The Soulmate Equation« an [email protected], und wir empfehlen dir gerne vergleichbare Bücher.
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Christina Kagerer
© Christina Hobbs und Lauren Billings 2021
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»The Soulmate Equation«, Gallery Books, a Division of Simon & Schuster, Inc., New York 2021
© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2024
Redaktion: Svenja Kopfmann
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München, nach einem Entwurf von Hannah Wood – LBBG
Coverillustration: Lisa Brewster und Deposit photos
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Cover & Impressum
Widmung
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
Zwei Monate später
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Holly Root,
unser Diamond Match
Jessica Davis hielt es immer für eine waschechte Tragödie, dass nur sechsundzwanzig Prozent aller Frauen an die wahre Liebe glaubten. Allerdings war das schon fast ein Jahrzehnt her, damals, als sie sich – natürlich! – noch nicht vorstellen konnte, etwas anderes als tiefe und bedingungslose Liebe für den Mann zu empfinden, der eines Tages ihr Ex sein würde. Aber heute Abend, bei ihrem ersten Date seit sieben Jahren, war sie eher erstaunt darüber, dass die Zahl so hoch war.
»Sechsundzwanzig Prozent«, murmelte sie und beugte sich näher zum Badezimmerspiegel, um sich Lippenstift aufzutragen. »Sechsundzwanzig Frauen von hundert, die an die wahre Liebe glauben.« Lachend setzte Jess die Kappe zurück auf den Lippenstift, und ihr Spiegelbild erwiderte ihr Lachen. Sie musste immer noch die Vorspeise hinter sich bringen. Die Appetizer hatten ewig gedauert. Wahrscheinlich hatte es auch etwas damit zu tun, dass Travis es scheinbar genoss, mit vollem Mund zu reden und bis ins kleinste Detail zu erzählen, wie er seine Frau mit seinem Geschäftspartner im Bett erwischt hatte – gefolgt von einer ziemlich schmutzigen Scheidung. Aber was erste Dates anging, hätte es auch schlimmer kommen können, sagte sich Jess. Dieses Date war zumindest besser als das letzte mit dem Kerl, der schon so betrunken im Restaurant aufgetaucht war, dass er weggenickt war, bevor sie überhaupt hatten bestellen können.
»Komm schon, Jess.« Sie steckte den Lippenstift zurück in ihre Tasche. »Du musst das Essen nicht selbst kochen, es nicht servieren und danach auch nicht abspülen. Das Essen allein ist es schon wert, sich noch eine weitere verbitterte Geschichte über die Ex-Frau anzuhören.«
Eine Tür der Toilettenkabinen öffnete sich, und eine gertenschlanke Blondine kam heraus. Sie warf Jess einen mitleidigen Blick zu.
»O Gott, ich weiß.« Jess stöhnte. »Ich führe Selbstgespräche auf der Toilette. Das sagt schon alles, wie mein Abend heute so läuft.«
Kein Lachen. Kein höfliches Lächeln. Kein Zeichen von Verbundenheit. Stattdessen ging die Frau an das letzte Waschbecken, um sich die Hände zu waschen.
Auch gut.
Jess kramte weiter in ihrer Handtasche herum, konnte aber nicht umhin, ans Ende der Waschbeckenreihe zu schauen. Sie wusste, dass es unhöflich war, zu starren, aber das Make-up der Frau war makellos, ihre Fingernägel perfekt manikürt. Wie, zum Teufel, schafften manche Frauen das? Jess war schon froh, wenn sie das Haus verließ, ohne vergessen zu haben, ihren Reißverschluss zu schließen. Einmal hatte sie einem Kunden die Daten eines ganzen Finanzjahres präsentiert, während immer noch vier von Junos glitzernden Schmetterlingsspangen an ihrem Blazer klemmten. Diese wunderschöne Frau hatte wahrscheinlich noch nie ihre Klamotten wechseln müssen, nachdem sie eine Katze und eine Siebenjährige von Glitzer befreit hatte. Sie musste sich wahrscheinlich auch nie entschuldigen, weil sie zu spät zu einem Date kam. Vermutlich musste sie sich nicht mal rasieren – weil sie ziemlich sicher von Natur aus überall glatte Haut hatte.
»Geht’s Ihnen gut?«
Jess blinzelte, als sie aus ihren Gedanken gerissen wurde, und ihr wurde klar, dass die Frau mit ihr redete. Es war zwecklos, so zu tun, als hätte sie nicht gerade einer Fremden direkt in den Ausschnitt gestarrt.
Sie widerstand dem Drang, ihre weniger beeindruckenden Vorzüge zu verdecken, lächelte verlegen und winkte ab. »Tut mir leid. Ich habe nur gerade gedacht, dass Ihre Katze wahrscheinlich nicht in Glitzer gebadet hat.«
»Meine was?«
Sie drehte sich wieder zum Spiegel um.
Jessica Marie Davis, reiß dich zusammen.
Jess ignorierte die Tatsache, dass sie immer noch Publikum hatte, und ahmte Nana Jo im Spiegel nach: »Du hast noch genügend Zeit. Geh da raus, iss etwas Guacamole, und geh nach Hause«, sagte sie laut. »Die Uhr tickt noch nicht.«
»Ich sage ja nur, dass die Uhr tickt.« Fizzy deutete vage auf Jess’ Hintern. »Dir ist schon klar, dass dieser Arsch nicht für immer straff und knackig sein wird, oder?«
»Vielleicht nicht«, sagte Jess. »Aber Tinder wird mir auch nicht dabei helfen, einen guten Kerl zu finden, der ihn knackig hält.«
Fizzy reckte trotzig ihr Kinn in die Luft. »Ich hatte mit den besten Sex meines Lebens dank Tinder. Du gibst zu schnell auf. Wir befinden uns in der Ära, in der Frauen Lust empfinden und sich nicht dafür entschuldigen, dass sie zuerst auf ihre Kosten kommen – und dann vielleicht noch ein zweites und drittes Mal. Travis ist vielleicht von seiner Ex-Frau besessen, aber ich hab sein Foto gesehen, und er sieht verdammt gut aus. Vielleicht hätte er deine Welt nach den Churros für ein oder zwei Stunden auf den Kopf gestellt, aber das wirst du nie wissen, weil du vor dem Nachtisch gegangen bist.«
Jess hielt inne. Vielleicht … »Verdammt, Fizzy.«
Ihre beste Freundin lehnte sich zurück und lachte. Wenn Felicity Chen beschließen sollte, Kosmetikprodukte zu verkaufen, dann würde Jess ihr einfach ihren ganzen Geldbeutel reichen. Fizzy war der Inbegriff von Charisma, Hexerei und schlechtem Urteilsvermögen. Diese Qualitäten machten sie zu einer guten Schriftstellerin, waren aber auch teils der Grund, warum Jess einen falsch geschriebenen Songtext auf der Innenseite ihres Handgelenks tätowiert hatte, warum sie 2014 sechs deprimierende Monate lang mit Zöpfen herumgelaufen war, die nicht einmal annähernd wie die von Audrey Hepburn ausgesehen hatten, und warum sie in L. A. auf eine Kostümparty gegangen war, die sich als BDSM-Party in einem Kellergewölbe herausgestellt hatte. Fizzys Antwort auf Jess’ Frage »Du hast mich wirklich zu einer Sexparty in einem Kellergewölbe geschleift?« hatte »Ja und? Jeder in L. A. hat ein Kellergewölbe!« gelautet.
Fizzy steckte sich eine Strähne ihres glänzenden schwarzen Haars hinter das Ohr. »Okay, wir sollten Pläne für dein nächstes Date machen.«
»Nein.« Jess klappte ihren Laptop auf und loggte sich in ihren E-Mail-Account ein. Aber selbst wenn sie ihre Aufmerksamkeit etwas anderem widmete, war es schwer, Fizzys düsterem Blick zu entkommen. »Fitz, es ist schwer mit einem Kind.«
»Die Ausrede benutzt du immer.«
»Weil ich auch immer ein Kind habe.«
»Du hast auch Großeltern, die nebenan wohnen und sich riesig darüber freuen würden, wenn sie auf sie aufpassen könnten, während du bei einem Date bist. Und du hast eine beste Freundin, die denkt, dass deine Tochter cooler ist als du. Wir wollen alle nur, dass du glücklich bist.«
Das wusste Jess. Deshalb hatte sie sich ja überhaupt dazu überreden lassen, diese Tinder-Sache auszuprobieren. »Okay, spielen wir das mal durch«, sagte sie. »Sagen wir mal, ich lerne einen tollen Typen kennen. Wo soll ich mich mit ihm treffen? Es war anders, als Juno zwei war. Jetzt habe ich eine Siebenjährige mit leichtem Schlaf und großen Ohren. Und das letzte Mal, als ich bei einem Typen zu Hause war, war es so unordentlich, dass seine Boxershorts an meinem Rücken geklebt haben, als ich ins Badezimmer gehen wollte.«
»Ekelhaft.«
»Genau.«
»Trotzdem.« Fizzy rieb sich gedankenverloren die Unterlippe. »Alleinstehende Mütter und Väter schaffen das die ganze Zeit, Jess. Schau dir doch nur Drei Mädchen und Drei Jungen an.«
»Dein bestes Beispiel ist eine fünfzig Jahre alte Sitcom?« Je mehr Fizzy sie zu überzeugen versuchte, desto weniger wollte Jess wieder auf ein Date gehen. »1969 waren nur dreizehn Prozent der Eltern Single. Carol Brady war ihrer Zeit voraus. Das bin ich nicht.«
»Vanilla Latte!«, rief der Barista Daniel über den Lärm im Café hinweg.
Fizzy bedeutete Jess, dass sie noch nicht fertig mit ihr war, bevor sie aufstand und zum Tresen ging.
Seit sie selbstständig war, ging Jess jeden Wochentag ins Café Twiggs. Ihr Leben spielte sich in einem Radius von vier Blocks ab, war also äußerst überschaubar. Sie brachte Juno zur Schule, die nur eine Straße von ihrer Wohnanlage entfernt war, während Fizzy sich an den besten Tisch im Café setzte – im hinteren Bereich, weit entfernt von den Blicken durch das Fenster, aber immer noch in der Nähe des Verkaufsbereichs. Jess grübelte über Zahlen, während Fizzy Romane schrieb, und um nicht wie Schmarotzer zu wirken, bestellten sie mindestens alle neunzig Minuten etwas. Das führte auch dazu, dass sie mehr arbeiteten und weniger tratschten.
Außer heute. Sie spürte, dass Fizzy es nicht auf sich beruhen lassen würde.
»Okay.« Ihre Freundin kam mit ihrem Getränk und einem großen Blaubeermuffin zurück und machte es sich wieder bequem. »Wo war ich?«
Jess richtete ihren Blick auf die E-Mail vor ihr und tat so, als würde sie lesen. »Ich glaube, du wolltest gerade sagen, dass es mein Leben ist und dass ich das tun sollte, was ich für das Beste für mich halte.«
»Wir wissen beide, dass ich so was nie sagen würde.«
»Warum genau bin ich noch mal mit dir befreundet?«
»Weil ich dich als Schurke in Crimson Lace unsterblich gemacht habe und du zum Fan-Liebling geworden bist. Also kann ich dich nicht umbringen.«
»Manchmal frage ich mich, ob du meine Fragen überhaupt beantwortest«, murmelte Jess, »oder ob du einfach eine anhaltende Konversation in deinem Kopf fortführst.«
Fizzy begann das Papier von ihrem Muffin abzumachen. »Was ich sagen wollte, ist, dass du nicht wegen einem schlechten Date das Handtuch werfen kannst.«
»Es ist nicht nur das eine schlechte Date«, sagte Jess. »Es ist der anstrengende und fremdartige Prozess, zu versuchen, Männern zu gefallen. Ich bin freiberufliche Statistikerin, und mein verführerischstes Outfit ist mein altes Buffy-T-Shirt und eine abgeschnittene Hose. Mein Lieblingsschlafanzug ist eines von Pops alten Unterhemden und eine Schwangerschafts-Yogahose.«
Fizzy brachte ein wehleidiges »Nein« hervor.
»Doch«, sagte Jess mit Nachdruck. »Und dazu kommt noch, dass ich ein Kind bekommen habe, als die meisten Leute in unserem Alter vorgegeben haben, Jägermeister zu mögen. Es ist schwer, mich mir auf einer Dating-Seite vorzustellen.«
Fizzy lachte.
»Ich hasse es, Juno wegen irgendeinem Typen, den ich wahrscheinlich nie wiedersehen werde, keine Zeit zu widmen.«
Fizzy ließ das einen Augenblick sacken und blickte aus ihren dunklen Augen ungläubig drein. »Du gibst also auf? Jessica, du warst auf drei Dates mit drei heißen – zugegebenermaßen – dummen Männern.«
»Ich gebe auf, bis Juno älter ist, ja.«
Sie sah Jess skeptisch an. »Wie viel älter?«
»Keine Ahnung.« Jess nahm ihren Kaffee, aber sie wurde abgelenkt, als der Mann, den sie den »Americano« nannten, das Twiggs betrat und Punkt 8:24 Uhr an den Tresen ging. Er hatte lange Beine, dunkles Haar und eine selbstsichere, überschwängliche Ausstrahlung. Dabei vermied er es, anderen in die Augen zu schauen. »Vielleicht, wenn sie auf dem College ist?«
Jess ließ ihren Blick von dem Americano zu Fizzy gleiten und begegnete deren entsetztem Gesichtsausdruck. »College? Wenn sie achtzehn ist?« Sie senkte die Stimme, als sich alle Köpfe in dem Café zu ihnen umdrehten. »Du willst mir sagen, dass ich in meinem Roman, der dein zukünftiges Liebesleben abdeckt, über eine Heldin schreiben werde, die ihren Körper zum ersten Mal nach achtzehn Jahren fröhlich einem Mann offenbart? Auf keinen Fall, Süße. Nicht mal deine perfekt erhaltene Vagina kann das durchhalten.«
»Felicity.«
»Das ist ja wie ein ägyptisches Grab. Praktisch mumifiziert«, murmelte Fizzy und nippte an ihrem Kaffee.
Vorne am Tresen bezahlte der Americano für sein Getränk, machte dann einen Schritt zur Seite und sah auf sein Handy. »Was tut er da immer?«, fragte Jess leise.
»Du hast so ’nen Crush auf den Americano«, sagte Fizzy. »Merkst du eigentlich, dass du ihn immer beobachtest, wenn er hier reinkommt?«
»Vielleicht finde ich sein Auftreten faszinierend.«
Fizzy warf einen Blick auf seinen Hintern, der im Moment unter einem Navy-Mantel verborgen war. »Auftreten nennen wir das also jetzt?« Sie lehnte sich vor und schrieb etwas auf ihren Ideenblock, der neben ihrem Laptop lag.
»Er kommt hier rein und strahlt etwas aus, sodass man das Gefühl hat, er würde jeden umbringen, der versucht, mit ihm zu reden«, bemerkte Jess.
»Vielleicht ist er ein Berufskiller.«
Jetzt inspizierte auch Jess seinen Hintern. »Eher so was wie ein sozial verstockter, mittelalterlicher Kunstprofessor.« Sie versuchte sich daran zu erinnern, wann er zum ersten Mal in das Café gekommen war. Vor zwei Jahren vielleicht? Fast jeden Tag, zur selben Uhrzeit, mit demselben Getränk und immer in dasselbe Schweigen gehüllt. Das hier war ein lebendiges Viertel, und das Twiggs war sein Herzstück. Die Leute kamen hierher, um zu verweilen, etwas zu trinken, sich zu unterhalten. Der Americano stach nicht durch seine Andersartigkeit oder sein exzentrisches Auftreten hervor, sondern dadurch, dass er sich an einem Ort voller lauter, liebenswerter Verrückter in absolutes Schweigen hüllte. »Nette Klamotten, aber im Innern ist er einfach nur mürrisch«, murmelte Jess.
»Vielleicht braucht er nur guten Sex. Da kenne ich übrigens noch jemanden.«
»Fizz, ich hatte Sex, seit ich Juno auf die Welt gebracht habe«, sagte Jess genervt. »Ich sage nur, dass ich keine Zeit für eine Beziehung habe, und ich bin nicht gewillt, langweilige oder absolut schreckliche Dates durchzustehen, nur, um am Ende einen Orgasmus zu haben. Dafür gibt’s batteriebetriebene Geräte, wie du nur zu gut weißt.«
»Ich rede nicht nur von Sex«, sagte Fizzy. »Ich rede darüber, dich nicht immer an die letzte Stelle zu setzen.« Fizzy hielt inne, um Daniel zu winken, der gerade einen Tisch in der Nähe abwischte. »Daniel, hast du das alles gehört?«
Er streckte sich und schenkte Fizzy dieses Lächeln, das letztes Jahr dazu geführt hatte, dass Fizzy ihn als Vorbild für ihren Helden in Destiny’s Devil verwendete. Sie hatte Daniel im Kopf, als sie in ihrem Buch all die schmutzigen Dinge mit ihm machte, die sie im wahren Leben nie gewagt hätte.
Und nie wagen würde. Daniel und Fizzy waren letztes Jahr mal miteinander ausgegangen, hatten die Sache aber schnell wieder beendet, als sie sich auf einer Familienzusammenführung begegnet waren. Ihrer Familienzusammenführung. »Wann kann man euch schon nicht hören?«, fragte er.
»Gut. Dann sag Jess bitte, dass ich recht habe.«
»Du willst, das ich meine Meinung darüber äußere, ob Jess auf Tinder gehen soll, nur um Sex zu haben?«, wollte er wissen.
»Okay, gut«, stöhnte Jess. »Das ist wirklich mein absoluter Tiefpunkt.«
»Oder auf jede andere Dating-Seite, die ihr gefällt!«, rief Fizzy und ignorierte sie. »Diese Frau ist jung und sexy. Sie sollte ihre verbleibenden scharfen Jahre nicht in Mama-Jeans und alten Sweatshirts vergeuden.«
Jess blickte an ihrem Outfit hinab und wollte protestieren, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken.
»Vielleicht nicht«, sagte Daniel. »Aber wenn sie glücklich ist, ist es doch eigentlich egal, wie sie sich kleidet, oder?«
Jess strahlte Fizzy triumphierend an. »Siehst du? Daniel ist auf meiner Seite.«
»Weißt du«, sagte Daniel jetzt zu ihr, knüllte den Lappen in seinen Händen zusammen und grinste sie wissend an, »der Americano ist auch ein Romantiker.«
»Lass mich raten«, sagte Jess und verzog das Gesicht. »Er ist der Besitzer einer Sexhöhle im Dothraki-Stil?«
Nur Fizzy lachte darüber. Daniel hingegen zuckte schüchtern mit den Schultern. »Er will eine völlig neue Partnervermittlungsagentur aus dem Boden stampfen.«
Beide Frauen wurden still. Eine was?
»Partnervermittlung?«, fragte Jess. »Derselbe Americano, der regelmäßig in dieses Café kommt und nie einen Menschen anlächelt?« Sie deutete auf die Tür, durch die er vor einer Minute verschwunden war. »Dieser Kerl? Der mit dem guten Aussehen und der launischen, antisozialen Ausstrahlung?«
»Genau der«, sagte Daniel nickend. »Du könntest recht damit haben, dass er nur mal wieder Sex braucht, aber ich glaube, er kommt ganz gut mit sich selbst zurecht.«
Glücklicherweise war diese Sache mit Fizzy an einem Montag passiert – Pops holte Juno montags immer von der Schule ab und ging mit ihr in die Bücherei. So konnte Jess noch ein Angebot für Genentech zusammenstellen, ein Meeting mit Whole Foods für die nächste Woche festlegen und ein paar Tabellenkalkulationen durchgehen, bevor sie nach Hause gehen und das Abendessen vorbereiten musste.
Ihr zehn Jahre altes Auto hatte gerade mal dreißigtausend Meilen auf dem Buckel und wurde so selten benutzt, dass Jess sich nicht daran erinnern konnte, wann sie das letzte Mal hatte tanken müssen. Als sie heimfuhr, wurde ihr bewusst, wie sich alles in ihrem Leben in unmittelbarer Nähe befand. Die University Heights waren die perfekte Mischung aus Apartments und Häusern, die zwischen kleinen Restaurants und eigenständigen Läden lagen. Ehrlich gesagt, war der einzige Vorteil an dem Date vom letzten Abend, dass Travis zugestimmt hatte, sich im El Zarape zu treffen, was nur zwei Etagen unter ihrer Wohnung lag. Das Einzige, was noch schlimmer gewesen wäre als das langweiligste Date auf Erden, wäre gewesen, wenn sie dafür extra ins Gaslamp-Viertel hätte fahren müssen.
Jetzt, ungefähr eine Stunde vor Sonnenuntergang, hatte der Himmel eine graublaue Farbe angenommen, was Regen ankündigte und die Autofahrer von Südkalifornien in aufgeregtes Chaos stürzte. Eine spärliche Meute verlieh der Terrasse der neuen, von Neuseeländern betriebenen Brauerei am Ende der Straße einen Hauch von Montagabend-Trubel, und die einzigartige Schlange vor dem Bahn Thai verwandelte sich schnell in ein Durcheinander aus hungrigen Bäuchen. Drei Bäuche davon gehörten zu Menschen, die gerade das Schild ignorierten, auf dem stand, dass die Gäste sich nicht auf die privaten Stufen der Tür neben dem Restaurant setzen sollten. Mr Brooks, Nana und Pops Mieter, hatte sofort eine Türkamera vor dem Haus installieren lassen, und fast jeden Morgen berichtete er Jess haargenau, wie viele Collegestudenten auf seinen Stufen gesessen waren, während sie gewartet hatten.
Dann kam ihr Zuhause in Sicht. Juno hatte ihre Wohnanlage »Harley Hall« genannt, als sie vier Jahre alt war, und obwohl die Anlage nicht annähernd den Namen »Hall« verdient hatte, blieb es dabei. Harley Hall war hellgrün und stach wie ein Smaragd aus den erdfarbenen Stuckgebäuden hervor, die daran angrenzten. Die Fassade zur Straße hin war mit einem horizontalen Streifen aus rosa und lila Fliesen verziert, die ein Harlekin-Muster bildeten. In pinken Blumenkästen vor den Fenstern wuchsen fast das ganze Jahr über farbenfrohe Mandevilla. Jess’ Großeltern Ronald und Joanne Davis hatten das Anwesen in dem Jahr gekauft, in dem Pops die Navy verlassen hatte und in den Ruhestand gegangen war.
Zufälligerweise war es dasselbe Jahr gewesen, in dem Jess’ langjähriger Freund beschlossen hatte, dass er noch kein Vater sein und sich die Option offenlassen wollte, seinen Penis noch in andere Frauen zu stecken. Jess hatte die Schule beendet, die zwei Monate alte Juno gepackt und war in die Wohnung mit zwei Schlafzimmern im Erdgeschoss gegenüber von Nanas und Pops Bungalow am Ende der Wohnanlage gezogen. Da die beiden Jess am Ende der Straße in Mission Hill großgezogen hatten, bis sie aufs College an der UCLA gegangen war, war es keine große Umstellung gewesen. Und jetzt half ihr ihr kleines und perfektes Dorf dabei, ihr Kind großzuziehen.
Das Seitentor öffnete sich mit einem leisen Quietschen und fiel dann hinter ihr ins Schloss. Über einen schmalen Pfad ging Jess in den Garten, der ihre Wohnung vom Bungalow von Nana Jo und Pop trennte. Hier sah es aus wie in einem blühenden Garten irgendwo auf Bali oder in Indonesien. Ein paar Steinbrunnen sprudelten leise vor sich hin, und alles erstrahlte in hellem Licht. Purpurfarbene, korallenrosa und lila Bougainvillea säumten die Wände und Zäune.
Sofort stürmte ein kleines Mädchen mit französischen Zöpfen auf Jess zu. »Mom, ich habe mir aus der Bibliothek ein Buch über Schlangen ausgeliehen. Wusstest du, dass Schlangen keine Augenlider haben?«
»Ich …«
»Und sie essen ihre Beute im Ganzen, und ihre Ohren stecken in ihren Köpfen. Rat mal, wo es keine Schlangen gibt.« Juno schaute sie mit ihren blauen Augen an, ohne zu zwinkern. »Jetzt rat schon.«
»Kanada!«
»Nein! In der Antarktis!«
Jess führte sie nach drinnen und rief über ihre Schulter hinweg: »Nein!«
»Doch! Und kannst du dich an die Kobra aus Der Schwarze Hengst erinnern? Kobras sind die einzigen Schlangen, die Nester bauen. Und sie können zwanzig Jahre alt werden.«
Das überraschte Jessica wirklich. »Im Ernst?« Sie ließ ihre Tasche auf die Couch fallen und ging in die Speisekammer, um zu sehen, was sie zum Abendessen machen könnte. »Das ist ja verrückt.«
»Ja, wirklich.«
Juno lief still hinter ihr her, und plötzlich ging Jess ein Licht auf. Sie drehte sich um und sah Junos riesengroße Augen, ein Zeichen dafür, dass sie gleich zu betteln anfangen würde. »Juno, Süße, nein.«
»Bitte, Mom?«
»Nein.«
»Pops hat gesagt, vielleicht eine Kornnatter. In dem Buch steht, dass sie sehr sanftmütig sind. Oder eine Königspython?«
»Eine Python?« Jess stellte einen Topf mit Wasser auf den Herd. »Bist du verrückt geworden, Süße?« Sie deutete auf die Katze Pigeon, die schlafend auf der Fensterbank lag und sich in den letzten Sonnenstrahlen des Tages sonnte. »Eine Python würde diese Katze hier fressen.«
»Quatsch, nur eine Königspython. Und das würde ich nicht zulassen.«
»Wenn Pops dir einredet, eine Schlange zu holen«, sagte Jess, »dann kann Pops sie ja in seinem Haus halten.«
»Nana Jo hat schon Nein gesagt.«
»Das glaube ich sofort.«
Juno blickte böse drein und ließ sich auf die Couch fallen. Jess ging zu ihr, setzte sich neben sie und zog sie in ihre Arme. Sie war sieben Jahre alt, aber klein für ihr Alter. Sie hatte immer noch die Hände eines Babys mit Grübchen auf den Knöcheln, und sie roch nach Baby-Shampoo und den Holzfasern von Büchern. Als Juno ihre kurzen Ärmchen um Jess’ Nacken schlang, atmete diese den Duft des kleinen Mädchens ein.
Juno hatte jetzt ihr eigenes Zimmer, aber sie hatte bei ihrer Mom geschlafen, bis sie vier Jahre alt gewesen war. Manchmal wachte Jess immer noch mitten in der Nacht auf und verspürte den übermächtigen Drang, ihre Tochter in den Armen zu halten. Jess’ eigene Mutter hat immer gesagt, dass sie Juno diese Angewohnheit schnell abgewöhnen müsse, aber mütterliche Ratschläge waren das Letzte, was Jamie Davis erteilen sollte. Außerdem war es ja nicht so, dass die zweite Seite der Matratze jemals belegt war. Und Juno war eine Meisterin im Kuscheln. Wäre Kuscheln eine olympische Disziplin, würde Juno die Goldmedaille gewinnen.
Sie drückte ihr Gesicht an Jess’ Nacken, atmete tief ein und schmiegte sich noch enger an sie. »Mama. Du warst gestern Abend bei einem Date«, flüsterte sie.
»Mhm …«
Juno war ganz aufgeregt gewesen wegen des Dates. Nicht nur, weil sie ihre Großeltern vergötterte und in den Genuss von Nana Jos Kochkünsten gekommen war, während Jess aus war, sondern auch, weil sie vor Kurzem Abenteuer beim Babysitten geschaut hatte und Fizzy ihr erzählt hatte, dass darin ziemlich genau gezeigt wird, was bei einem Date so alles passiert. In Junos Vorstellung könnte Jess am Ende mit Thor ausgehen.
»Wart ihr in der Innenstadt? Hat er dir Blumen mitgebracht?« Sie zog sich zurück. »Hast du ihn geküsst?«
Jess lachte. »Nein, habe ich nicht. Wir haben zu Abend gegessen, und dann bin ich nach Hause gegangen.«
Juno sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. Sie schien sich ziemlich sicher zu sein, dass bei einem Date mehr passieren sollte. Als wäre ihr gerade etwas eingefallen, sprang sie auf und rannte zu ihrem Rollkoffer, der neben der Tür stand. »Ich habe dir auch ein Buch mitgenommen.«
»Tatsächlich?«
Juno kam wieder zurück, krabbelte auf ihren Schoß und reichte ihr das Buch. Middle Age and Kickin’ It!: A Woman’s Definitive Guide to Dating Over 40, 50 and Beyond.
Jess lachte überrascht auf. »Hat deine Tante Fizz dir das eingeredet?«
Juno kicherte fröhlich. »Sie hat Pops geschrieben.«
Jess warf einen Blick über ihre Schulter auf das Whiteboard neben dem Kühlschrank, und sie verspürte ein Kribbeln in ihren Armen bis in die Fingerspitzen. Die Worte Vorsätze fürs neue Jahr standen dort in Junos krakeliger Handschrift geschrieben.
NANA & POPS
Einen Personalträner anhäuern
Jeden Tag spaziren gehen
JUNO
Lernen, Brokoli mögen
Jeden morgen mein Bett machen
Jeden Sonntag etwas neues probiren!
MOM
Jeden Sonntag etwas neues probiren!
Nana sagt denk mer an dich selbst!
Mer Dinge tun, die mir angst machen
Okay, Universum, dachte Jess. Ich habe es verstanden. Wenn Mrs Brady eine Wegbereiterin sein konnte, dann war es für Jess vielleicht an der Zeit, es auch zu versuchen.
Das Problem mit Offenbarungen: Sie treten nie zu einem günstigen Zeitpunkt auf. Jess hatte eine leicht hyperaktive, siebenjährige Tochter und eine aufstrebende Freiberuflerkarriere mit jeder Menge mathematischer Rätsel. Das alles ließ nicht viel Zeit übrig, um eine Bucket-List an Abenteuern zu erstellen. Außerdem genügten ihr ihre Tochter und ihre Karriere. Sie hatte vier gute Freiberuflerverträge, und obwohl ihr nicht viel Geld übrig blieb, konnte sie die Rechnungen zahlen – einschließlich ihrer astronomischen Versicherungskosten – und ihre Großeltern unterstützen. Juno war ein glückliches Kind. Sie lebten in einer netten Gegend. Ehrlich gesagt, gefiel Jess ihr Leben so, wie es war.
Aber die Worte Mehr Dinge tun, die mir Angst einjagen kamen ihr immer wieder ins Gedächtnis, wenn sie zwischen zwei Dateien die Augen schloss.
Ihre mangelnden Dates waren wahrscheinlich eher Faulheit als Angst.
Es ist ja nicht so, als hätte ich von heute auf morgen fröhlich resigniert, dachte Jess. Ich bin da langsam reingerutscht, und irgendwie wird mir erst jetzt klar, dass ich mich nicht mehr länger frage, ob ich die Jeans, die ich anziehen werde, vielleicht vorher hätte waschen sollen.
Jess würde sich nie darüber beschweren, dass sie mit zweiundzwanzig Mutter geworden war – Juno war das Beste, was Alec ihr je hätte geben können –, aber sie musste zugeben, dass sie sich mehr Gedanken um Junos Mittagessen machte als darum, wie ihr zukünftiger Partner vielleicht aussehen sollte. Vielleicht hatten Fizzy, Nana und das Cover von Marie Claire recht, als sie angedeutet hatten, dass Jess aus ihrer Komfortzone rauskommen und sich größere Ziele stecken sollte.
»Was machst du gerade für ein Gesicht?« Fizzy zog einen imaginären Kreis um Jess’ Gesichtsausdruck. »Mir fehlt das richtige Wort dafür.«
»Das?« Jess deutete auf ihren Kopf. »Resignation?«
Fizzy nickte und murmelte laut vor sich hin, während sie tippte: »Sie wich seinem stechenden Blick aus, und Resignation überzog in einem milchigen Grau ihr Gesicht.«
»Wow. Danke.«
»Ich schreibe nicht über dich. Dein Gesichtsausdruck hat nur gerade gut gepasst.« Sie tippte noch ein paar mehr Wörter und nahm dann ihren Latte in die Hand. »Wie wir ja bereits in den frühen Tagen unserer Freundschaft erkannt haben, siehst du dich nicht als eine Heldin meiner Liebesromane. Deshalb werde ich nie mehr als eine Nebenrolle oder einen Bösewicht aus dir machen.« Fizzy verzog das Gesicht, weil ihr Kaffee – ganz offensichtlich – nicht mehr ganz so frisch zu sein schien. Ihr würde nichts anderes übrig bleiben.
Fizzys Worte trafen Jess wie ein Schlag ins Gesicht. Still saß sie da, und ihr wurde langsam bewusst, dass ihr Leben an ihr vorbeiziehen würde, bevor sie es auch nur merken würde. Es würde ihr das Herz brechen, wenn Juno je aufhören sollte, ihr Leben in vollen Zügen auszukosten. Nur am Rande nahm sie wahr, dass es 8:24 Uhr sein musste, als der Americano ins Café kam. Er sah aus wie ein schwer beschäftigter Playboy, der für so einen Kinderkram wie das Twiggs eigentlich gar keine Zeit hatte. Ohne ein Wort zu sagen, zog er einen Zehn-Dollar-Schein aus seiner Tasche, nahm das Wechselgeld von Daniel entgegen und warf nur die Münzen in den Becher für das Trinkgeld.
Jess starrte ihn an, Wut kochte in ihr hoch. Was für ein schlechtes Trinkgeld! Das kam direkt auf ihre Unbedeutende-Gründe-warum-der-Americano-einfach-nur-furchtbar-ist-Liste.
Fizzy schnippte vor ihrem Gesicht mit den Fingern und zog ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Siehst du. Du tust es schon wieder.«
Jess warf ihr einen bösen Blick zu. »Was tue ich schon wieder?«
»Du starrst ihn an. Den Americano.« Fizzy grinste wissend. »Du findest ihn sexy.«
»Auf keinen Fall. Ich war nur in Gedanken.« Jess zog sich beleidigt zurück. »Blödsinn, Felicity.«
»Schon klar.«
Fizzy deutete mit dem Finger wackelnd auf besagten Mann, der heute eine enge, dunkle Jeans und einen leichten königsblauen Sweater trug. Jess fiel auf, dass sein dunkles Haar, das sich im Nacken kräuselte, die perfekte Länge hatte, kurz bevor wieder ein Haarschnitt nötig wäre. Olivfarbene Haut, volle Lippen. Er war so groß, dass sein Kopf – wenn man ihn sitzend von einem Stuhl betrachtete – an die Decke zu stoßen schien. Aber seine Augen – die waren die eigentliche Attraktion: ausdrucksstark, tiefgründig und umrahmt von langen, dunklen Wimpern.
»Verarschen kann ich mich allein.«
Jess zuckte verunsichert mit den Schultern. »Er ist nicht mein Typ.«
»Dieser Kerl ist jedermanns Typ.« Fizzy lachte ungläubig auf.
»Du kannst ihn gerne haben.« Jess machte ein böses Gesicht, als er mit einer Serviette wie üblich kurz über den Tresen wischte. »Ich habe mich nur gefragt, wie so einer wie er eine Partnervermittlungsagentur aufmachen will. So was tun Arschlöcher wie er nicht.«
»Ich persönlich glaube, dass Daniel keine Ahnung hat, wovon er redet. Reiche Männer, die so aussehen, sind tagsüber zu sehr mit ihren Jobs verheiratet und nachts zu sehr mit ihrem Anlageportfolio beschäftigt, um sich über das Liebesleben anderer Leute Gedanken zu machen.«
Der Americano drehte sich um, um das Café zu verlassen. Für einen kurzen Augenblick gewann Jess’ Neugier die Oberhand, und sie packte ihn instinktiv am Arm, als er an ihr vorbeiging. Sie erstarrten beide. Seine Augen hatten eine seltene, überraschende Farbe. Heller, als sie es erwartet hätte. Genau genommen bernsteinfarben, und nicht braun, wie sie jetzt deutlich erkennen konnte. Das Gewicht seiner vollen Aufmerksamkeit fühlte sich wie ein physischer Druck auf ihrer Brust an und presste ihr die Luft aus der Lunge.
»Hey.« Jess überwand ihre Nervosität und reckte ihr Kinn in die Höhe. »Warten Sie mal einen Moment. Können wir Sie was fragen?«
Als sie ihn losließ, zog er seinen Arm langsam weg und schaute Fizzy an, bevor er sich wieder ihr zuwandte. Er nickte knapp.
»Es geht das Gerücht um, dass Sie eine Partnervermittlungsagentur haben«, sagte Jess.
Der Americano kniff die Augen zusammen. »Das Gerücht?«
»Ja.«
»In welchem Kontext ist dieses Gerücht aufgekommen?«
Mit einem ungläubigen Lachen deutete Jess im Raum umher. »Der Ground Zero der University Heights-Gerüchteküche. Die Gerüchtemühle der Park Avenue.« Sie wartete, aber er schaute nur verständnislos auf sie herab. »Stimmt es?«, fragte sie. »Sind Sie ein Partnervermittler?«
»Theoretisch gesehen. Ich bin Genetiker.«
»Also …« Sie runzelte die Stirn. Der Americano war anscheinend gut im betonten Schweigen. »Ist das ein ›Nein‹ zum Partnervermittler?«
Er zog amüsiert eine Augenbraue nach oben. »Meine Firma hat einen Dienst entwickelt, der Menschen mithilfe einer firmeneigenen genetischen Profiling-Technologie zusammenbringt.«
Fizzy gab einen bewundernden Laut von sich. »Große Worte. Klingt ja skandalös.« Sie beugte sich vor und kritzelte etwas auf ihren Block.
»Genetische Profiling-Technologie?« Jess sah ihn skeptisch an. »Das klingt für mich irgendwie nach Eugenetik, sorry.«
Fizzy lenkte die Aufmerksamkeit des Americano schnell von Jess’ losem Mundwerk ab. »Ich schreibe Liebesromane. Das klingt wie mein Kryptonit.« Sie hielt ihren Stift in die Luft und wedelte verführerisch damit herum. »Meine Leserinnen würden total auf dieses Zeug stehen.«
»Wie lautet Ihr Pseudonym?«, fragte er.
»Ich schreibe unter meinem echten Namen«, sagte sie. »Felicity Chen.«
Felicity hielt ihm zaghaft die Hand hin, als erwartete sie, dass er ihr einen Handkuss gibt. Nach einem kurzen, verwirrten Zögern schüttelte der Americano leicht ihre Fingerspitzen.
»Ihre Bücher werden in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt«, prahlte Jess und hoffte, somit seinen seltsamen Gesichtsausdruck verschwinden lassen zu können.
Es funktionierte. Der Americano sah beeindruckt aus. »Wirklich?«
»Wird es eine App geben?« Fizzy ließ nicht locker. »Wie bei Tinder?«
»Ja.« Er runzelte die Stirn. »Und nein. Es ist nicht für One-Night-Stands gedacht.«
»Kann jeder mitmachen?«
»Letztendlich«, sagte er. »Es ist …« Sein Handy klingelte in der Hosentasche, und er zog es mit ernstem Blick heraus. »Tut mir leid«, sagte er und steckte es wieder ein. »Ich muss gehen, aber ich weiß Ihr Interesse zu schätzen. Ich bin mir sicher, Sie werden bald mehr darüber hören.«
Fizzy beugte sich vor und lächelte selbstsicher. »Ich habe über hunderttausend Follower auf Instagram. Ich würde diese Informationen gerne teilen, wenn es was ist, das meine überwiegend achtzehn- bis fünfundfünfzigjährigen Leserinnen hören wollen.«
Die Stirn des Americano glättete sich, und sein düsterer Gesichtsausdruck verschwand.
Bingo.
»Die Veröffentlichung findet im Mai statt«, sagte er. »Aber wenn Sie wollen, können Sie gerne ins Büro kommen, Informationen sammeln, eine Probe abgeben …«
»Eine Probe abgeben?«, rief Jess.
Sie konnte einen Anflug von Verärgerung in seinen Augen sehen, als er sie ansah. Wenn Fizzy der sexy Cop war, dann war Jess definitiv der skeptische. Und der Americano schien gerade mal Fizzys echtes Interesse zu tolerieren.
Er blickt Jess in die Augen. »Spucke.«
Jess lachte auf. »Wie bitte?«
»Die Probe«, sagte er gedehnt. »Es ist eine Speichelprobe.«
Er ließ seinen Blick beiläufig von ihrem Gesicht nach unten und dann wieder zurückgleiten. Ihr Herz vollführte einen seltsamen Sprung in der Brust. Dann blickte er auf seine Uhr.
Na schön.
Fizzy lachte schrill, als sie zwischen den beiden hin und her blickte. »Ich bin sicher, wir können beide was von unserer Spucke entbehren.« Sie grinste. »Für Sie.«
Mit einem matten Lächeln legte er hörbar seine Visitenkarte auf den Tisch. »Keine Eugenetik«, fügte er leise hinzu. »Versprochen.«
Jess blickte ihm nach. Die Glocke über der Tür läutete leise, als er das Café verließ. »Okay«, sagte sie und drehte sich zu ihrer Freundin um. »Ich glaube, er ist ein Vampir.«
Fizzy ignorierte sie und zog die Visitenkarte an den Tischrand. »Schau mal.«
Jess blickte mit zusammengekniffenen Augen aus dem Fenster, als der Americano in einen schicken, schwarzen Audi einstieg, der am Straßenrand parkte. »Er hat versucht, mich zu nötigen.«
»Diese Karte ist echt.« Fizzy schaute sie an und wendete sie in ihrer Hand. »Die hat er nicht bei Kinko’s machen lassen.«
»Spucke«, ahmte Jess seine schroffe Stimme nach. »Mein Gott, er ist sicher nicht im Marketing. Dieser Kerl hat nämlich null Charisma. Merk dir das, und frag mich noch mal, wenn ich neunzig bin: Er ist der arroganteste Mensch, den ich in meinem ganzen Leben kennengelernt haben werde.«
»Hör endlich auf, ihn anzuhimmeln.«
Jess nahm Fizzy die Visitenkarte aus der Hand. »Hör du endlich auf, dieses Auto anzuhimmeln …« Sie hielt mitten im Satz inne, die Visitenkarte lag ihr schwer in der Hand. »Wow, die ist ganz schön dick.«
»Ich hab’s dir doch gesagt.«
Jess drehte die Karte um, um das Logo zu begutachten: zwei ineinander verschlungene Kreise mit einer Doppelhelix als Kontaktpunkt. Auf der Vorderseite stand der richtige Name des Americano in kleinen, hochgestellten silbernen Buchstaben am unteren Rand. »Das hätte ich nicht erwartet. Er sieht aus wie ein Richard. Oder vielleicht wie ein Adam.«
»Er sieht aus wie ein Keanu.«
»Halt dich fest.« Sie schaute Fizzy an und grinste. »Americanos Name ist Dr. River Peña.«
»O nein.« Fizzy schnappte hörbar nach Luft. »Der Name ist total sexy, Jess.«
Jess lachte. Felicity Chen war so wunderbar vorhersehbar.
»Der Mann macht den Namen, nicht andersrum.«
»Falsch. Egal, wie der Mann sein mag, aber der Name Gregg mit zwei Gs wird nie sexy sein.« Fizzy ließ sich tiefer in ihren Sitz gleiten und errötete. »Wie verrückt wäre es, wenn ich meinen nächsten Helden ›River‹ nennen würde?«
»Sehr verrückt.«
Fizzy schrieb sich den Namen trotzdem auf, und Jess las den Namen des Unternehmens vor. »GeneticAlly? Genetische Ally?« Sie ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen, bevor es klick machte. »Oh, ich verstehe. Wenn man es schnell ausspricht, klingt es wie genetically. Aber mit einem großgeschriebenen A für ›Ally‹. Hör dir diesen Slogan an: ›Deine Zukunft steckt bereits in dir.‹ Wow.« Sie legte die Karte wieder auf den Tisch, lehnte sich zurück und verzog das Gesicht. »›In dir‹? Hat das schon mal jemand laut gelesen?«
Fizzy ignorierte Jess’ bissige Bemerkung und begann ihre Tasche zu packen. »Komm, wir gehen.«
Jess starrte sie mit großen Augen an. »Ist das dein Ernst? Jetzt?«
»Du hast noch mehr als fünf Stunden Zeit, bevor du Juno abholen musst. La Jolla ist nur eine halbe Stunde entfernt.«
»Fizzy, er sah nicht gerade so aus, als würde er es genießen, mit uns zu reden. Genau genommen konnte er es gar nicht erwarten, hier rauszukommen.«
»Na und? Betrachte es als Recherche. Ich muss diesen Ort sehen.«
Es standen nur vier Autos auf dem großen Parkplatz, und Fizzy parkte kichernd ihren neuen, aber zweckmäßigen blauen Toyota Camry neben Rivers glänzendem Audi.
Sie grinste Jess über die Lederkonsole hinweg an. »Bereit, deinen Seelenverwandten zu finden?«
»Nicht mal ansatzweise.«
Aber Fizzy war bereits aus dem Auto gestiegen.
Jess stieg ebenfalls aus und blickte auf das zweistöckige Gebäude vor ihnen. Sie musste zugeben, dass es sehr beeindruckend aussah. Der Name der Firma, GeneticAlly, stand in riesigen Alubuchstaben an der polierten Holzlattenfassade. Im zweiten Stock war die Mauer aus Beton, der von hellen, großen Fenstern unterbrochen wurde. Das Logo mit den zwei Ringen prangte an den breiten Eingangstüren, die nach außen aufgingen, als Fizzy daran zog. Jess und Fizzy betraten eine elegante und verlassene Lobby.
»Wow«, flüsterte Fizzy. »Ist ja verrückt.«
Ihre Schritte hallten durch den Raum, als sie sich auf den Weg zu einem riesigen Marmorschreibtisch machten, der so weit vom Eingang entfernt stand, dass Jess das Gefühl hatte, ein ganzes Fußballfeld überqueren zu müssen. Alles sah super teuer aus, und Jess war sich absolut sicher, dass sie gerade von mindestens fünf Sicherheitskameras gefilmt wurden.
»Hi.« Eine Frau blickte lächelnd zu ihnen auf. Auch an ihr sah einfach alles teuer aus. »Kann ich Ihnen helfen?«
Fizzy, der nie die Worte fehlten, lehnte sich mit den Unterarmen auf den Schreibtisch. »Wir wollen zu River Peña.«
Die Rezeptionistin blinzelte und checkte mit panischem Blick den Terminkalender. »Erwartet er Sie?«
Erst in diesem Moment wurde Jess schmerzlich bewusst, dass sie und Fizzy gerade hier hereingekommen waren und wahrscheinlich nach genau der Person gefragt hatten, der das Unternehmen gehörte.
»Nein«, gab Jess zu, als Fizzy ein enthusiastisches »Das tut er« von sich gab.
Fizz winkte Jess ab. »Sie können ihm sagen, dass Felicity Chen und ihre Mitarbeiterin hier sind.«
Jess hüstelte, und die skeptische Rezeptionistin deutete auf ein Gästebuch. »Okay, bitte tragen Sie sich dort ein. Und ich muss Ihre Ausweise sehen. Sind Sie hier wegen einer Präsentation?«, erkundigte sie sich, während sie Informationen von ihren Ausweisen abschrieb.
Jess runzelte die Stirn. »Eine was?«
»Ich meine … hat er Sie wegen DNADuo hierherbestellt?«, fragte sie.
»DNADuo. Das ist es.« Fizzy grinste, als sie die Namen in das Gästebuch eintrug. »Er hat zwei wunderschöne Single-Frauen in einem Café getroffen und uns förmlich angefleht, hierherzukommen, um unseren Speichel abzugeben.«
»Fizz.« Zum bestimmt tausendsten Mal fragte sich Jess, ob sie Fizzy immer mit Schaufel und Besen folgen würde müssen, um die Scherben hinter ihr aufzuräumen. Mit Fizzy unterwegs zu sein, verlieh Jess das Gefühl, gleichzeitig lebendiger und langweiliger zu sein.
Die Rezeptionistin schenkte ihnen ein höfliches Lächeln, gab ihnen ihre Ausweise zurück und zeigte ihnen, wo sie sich hinsetzen sollten. »Ich werde Dr. Peña wissen lassen, dass Sie hier sind.«
Als sie sich auf der roten Ledercouch niederließ, hatte Jess das Gefühl, dass ihr Hintern der erste war, der hier jemals gesessen hatte – Fizzys natürlich nicht mitgezählt. Nirgends lag auch nur ein Staubkorn, und nichts deutete darauf hin, dass schon jemals ein anderer Körper diese Möbel berührt hatte. »Das ist doch alles total seltsam«, flüsterte sie. »Bist du dir sicher, dass wir hier nicht an irgendeinen Organspende-Kult geraten sind?« Vorsichtig blätterte sie einen ordentlichen Stapel mit Wissenschaftsmagazinen durch. »Sie benutzen immer die Hübschen als Köder.«
»Dr. Peña.« Fizzy nahm ihren Block heraus und berührte mit der Zunge ihren Stift. »Ich werde definitiv einen Helden nach ihm benennen.«
»Wenn ich hier nur noch mit einer Niere rausgehe«, sagte Jess, »dann werde ich mir eine von deinen nehmen.«
Fizzy tippte mit dem Stift auf das Papier. »Ich frage mich, ob Dr. Peña einen Bruder haben sollte. Luis. Antonio …«
»Und all das kostet Geld.« Jess fuhr mit einer Hand über das geschmeidige Leder. »Wie viele Nieren ist so eine Couch wohl wert?« Sie zog ihr Handy heraus, tippte etwas in die Suchleiste und schnappte nach Luft. »Google sagt, der aktuelle Kurs für eine einzige Niere liegt gerade bei 262 000 $. Warum arbeite ich eigentlich noch? Ich könnte mit nur einer Niere überleben, oder?«
»Jessica Davis, du hörst dich so an, als hättest du noch nie in deinem Leben dein Haus verlassen.«
»Du bist doch diejenige, die hier gerade ihren fiktiven Stammbaum erfindet! Was machen wir eigentlich hier?«
»Den Richtigen finden?«, sagte Fizzy und lächelte sie schüchtern an. »Oder Stoff für mein Buch sammeln.«
»Gib’s zu, Dr. River Peña sieht man nicht an mit dem Gedanken im Kopf: Was für eine romantische Seele.«
»Nein«, stimmte Fizz zu. »Aber ich sehe ihn an und denke: Ich wette, er hat einen fantastischen Penis. Hast du gesehen, wie groß seine Hände sind? Er könnte meinen Kopf wie einen Basketball in den Händen halten.«
Ein Räuspern ertönte. Sie blickten auf und sahen River Peña keinen Meter von ihnen entfernt stehen. »Ihr zwei habt ja wirklich keine Zeit vergeudet.«
Jess rutschte das Herz in die Hose, und die Worte kamen wie ein Knarzen aus ihrem Hals. »Oh, scheiße.«
»Haben Sie gehört, was ich gerade gesagt habe?«, fragte Fizzy.
Er atmete langsam und kontrolliert aus. Er hatte es auf jeden Fall gehört. »Was gehört?«, sagte er schließlich.
Fizzy stand auf und zog Jess mit sich. »Ausgezeichnet.« Sie deutete einen höflichen Knicks an. »Dann mal los.«
Sie folgten ihm durch eine sterile Schwingtür einen langen Gang entlang, zu dessen rechter Seite alle paar Meter Türen abgingen. An jeder Tür befand sich ein Namensschild aus Edelstahl: Lisa Adams. Sanjeev Jariwala. David Morris. River Peña. Tiffany Fujita. Brandon Butkis.
Jess schielte zu Fizzy hinüber, die das Schild natürlich schon längst gesehen hatte. »Butt Kiss«, flüsterte sie leise lachend.
Durch eine offene Bürotür sah Jess ein großes Fenster mit Blick auf die Bucht von La Jolla. Weniger als eine Meile entfernt, kreisten Möwen über die weiße Gischt des Wassers, und Wellen schlugen laut gegen felsige Klippen. Es war spektakulär.
Die jährliche Miete für dieses Gebäude musste mindestens eineinhalb Nieren betragen.
Das Trio ging schweigend zu einem Fahrstuhl. River drückte mit seinem langen Zeigefinger auf den Knopf nach oben und starrte wortlos geradeaus.
So langsam wurde das Schweigen unangenehm. »Wie lange arbeiten Sie schon hier?«, fragte Jess.
»Seit das Unternehmen gegründet wurde.«
Sehr hilfreich.
Sie versuchte es erneut. »Wie viele Leute arbeiten hier?«
»Ungefähr ein Dutzend.«
»Es ist eine Schande, dass Sie nicht im Marketing sind«, sagte Jess grinsend. »Bei so viel Charme.«
River sah sie an, und sein Gesichtsausdruck ließ ihre Härchen auf den Armen zu Berge stehen. »Na ja, zum Glück liegen meine Talente in anderen Bereichen.« Sein Blick ruhte einen Moment zu lange auf ihr, und ein wohliger Schauer lief ihr das Rückgrat hinunter, als sich die Fahrstuhltüren öffneten.
Fizzy stieß ihr den Ellbogen in den Rücken. Dabei musste sie nicht mal laut aussprechen, was sie gerade dachte, Jess wusste es auch so: sexy.
Tödlich, antwortete Jess in Gedanken.
Trotz aller Prahlerei, wie sie diese großartige Recherchemöglichkeit ausnutzen würde, war Fizzy seltsam ruhig. Vielleicht war sie ebenfalls von Rivers steifer Gegenwart eingeschüchtert. Was bedeutete, dass der Rest der langsamen Aufzugfahrt so wortlos war wie das trostlose Zentrum von Sibirien. Als sie aus dem Fahrstuhl stiegen, beobachtete Jess, wie ihre beste Freundin begann, sich Notizen zu machen – vermutlich über das Gebäude und die wenigen Wissenschaftler, die in zugeknöpften Hemden durch den Gang liefen. River verzog keine Miene und ging aufrecht voran, wobei man seine muskulösen Oberschenkel gut erkennen konnte. Währenddessen wurde sich Jess immer mehr ihrer auf dem Linoleumboden quietschenden Sneaker und ihres relativ schlampigen Outfits bewusst. Fizzy war angezogen wie üblich – hübsche Pünktchenbluse und Pencil Pants –, und auch River sah so aus wie immer – lässiger Geschäftsmann, der einem Hochglanzmagazin entsprungen sein könnte. Als Jess hingegen heute Morgen hastig ein ausgewaschenes UCLA-Sweatshirt, eine alte Levis und ein Paar abgetragene Vans angezogen hatte, war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass sie später im betuchtesten Teil von La Jolla den Gang eines Biotech-Unternehmens entlanglaufen würde.
Am Ende des Ganges führte eine geöffnete Tür in einen Konferenzraum. River blieb stehen und bedeutete den beiden, vor ihm einzutreten.
»Setzen Sie sich hierhin«, sagte er. »Lisa wird gleich da sein.«
Fizzy schaute erst zu Jess, dann zurück zu River. »Wer ist Lisa?«
»Sie ist die Leiterin der Kundenbetreuung und der Entwicklung der App. Sie wird Ihnen die Technologie und den Vermittlungsprozess erklären.«
Diese ganze Sache wurde immer geheimnisvoller. »Bleiben Sie nicht hier?«, fragte Jess.
Er sah gekränkt aus, als hätte sie angedeutet, dass er der Wasserträger der Firma sei. »Nein.« Mit dem Anflug eines Lächelns drehte er sich um und ging den Gang zurück.
Arschloch.
Ein paar Minuten später kam eine Brünette herein. Sie hatte das sonnengeküsste Aussehen einer immer aktiven Südkalifornierin, die nur scheinbar kein Make-up trug, deren Haare ihr in Wellen über die Schulter fielen und die ein unförmiges Muumuu anziehen könnte und immer noch stylish aussehen würde.
»Hey!« Sie ging auf die beiden zu und schüttelte ihnen die Hände. »Ich bin Lisa Adams, Leiterin der Kundenbetreuung von GeneticAlly. Es freut mich sehr, dass Sie gekommen sind! Ich habe diese Präsentation bis jetzt noch nicht vor einer so kleinen Gruppe gehalten, und es wird fantastisch. Sind Sie bereit?«
Fizzy nickte enthusiastisch, aber Jess überkam langsam das Gefühl, in eine Welt gesetzt worden zu sein, in der sie die Einzige war, die nicht in ein Geheimnis eingeweiht worden war. »Könnten Sie uns zuerst zeigen, wo die Toiletten sind, bevor wir loslegen?«, fragte sie und verzog das Gesicht. »Zu viel Kaffee.«
Lächelnd deutete Lisa Jess die Richtung. Jess ging an ein paar riesigen Türrahmen vorbei, die aussahen wie in einem Labor. Über einem stand PROBENVORBEREITUNG, über dem anderen DNA-SEQUENZER, dann ANALYSE 1, ANALYSE 2 und INSTRUMENTE, bis sie schließlich zu einer Nische kam, in der sich die Toiletten befanden.
Und sogar die waren futuristisch. Jess wusste nicht genau, was sie von einem öffentlichen Bidet halten sollte, aber auf dem Ding befanden sich so viele Knöpfe – und es gab warmes Wasser –, dass sie beschloss, es zu benutzen. Ein Blick in den Spiegel beim Händewaschen verriet ihr, dass sie sich heute Morgen nicht geschminkt hatte und sogar in dem abgedunkelten, schmeichelhaften Licht abgespannt und erschöpft aussah. Wunderbar.
Auf dem Weg zurück fiel ihr Blick auf eine geöffnete Tür. Es war schon eine Ewigkeit her, seit sie das letzte Mal in einem wissenschaftlichen Labor gewesen war. Neugierig warf sie einen Blick in den Raum mit der Aufschrift PROBENVORBEREITUNG und sah mehrere Laborarbeitstische und verschiedene Maschinen mit Tastaturen und bunten Displays wie aus einem Film.
Dann hörte sie Rivers ruhige, tiefe Stimme: »Haben wir nicht noch eine 10X-Flasche mit Extraktionspuffer?«
»Wir haben welche bestellt«, antwortete ein anderer Mann. »Ich denke, ich habe genug, um diese Reihe fertig zu machen.«
»Gut.«
»Habe ich das richtig gehört, dass zwei Leute für eine Demo-Probe hergekommen sind?«
»Ja«, sagte River. »Zwei Frauen. Eine von ihnen ist anscheinend eine Autorin mit einer großen Online-Präsenz.«
Es entstand eine Pause, und Jess nahm an, dass die beiden wortlos miteinander kommunizierten.
»Ich weiß nicht, Mann«, sagte River. »Ich wollte nur meinen Kaffee holen, also habe ich vorgeschlagen, dass sie herkommen sollen, damit Lisa sich darum kümmern kann.«
Aha.
»Schon verstanden«, sagte die andere Stimme. »Wenn sie die Proben bringen, werde ich sie vierfach mit einigen Referenzproben vergleichen.«
»Es wird Zeiten nach der Markteinführung geben, zu denen wir nur eine Handvoll Proben haben werden. Das könnte also ein guter Probedurchgang für uns sein.«
»Das stimmt.«
Sie wollte sich gerade umdrehen und zum Konferenzraum zurückgehen, als sie River lachend sagen hörte: »… eine Möglichkeit, um zu beweisen, dass es für jeden da draußen den passenden Partner gibt.«
Der andere Mann fragte: »Hässlich?«
»Nein, nicht hässlich.« Jess beschloss sofort, dies als Rivers Version eines Kompliments aufzufassen, bis er hinzufügte: »Nur absoluter Durchschnitt.«
Sie machte einen Schritt zurück und legte sich verletzt die Hand an die Brust. Plötzlich hörte sie hinter sich eine Stimme: »Wollen Sie nach Ihrem Treffen mit Lisa eine Führung durchs Labor haben?«
Der Mann hinter ihr hielt abwehrend die Hände hoch, als Jess sich schwungvoll umdrehte, als wolle sie zum Schlag ausholen. Er war groß und schlank und sah aus wie jeder Schauspieler in jedem Film, in dem es um einen Wissenschaftler ging: hellhäutig, Brille, mit der absoluten Notwendigkeit, bald einen Friseur aufzusuchen. Er war praktisch Jeff Goldblum, nun ja, zumindest, wenn Jeff Goldblum auch Benedict Cumberbatch wäre.
Sie war sich nicht sicher, ob er ihr wirklich eine Führung durch das Labor anbot oder ob er sie insgeheim dafür tadeln wollte, dass sie gelauscht hatte.
»O nein«, sagte sie. »Ist schon gut. Sorry, ich war gerade auf dem Weg zurück von der Toilette und habe mich kurz umgesehen.«
Lächelnd streckte er ihr seine Hand entgegen. »David Morris.«
Jess ergriff sie zögerlich. »Jessica.«
»Wir hatten schon seit einiger Zeit keine Kunden mehr hier. Es ist schön, ein neues Gesicht zu sehen.« Während er das sagte, ließ er seinen Blick kurz über ihren Körper schweifen. »Sie sind für das DNADuo hier?«
Sie widerstand dem Drang, ihre Arme vor der Brust zu verschränken, um die Tatsache zu verbergen, dass sie zu dieser erstklassigen Partnervermittlungsagentur gegangen war und wie eine verkaterte College-Studentin aussah. »Ich bin mir noch nicht sicher. Ich bin mit meiner besten Freundin hier. Sie ist Romanautorin und war völlig aus dem Häuschen, als der Americano – sorry, Dr. Peña – heute Morgen sein Unternehmen uns gegenüber erwähnt hat.«
David nickte Richtung Konferenzraum. »Nun ja, ich hoffe, Sie finden die Technologie ansprechend.«
Jess zwang sich zu einem höflichen Lächeln. »Bestimmt.«
David blieb an der Schwelle zum Konferenzraum stehen. »Es war nett, Sie kennengelernt zu haben, Jessica. Wenn Sie noch etwas brauchen, wenden Sie sich ruhig an mich.«
Mit einem weiteren gezwungenen Lächeln unterdrückte Jess das mulmige Gefühl, das in ihr aufstieg. »Sicher.«
Als sie in den Konferenzraum zurückkam, fühlte sie sich bestimmt zehn Prozent schäbiger als zuvor. Was bedeutete, dass sie am Boden angekommen war. Fizzy und Lisa unterhielten sich über Vor- und Nachteile verschiedener Dating-Apps, aber sie versteiften sich, als Jess wieder in den Raum kam, als wären sie bei etwas ertappt worden. Ohne dass eine von beiden es aussprechen musste, wusste Jess, dass sie aussah wie die Freundin, die dazu überredet worden war, mitzukommen, obwohl sie viel lieber auf ihrer Couch sitzen und Netflix schauen würde.
»Können wir anfangen?«, fragte Lisa und scrollte durch das Menü auf einem iPad. Das Licht im Raum wurde gedämmt, und eine riesige Leinwand kam mit einem leisen Brummen von der Decke herab.
Fizzy spielte ihre Rolle: »Auf jeden Fall!«
Also spielte Jess ebenfalls mit. »Klar. Warum nicht?«
Lisa ging selbstbewusst nach vorne, als würde sie vor fünfzig Leuten sprechen anstatt vor zwei.
»Was sind Ihre Ziele?«, begann sie. »Was Liebesbeziehungen angeht.«
Jess drehte sich erwartungsvoll zu Fizzy um, die sich erwartungsvoll zu Jess umgedreht hatte.